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Das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música brilliert beim „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Für das erste räsonanz Stifterkonzert der neuen Münchner musica viva Saison – es folgt noch ein zweites im Januar – hatte die Ernst von Siemens Musikstiftung am 28. 9. 2024 das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música mit seinem Chefdirigenten Stefan Blunier ins Münchner Prinzregententheater eingeladen. Zunächst erklang das großangelegte Orchesterwerk „Ruf“ des portugiesischen Komponisten Emmanuel Nunes. Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ benötigt zusätzlich als Solisten ein Streichquartett: hier spielte kein Geringeres als das weltberühmte Arditti Quartet. Wie gewohnt ein staunenswertes Programm.

Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música; StefanBlunier – © BR-Astrid Ackermann

Die räsonanz Stifterkonzerte der Ernst von Siemens Musikstiftung bleiben ihrem Prinzip treu, einerseits höchst aufwändige Werke zu programmieren, die bereits historische Relevanz haben, ohne allzu oft aufgeführt worden zu sein, andererseits dem Münchner Publikum Klangkörper vorzustellen, die bislang selten oder gar nie hier zu Gast waren. Letzten Samstag brillierte im „Prinze“ das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música, 1947 zunächst als Konservatoriumsorchester gegründet, nun nach dem 2001 für den Auftritt Portos als eine Kulturhauptstadt Europas neu errichteten musikalischen Zentrum Casa da Música benannt und dort ab 2006 beheimatet. Der Schweizer Stefan Blunier – in Deutschland u. a. von 2008-2016 GMD in Bonn – ist seit 2021 Chef des 94-köpfigen Ensembles. Leider hatten wohl selbst Teile des geladenen Publikums wegen der bereits grassierenden Erkältungswelle absagen müssen: Etliche Plätze blieben frei.

Nach anfänglichen Studien in seiner Heimat bei Fernando Lopes-Graça war Emmanuel Nunes (1941–2012) Schüler von Boulez, Pousseur und Stockhausen, gehört somit bereits zur zweiten Komponistengeneration, die man mit den Darmstädter Ferienkursen verbindet. Seine großangelegten Vokal- und Orchesterwerke führten bald zu internationalen Erfolgen. Später unterrichtete der Portugiese selbst in Lissabon, Freiburg und Paris. Ruf – für Orchester und Tonband (1977, revidiert 1982) – verwendet nicht einmal einen Riesenapparat: 28 Streicher, nur doppelt besetzte Bläser, 2 Schlagzeuger, Klavier (+ Celesta) und Harfe. Der 45-Minüter besteht aus sechs verbundenen Abschnitten. Bei vier davon wird der zeitliche Ablauf unerbittlich durch das Zuspielband vorgegeben. Das Orchester spielt seine Parts hochdifferenziert – jeder Spieler quasi als Solist – und der Dirigent muss trotz des engen Korsetts einerseits präzises Zusammenspiel, andererseits ein gehöriges Maß an kontrolliert aleatorischen Ereignissen koordinieren. Stefan Bluniers Schlagtechnik ist von makelloser Klarheit, dabei zum Glück nie mechanisch. Er formt den Klang der einzelnen Orchestergruppen immer gestisch äußerst dynamisch mit, agiert zugleich als emotionaler Katalysator dieses sich anfangs als recht chaotisch darstellenden, jedoch mit feinst austariertem Innenleben gestalteten musikalischen Stromes. Die elektronischen Klänge erscheinen als echte – gerade auch räumliche – Erweiterung, wirken streckenweise mit ihrem Gewobbel wie aus zeitgenössischen Science-Fiction-Filmen dem doch recht natürlichen Geschehen im Orchester dialektisch entgegen. Am Schluss wird es sehr leise, mit ganz unterschwelligen Zitaten aus spätromantischer Musik – Wagner und Mahler: ein überwältigendes Erlebnis. Hier ist bereits klar, dass man das tolle Orchester aus Porto einfach liebgewinnen muss.

Ganz anders nach der Pause Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ von 1979/80. Hier ist alles bis ins letzte Detail ausnotiert, mit schwäbisch-protestantischer Gründlichkeit. Dabei ist dies ein perfektes Beispiel der vom bald 89-jährigen Komponisten selbst so benannten Verweigerungsästhetik, die er über Jahrzehnte gepflegt und Teile des Publikums damit häufig ziemlich provoziert hat. So bleibt also hier das „Unerhörte“, lediglich Mitzudenkende, zentrales Element des großbesetzten Stücks, wohingegen das tatsächlich Erklingende konsequent so gut wie jede Hörerwartung enttäuscht. Nicht nur das Orchester, sondern ebenso das solistische, kaum merklich verstärkte Streichquartett, das anfangs die Führung übernimmt, spielen fast nur geräuschhafte Maskierungen. Der Prozentsatz „normal“ herausgebrachter „Töne“ ist minimal, dann jedoch meist verstörend. Das Arditti Quartet kennt das Stück genau; die vier Streicher schütteln die komplexen Spielanweisungen locker aus den Ärmeln. Die den 17 Abschnitten zugrunde liegenden Tanzrhythmen werden noch am ehesten erkennbar, wenn man optisch (!) dem wieder absolut souveränen Dirigenten folgt. Nach und nach wird klar, mit welch subversiver Energie und tiefgründigem Humor hier Altbekanntes komplett dekonstruiert wird. Selbstverständlich kommt auch das Deutschlandlied in der letzten der fünf Abteilungen – Mahler lässt grüßen – nur als „leeres Gerüst“: Nicht mal ansatzweise erscheinen Text oder Ton verbatim. Lediglich in der Partitur sind Stimmen mit den Silben der ersten (!) Strophe unterlegt, bereits zu Tode geritten (Galopp), bevor diese überhaupt anklingen könnte. Trotz des anstrengenden Appells von Lachenmanns Musique concrète instrumentale ans Publikum, hier zu versuchen, ständig zwischen den Zeilen zu hören, wird diese von Blunier und seinen fabelhaften portugiesischen Musikern sorgfältigst erarbeitete Darbietung keinen Moment langweilig. Und irgendwie passt Lachenmanns Werk auch zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution. Provozieren kann das heutzutage kaum mehr – und Musik wie Ausführende, die hier wirklich alles gegeben haben, erhalten verdient langen Applaus. Das Stifterkonzert ist einmal mehr seinen hohen Ansprüchen gerecht geworden.

[Martin Blaumeiser, 30. 9. 2024]

Die Jubiläumsessays der Ernst von Siemens Musikstiftung

Zum 50-jährigen Jubiläum der Ernst von Siemens Musikstiftung im vorigen Jahr gab man fünf Autoren den Auftrag, relativ übersichtliche Essays zu verfassen, die sich mit der Geschichte der Stiftung, vor allem aber mit der Entwicklung und den Zukunftsperspektiven „Neuer Musik“ generell auseinandersetzen sollten. So entstanden vier – einzeln veröffentlichte – Essays und ein eher belletristischer Beitrag: 1. Lydia Goehr: Musik, Maß, Klima; 2. Sophie Emilie Beha: Katalysator am Puls der Zeit – 50 Jahre Ernst von Siemens Musikstiftung; 3. Tim Rutherford-Johnson: Neue Räume, neue Zeiten: Neue Musik seit 1973; 4. Christian Grüny: Höllisch kompliziert. Das Neue, das Zeitgenössische und die Musik – und 5. Cia Rinne: notes on music.

Die vier erstgenannten Essayhefte erscheinen im Klavierauszugformat (DIN D4 ~ 19 cm x 27 cm) auf hochwertigem Papier und in erstklassigem Druck, haben einen Umfang zwischen 37 (Grüny) und 48 Seiten (Goehr) und enthalten die Essaytexte jeweils im Original – englisch bzw. deutsch – sowie zusätzlich in der Übersetzung in die jeweils andere Sprache. Die eigentlichen Texte sind somit sehr knappgehalten: 13 Seiten bei Grüny und Rutherford-Johnson, 15 Seiten bei Beha und 17 Seiten bei Goehr. In der Mitte der Bändchen finden sich jeweils acht Seiten in Kunstdruckqualität, die Abbildungen von Skizzen oder Ausschnitten von Partiturautographen moderner Komponisten – oft Preisträgern des EvS Musikpreises oder Förderpreisträgern – zeigen und nicht zwangsläufig in direktem Zusammenhang mit den Essays stehen müssen. Die einzelnen Beiträge seien hier kurz beleuchtet:

Lydia Goehr: Musik, Maß, Klima

Die Philosophieprofessorin an der Columbia University unternimmt, ausgehend von Elementen aus Ray Bradburys berühmtem Roman Fahrenheit 451 (1953) und dessen späterer Bemerkung, er habe damit die Vorhersage einer Welt „wie sie sich in vier oder fünf Jahrzehnten entwickeln könnte“ schreiben wollen, einen Spaziergang durch Frankfurt am Main. Entlang des Weges, der sie u. a. ans Opernhaus Frankfurt, die Alte Oper sowie ins Cafe Utopia führt, möchte sie „die Klimaveränderungen in den heutigen Musikinstitutionen, der Musikpraxis und den Paradigmen der modernen klassischen Musik […] untersuchen“. Bald greift sie dabei auf André Malraux‘ Begriff des Musée Imaginaire zurück – Goehr hat 1992 selbst ein wegweisendes Buch mit dem Titel The imaginary museum of musical works verfasst. Hochinteressant sind ihre klug gesammelten Zitate zum Thema: Hass auf moderne klassische Musik, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Ihr Ausblick auf deren Zukunft in Anbetracht sozio-kulturellen Wandels, dessen musikgeschichtlicher Aufarbeitung – Stichwort: Erweiterung/Inklusion jenseits des nach wie vor bestehenden Eurozentrismus – und des veränderten Konsumverhaltens etwa durch digitale Medien bleibt indes vage. Schade, dass – anders als bei den Essays von Rutherford-Johnson und Grüny – hier die genauen Quellenangaben zu den von Goehr zitierten Bemerkungen, denen man gerne weiter folgen möchte, fehlen. Da hätte man vielleicht bei der Stiftung nacharbeiten sollen.

Sophie Emilie Beha: Katalysator am Puls der Zeit – 50 Jahre Ernst von Siemens Musikstiftung

Die Musikjournalistin gibt in ihrem knappen, dabei jedoch hochinformativen Essay einen Abriss der Geschichte der Ernst von Siemens Musikstiftung. Sie informiert über den Werdegang deren Gründers, erwähnt durchaus seine Bemühungen um Wiedergutmachung an ehemaligen jüdischen Zwangsarbeitern beim Siemens Konzern, verrät aber kaum etwas über dessen Musikgeschmack. Ein wenig unbefriedigend angesichts der später mehrfach erwähnten Missbilligung der Preisvergabe 1986 an Karlheinz Stockhausen durch Ernst von Siemens. Sicher nach so vielen Jahren erfolgreicher Förderung „Neuer Musik“ wissenswert, dass diese anfangs gar nicht zentral im Fokus stand, und es Persönlichkeiten wie Paul Sacher oder Pierre Boulez – 1979 selbst Hauptpreisträger des EvS Musikpreises – im Stiftungsrat zu verdanken ist, dass die Stiftung heute maßgeblicher Geldgeber für zahlreiche Zeitgenössischem gewidmete Projekte ist. Beha beschreibt die Struktur und Finanzierung der gemeinnützigen Stiftung, die Förderungen neben der immer die größte Öffentlichkeit erreichenden Preisverleihung sowie die Entwicklung, dass die Preisträger nun endlich diverser werden. Der Band erfüllt seinen Zweck ohne Beweihräucherung und gibt eine präzise Standortbestimmung, ohne dass der Leser auf die existierenden, umfangreicheren Dokumentationen angewiesen ist.

Tim Rutherford-Johnson: Neue Räume, neue Zeiten: Neue Musik seit 1973

Der britische Musikkritiker nimmt die politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Marksteine dreier Jahre – 1973, das Gründungsjahr der EvS Musikstiftung, 1989, das Jahr der großen politischen Umbrüche in Europa, und 2020, den Beginn der Covid-19-Pandemie – sowie deren unmittelbare zeitliche Umfelder näher ins Visier, um maßgebliche Strömungen der Neuen Musik zu skizzieren, was auf derart begrenztem Raum natürlich nur rudimentär erfolgen kann. So bleibt etwa eine musikalische Postmoderne – bereits der Begriff erweist sich als Streitthema – komplett unbeachtet. Rutherford-Johnson verweist auf Manuel Castells Buch The Information Age (2010), und sieht durchaus Parallelen in der Entwicklung der Informationstechnologie und der modernen Musik. Sehr klar beschreibt er die Verdrängung linearer Strukturen – noch zentral in der Musik des ersten EvS-Preisträgers Benjamin Britten (1974) – zugunsten nichtteleologischer Musiklogik, beginnend beim parametrischen Denken serieller Musik über frühe Loop-Formen bei Harrison Birtwistle (The Triumph of Time, 1971) bis zu Helmut Lachenmanns Pression für Solocello. Er erwähnt die wachsende Popularität von Spektralismus und Minimalismus ab den 1980ern, kommt dann allerdings schnell auf das Genre der Netzwerkmusik – anhand von Werken Peter Ablingers, Anthony Braxtons und Jennifer Walshes, als „Beispiele eines parametrisch organisierten Raums der Ströme“. Die Corona-Zeit beschreibt er als „wirklich zeitlose Zeit, eine Ära ohne Zukunft oder Vergangenheit, ein endloses Jetzt“ und bringt für die musikalischen Reaktionen darauf einige recht spezielle Hör-Anregungen. Die in diesem klug sondierten Beitrag vermerkten Strategielinien haben – wen wundert’s? – natürlich auch in den Preisen der EvS Musikstiftung ihren Niederschlag gefunden.

Christian Grüny: Höllisch kompliziert. Das Neue, das Zeitgenössische und die Musik

Im Essay des in Stuttgart lehrenden Ästhetik-Professors Christian Grüny geht es nicht etwa um die meist hohe inhärente Komplexität Neuer Musik selbst, sondern um die Klärung und Abgrenzung der Begriffe des Neuen und des Zeitgenössischen. Dies ist eine recht abstrakte Angelegenheit und ein wenig schwierig zu verfolgen, aber äußerst lesenswert. Hatte Paul Bekker, der als einer der ersten von „neuer Musik“ sprach, noch beide Begriffe miteinander gekoppelt, erscheint das historisch Neue bei Reinhard Koselleck differenzierter. Insbesondere „in dem Sinne des ganz Anderen, gar Besseren gegenüber der Vorzeit“ (Koselleck) unterscheidet Grüny das Andere nochmals: als Abweichung, (dialektische) Negation bzw. Utopie (radikaler Bruch). Er untersucht die Kategorie des Neuen bei Adorno und erwähnt die Ablehnung eines „fetischistischen“ Materialfortschritts bei vielen Protagonisten der zeitgenössischen Musik. Das Zeitgenössische ist fast noch komplizierter zu fassen. Peter Osbornes Theorie beschreibt es als „im historischen Sinne die Zeitlichkeit der Globalisierung“, was allerdings zu Heterochronie führt und somit den Begriff als Fiktion bzw. Aufgabe bezeichnet. Eine institutionalisierte, internationale Vernetzung sieht Grüny – verglichen mit den Biennalen der bildenden Kunst – bei der Neuen Musik höchstens in ersten Ansätzen und plädiert zum Schluss für die „Rettung einer Perspektive, die wirklich über die wie auch immer komplexe Gegenwart hinausgeht“.

Cia Rinne: notes on music

Hat man von der finnlandschwedischen, jedoch in Deutschland aufgewachsenen Autorin Cia Rinne tatsächlich einen wissenschaftlichen Essay erwartet? Wohl nein. So liefert die von Fluxus und Dadaismus beeinflusste Literatin auch eher ein belletristisches Kunstwerk ab: in Form von zwei Postkarten – eine zeigt 32-mal denselben gedrückten (Tür?)-Klingelknopf, die andere das Klingeldisplay einer großen Wohnanlage – und eines ca. 1 m langen vertikalen Leporellos. Auf dessen Vorderseite findet der Leser am rechten Rand extrem kurze Aphorismen, die zumeist musikalische Begriffe – mal mehr, mal weniger intelligent bzw. humorvoll – dekonstruieren. Hier nur zwei Beispiele (Zitat):

c dur

c’est dûr

sinfonica domestica

after Richard Strauss

see sharp

b flat

age minor

[usw.]

Manche davon sind nur typographische Spielereien, wie man sie allerspätestens vom Dadaismus her kennt. Die Rückseite – in Pink – zieren längs zwei Zeilen in mikrokleiner Schrift mit einem quasi Bewusstseinsstrom über „this movement“: „this movement would like to extend endlessly in time | this movement could be a bad idea | this movement wishes it could start all over again |…” usw. Maximal eine recht originelle Grußbotschaft.

Mehr Infos über die anregende Essayreihe mit der Möglichkeit, Druckexemplare – übrigens kostenlos – anzufordern, finden ernsthaft interessierte Leser hier:

https://50jahre.evs-musikstiftung.ch/jubilaeumsbeitraege/jubilaeumsessay/

[Martin Blaumeiser, September 2024]

Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2024 im Herkulessaal

Am Samstag, 18. Mai 2024 um 19 Uhr, fand – erneut im Münchner Herkulessaal – die Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2024 an die koreanische Komponistin Unsuk Chin statt. Die diesjährigen Förderpreise für Komposition und Ensembles gingen an Daniele Ghisi, Bára Ghísladóttir, Yiquing Zhu bzw. das Broken Frames Syndicate sowie Frames Percussion. Neben zwei Werken Chins – Gran Cadenza und das Doppelkonzertwurden auch die drei jungen Komponisten mit Live-Beiträgen vorgestellt.

Die Preisträger der Ernst-von-Siemens-Musikpreise 2024: Yiqing Zhu,
Unsuk Chin, Bára Ghísladóttir und Daniele Ghisi. Photo © Ernst-von-Siemens-Musikstiftung/Astrid Ackermann

Deutlich schlechter besucht als in den Vorjahren schien dem Rezensenten die diesjährige Preisverleihung der Ernst von Siemens Musikstiftung im Münchner Herkulessaal. Ebenso war die „Promi-Dichte“ heuer recht überschaubar. Vielleicht lag es an den bevorstehenden Pfingstferien. Man muss allerdings kritisieren, dass das Publikum das sehr lange Programm – gute 160 Minuten – ohne Pause absitzen musste und das Foyer für den anschließenden Empfang der Stiftung einfach unangenehm überakustisch wirkt. Annekatrin Hentschel vom Bayerischen Rundfunk moderierte die Veranstaltung, die übrigens am 18. und 20. Juni auf BR Klassik gesendet werden wird. Nach einem Grußwort durch die Bratschistin Tabea Zimmermann, Vorsitzende des Stiftungsrats, gab es die mit Spannung erwarteten Porträtfilme über die Förderpreisträger Komposition bzw. Ensemble von Johannes List. Leider fielen diese diesmal erheblich uninspirierter aus als in den letzten Jahren; geradezu nichtssagend die kurzen Filmclips zu den Ensembles: Broken Frames Syndicate aus Frankfurt am Main sowie Frames Percussion aus Barcelona. Umso erfreulicher, dass sich die jungen Komponisten auch mit jeweils einer Live-Aufführung vorstellen durften – hier gebührt Zoro Babel schon mal Dank für die gelungene Klangregie.

Wir hatten hier bereits kurz die diesjährigen Stiftungspreisträger vorgestellt. Daniele Ghisis drei Stücke aus Weltliche (2020) – für Klavier und Elektronik – mochten, trotz der engagierten Darbietung durch den britischen Pianisten Joseph Houston, nicht so recht überzeugen: Ghisi verarbeitet darin u. a. Material aus drei weltlichen Bach-Kantaten. In seiner Live-Elektronik, die akustisch ebenso auf den Korpus des Konzertflügels übertragen wird, verwendet der stark mathematisch orientierte Italiener zudem musique concrète. Das Ganze wirkte dann doch sehr verkopft; da halfen die teils sensiblen Klänge kaum weiter.

Einen völlig anderen Weg geht die isländische Komponistin und Kontrabassistin Bára Ghísladóttir. Wie in den meisten ihrer Kompositionen macht sie auch in RÓL (2023) – für Tuba und Elektronik – aus ihrer besonderen Liebe zum Tieffrequenten keinen Hehl: Was Jack Adler-McKean hier an bedrohlich Geräuschhaftem aus dem Instrument des Jahres herausholte, war wirklich beeindruckend, erschien geradezu wie ein Hurrikan in der Tuba. Und die intensive Live-Elektronik – endlich hatte man ein paar Lautsprecher im Herkulessaal aufgebaut, die tatsächlich satte Bässe hergeben – traktierte die Zuhörer gleichermaßen enorm körperlich, entsprechend Ghísladóttirs grundsätzlichem Bekenntnis zum Animalischen.

Am tiefgründigsten erschien jedoch The Aether and Nether des stilistisch sehr breit aufgestellten Chinesen Yiqing Zhu, der selbst auf dem Podium dirigierend die Live-Elektronik – mit vielen verfremdeten Echo- bzw. Loop-Effekten – bediente und gemeinsam mit Liyi Lu an der Pipa (chinesische Laute) und dem Flötisten Rafał Zolkos mit einem erstaunlichen Wechselbad von expressiver Hochspannung und chillig-lässigem Jazz faszinierte. Große Zustimmung für die jungen Tonkünstler bei der Preisverleihung durch den nach 36 Jahren im Kuratorium nun ausscheidenden Vorsitzenden Thomas Angyan.

Nun folgte endlich Musik der Hauptpreisträgerin Unsuk Chin: Dazu hatte man das Ensemble intercontemporain aus Paris eingeladen, mit dem Chin durch eine bald 30-jährige Zusammenarbeit eng verbunden ist. In der für Anne Sophie Mutter und ihre Geigen-Eleven 2018 geschriebenen Gran Cadenza für zwei Violinen – selbst schon ein kleines Doppelkonzert – durften Hae-Sun Kang und Diégo Tosi alle Register ihres Könnens ziehen: eine technisch wie musikalisch ungemein wirksame, zweifellos phänomenale Wiedergabe. Die Laudatio für Chin, die mittlerweile in Berlin lebt, jedoch bereits als Schülerin von György Ligeti in Hamburg entscheidende musikalische Impulse bekam, hielt der langjährige Intendant der Kölner Philharmonie, Louwrens Langevoort. Er betonte insbesondere den außergewöhnlichen Klangsinn der aus Korea stammenden Komponistin, für Orchester zu schreiben sowie die konsequente Umsetzung ihres vielzitierten Leitspruchs „Meine Musik ist die Abbildung meiner Träume“, die vielleicht in der 2007 in München uraufgeführten Oper Alice in Wonderland einen ersten Kulminationspunkt erreichte.

Nach der Preisübergabe und der ein wenig selbstgefälligen Danksagung der Geehrten gab es als krönenden Abschluss das Doppelkonzert, 2002 als drittes Auftragswerk für das Ensemble intercontemporain entstanden. Hier spielten nun dieselben Solisten wie bei der Uraufführung: Samuel Favre (Schlagzeug) und Dimitri Vassilakis, der am geschickt teilweise präparierten Steinway eine vielschichtige, aber nie vordergründig virtuose Klangwelt hinzauberte. Wirklich virtuos war jedoch das hochdifferenzierte, dabei dicht verschmelzende Zusammenspiel mit dem Ensemble – unter dem kongenialen, präzisen und nie aufdringlichen Dirigat seines seit letztem Jahr neuen Leiters: Pierre Bleuse. Dank eines etwas ungewöhnlichen Gewandes sah der agile, kraftstrotzende Herr beim Dirigieren von hinten ein wenig aus wie eine Fledermaus, beherrschte die herausfordernde Partitur dafür absolut souverän. Hier bewahrheitete sich nun offenkundig, mit welchem musikalischen Kaliber man es bei Unsuk Chin zu tun hat: Tosender Applaus im Saal – und sicher nicht die letzte Komponistin, die diesen Preis völlig zu Recht erhält.

[Martin Blaumeiser, 20. Mai 2024]

Unsuk Chin erhält den Ernst von Siemens Musikpreis 2024

Der internationale Ernst von Siemens Musikpreis geht 2024 an die südkoreanische Komponistin Unsuk Chin. Die Auszeichnung für ein Leben im Dienste der Musik ist mit 250.000 Euro dotiert. Die Preisverleihung findet am 18. Mai 2024 im Herkulessaal der Münchner Residenz statt. Die mit je 35.000 Euro ausgestatteten Förderpreise Komposition gehen 2024 an Bára Gísladóttir aus Island, den Italiener Daniele Ghisi sowie Yiqing Zhu aus China.

Unsuk Chin, Komponistin aus Südkorea, in ihrer Berliner Wohnung (Rui Camilo © EvS)

Die Ernst von Siemens Musikstiftung hat die Preisträger 2024 für Komposition bekanntgegeben. Den Hauptpreis erhält die aus Südkorea stammende Komponistin Unsuk Chin (*1961), die nach Studien in ihrer Heimat mit einem DAAD-Stipendium 1985 in Hamburg Schülerin von György Ligeti wurde und seit langem in Berlin lebt – bei nunmehr 51 Preisträgern erst die fünfte Frau. Als vor zwei Jahren die Deutsche Grammophon die Aufnahmen der 1. & 3. Symphonie der farbigen Amerikanerin Florence Price unter Yannick Nézet-Séguin – zunächst – als erste CD des Labels überhaupt vorstellte, die dem Werk einer einzigen Komponistin gewidmet sei, lag deren PR-Abteilung daneben. Tatsächlich war bereits 2005 in der Reihe DG 20/21 ein Album erschienen, das ausschließlich Musik keiner Geringeren als Unsuk Chin enthielt, darunter zwei Schlüsselwerke: Xi für Ensemble und Elektronik sowie Akrostichon-Wortspiel. Darin vertonte sie – neben Michael Ende – schon Texte von Lewis Caroll, der Dichterin, die später Inspirationsquelle für ihre bisher einzige Oper Alice in Wonderland wurde – 2007 erfolgreich von Kent Nagano an der Bayerischen Staatsoper uraufgeführt.

Chin wurde insbesondere durch bis ins kleinste Detail ausgetüftelte, oft großbesetzte Orchesterwerke berühmt. Hier entwickelte die Komponistin eine ganz persönliche Klangsprache von berauschender Farbigkeit und Intensität. Ihre Instrumentalkonzerte – neben je einem für Klavier, Violine und Violoncello erstaunte Chin 2010 mit Šu für die chinesische Mundorgel Sheng – machen längst einen Siegeszug um die ganze Welt. Letzteres war – mit Wu Wei, freilich dem einzigen Solisten, der Šu bislang bewältigt – vor anderthalb Jahren bei der musiva viva in München zu hören. Darin zeigt sich auch, dass Unsuk Chin bei der Einbeziehung fernöstlicher Elemente einen ganz anderen Weg geht als etwa ihr Landsmann Isang Yun. Zu welchen vokalen Großtaten sie fähig ist, beweist nicht zuletzt die Komposition Le silence des Sirènes (2014), erst kürzlich in einer hinreißenden Aufnahme mit Barbara Hannigan und den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle erschienen.

Man darf schon jetzt darauf gespannt sein, welche ihrer Werke bei der offiziellen Preisverleihung am 18. Mai 2024 um 19.30 Uhr im Herkulessaal der Münchner Residenz zu hören sein werden. In diesem Rahmen werden dann auch wieder die drei Förderpreisträger Komposition in filmischen Kurzporträts von Johannes List vorgestellt werden – immer ein echtes, oft witziges Highlight dieser Veranstaltung.

Als diesjährige Förderpreisträger Komposition der Ernst von Siemens Musikstiftung wurden benannt:

Bára Gísladóttir (*1989), einmal mehr ein herausragendes Beispiel der für ein so kleines Land überaus aktiven Neue-Musik-Szene Islands mit geradezu erstaunlich vielen weiblichen Protagonistinnen.

Daniele Ghisi (*1984) – Der Italiener war u. a. Schüler des in Deutschland immer noch weit unterschätzten Stefano Gervasoni, studierte daneben Mathematik und untersuchte in seiner Dissertation Techniken für computergestützte Komposition.

Yiqing Zhu (*1989) – Der chinesische Komponist und Pianist schloss nach Jahren in Shanghai und Kopenhagen 2019 sein Studium in Stuttgart ab, u. a. bei Marco Stroppa. Neben der zeitgenössischen Musik setzt er sich auch mit der traditionellen östlichen Musik, der elektronischen Musik, dem Jazz, der Welt- sowie der Popularmusik auseinander.

Weitere Informationen – darunter ausführlichere Essays – zu den Preisträgern 2024 findet man auf der Website der Ernst von Siemens Musikstiftung. Entgegen weitverbreiteter Meinung ist der Besuch des Preisverleihungskonzertes keineswegs nur geladenen Gästen vorbehalten, sondern die Veranstaltung steht – wie bisher – auch dem interessierten Publikum offen, wenn man sich vorher bei der Stiftung anmeldet (preisverleihung@evs-musikstiftung.ch).

[Martin Blaumeiser, 25. Januar 2024]

50-jähriges Jubiläum der Ernst von Siemens Musikstiftung mit den Berliner Philharmonikern

Mit dem diesjährigen räsonanz Stifterkonzert feierte die Ernst von Siemens Musikstiftung am 17. September 2023 zugleich ihr 50-jähriges Bestehen. Zur Veranstaltung im Rahmen der musica viva des BR in der Münchner Isarphilharmonie hatte man keine Geringeren als die Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko eingeladen. Zu erleben gab es vier großbesetzte Werke: Iannis Xenakis‘ „Jonchaies“, Márton Illés‘ „Lég-szín-tér“, Karl Amadeus Hartmanns „Gesangsszene“ (mit dem Bariton Christian Gerhaher) und György Kurtágs „Stele“.

Die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko © BR, Astrid Ackermann

Seit dem ersten räsonanz Stifterkonzert 2016 hat man es stets geschafft, in München sonst selten zu hörende, hochrangige Klangkörper einzuladen. Zur Feier ihres 50-jährigen Bestehens ließ sich die Ernst von Siemens Musikstiftung nun erst recht nicht lumpen. Da durften dann die kürzlich erneut zum weltbesten Orchester gekürten Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko erstmals in der ausverkauften Isarphilharmonie spielen. Erwartbar, aber angesichts des immens anspruchsvollen Programmes durchaus eine Herausforderung auch an die Zuhörer.

Angesetzt waren – man hatte dies die drei Tage zuvor bereits so in Berlin gespielt – neben einer Uraufführungskomposition wieder aufwändig zu realisierende und daher selten zu hörende Werke – ausdrückliches Anliegen der Stifterkonzerte. Die Berliner Philharmoniker beginnen mit Iannis Xenakis (1922–2001): Jonchaies (1977) ist mit in der Partitur explizit geforderten 109 Spielern das größtbesetzte seiner reinen Orchesterwerke – und vielleicht sein bestes. Zwar hat Xenakis immer betont, dass er von gänzlich außermusikalischen – offenkundig stark durch Mathematik und moderne Architekturprinzipien geprägten – Ideen ausgeht, gleichzeitig strahlt seine Musik nicht nur eine eindringliche formale Konsistenz aus: Sie wirkt immens körperlich, verfügt schon rein klanglich über eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann, und erzeugt beim Publikum durchaus Assoziationen, die sich dann emotional entladen können. So wird der Rezensent in den ersten zwei Minuten des Stücks unweigerlich sowohl an die Filmmusiken von Hitchcocks Psycho (Bernard Herrmann) als auch von Spielbergs Der weiße Hai („Jaws“, John Williams) erinnert. Jonchaies wird über Strecken tatsächlich wirklich sehr laut: Völlig faszinierend, wie Petrenko, der höchst sachlich die konstruktiven Facetten des Werkes modelliert, sogar in einem dreifachen Forte nochmals etwas draufzusetzen vermag; Ergebnis sorgfältigster Probenarbeit. Alles ist sehr differenziert bis ins Detail austariert; lediglich die Paukenbatterien dröhnen an ein, zwei Stellen selbst den komplett geteilten, riesigen Streicherapparat weg, was aber den akustischen Unzulänglichkeiten des HP8 geschuldet ist. Eine höchst beeindruckende, dionysische Klangorgie, die allerdings keine Minute länger sein dürfte, in absolut perfekter Darbietung.

Das Auftragswerk für dieses Konzert, Lég-szín-tér, zu übersetzen mit „Luft-Farbe-Raum“, stammt vom Ungarn Márton Illés (Jahrgang 1975) – schon 2008 Förderpreisträger Komposition der Ernst von Siemens Musikstiftung. Illés verfügt über ein enormes Instrumentationsgeschick: Das gegenüber Xenakis etwas kleinere Orchester wird noch konsequenter bis auf den einzelnen Spieler hin ausdifferenziert, mit einem – heutzutage üblichen – dichteren Spektrum vielfältigster Spieltechniken, das im Gegensatz zu anderen Tonsetzern seiner Generation hier zum Glück nie zum Selbstzweck gerät. Schon toll, wie manche Klangrezepturen zum fantastischen Vexierspiel oder gar zur Camouflage werden: Sehr helle Klänge ziemlich zu Anfang stammen so etwa nicht von den hohen Streichern oder Bläsern, sondern von Akkordeon und mit Kontrabassbogen gestrichenen Zimbeln. Das wirkt immer sehr farbig, und die Dynamik ist ebenso zwingend. Die Streicher etablieren schnell mit kaum hörbaren Tupfern quasi ihren „Raum“. Sehr konzentriert und doch überraschend, wie sich im zweiten Abschnitt des dreisätzigen Werks quasi aus dem Nichts eine gewaltige Steigerung entwickelt. Der dritte Satz imitiert mit rein instrumentalen Mitteln gekonnt elektronische Klänge. Was dieser Musik leider – zumindest beim ersten Hören – fehlt, ist eine nachvollziehbare Form oder Teleologie. Dennoch erhalten das Stück und seine Wiedergabe fast ungeteilte Zustimmung.

Nach der Pause verneigt man sich vor dem Begründer der Münchner musica viva, Karl Amadeus Hartmann, mit einer grandiosen Aufführung seiner letzten größeren Komposition, der Gesangsszene nach Worten aus Sodom und Gomorrha von Jean Giraudoux (1963). Der eine erschreckende Weltuntergangsstimmung beschwörende Text passte für Hartmann auf die Zeit des Kalten Krieges und erscheint angesichts der derzeitigen Katastrophen aktueller denn je. Der wie immer famose Bariton Christian Gerhaher gestaltet die teils gesungene, stellenweise gesprochene Partie mit überwältigender Ausdruckskraft. Hartmann lässt die Stimme zwar oft dann einsetzen, wenn das Orchester gerade nicht spielt. Gerhaher füllt so mühelos den großen Saal, bleibt mit klarster Diktion und Textverständlichkeit selbst dann präsent, wenn er gegen das Orchester im Forte beinahe anbrüllen muss. Dies ist freilich kompositorisch genauestens einkalkuliert, wird auch emotional von Gerhaher exakt richtig dosiert. Wieder gelingt den Berlinern und ihrem Chef eine Glanzleistung: Vom beginnenden Flötensolo – mit dem sich später der Kreis wieder schließen wird – über die zunächst zärtlich gebändigten, zugleich intensiven Streicherklänge bis zu manch irrsinniger Steigerung wird hier Hartmanns zwölftönige Polyphonie minutiös aufs Schönste realisiert. Der apokalyptische Textschluss („Es ist ein Ende der Welt! Das Traurigste von allen…“) lässt das Publikum zunächst sprachlos, bis verdient tosender Beifall losbricht.

Jetzt noch die 1994 für Claudio Abbado und seine Philharmoniker geschriebene Trauermusik Stele des ungarischen Altmeisters für Miniaturen, György Kurtág (*1926), zu bringen, passt zwar in den Kontext, ist jedoch fast schon zu viel des Guten. Für Kurtágs Verhältnisse war dieses Stück – von der Besetzung (u. a. mit Wagnertuben, 2 Klavieren und natürlich dem ungarischen Identifikationsinstrument, dem Cimbalom) wie von der Länge her – immerhin knapp 13 Minuten – eine ungewöhnliche Herausforderung. Ganz zum Schluss scheint diese dreisätzige symphonie funèbre, in der sich Minimalistisches zwischendurch erfolglos gegen den Tod aufzubäumen scheint, mit ihren matten Impulsen – an die gefrorenen Tränen in Bartóks Herzog Blaubarts Burg erinnernd – sogar irgendwie tröstlich. Kirill Petrenko erzeugt zuletzt eine geradezu erhabene Stille. Danach nicht enden wollende Ovationen; selbst Orchester und Dirigent beglückwünschen sich gegenseitig aufs Herzlichste. Wen wundert’s nach diesem anstrengenden Programm vier Tage hintereinander? Den Münchnern wird ein beglückender Konzertabend sicherlich noch lange in bester Erinnerung bleiben.

[Martin Blaumeiser, 18. 9.2023]

Bewegende Preisverleihung 2023 der Ernst von Siemens Musikstiftung im Münchner Herkulessaal

Am Freitag, 26. 5. 2023 um 20 Uhr fand – anstatt im Prinzregententheater diesmal im Herkulessaal – die Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2023 an den britischen Komponisten Sir George Benjamin statt – wieder gemeinsam mit den Förderpreisen für junge Komponisten/Komponistinnen und Ensembles. Im Rahmen des Festaktes erklangen zudem live zwei Schlüsselwerke des Hauptpreisträgers, vorgetragen vom Ensemble Modern: „At First Light“ unter der Leitung Christian Karlsens sowie „Into the Little Hill“, dirigiert vom Komponisten selbst.

Sir George Benjamin, Keren Motseri, Helena Rasker, Ensemble Modern © Stefanie Loos

Annekatrin Hentschel vom Bayerischen Rundfunk moderierte diesmal die Preisverleihung der Ernst von Siemens Musikstiftung. Entgegen weitverbreiteter Meinung ist der Besuch dabei keineswegs nur geladenen Gästen vorbehalten, sondern die Veranstaltung stand – wie bisher – auch dem interessierten Publikum offen, wenn man sich vorher bei der Stiftung anmeldete. Aber natürlich waren zahlreiche „Promis“ der Neue-Musik-Szene anwesend, vielleicht nicht ganz so viele wie im vorigen Jahr. In seinem Grußwort warb der Komponist und Musikmanager Peter Ruzicka – nach einem erschreckenden Szenario, wo Neue Musik nur noch online, gestreamt oder auf Konserve, möglicherweise sogar durch künstliche Intelligenz generiert, stattfinden könnte – nachdrücklich für den Erhalt einer lebendigen, zeitgenössischen Musikkultur mit den dafür unabdingbaren finanziellen Mitteln und dankte der Stiftung für Ihren ungebrochenen Einsatz für diese nur scheinbare „Nische“, die sich dann jedoch stetig als wichtiger gesellschaftlicher Impulsgeber entpuppt.

Die aktuellen Förderpreisträger Komposition wurden sofort bejubelt, nachdem die in diesem Jahr besonders gelungenen filmischen Kurzporträts das Publikum mehr als neugierig auf deren Musik gemacht haben dürften, da Livebeiträge den zeitlichen Rahmen gesprengt hätten. Jedenfalls wurde Johannes List den ungewöhnlich individuellen Künstlerpersönlichkeiten der Kroatin Sara Glojnarić (* 1991), des Briten Alex Paxton (* 1990) und des US-Amerikaners Eric Wubbels (* 1980) mal wieder auf äußerst sympathische Weise gerecht. Der scheidende Vorsitzende des Kuratoriums, Thomas Angyan, übernahm dann die Preisverleihung – zusammen mit den Förderpreisen Ensemble an Vertreter des New Yorker Vokalensembles ekmeles bzw. von NAMES (New Art and Music Ensemble Salzburg).

Sehr persönlich geriet die Laudatio auf den Hauptpreisträger, den Komponisten und Dirigenten Sir George Benjamin (Jahrgang 1960), durch den Philosophen John Hyman. Kein Wunder, denn die beiden verbindet eine enge Freundschaft seit Kindertagen. Hyman scheute bei den überragenden Hörfähigkeiten Benjamins nicht den Vergleich mit Mozart, erwähnte die Schönheit seiner Skizzen und lobte generell dessen Ernsthaftigkeit und Präzision. Gewisse Wunderkind-Attribute wären hier in der Tat nicht übertrieben: Zu komponieren begann der junge Brite mit sieben, mit sechzehn wurde er bereits Schüler Olivier Messiaens. Und sein Einsatz für die Neue Musik als Dirigent ist herausragend, man erinnere nur an das von ihm geleitete Stifterkonzert 2016, das sofort die hohen Maßstäbe für diese Reihe setzte. Benjamin, offenkundig durch Erscheinung wie seinen Dirigierstil ein enorm einfühlsamer und empathischer Mensch, konnte bei seiner kurzen Dankesrede – unter Einbeziehung der mittlerweile 30-jährigen Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern – eine gewisse Rührung nicht verbergen.

Das Frankfurter Ensemble hatte zum Auftakt des Abends Benjamins frühes At First Light (1982) für Kammerorchester aufgeführt – unter dem Schweden Christian Karlsen, der schon als 20-Jähriger mit Karlheinz Stockhausen zusammengearbeitet hat. Optisch wirkte sein Dirigat ein wenig eckig, aber musikalisch sehr suggestiv; Karlsen hatte Klang und Dynamik völlig im Griff. In Deutschland ist er gerade dabei, seinen Wirkungskreis zu erweitern. Wer ihn noch nicht kennt, sollte die soeben erschienene CD mit Musik Tōru Takemitsus (BIS) anhören, die seine bemerkenswerten Qualitäten unterstreicht. Nach der Pause trat George Benjamin schließlich selbst ans Pult und begeisterte mit einer hochspannenden Darbietung seiner Kammeroper (lyric tale) „Into the Little Hill“ (2006)– die erste Zusammenarbeit mit dem Librettisten Martin Crimp, der bislang drei weitere Opern folgten (Picture a day like this wird im Juli uraufgeführt werden). Man spürte sofort, welch enges Vertrauensverhältnis hier zwischen Ensemble und Dirigent gewachsen ist: Benjamin brachte mit präzisen, sparsamen Handbewegungen alles in schönsten Einklang. Das Stück – eine moderne Version des Rattenfänger-Mythos – wird lediglich von zwei Sängerinnen gestemmt, die verschiedenste Rollen einnehmen: Dies bewältigten Keren Motseri und Helena Rasker grandios. George Benjamin hat bislang zwar nur knapp 45 Kompositionen veröffentlicht, aber seine Partituren zeugen von einer sensationell präzisen und differenzierten Klangvorstellung, stets perfekt ausformuliert und ohne jede plumpe Effekthascherei. Für diese emotional unmittelbar verständliche Musik gab es natürlich wieder völlig verdient Ovationen.

[Martin Blaumeiser, 3. Juni 2023]

Gleich zwei Weltklasse-Klangkörper beim „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Dieter Ammann, Jonathan Nott, OSR – © Astrid Ackermann für musica viva/BR

Das räsonanz Stifterkonzert der Ernst von Siemens Musikstiftung fand dieses Jahr wieder im Rahmen der musica viva des BR im Münchner Prinzregententheater statt. Wohl zum ersten Mal überhaupt gastierte am Donnerstag, 29. September 2022, das Genfer Orchestre de la Suisse Romande unter seinem Chef Jonathan Nott in München. Dazu gesellte sich für die Uraufführung von Rebecca Saunders‘ „Wound“ noch ein zwölfköpfiges Solistenensemble aus Mitgliedern und Gästen des Pariser Ensemble Intercontemporain. Außerdem erklangen Pierre Boulez‘ „Messagesquisse“ mit dem Solocellisten Léonard Frey-Maibach sowie die beiden Orchesterwerke „Boost“ und „Glut“ des Schweizers Dieter Ammann, der dieses Jahr seinen 60. Geburtstag feierte.

Die räsonanz Stifterkonzerte der Ernst von Siemens Musikstiftung erfreuen ja seit einigen Jahren einerseits mit ihrer Vorgabe, gerade besonders aufwändige, bereits nach ihren Uraufführungen hochgerühmte Orchesterwerke in Perfektion erneut zur Diskussion zu stellen. Daneben bringen sie im Rahmen der musica viva auswärtige Klangkörper nach München, die hier sonst eher selten bzw. gar nicht zu hören sind – etwa 2019 das London Symphony Orchestra unter Simon Rattle. Kaum zu glauben, dass das 1918 vom legendären Ernest Ansermet gegründete Orchestre de la Suisse Romande mit immerhin 112 festen Mitgliedern zum allerersten Mal in München zu Gast ist. Unter seinem nun auf Lebenszeit gewählten, britischen Chefdirigenten Jonathan Nott durfte man auf ein äußerst anspruchsvolles Programm gespannt sein.

Die nun in Berlin lebende Britin Rebecca Saunders (* 1967) erhielt 2019 den Hauptpreis der EvS Musikstiftung. Dem Rezensenten war schon Anfang der 2000er Jahre ihr besonderes Händchen für mittlere Kammermusik- bzw. Ensemblebesetzungen aufgefallen. Nun führt Saunders mit dem großangelegten, 38-minütigen Stück „Wound“ für Soloensemble und Orchester diese spezielle Begabung mit ihrer stetig gewachsenen Erfahrung mit vollem Orchester zusammen. Tatsächlich könnte man das Werk als Konzert bezeichnen, bei dem 12 Solisten – des von Boulez gegründeten Ensemble Intercontemporain – als Einheit und das Genfer Orchester sich unentwegt die Bälle zuwerfen. Mit anfangs sehr dunklen Klangfarben entwickelt sich schnell ein andauerndes, energetisches Spiel zunächst recht kleiner, aggressiver Wellenbewegungen in unterschiedlichsten, aber immer interessanten Klangmischungen. Dabei fungiert etwa das Akkordeon (im „großen“ Orchester) als Ersatz für elektronische Quellen. Überraschend, dass diese Kleinteiligkeit auf Dauer keineswegs langweilt und trotz nicht überschaubaren Formverlaufs recht organisch zu gewaltigen Steigerungen führt.

Mit Jonathan Nott hat das Orchestre de la Suisse Romande nun offenkundig einen Chef gefunden, mit dem sich eine ganz erstaunliche Symbiose zu ergeben scheint. Wer Notts Anfänge kennt, wird anerkennen müssen, wie stark sich der Dirigent nicht nur in seiner äußerst präzisen Zeichengebung weiterentwickelt hat. Man kann nur darüber staunen, wie ihm seine Musiker insbesondere die immer aktive Nachzeichnung der komplexen, auch heftigen Dynamik – gerade bei Saunders – sozusagen aus der Hand fressen. Jedoch seine größte Leistung ist, den weitgespannten Bogen, die musikalische Entwicklung, ohne den nötigen Blick aufs Detail zu vernachlässigen, in Spannung zu halten. Ohne hier über bildhafte Allusionen wie Hineingreifen oder Aufreißen im Kontext von Wunde zu spekulieren: Die Musik wirkt so wie ständig wechselnder Lichteinfall aus verschiedenen Perspektiven. Saunders ist mit Wound jedenfalls ihr bisher beeindruckendstes Orchesterwerk gelungen – gewaltiger Applaus für eine Weltklasse-Uraufführung.

Nach der Pause steht, zwischen zwei Werken des in Deutschland noch nicht genügend beachteten Schweizers Dieter Ammann, Pierre Boulez‘ Messagesquisse (1977) für Violoncello solo – hervorragend: Léonard Frey-Maibach – und 6 Celli (hier aus beiden Ensembles) auf dem Programm. Nur bei den schnellen, dichten Abschnitten greift Nott hier unterstützend ein. Der Kammermusik-Klassiker ist nicht oft zu hören, sorgt dafür stets für Jubel, wie natürlich auch bei dieser Aufführung. Dieter Ammann kam relativ spät auf die klassische Schiene, und man merkt seiner Musik durchaus die Jazz- und Improvisationserfahrungen an. An seinen Stücken für großes Orchester tüftelt er teils jahrelang; die Ergebnisse sind dann allerdings in jeder Hinsicht faszinierend. Zuletzt hatte Ammann mit einem wirklich bahnbrechenden Klavierkonzert (Gran Toccata, 2019) bewiesen, auf welchem Niveau er sich mittlerweile bewegt, und das Stück geht hoffentlich weiter seinen Siegeszug um die Welt.

Als sie aus der Taufe gehoben wurden, hatten Boost (2001) und Glut (2016) ebenfalls sogleich für Furore gesorgt: Völlig zu Recht, wie die grandiose Darbietung heute erneut zeigt. Stimmige Farbigkeit mit einem bis ins Detail ausgearbeitetem Klangspektrum – dessen oft überbordende Schönheit in der Tat nicht zuletzt auf Ammanns perfektem Umgang mit den Erkenntnissen der französischen Spektralisten beruht – sowie enorme, dabei emotional immer nachvollziehbare Kontraste auf engstem Raum sind ein echtes Festmahl für ein an neuer Musik interessiertes Auditorium wie auch für das Orchestre de la Suisse Romande. Die Souveränität und die offensichtliche Begeisterung der Musiker übertragen sich so unmittelbar auf das Publikum. Nott – der Boost bereits uraufgeführt hatte – geht an den rhythmisch besonders exaltierten Stellen fast tänzerisch mit, zelebriert Ammanns mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks erstellte, wirklich schwierige Partituren mit Inbrunst. Am Schluss des Konzertes gibt es kein Halten mehr, und man muss der EvS Musikstiftung für das mehr als überfällige Gastspiel dieses Spitzenorchesters seinen Dank aussprechen.

[Martin Blaumeiser, 30. September 2022]

Ernst von Siemens Musikstiftung stellt Förderpreise für 2020 und 2021 vor

Ensemble Modern - David Niemann
Ensemble Modern – David Niemann

Am Freitag, 1. 10. 2021 stellte die musica viva des Bayerischen Rundfunks im Prinzregententheater Stücke von gleich zwei Jahrgängen der Förderpreisträgerinnen und -preisträger der Ernst von Siemens Musikstiftung vor. Für 2020 waren dies Samir Amarouch, Catherine Lamb und Francesca Verunelli; für 2021 Malte Giesen, Mirela Ivičević und Yair Klartag. David Niemann dirigierte das Ensemble Modern in beiden Programmen.

Normalerweise stellt die Ernst von Siemens Musikstiftung ja die Förderpreise für den kompositorischen „Nachwuchs“ im Rahmen der Verleihung des „großen“ Musikpreises vor. Coronabedingt konnte dies 2020 nicht so stattfinden. Daher präsentiert man nun wenigstens Stücke der insgesamt sechs Preisträgerinnen und Preisträger für gleich beide Jahrgänge 2020 und 2021 in zwei Konzerten im Münchner Prinzregententheater dem Publikum – aber ohne die üblichen Zeremonien mit Laudatio und Preisübergabe. Dafür sind die wie immer interessanten, kurzen Porträtclips über die sechs Künstlerinnen und Künstler online verfügbar.

Das Ensemble Modern spielt – bis auf das letzte Werk – unter der Leitung des 31-jährigen deutschen Dirigenten David Niemann, der mit erstaunlicher Souveränität und Präzision musizieren lässt. Niemann hat 2015 den 2. Preis beim berühmten Malko-Wettbewerb gewonnen und geht die komplizierten Werke äußerlich unprätentiös an, gibt dem Star-Ensemble stets die nötige Orientierung sowie die richtigen Impulse zum perfekten Zusammenspiel. Daneben kann er auch mit der rechten Hand – er führt den Taktstock links – den Klang mit großer Empathie eingreifend genau formen, wo dies förderlich erscheint. Der ganze Abend gelingt Niemann und dem Ensemble so höchst überzeugend.

Die aus Split stammende Mirela Ivičević (*1980), die zuletzt bei Beat Furrer studierte und nun in Wien lebt, betritt mit Sweet Dreams für Ensemble den intimen Bereich ihrer Schwangerschaft, versucht die Schlafphasen ihres ungeborenen Kindes zu vertonen und mit ihrer eigenen Wahrnehmung zu kombinieren. Daraus ergeben sich klar strukturierte Abschnitte: aktive REM-Phasen alternieren mit solchen der Ruhe, die vom Herzschlag bestimmt werden. Ivičevićs Instrumentationskunst ist vom Feinsten, ungemein farbig (u.a. mit Akkordeon, Klavier und Harfe), ihre Musik spannend, manchmal durchaus affektgeladen. Zudem spielt sie gekonnt mit spektralen Klängen – 12 feinsinnige und unterhaltsame Minuten, wirklich beeindruckend.

In Rationale, für Sopran und Ensemble, bilden Texte des mittelalterlichen, jüdischen Philosophen und Rechtsgelehrten Maimonides, sowie die ersten 109 Nachkommastellen einer Annäherung an Wurzel aus 2 die Grundlage. Die Begrenztheit menschlicher Vernunft nicht nur beim Verständnis irrationaler Zahlen, interessiert auch den Komponisten Yair Klartag (*1985), der – nun wieder in Tel Aviv tätig – eine Zeit lang Schüler von Georg Friedrich Haas war. In seinem Stück finden sich viele indifferente Effekte, wie etwa bunte Glissandi über pulsierenden Bässen, aber öfters sehr schöne, ineinander übergehende Klangmischungen, wo sich verschiedene Instrumentengruppen quasi die Klinke in die Hand geben. Dies wirkt insgesamt sehr konsistent, dabei recht atmosphärisch, wobei die Sopranistin Eliat Aronstein zwar über eine feine Höhe verfügt, jedoch nicht das nötige Stimmvolumen hat, um sich gegen das Ensemble durchzusetzen. Für den Rezensenten trotzdem der Höhepunkt des Abends.

Catherine Lamb (*1982) wurde in Ihrer US-amerikanischen Heimat stark von James Tenney beeinflusst – kein Wunder, dass sie sich in Ihrer Musik intensiv mit (Mikro)-tonalität und Psychoakustik auseinandersetzt. In Prisma Interius V generiert ein von ihr entwickelter secondary rainbow synthesizer aus der realen Umgebung zunächst kaum wahrnehmbare Klänge. Fast wie ein Concertino interagieren Harfe, Bassklarinette und gestimmte Weingläser mit einem kleinen Streicherensemble, das allein für die Ausführung von Lambs enorm schwierig zu realisierender Mikrointervallik höchstes Lob verdient. Die extrem langsam changierenden Klangflächen wirken zwar ziemlich artifiziell, sind aber absolut klar definiert und werden nie langweilig – am Schluss große, weiche Cluster.

Der jüngste der Preisträger, Samir Amarouch (*1991) aus Frankreich, lässt sein Electronica-b minor crush mit einem simplen, homorhythmisch gesetzten Nonenakkord des Ensembles beginnen, der dann völlig instabil pulsiert, dennoch groovt und an Disco Funk erinnert – der einzig wahrnehmbare Parameter ist zunächst Rhythmus. Nach und nach kristallisieren sich dann Einzelereignisse heraus, beinahe morseartig. Es entwickelt sich ein Riesen-Gegackere in den Bläsern, alles ein Wechsel zwischen Archaik und Weltraumsound, dicht und schon etwas provokativ – zugleich jedoch äußerst befreiend.

Bei Massenprozession ist sofort klar, dass Malte Giesen (*1988) sich hier mit dem 2. Satz von Beethovens 7. Symphonie auseinandersetzt. Mit einem auf jeweils ein Instrument jeder Gruppe reduziertem Orchester und Live-Elektronik – die u.a. bis auf das 1024-fache multipliziertes Klangmaterial des Originals enthält – ist das natürlich weit mehr als nur ein „Remix“ des Beethoven-Stücks. Vom verfremdenden Ineinander-Verlaufen bis hin zur quasi auf einen Punkt erstarrten, kompletten „Variation“ gelingt hier eine durchdachte, kritische Reflexion über den Jubilar wie den medialen Konsum seiner Musik. Mit 20 Minuten läuft sich die Sache allerdings bald irgendwo tot – auch wenn Niemann alles genüsslich herüberbringt.

Zum Schluss Francesca Verunellis (*1979) wo.man sitting at the piano für Flöte/Bassflöte und Player Piano, hier in Gestalt eines Yamaha Disklavier Konzertflügels, bei dem einige Tasten derart präpariert sind, dass sie nur perkussiver Geräuscherzeugung dienen. Die mit über 40 Minuten – zumindest in diesem Rahmen – eindeutig zu lange Komposition ist dreiteilig. Der großartige Dietmar Wiesner spielt in den beiden äußeren Abschnitten virtuos und einfühlsam mit dem – oder gegen das? – Automatenklavier, dass es dem Hörer über weite Strecken so vorkommt, als ob das Instrument auf den Flötisten reagiere. In der Mitte gibt es ein gut viertelstündiges „Solo“ des faszinierend mit allen möglichen Monstrositäten, weit jenseits der Stücke Nancarrows, programmierten Musikroboters – leider allzu ermüdend.

Selten waren die Förderpreisträgerinnen und -preisträger der EvS Musikstiftungen eines Jahres auf durchgehend so erfreulichem Niveau, wie diesmal sämtliche sechs vorgestellten Komponistinnen und Komponisten beider „Jahrgänge“, die bereits alle ihren sehr persönlichen Weg gefunden zu haben scheinen. Das anwesende Publikum ist jedenfalls von den sorgfältigen Darbietungen offensichtlich begeistert.

[Martin Blaumeiser, 3. Oktober 2021]

Simon Rattles Wechselbad der Gefühle

(c) Stefanie Loos

Wie schon in den letzten drei Jahren blieb auch das Münchner räsonanz Stifterkonzert 2019 seinem Konzept treu, nicht allerneueste Kompositionen vorzustellen – daran herrscht ja in der Hauptreihe der musica viva kein Mangel –, sondern solche Werke, die in den vergangenen Jahrzehnten einen Status quasi „von Bedeutung“ erlangt haben und in München bislang nicht oder selten zu hören waren. Zum ersten Mal unter seinem neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle war am 2.5.2019 das London Symphony Orchestra in der Philharmonie zu Gast – nicht zuletzt kam man damit der erwartungsgemäß hohen Kartennachfrage entgegen. Das Programm widmete sich drei Komponisten, für deren Werk sich Rattle von Beginn seiner Karriere an immer begeistern konnte: Mark-Anthony Turnage (*1960), Harrison Birtwistle (*1934) und John Adams (*1947).

Man kann ja über die Akustik der Philharmonie im Gasteig denken, was man will. Dass zumindest einige Gastdirigenten damit überhaupt nicht zurechtkommen konnten, ist hingegen eine Tatsache. Über die Jahre haben sich für mich einige Lieblingsplätze herauskristallisiert, von denen ich mir jedenfalls einbilde, dort ein einigermaßen durchsichtiges und „gerechtes“ Klangbild serviert zu bekommen. Meine Karte für Donnerstag führt mich allerdings just in einen Block, den ich bislang zum no go erklärt hätte. Und obwohl Sir Simon die Philharmonie lange gemieden hat, scheint er in diesem vom Münchner Publikum heißerwarteten Konzert keinerlei Probleme mit dem Raum zu haben. In der Pause machen allerdings auch einige Leute ihrem Ärger Luft, die sich mit der – verglichen mit den Münchner Philharmonikern – gänzlich anderen Aufstellung keineswegs anfreunden möchten und glauben, nur die Kontrabässe zu hören, deren Pulte sich bei Rattle direkt rechts entlang des Podiums reihen.

Musikalisch ist das Konzert dann ein wirkliches Highlight. Simon Rattle scheint es zu genießen, gleich drei höchst anspruchsvolle Werke von noch lebenden Komponisten präsentieren zu dürfen, die ihm offensichtlich sehr ans Herz gewachsen sind. Der jüngste, der Brite Mark-Anthony Turnage, dessen internationaler Durchbruch u.a. dem Erfolg seiner Kammeroper Greek bei der ersten Münchner Biennale 1988 zu verdanken ist, war unmittelbar danach vier Jahre lang Composer in Association beim City of Birmingham Symphony Orchestra – mit Rattle als Chefdirigent. Dort lernte er, auch mit einem großen Orchesterapparat virtuos umzugehen. Die ursprüngliche Version von Dispelling the Fears als Schlussnummer des großen Zyklus Blood on the Floor für Jazz Quartett und Ensemble steht allerdings deutlich klarer für Turnage-typische klangliche Eigenheiten als die dann doch etwas künstlich aufgeblähte Konzertfassung für zwei Trompeten und volles Symphonieorchester (1994-95). Die beiden Solisten Philip Cobb und Gábor Tarkövi bewältigen ihre bis zum halbwegs versöhnlichen Schluss antagonistisch angelegten Partien grandios, besonders das Spiel mit – scheinbar – unterschiedlichen Distanzen; wo’s jazzig wird, ist das wirklich berührend und erinnert an B. A. Zimmermanns Trompetenkonzert Nobody knows de trouble I see. Insgesamt ist aber schon dieses Werk eher ein Nachtstück, düster wie ein Film Noir, dessen unberechenbarer Untergrund jenseits von Gut und Böse von Rattle faszinierend zelebriert wird. Jeder noch so kleine Effekt „sitzt“ punktgenau und evoziert eine Klangwelt voller Empathie.

Ganz klar als langsames, immerhin halbstündiges Nocturne erweist sich Harrison Birtwistles The Shadow of Night (2001). Das Stück ist natürlich ungleich komplexer als Turnage, aber beim genauen Hinhören nicht unbedingt schwerer verständlich. Man trifft, ähnlich wie in Bartóks Nachtmusiken, auf eine Welt freier, scheinbar unkontrollierbarer Natur – auch hier mit eingestreuten Vogelrufen der Holzbläser –, die im Sinne von Melancholie der Seele Raum für Selbstreflexion gibt. Dabei bezieht sich der Komponist auf Motive bei Dowland, Dürer und Chapman. Rattles Dirigat bleibt immer sehr klar, präzise und energisch, aber zugleich von entwaffnender Lockerheit. Der dramaturgisch logische Aufbau der Riesenpartitur mit den für Altmeister Birtwistle so unverkennbaren Steigerungswellen und einzelnen instrumentalen Glanzlichtern – auch wieder oft die Trompeten –, wirkt minutiös geplant und erschließt sich musikalisch fast bruchlos. Die Homogenität des Streicherklangs der Londoner ist überragend, macht das Geschehen weicher und stimmungsvoller, als man es bei den ebenso vorhandenen, üblichen Härten Birtwistles erwarten möchte. Dieses Stück lässt den Rezipienten keine Sekunde los, die Anspannung geht an die Grenzen des Ertragbaren, wenn man die ganzen einmaligen, fein erarbeiteten klanglichen Finessen (Schlagzeug!) an sich heranlässt.

Dass dies Teile des Publikums – in diesem Konzert sitzen nicht nur die allseits bekannten Gesichter, auf die man bei den musica viva Orchesterkonzerten im Herkulessaal trifft – überfordert hat, die möglicherweise nur wegen Rattle gekommen sind, zeigt sich an den leicht gelichteten Reihen nach der Pause. Schade – denn gerade jetzt wird ein Stück dargeboten, das man ohne rot zu werden als „Orchesterkracher“ bezeichnen darf. John Adams‘ Harmonielehre bedient sich gnadenlos, aber auch mit unvergleichlicher Intelligenz in der Musikgeschichte. Schon hier (1985) bilden die der amerikanischen minimal music entlehnten Pattern eben doch weitaus geschickter und kunstvoller gestrickte klangliche Netze als bei Philip Glass & Co. Und sie sind auch nur ein Aspekt von Adams‘ Musik, die nicht nur ihrem typischen West-Coast-Klang frönt, sondern tatsächlich eine Auseinandersetzung mit der Entwicklung der freilich immer noch tonalen Harmonik ist – bis auf das auf den Kopf gestellte Zitat aus Mahlers Zehnter. Aber auch Wagner und Debussy tauchen in diesem Klangmeer auf, indem sowohl das Adams-erfahrene LSO wie auch das Publikum vierzig Minuten lang genüsslich baden darf. Und selbst von Schönberg, gegen den eigentlich der Titel polemisieren soll, hat Adams gelernt, wie man à la Gurrelieder Bläsergruppen homogenisiert. Auf das hochpräzise Zusammenspiel seines Orchesters – das schnell gefährlich ermüden kann – darf sich Rattle fast blind verlassen; seine Klangregie ist aber schon einmalig: Absolut zwingend, wie er die manchmal langsamen und stetigen wie auch die abrupten harmonischen Farbwechsel durch hochdifferenzierte Dynamik unterfüttert, den hyperaktiven Apparat im Fortissimo bis zur Extase hochpumpt, im Mittelsatz (The Amfortas Wound) zu tiefstem Ernst und schmerzlichem Aufschrei konzentrieren kann. Diesem Sog kann sich wirklich niemand im Saal entziehen: Der Schlussapplaus gerät zum Triumph für Sir Simon und sein Londoner Orchester, das sich bei diesem Münchner Konzert anscheinend sichtlich wohl fühlt.  

[Martin Blaumeiser, 5.5.2019]

Das Stifterkonzert begeistert erneut

Foto (c) Astrid Ackermann

Räsonanz Stifterkonzert: Elliott Carter, George Benjamin, Enno Poppe und György Ligeti, Chamber Orchestra of Europe, David Robertson (Leitung); Tabea Zimmermann (Viola), Pierre-Laurent Aimard (Klavier)

Erst zum dritten Mal gab es am 9.6.2018 im Münchner Prinzregententheater das räsonanz Stifterkonzert der Ernst von Siemens Musikstiftung, die in Zusammenarbeit mit der musica viva des Bayerischen Rundfunks ermöglicht, auch hochkarätige Orchester bzw. Ensembles von außerhalb mit anspruchsvollen zeitgenössischen Musikprogrammen in die Stadt zu bringen. Diesmal gastierte das Chamber Orchestra of Europe unter David Robertson mit den Solisten Tabea Zimmermann, Viola und Pierre-Laurent Aimard, Klavier. Auf dem Proramm standen fünf Werke von Elliott Carter, George Benjamin, Enno Poppe und György Ligeti. Es sollte ein phänomenaler Konzertabend werden.

Nichts gegen das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das ja bereits an den beiden vorangegangenen Abenden ein wirklich gelungenes Werk von Helmut Lachenmann (My Melodies, für acht Hörner und Orchester) mit Begeisterung aus der Taufe gehoben hatte. Trotzdem ist man froh, auch mal einen anderen Klangkörper mit Neuer Musik in München hören zu dürfen. Das noch im Dunstkreis von Claudio Abbado entstandene Chamber Orchestra of Europe – zum Glück auch alles andere als ein Spezialensemble für Zeitgenössisches – hatte sich ein höchst anspruchsvolles Programm vorgenommen, darunter zwei Klassiker, das Klavierkonzert von Ligeti und Penthode von Elliott Carter, bei denen es ja auch gilt, eben im Vergleich mit spezialisierten Formationen zu bestehen.

Der Abend beginnt mit dem letzten (Kammer-)orchesterstück des in Deutschland immer noch viel zu selten gespielten Altmeisters Elliott Carter (1908-2012), Instances, im Alter von 103 Jahren komponiert, immer noch von ungebrochener musikalischer Intelligenz, mit den sich typisch durch metrische Modulation überlagernden Zeitschichten, die gleichzeitig Weitsicht und große Zusammenhänge stiften, andererseits auf Individualität einzelner Spieler bzw. Teilgruppen abzielen. Stets baut Carter (etwa im Unterschied zu Boulez oder Xenakis) nicht nur auf klar konzipierte Materialstrukturen, sondern lässt ganz bewusst Emotionen zu. Der Schluss klingt doch etwas wehmütig nach Abschied. David Robertson setzt nicht nur hier ganz auf Klarheit, ist schlagtechnisch mit Präzision bei der Sache – im abschließenden Ligeti-Klavierkonzert gibt der Dirigent bei der Aufführung dann eh quasi nur ein Metronom ab – kennt die Stücke ganz genau, kann sich aber über Strecken völlig auf die hervorragenden Musiker des ECO verlassen, hält sie gewissermaßen an der langen Leine. Aber gerade dadurch wirkt bei der doch durchweg extrem komplexen Musik des Abends alles erstaunlich entspannt und gelöst, fast selbstverständlich. Bei Carters Penthode (nach der Pause), das in seiner hyperchromatischen Klanglichkeit wie auch seiner Expressivität immer noch an Schönberg erinnert, halten die Darbietenden das Publikum ununterbrochen in Spannung, ohne dass dies ermüdend wirkt – was hier mit großem Applaus bedacht wird. Allein dies zeigt die hohe Qualität des Abends, aber beim ECO hat auch jeder Spieler definitiv solistische Qualitäten; Genauigkeit im Zusammenspiel und eine gut aufeinander abgestimmte Dynamik tun ein Übriges. Der zweite Programmpunkt, George Benjamins farbige Three Inventions von 1995, wirkt dann fast schon wie easy listening, so natürlich und unangestrengt gelingt hier alles.

Enno Poppe hat sich in den letzten 15 Jahren zu einem der nachdenklichsten und in seinem Bemühen um eine neuartige Harmonik durch Mikrotonalität vielleicht konsequentesten deutschen Komponisten entwickelt. Die Solistin seines Bratschenkonzerts Filz (2014), Tabea Zimmermann, kann hier mit einem staunenswert großen und profunden Ton überzeugen. Das Stück bedient den typischen Klangcharakter der Viola ganz vortrefflich. Die Art und Weise, wie sich die Solistin durch einen Dschungel oft ausufernder Vibrati und Glissandi kämpfen muss, hat durchaus dramatische Qualitäten, besonders da, wo das kleine Orchester – nur 16 Streicher und vier Klarinetten – sie dann doch fast gefährlich abzuwürgen scheint. Das Stück erweist sich lediglich als etwas lang; trotz einiger Abnutzungserscheinungen wird es vom Publikum aber dankbar angenommen.

Der Schluss dann ein einziger Triumph für den letztjährigen Preisträger des Ernst von Siemens Musikpreises, Pierre-Laurent Aimard. Ligetis Klavierkonzert ist ja mittlerweile ein echter Klassiker. Die enorm witzigen und ideenreichen polyrhythmischen Strukturen, die hier dargeboten werden, spotten in ihrer Komplexität zwar jeder Beschreibung, nichtsdestotrotz ist diese Musik – letztlich in ihrem Bemühen um eine transzendente Aufhebung der Zeit – verständlich und hat dreißig Jahre nach der Uraufführung nichts von ihrer Faszination eingebüßt. Ich habe das Stück mittlerweile schon öfters live gehört, aber die Perfektion und der Aberwitz, mit dem hier Solist und das Kammerorchester diesem Drahtseilakt gerecht werden, kann wohl kaum noch übertroffen werden. So endet der Abend gleichsam in einem großen Aufschrei an Begeisterung; der Dirigent verneigt sich vor dem Pianisten bis auf den Boden. Die Stifterkonzerte wird man in München nicht mehr missen wollen, sie sind jetzt schon fester Bestandteil des Musiklebens geworden.

[Martin Blaumeiser, Juni 2018]

Die Oscars zeitgenössischer Musik

Am 3. Mai werden die alljährlichen Musik- und Förderpreise der Ernst von Siemens Musikstiftung im Herkulessaal München verliehen. Die Förderpreise gehen dieses Jahr an Clara Iannotta, Oriol Saladrigues und Timothy McCormack, den Hauptpreis erhält Beat Furrer. Jeder der Komponisten bekommt einen Portraitfilm von Johannes List, Furrer zudem eine Laudatio von Thomas Macho. Das Klangforum Wien spielt unter Leitung des Hauptpreisträgers Werke aller vier.

Der Ernst von Siemens Musikpreis ist die bedeutendste Auszeichnung für zeitgenössische Komponisten und Musiker, die sich neuer Klangkunst verschrieben haben. Die Verleihung ist jedes Jahr ein wahrer Festakt und Höhepunkt für die Ernst von Siemens Musikstiftung, die jährlich über 100 Projekte fördert.

Die drei Förderpreise gehen an junge, aufstrebende Komponisten, denen es ermöglicht werden soll, sich eine Zeit lang ohne Geldsorgen ihrer schöpferischen Arbeit zu widmen. Den ersten der auf 35.000 Euro dotierten Komponistenpreise verdient sich die aus Italien stammende Komponistin Clara Iannotta: Ihr Werk „troglodyte angels clank by“ von 2015 macht großen Eindruck. Es ist konzipiert für 13 verstärkte Instrumente und Objekte. Langsam schält sich der Klang aus anfänglichem Raspeln und Knattern, bis hohe Frequenzen die Überhand gewinnen und beinahe tinnitushaft im Ohr verankert bleiben. Iannottas Musik ist nicht zum Hören gedacht, sondern zum Erleben; und eben dies geschieht, wenn die verstärkten Frequenzen kontinuierlich aneinanderreiben, wobei sie ganz eigenartige Gefühle und Stimmungen wachrufen. Oriol Saladrigues geht naturwissenschaftlich an die Musik heran, weiß um die unumgängliche Imperfektion eines jeden künstlerischen Schaffens und kalkuliert diese genau mit ein. Ihn beschäftigt das gängige Topos, Zeit und Raum zu verbinden, zu verschieben und neuartig darzustellen, was auch sein heute uraufgeführtes Werk „tempo sospeso“ prägt. Ein Schmunzeln geht durch das Prinzregententheater, als der Portraitfilm von Timothy McCormack gezeigt wird, der ihn als sympathischen und offenen Klangforscher darstellt, der von einem Hornisten die abstrusesten Effekte abverlangt. Weder Töne, noch Rhythmen gäbe es in seiner Musik, sprach der Komponist, Klänge entstehen für ihn durch Kräfte, die gebündelt und geleitet werden, und nicht durch gezielten Einsatz von Instrumenten.

Saladrigues und McCormack bleiben mir musikalisch nur wenig präsent, ihr Eindruck verwischt schnell; Iannotta ist es, die mich fesselt und deren eigenartige Tonwelt mich gefangen hält. Es lässt sich schwer sagen, ob die Durchdringung und Wucht ihrer Aussage auch in Übertragungen oder Aufnahmen wirksam sind, doch live ergreift sie die Aufmerksamkeit und besticht in jeder Sekunde.

1992 wurde Beat Furrer ebenfalls mit dem Förderpreis ausgezeichnet, nun kehrt er als Hauptpreisträger zurück. Er entschied sich dazu, seine „Canti della tenebra“ nach Gedichten von Dino Campana für Mezzosopran und Ensemble aufzuführen, womit die Wahl auf ein echtes „Münchner“ Werk fiel, das am 7. Februar 2014 in der Muffathalle das Licht der Welt erblickte. Damals schon begeisterte mich der starke Bezug zwischen Text und Musik, die Verbindung zwischen dem italienischen Futuristen, der seine letzten Jahre in Irrenanstalten verbrachte, und der Klangwelt des österreichisch-schweizerischen Komponisten der Gegenwart. Auch wenn die fünf Lieder ursprünglich für Gesang und Klavier konzipiert waren, schreien sie doch nach größerer Besetzung: Mit dem großen Ensemble klingen sie beinahe symphonisch. Beat Furrer hat kein Verlangen danach, modern oder futuristisch zu sein, er bleibt er selbst und kreuzt seine verschiedenen Einflüsse zu einer persönlichen Musik, die einzigartig und unverkennbar ist. Hautnah erleben wir den Aufbau und die Gestaltung von Motiven, die sich durch die einzelnen Lieder ziehen und immer wieder auftauchen – der Komponist bezieht den Hörer mit ein. Musik und Text verschmelzen zu einer Einheit, Tanja Ariane Baumgartner fügt sich in das Geflecht der Instrumentalstimmen ein, ohne dass eine der Seiten überwiegen würde. Die Maßstäbe für den diesjährigen Komponisten-Hauptpreis lagen hoch, ist schließlich der letzte Preisträger Per Nørgård einer der bedeutendsten und überragenden Symphoniker unserer Zeit: Doch dürfte Beat Furrer eine gute Wahl und ein würdiger Nachfolger sein.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Zwischen Magie der Stimmen und Videospiel

Der diesjährige Ernst von Siemens Musikpreis wurde an den französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard verliehen, die Komponisten-Förderpreise gingen an Lisa Streich, Michael Pelzel und Simon Steen-Andersen.

Am 2. Juni lud die Ernst von Siemens Musikstiftung zur alljährlichen Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises im Münchner Prinzregententheater. Es handelt sich hierbei um die wohl gewichtigste europäische Auszeichnung für einen Komponisten oder einen Musiker mit zentraler Bedeutung im Feld der zeitgenössischen Musik. Das Lebenswerk solch einer Schlüsselfigur wird mit dem Hauptpreis in Höhe von 250.000 Euro prämiert. Zudem wird drei aufstrebenden Komponisten der Komponisten-Förderpreis verliehen, der sie mit jeweils 35.000 Euro unterstützt, um sich für eine gewisse Zeit ohne monetäre Sorgen dem Komponieren widmen zu können. Die Verleihung jedoch ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs, den die Ernst von Siemens Musikstiftung an Fördergeldern ausschüttet: circa 130 Projekte zeitgenössischer Musik werden auf internationaler Ebene alleine 2017 von der Stiftung unterstützt, wofür insgesamt 3,5 Millionen Euro investiert werden.

Neben den exzellenten Portraitfilmen von Johannes List, einer Begrüßungsrede von Michael Krüger, der Vergabe der Förderpreise durch Thomas von Angyan und des Hauptpreises durch Michael Krüger sowie der Laudatio von George Benjamin für Aimard ist es üblich, dass auch Musik von und/oder durch die ausgezeichneten Persönlichkeiten erklingt. Das Münchener Kammerorchester spielt unter Leitung von Jonathan Stockhammer.

Das erste Werk ist ein Auszug aus Augenlider (2015) von Lisa Streich für präparierte Gitarre und Orchester, Solistin ist Laura Snowden. Der zu hörende Auszug ist im Grunde eine ausschweifende Paraphrase über Paganinis La Campanella, die auf statische Weise quasi „lontano“ dargestellt wird. Ausgebreitete Flächen aus unverändertem Klang dominieren das Bild, die Gitarre spielt teils beinahe im Untergrund. Die klirrende Statik wird jedoch zu sehr ausgereizt, es fehlt an nötigem Antrieb, um ein flüssiges Fortschreiten des musikalischen Geschehens zu ermöglichen.

Auszüge aus Gravity’s Rainbow (2016) von Michael Pelzel für CLEX (elektronische Kontrabassklarinette) – gespielt von Ernesto Molinari – und Orchester schließen sich an. Nicht nur das Instrument fasziniert, sondern auch die ausgefeilte Harmonik, die dem Werk zugrunde liegt. Verstärkt wird der unnatürliche Effekt der CLEX durch gestimmte Gläser und zwei Verrophone, was der atemberaubenden Tiefe des Soloinstruments einen gespenstischen Gegenpol verleiht. Die Virtuosität von Molinari, im Übrigen auch Erfinder der CLEX, ist phänomenal und stimmt sich gut mit dem Münchener Kammerorchester ein, welches unter Stockhammer mit technischer wie musikalischer Höchstleistung agiert.

Simon Steen-Andersen stellte die Musik an diesem Abend auf den Kopf: Mit Run Time Error @ Opel feat. Ensemble Modern (2015) schuf er nie Dagewesenes. Auf zwei Bildschirmen läuft zeitgleich ein Video ab, in welchem die Aufnahme einer mit allerlei Geräuschen gespickten Kettenreaktion zu sehen ist, von instrumentalen Lauten bis zu einem Stimmgerät oder umfallenden Gegenständen. Durch zwei Joysticks kontrolliert Steen-Andersen das Geschehen, spult die Videos unabhängig voneinander vor und zurück oder verändert die Geschwindigkeit. So entsteht ein kanon-ähnliches Klangkonstrukt, das die Aufmerksamkeit der Hörer bannt. Selbst wenn sie nicht das Musikgeschehen der kommenden Zeit dominieren wird, bleibt es eine kurzweilige wie unterhaltsame Idee mit Potential.

In der zweiten Hälfte spielt der Hauptpreisträger Pierre-Laurent Aimard Werke von Vassos Nicolaou, George Benjamin, György Kurtág, György Ligeti, Marco Stroppa und Elliott Carter, ersteres gemeinsam mit Tamara Stefanovich. Hier stellt Aimard nicht nur technische Perfektion unter Beweis, sondern auch einen beinahe übermenschlich nuancierten Anschlag und die Fähigkeit, sowohl mit einer einzigen Stimme eine ganze Welt zu erfüllen – wie in Ligetis Zauberlehrling oder Carters Caténaires – als auch eine Vielzahl an Stimmen zu phrasieren und in der Spannung zu halten, was gerade in Benjamins Shadowlines besticht. Seit Jahrzehnten prägt Aimard wie kaum ein anderer Pianist die zeitgenössische Musik-Szene, zahlreiche Komponisten wie Messiaen, Carter, Benjamin oder Ligeti verdanken ihm die Inspiration zu bedeutsamen Klavierwerken, diesem erstklassigen ausführenden Künstler, der in allen Belangen neue Maßstäbe setzte – und sicher auch weiterhin setzen wird.

[Oliver Fraenzke, Juni 2017]

Neue Musik zwischen Esoterik und Transzendenz

Im zweiten ‚räsonanz‘ Stifterkonzert waren am Samstag, dem 1. April 2017 diesmal das Mahler Chamber Orchestra und der MusicAeterna Choir aus Perm unter der Leitung des charismatischen Dirigenten Teodor Currentzis im Prinzregententheater zu Gast. Neben Luciano Berios „Coro“ – einem der anspruchsvollsten Werke der gesamten Chorliteratur – war noch Ligeti und Vivier zu hören. Die hochgesteckten Erwartungen an Currentzis haben sich erfüllt, denn der Abend wurde zu einer musikalischen Sternstunde.

© Stefanie Loos
© Stefanie Loos

 

Der Initiative der Ernst von Siemens Musikstiftung ist es in erster Linie zu verdanken, dass man jetzt bei den größeren ‚musica viva‘ Wochenenden neben Chor & Symphonieorchester des BR (die zuvor eine große Rihm-Uraufführung stemmten) auch musikalische Hochkaräter in Sachen Neuer Musik von außerhalb Münchens erleben darf. So war bereits das letztjährige Stifterkonzert mit dem mittlerweile leider unverzeihlich totfusionierten SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter George Benjamin ein voller Erfolg. Für dieses Jahr hatte man sich u.a. ein Hauptwerk der 1970er-Jahre, Luciano Berios Coro für 40 Stimmen und Instrumente, vorgenommen. Dazu waren neben dem Mahler Chamber Orchestra – ein Leuchtturm europäischer Integration – der MusicAeterna Choir aus Perm unter seinem Gründer Teodor Currentzis eingeladen.

Um keinen anderen jüngeren Dirigenten – er ist allerdings auch schon immerhin 45! – gibt es momentan einen derartigen ‚Hype‘ wie den griechisch-stämmigen Teodor Currentzis, der seine wesentliche Ausbildung in Russland erhielt und dort die ersten Sprossen seiner Karriereleiter erklomm. Das mag vor allem an der sehr speziellen Art liegen, mit der er gerade mit ‚seinem‘ MusicAeterna Choir samt dazugehörigen Orchester arbeitet, bei dem der Glaube an ewige Wahrheiten Voraussetzung zu sein scheint. Wie gerne hätte ich bei den Proben mit dem Mahler Chamber Orchestra Mäuschen gespielt – denn diese Musiker lassen sich wohl nicht so leicht einfangen. Bekannt ist, dass Currentzis sogenanntes Standardrepertoire gerne völlig gegen den Strich bürstet, um Sedimente tradierter Aufführungs- und Hörgewohnheiten abzutragen und das Ohr auf die ‚wirklichen‘ Inhalte zu konzentrieren, wobei ihm ähnlich veranlagte Solisten wie z.B. Patricia Kopatchinskaja willkommene Partner(innen) sind. Jedenfalls interessiert sich der Dirigent für Repertoire vom Frühbarock bis zur aktuellen, zeitgenössischen Musik, wurde von der Opernwelt 2016 zum ‚Dirigenten des Jahres‘ gekürt, und und und…

Wie bewältigt nun ein solcher Tausendsassa derart komplexe Partituren wie Coro oder Ligetis Lux aeterna? Schon sein Auftreten lässt jede Deutung – von maßloser Eitelkeit, die aus Scham in bewusster Bescheidenheit verpackt wird bis zum genauen Gegenteil – zu. Enorm groß gewachsene Dirigenten haben zudem nicht selten Probleme rein schlagtechnischer Natur: Wie ein energetisches Zentrum finden mit so langen Armen? Nun, Currentzis steht vor seinem Ensemble in fast ständig leicht nach vorn gerichteter Haltung – fast wie ein Raubtierdompteur – und fuchtelt oft in riesigen Bewegungen mit den Armen herum; fast hätte er ein seitlich positioniertes Mikro umgerissen. Bei ‚klassischem‘ Repertoire sieht das dann arg nach Zappelphilipp aus – wie erreicht man da Präzision? Tatsächlich hält sich sein Gezappel an diesem Abend doch in Grenzen – und die Präzision vermittelt sich bei Currentzis direkt über die Hände bzw. Finger: Sicher deshalb verwendet er auch keinen Taktstock. So gelingen bis auf Kleinigkeiten bei Vivier auch diffizile Einsätze. Schwierigkeiten machen lediglich schnelle Decrescendi – dazu müssten die beiden Arme noch unabhängiger agieren. Letztlich ist dies jedoch komplett nebensächlich: Was Currentzis auszeichnet, ist eine extrem verinnerlichte, genaue Klangvorstellung und eben Charisma. Er atmet mit seinem Chor – alle 40 Sänger haben in Coro auch solistische Aufgaben – und dem Orchester, als ob er ihnen das Leben direkt einhauchen müsste. Der Klang strömt unterbrechungslos und kontrolliert in einem einzigen Einverständnis – beeindruckend!

Dass das ursprünglich angekündigte A-Cappella-Stück von Xenakis (Nuits) „aus organisatorischen Gründen“ (?) durch eine kurze Bläserintrada – Berios Call (St. Louis Fanfare) – sowie György Ligetis bekanntes Lux aeterna ersetzt wurde, erweist sich programmatisch sogar als Glücksgriff. Keine gute Idee ist allerdings, dass Currentzis die drei Stücke vor der Pause eigentlich übergangslos aneinandersetzen wollte. Spielen die fünf Blechbläser Call ganz vortrefflich ohne Dirigenten, sitzt dieser ein paar Meter entfernt mit Blick zum Publikum über den Noten. Soll das signalisieren: Aber ich hab’s einstudiert? Es gibt also eh‘ eine Unterbrechung, bis Currentzis sich zu seinem Chor wenden und mit Lux aeterna beginnen kann. Absichtsvoll oder unglücklich: Der Chor – in der Partitur 16-stimmig – mit etwa 25 Sängern ist ganz hinten auf dem Podium platziert und bietet so das gesamte Stück in einem mystischen, aber eben auch völlig konturlosen Pianissimo dar. Nun war es ja gerade nicht Ligetis Absicht, die genauestens ausgearbeitete Mikropolyphonie als solche durchsichtig hörbar zu machen, sondern eher einen Zustand (der Ewigkeit) mittels einer changierenden Klangfläche im Raum zu evozieren – transzendente Aufhebung des Zeitlichen. Currentzis‘ Interpretation scheint sich aber rein auf feinste Dynamik zu konzentrieren – kleine Farbverschiebungen durch das Hinzutreten oder Wegfallen einzelner Stimmen. Das ist dann eher esoterische Reduktion, vielleicht aus einer orthodoxen Tradition heraus, und klingt mehr nach Pärt als nach Ligeti. Ich hätte das gerne etwas direkter mehr aus der Nähe gehört.

Der erste Schlagzeugeinsatz von Viviers Lonely Child folgt unmittelbar; leider geht dann der ganz intime Beginn des Stückes durch die in München immer unvermeidlichen Hustorgien ziemlich zu Bruch, die man lieber hätte abwarten sollen. Die hochindividuelle Qualität des frankokanadischen Komponisten genauer zu schildern, ist hier nicht der Raum. Das vorliegende Werk berührt jedenfalls weniger durch den Text als durch Klangmischung und die nach und nach spektrale Auffächerung von melodischen Gestalten – Melancholie in spröder Schönheit. Mag den Puristen vielleicht die dezente Unterstützung der Sopranistin durch Mikroport stören: Aber so gelingt es, den Gesang über weite Strecken völlig vibratolos zu halten und eine wirklich perfekte Mischung mit dem Kammerorchester zu erreichen – erklärtes Ziel des Komponisten. Sophia Burgos und das Mahler Chamber Orchestra zeigen sich dieser sensiblen Musik völlig gewachsen, nicht nur technisch. Da stimmt jede Nuance und Currentzis stellt einen Gesamtzusammenhang dar, der in sich schlüssig ist: tiefe seelische Einblicke ohne jeden Exhibitionismus.

Nach der Pause dann Berios Coro – für mich immer schon, verglichen mit der berühmteren Sinfonia, das beeindruckendere Werk. Ist letztere irgendwo eine, wenn auch augenzwinkernde, intellektuelle Spielerei, erweist sich Coro als Bekenntniswerk von existenzieller Bedeutung. Spiegeln die oft zunächst solistisch vorgetragenen, kunstvoll überhöhten Volksmusikmaterialien den zutiefst menschlichen Drang nach Freiheit und der Erfüllung elementarer Bedürfnisse wider, so brechen mit dem Neruda-Gedicht (Venid a ver…) Gewalten herein, denen das Individuum anscheinend kaum etwas entgegensetzen kann. Das ist brillant komponiert, hochpolitisch, und entfesselt eine Klanglichkeit, die unmittelbar körperlich wirkt. Wie die 40 Sänger beinahe selig auf ihren Dirigenten schauen, der immer bei ihnen ist, und die einzelnen musikalischen Charaktere sicher treffen, wenn auch nicht alles sprachlich verständlich artikuliert, ist ein Erlebnis. Auch das Orchester trägt dazu bei: Jedem Choristen ist, exakt der von Berio geforderten Sitzordnung entsprechend, unmittelbar ein Instrument zugeordnet. Unübersehbar kommt schon auf dieser Ebene echte Kommunikation zustande. Currentzis leitet dies souverän und mit schier unglaublicher Intensität; die Dynamik ist präzise austariert und jedes Detail der Riesenpartitur hörbar. Auch hier wieder: Die Teleologie der Gesamtanlage wird von Beginn an überblickt und herausgearbeitet. Nach einer Stunde Anspannung, der sich auch das Publikum gerne hingegeben hat, gibt es begeisterten Applaus, zum Teil Standing Ovations. Dass, als der Chor noch eine Zugabe andeutet, jetzt eigentlich nur Bach kommen kann, erweist sich als trügerisch. Vielmehr erklingt eine Bearbeitung des Bachchorals Komm, süßer Tod von Knut Nystedt (1915- 2014): Immortal Bach. Das ist eine echte Sternstunde für die – nicht mehr ganz – Neue Musik. Kein Grund jedoch, Currentzis gleich zu deren neuem Propheten auszurufen.

Auch diesmal gibt es eine Rundfunkübertragung: Freitag, 21. April 2017, um 20.03 Uhr auf BR-Klassik.

[Martin Blaumeiser, April 2017]

Nørgård erhält den Ernst von Siemens Musikpreis

Im Rahmen der Preisverleihung des Ernst von Siemens Musikpreises an Per Nørgård sowie der drei obligatorischen Komponisten-Förderpreise spielt das ensemble recherche die Uraufführung von Hladan ti dah do grla von Milica Djordjević, Intersections von David Hudry und Sachlicher Bericht aus Arien / Zitronen, ebenso eine Uraufführung, von Gordon Kampe. Aus dem Œuvre des Hauptpreisträgers Per Nørgård erklingen Scintillation für sieben Instrumente (1993) und Seadrift für Sopran und Ensemble (1977-78). Für die erkrankte Sarah Maria Sun übernimmt Johanna Zimmer kurzfristig den Sopran-Part, Truike van der Poel „singt“ die Mezzosopran-Partie im Werk von Djordjević.

Endlich ist es soweit und ein Skandinavier erhält den Ernst von Siemens Musikpreis für Komponisten! Es ist der Däne Per Nørgård, der nun diese hoch dotierte und international gewichtige Auszeichnung in Händen hält. Und dies mehr als gerechtfertigt, sein kompositorisches Schaffen ist von stets überraschender Originalität, von höchster handwerklicher Vollendung bis in die dichteste Polyphonie, und wirkt dennoch absolut natürlich, frei und frisch. Rhythmisch besticht es durch nicht an die symmetrische Taktschreibweise angepasste Gliederung, die viel eher von natürlichem Sprachgebrauch und dem menschlichen Interagieren allgemein beeinflusst ist, melodisch entdeckte Nørgård schon in den sechziger Jahren die sogenannte Unendlichkeitsreihe, die sich ebenso von den klassischen Perioden zu lösen vermag und eigene Wege beschreitet, die jedoch immer in gewisser Weise nachvollziehbar bleiben. Die Musik von Nørgård sagt im Kern etwas aus, jedes Werk ist eine vollkommen neue Welt, in höchster Kunstfertigkeit und wie er selbst sagt, immer gewagt und „strange“, doch stets auch für die menschliche Wahrnehmung unmittelbar auffassbar und wirksam.

Nach der Begrüßung durch Michael Krüger – Vorsitzender des Stiftungsrats der Ernst von Siemens Musikstiftung und Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste – beginnt der Abend mit der Uraufführung von Milica Djordjevićs „Hladan ti dah do grla“, auf Deutsch „Verflucht dein Atem bis zum Schlund“, für Mezzosopran und Ensemble. Ihre Musik solle den Menschen bis in sein Innerstes erschüttern und keinen Hörer kalt lassen, heißt es im sehr gelungenen Portraitfilm über die Komponistin (alle vier Portraitfilme sind von Johannes List ausgezeichnet gedreht und produziert). Doch berühren kann mich ihr dargebotenes Werk kein bisschen, es lässt mich absolut unbeteiligt. Die Streicher kratzen und quietschen, der Schlagzeuger drischt wüst auf alle möglichen Trommeln ein und kratzt mit aufgesetzten Nägeln über Blech, die Bassklarinette spielt total unzusammenhängendes Ton-Chaos. Solch eine Musik kann heute gar nicht mehr erschüttern – vielleicht hätte sie es vor sechzig Jahren einmal gekonnt, aber selbst das würde ich bezweifeln, mehr als einen kurzen Schock hätte sie nicht ausgelöst. Man hat sich schlicht sattgehört an solch einer Musik, die im Grunde gewöhnlich unangenehm ist wie das quietschende Einfahren einer U-Bahn, und es macht auch klanglich wenig Unterschied. Alles verliert sich in Strukturlosigkeit, skurrilem Klang- und Geräuschgewirre ohne jeglichen Sinn und einer dumpfen Statik, die jede Art der Entwicklung im Vorhinein ausschließt.

Intersections heißt das zweite Werk des Abends, von David Hudry, komponiert 2014. Die Grundidee dahinter besteht in der ständig wechselnden Beleuchtung einer vorgegebenen Figur, wodurch immer neue Perspektiven eröffnet werden. Unvermeidlich erhält Intersections durch dieses Prinzip eine gewisse Starrheit und technokratische Aura mit dem kontinuierlich bestehen bleibenden Grundgedanken. Doch hat es einen gewaltigen Reiz, all die Neuschattierungen und changierenden Kontexte auszukundschaften, die mit einfallsreich reflektierten Klängen magische Momente erzeugen.

Interesse erregt der Titel der dritten Komposition: „Sachlicher Bericht“ und dann noch aus einer Sammlung namens „Arien / Zitronen“. Und tatsächlich erlebt das Publikum hier eine sehr erfreuliche Überraschung. Gordon Kampe hat eine wahrhaft eigene Aussage in diesem Werk für Sopran und Ensemble. Die Tonsprache tanzt durch ihre Individualität aus der Reihe der viel zu oft gleichförmig-nichtssagenden Werke der postmodernen Avantgarde, bietet höchst spannende Augenblicke und birgt sogar eine gewisse sinnlich unmittelbar sich vermittelnde Struktur. Gewiss, teils mag der musikalische Sinn der Gesamtkonstruktion noch etwas wackeln und der Kontext verlorengehen, doch bin ich der festen Überzeugung, dass Gordon Kampe den heutigen Förderpreis wirklich nutzen kann, um an seinem Stil zu schleifen und seine vielseitig eigene Tonsprache reifen zu lassen.

Nach der Pause folgt der Hauptteil der Veranstaltung, die Verleihung des begehrten Ernst von Siemens Musikpreises an den dänischen Meister Per Nørgård. Anders Beyer, Intendant des Bergen International Festival, ist extra aus Norwegen angereist, um die kompakte, geistreiche Laudatio zu halten, und Michael Krüger überreicht die Urkunde an den Komponisten. Umrahmt wird der Festakt durch die Darbietung zweier Werke aus den 90er- beziehungsweise 70er-Jahren. Zunächst Scintillation für sieben Instrumente, ein dicht polyphon gewobenes Werk von unverkennbarer Eigenständigkeit, einer vom ersten bis zum letzten Ton anhaltenden Spannung mit herrlich unorthodox formulierter melodischer Kontinuität. Beendet wird der Abend durch die Walt Whitman-Vertonung Seadrift, ein mehrteiliges Werk für Sopran und Ensemble, was einen Umbruch in der Musik von Nørgård darstellt, noch vor seiner vielzitierten „Wölfli-Ära“. Dieses in jeder Hinsicht vollendete Werk dürfte wohl jeden im Saal angesprochen haben durch seine unbestechliche Natürlichkeit, den klaren Sprachfluss, die phänomenale Instrumentation inklusive verstärkter Gitarre und ungewöhnlichem Schlagwerk wie kleinen, zarten Glöckchen. Was für eine Rhythmik, die absolut von innen heraus gefühlt ist, vollkommen ungekünstelt wirkt und doch gegen alle Gewohnheiten aufbegehrt! Solch eine rundum überzeugende Musik der Gegenwart (und dies auch noch so vollkommen unprätentiös!) ist eine absolute Rarität und hat es noch nie in den Kanon der auf dem Kontinent des Öfteren gespielten zeitgenössischen Musik geschafft – warum, lässt sich schwer sagen, vielleicht mag es an den eigenen Aussagen der Musik liegen, an ihrer so ungewohnten und doch organisch zusammenhängend entstehenden Klangvielfalt, die ganz im Gegenteil zum Gros der heutigen Avantgarde tatsächlich noch fortschrittlich modern und komplett eigenständig ist – und somit für die meisten, selbst für die gestandenen Anhänger zeitgenössischer Musik oft „gewöhnungsbedürftig“.

Die Musiker des ensemble modern sind natürlich erfahren in der Darbietung zeitgenössischer Musik, und trotzdem ist es frappierend, wie scheinbar mühelos sie mit den unmöglichsten Geräusch-Abstraktionen und mit selbst in der verzweigtesten Rhythmik überzeugen. Sogar die qualitativ schwächeren Passagen bei Djordjević spielen sie mit voller Überzeugung, wodurch selbst diesen ein gewisser Reiz abgewonnen werden kann. Truike van der Poel erfüllt in Djordjevićs Werk hauptsächlich eine parlierend-skandierende, oft vulgär aufschreiende Aufgabe, die ihre Stimme nicht in ein attraktives Licht setzen kann, doch dafür bekommt Johanna Zimmer als kurzfristige Einspringerin für Sarah Maria Sun umso mehr die Möglichkeit zu glänzen. Die virtuosen Solostimmen von Kampe und Nørgård musste sie innerhalb von wenigen Tagen vollkommen neu einstudieren. Doch das hört man ihr kein bisschen an, sie singt mit einer Freiheit, Feinheit und innigem Ausdruck, als wären diese Stücke ihr bereits in die Wiege gelegt worden. Sie hat sichtliche Freude vor allem an Nørgårds Seadrift und surft in unvergleichlichem Einklang mit allen Instrumentalisten des Ensembles in hellwach traumwandlerischem Vertrauen auf ihre herrliche Stimme. Zimmer singt klar, hell, verfügt über unüberschaubar viele ausgereifte Nuancen der Tongebung und ein exzellentes Gespür für Dynamik, Artikulation und Vibrato. Auch der Komponist selbst ist sichtlich begeistert von ihrer Leistung und will es sich trotz beängstigender gesundheitlicher Beschwerden – nachdem er sogar bei der Urkundenverleihung sitzen bleiben musste – nicht nehmen lassen, auf die Bühne zu steigen, um die Sängerin zu umarmen – und das zu Recht!

Es ist selten, dass man vollkommen begeistert aus einem Konzert herauskommt und so sehr beeindruckt ist von der kompositorischen Qualität eines Meisters der Gegenwart, dass man über die Musik sagen möchte: „Verweile doch, du bist so schön“. Und es hätte keinen würdigeren Preisträger geben können als Per Nørgård. Wir gratulieren dem Komponisten zu dieser Auszeichnung und hoffen sehr, dass er uns als Mittachtziger noch einige weitere grandiose Werke schenken wird.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]