Stefan Tarara misst sich an den Solosonaten von Eugène Ysaÿe:
Der erste Preis beim George Enescu Violinwettbewerb markierte für den Geiger Stefan Tarara auch in persönlicher Hinsicht einen Meilenstein: Tarara, der im Jahr 2015 sein Studium in Zürich bei Zakhar Bron abschloss, fühlt sich durch seine rumänischen Eltern dem Namensgeber dieses international bedeutsamen Wettbewerbs seelenverwandt. Wenn er es auf seiner aktuellen CD mit den Sonaten des Belgiers Eugène Ysaÿe solistisch aufnimmt, tritt Tarara in einen leidenschaftlichen Wettstreit mit sich selbst.
Ich habe gerade in einem Video Ihre irrwitzigen Arpeggiensprünge bei Paganini bewundert. Stimmen Sie damit überein, dass Paganinis Capricen eigentlich sehr angenehm zu spielen sind, weil sie so „geiger-gerecht“ gesetzt sind?
Es stimmt, aber es muss immer noch gründlich geübt werden und schwer bleibt es dennoch. Aber Sie haben recht, es gibt viel Musik, die noch deutlich gemeiner geschrieben ist.
Hat er die ganzen Sachen für sich selber geschrieben, damit er sich beim Spielen wohl fühlt?
Vieles hat Paganini gar nicht selber geschrieben. Die Capricen und andere großen Werke sind von ihm persönlich, aber vieles haben seine Schüler für ihn gemacht. Einiges ergab sich direkt aus seinem Spiel. Und er hatte immer eine panische Angst, dass es ihm jemand gleich tut und dass da jemand ist, der noch etwas virtuoser und fetziger spielt.
Geht es auch Ihnen heute darum, besser als andere zu sein?
Im Wettstreit liegt der Reiz, sein bestes zu geben und Anerkennung zu bekommen. Aber den stärksten Wettbewerb trägt man mit sich selber aus. Da geht es gegen sich selbst und nicht gegen andere. Der Erfolg hängt immer von der Tagesform ab. Alles kann sich im nächsten Moment schon wieder ändern. Es gibt so viele Variablen. Am wichtigsten ist es, sich selbst treu zu bleiben. Aber Musik ist ja nicht nur Wettstreit. Es geht in erster Linie darum, Menschen zu verbinden. Wer Kammermusik macht, profitiert immer von anderen Menschen.
Welche Erfahrungen haben Sie bei den Wettbewerben gemacht?
Sie haben in den letzten Jahren sehr viel Spaß gemacht. Man muss eine ganz bestimmtes Mindset mitbringen. Bei den großen Wettbewerben sind viele Medien involviert und vieles wird heute per Livestream übertragen, so dass man hier wahrgenommen wird. Ich will hier natürlich das beste geben – und im Kopf bleibt der Wunsch, den ersten Preis zu bekommen!
Was unterscheidet ein Wettbewerbsvorspiel von einem Publikumskonzert?
Der Unterschied wird mir erst jetzt so richtig bewusst, wo ich auch viel als Pädagoge tätig bin und auch selber in der Jury sitze: Dort sitzen Leute, die vor allem die Fehler zählen. Die meisten Zuschauer wollen aber die schönen Momente erleben. Das sind unterschiedliche Ausgangssituationen. Also richte ich beim Wettbewerbsspiel ein besonderes Augenmerk auf Intonation, Rhythmus und Stabilität. Das gehört natürlich auch im Konzert unmittelbar dazu, aber hier steht noch mehr der Ausdruck und die musikalische Linie im Vordergrund.
Und dafür muss man auch mal einen Fehler zulassen dürfen. Ein Chirurg kann sofort einen Menschen umbringen, wenn er einen Fehler macht. Diese Gefahr besteht bei uns Musikern zum Glück nicht. Aber wir können Menschen zu Tode langweilen. Im Wettbewerb braucht es objektive Richtwerte, Intonation, Interpretation, Textgenauigkeit und Rhythmus. Trotzdem sollte niemand einen Wettbewerb gewinnen, der einfach nur richtige Töne spielt.
Was leisten Wettbewerbe überhaupt für die eigene Karriere?
Ich bekomme kostenlose Werbung. Das ist das, was für mich am wichtigsten als Interpret ist. Es haben mich mehrere Leute gehört. Vielleicht gibt es welche, denen es gefallen hat. Die Chance, woanders eingeladen zu werden, steigt immens. Das ist am wichtigsten. Es geht mir darum, die Leute zuhause hinter den Screens zu überzeugen – ebenso die 1000 bis 1500 Leute, die im Saal sind.
Es geht immer um Erfahrung. Wenn man gut vorbereitet ist und einen guten Tag hat, eröffnet dies die Chance, sich einem riesigen Publikum zu präsentieren. Das Preisgeld ist sowas von egal.
Vor allem der erste Preis im Enescu Wettbewerb hat mich extrem nach oben katapultiert. Das hat auch etwas mit meiner persönlichen Prägung zu tun. Meine Eltern kommen aus Rumänien und ich bin zweisprachig aufwachsen. Ich bin mit der Musik Enescus wirklich groß geworden. Es war ein Traum für mich, Enescu in Rumänien zu spielen – eben dort, wo er herkommt. Ein anderer Wettbewerb, in dem ich „nur“ einen dritten Preis bekommen habe, hat fast ebenso viel für die Karriere geleistet, nämlich der Wieniawski-Wettbewerb in Polen. Die Polen lieben diesen Wettbewerb und unterstützen ihre Künstler ohnegleichen. Vor allem diese beiden Wettbewerbe haben sehr viel bewirkt. Auf einmal haben mich viele Labels angeschrieben. Vorher war ich es, der die Labels anschrieb, was nicht so viel gebracht hat.
Warum haben Sie sich für diese Solo-CD für Eugene Isayes Solosonaten entschieden?
Ich habe Ysayes Sonaten durchgängig seit meiner Jugend angehört. Vor allem die Einspielung von Frank Peter Zimmermann hat mich von klein auf stark inspiriert. Zimmermann war für mich ein Riesen-Idol. Es war ein ständiger Traum, sie mal selbst zu spielen.
Was fordert Sie in dieser Musik besonders heraus?
Es wird durchaus sämtliche Paganini-artige Virtuosentechnik abverlangt. Aber Isayes Virtuosität kommt viel „musikalischer“ daher. Die Sonaten sind natürlich auch stark von Bach beeinflusst. Eine Nähe zu George Enescu ist ebenfalls stets präsent. Ysayes Sonaten sind verschiedenen Personen gewidmet. Er wollte gewissermaßen auf moderne Art eine „Bachsonate“ schreiben. Jede Sonate hat einen eigenen Charakter. Da lebt beispielsweise Fritz Kreislers Süßlichkeit in einer der Sonaten. Wir haben in der sechsten Sonate einen ausgeprägt spanischen Charakter, sogar mit einer Habanera. Aber bei allen vielfältigen Einflüssen kann man Isayes Stempel in jeder Note finden. Er hat seinen eigenen Stil, Polyphonie zu schreiben, den niemand sonst geschafft hat. Das hier ist eine andere, moderne, virtuose Polyphonie. Und ich muss ganz ehrlich sagen: Isaye kann einen Tick besser mit geigerischen Aspekten umgehen als Bach. Ysaye hat doch etwas besser gewusst, wo die Stärken der Geige liegen. Wenn ich mir Bachs wohltemperiertes Klavier anhöre, ist da eine vollendete Perfektion. Aber es bleibt eine Bachfuge für Geige, bei der zu vieles vom Klavier her gedacht ist mit allen sich daraus ergebenden Limitierungen. Ysaye ist doch vielmehr von den technischen Gegebenheiten der Geige ausgegangen.
Der berühmte „Dies Irae“ – Choral hat es Ysaye ja auch sehr angetan!
Er hat dieses Thema in der zweiten Sonate im Sinne von Bach paraphrasiert. Das wirkt hier oft richtig improvisatorisch. Die zweite Sonate ist die eingängigste von allen sechs. Wer bislang noch gar nicht mit Ysaye in Berührung kam, sollte als erstes die zweite Sonate hören!
Wie waren Ihre Konzerterfahrungen mit diesen Sonaten?
Ich habe schon öfter einzelne Sonaten in ein Programm eingabaut. Alle sechs in einem Programm zu spielen ist sehr schwer für ein Publikum. Das kann schnell ermüden. Da kommen mehrere unterschiedliche Farben viel besser beim Publikum an. Man muss an seine Zuhörer denken. Und klassische Musik hören ist immer viel Konzentrationsarbeit.
Sie erwähnten vorhin den Wettstreit mit sich selbst? Stehen diese Sonaten idealtypisch für dieses Prinzip?
Durchaus. Es geht darum, als eine Person Gefühle heraus zu bringen, die sonst ein ganzes Orchester freisetzt. Man ist als Solist viel freier, kann sich viel erlauben. Andererseits darf man sich auch nicht zu frei fühlen, das bekommt dann sehr schnell einen sagen wir mal zigeunerischen Charakter. Man will sich ja auch in einer klaren, präzisen Struktur präsentieren.
Hilft dafür auch die Kompetenz des Wettbewerbsspiels?
Auf jeden Fall. Hier fließen zwanzig Jahre Hausaufgaben ein, die ich gemacht habe.
[Interview geführt von: Stefan Pieper, Dezember 2017]