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Von Bruch zu Tveitt, von Violine zu Hardangerfiedel

Berlin Classics, LC06203 0302757BC, EAN: 8 85470 02757 9

Auf ihrem neuesten Album beschreibt die junge norwegische Violinistin Ragnhild Hemsing eine musikalische Route von konzertanten Werken für Violine und Orchester, die von der Romantik bis in die Musik des 20. Jahrhunderts sowie von Deutschland nach Norwegen reicht und schließlich auch die Hardangerfiedel als Soloinstrument mit Orchester einsetzt. Begleitet wird sie vom Philharmonischen Orchester Bergen unter der Leitung von Eivind Aadland.

Ein Markenzeichen, das einen signifikanten Teil der CD-Veröffentlichungen der 1988 geborenen Norwegerin Ragnhild Hemsing (nicht zu verwechseln mit ihrer etwas jüngeren Schwester Eldbjørg) durchzieht, ist, dass man sie nicht nur auf der Violine, sondern auch auf der traditionellen norwegischen Hardangerfiedel erleben darf. Die Hardangerfiedel, benannt nach der Region Hardanger in Westnorwegen, verfügt neben vier gestrichenen Saiten auch noch über eine Reihe von unter dem Steg verlaufenden Resonanzsaiten, die für ein ganz eigenes, obertonreiches Timbre sorgen; nebenbei sei bemerkt, dass die Instrumente in der Regel bereits optisch durch ihre reichen Verzierungen einen prächtigen Eindruck hinterlassen. So kombiniert auch Hemsings neueste CD drei konzertante Werke für Violine von Max Bruch, Johan Svendsen und Sigurd Lie mit einem Konzert für Hardangerfiedel und Orchester von Geirr Tveitt.

Grundsätzlich also eindeutig ein Album mit Schwerpunkt auf norwegischer Musik, beginnt die CD allerdings mit einem der populärsten Violinkonzerte der deutschen Romantik, nämlich dem Violinkonzert Nr. 1 g-moll op. 26 von Max Bruch (1838–1920). Einerseits möchte Hemsing dadurch eine „historische Linie“ von Bruch bis hin zu Tveitt aufzeigen, andererseits ist Bruch in einem Programm mit folkloristischem Einschlag natürlich per se alles andere als eine abwegige Wahl, und zwar noch wesentlich tiefgreifender als im Beiheft diskutiert (das sich auf die Nennung seiner Schottischen Fantasie und Kol Nidrei beschränkt). Tatsächlich hat sich Bruch auch mit skandinavischer, in seinem Fall schwedischer Folklore befasst, wovon die in diversen Besetzungen vorliegenden Schwedischen Tänze op. 63, die Suite für Orchester Nr. 2 nach schwedischen Volksmelodien (posthum unter dem Titel Nordland-Suite publiziert) und die Serenade nach schwedischen Melodien für Streichorchester zeugen; daneben hat er sich (natürlich neben deutscher) u. a. mit russischer (op. 79, op. 79b), keltischer (op. 56), italienischer (op. 88b) und rumänischer (op. 83) Folklore befasst. Bezeichnend, wie er es selbst in einem Brief an seinen Verleger Simrock in Worte fasste: „In der Regel ist eine gute Volksmelodie mehr werth als 200 Kunstmelodien. Ich hätte es nie in der Welt zu etwas gebracht, wenn ich nicht seit meinem 24. Jahr mit Ernst und Ausdauer und nie endendem Interesse die Volksmusik aller Nationen studiert hätte. Denn an Innigkeit, Kraft, Originalität und Schönheit ist nichts mit dem Volkslied zu vergleichen.“

Natürlich ist sein erstes Violinkonzert sein um Längen am häufigsten gespieltes Werk (und Bruchs Unmut darüber ist vielfach zitiert worden), sodass sich Hemsings Neueinspielung in eine kaum zu überschauende Phalanx von Aufnahmen einreiht. Insgesamt schlägt sie sich dabei sehr beachtlich: Hemsing und Aadland haben beide eine tendenziell temperament- und kraftvolle, beherzt zupackende Vorstellung von dieser Musik, ohne dabei in Extreme zu verfallen. Den rhapsodischen Passagen (etwa im ersten Satz) gibt Hemsing viel Raum und Zeit, und überhaupt wirken die Tempi zwar manchmal straff, aber nie gehetzt. Die großen gesanglichen Linien des langsamen Satzes vollzieht Hemsing expressiv, dabei stets geschmackvoll und niemals sentimental nach, und ganz generell zeigt sie sich als sehr agile, wache Solistin, die zahlreiche Details (der Agogik, der Artikulation) ausgesprochen bewusst und sorgfältig realisiert.

Was der Einspielung – auf hohem Niveau! – etwas abgeht, ist ein gewisses Maß an Ruhe sowie der (orchestrale) Schmelz, der für diese Musik so charakteristisch ist. Bruch ist zuvorderst ein Melodiker, ein Lyriker, was er nicht einmal dann verleugnen kann, wenn er etwa in seiner Zweiten Sinfonie ein explizit dramatisches, wuchtiges, expressives und konflikthaftes Werk anstrebt, denn auch hier ist der Übergang zum dritten Satz, wenn der Himmel sich lichtet und in ein freundliches, gelöstes Finale mündet, im Grunde genommen das Analogon eben jenes Moments der lyrischen Katharsis, den Bruch in seinen (famosen) Konzertstücken für Streichinstrument und Orchester perfektionierte. Insofern kann man diese Musik zwar sicher etwas kühler, mit einem stärkeren Fokus auf ihren dramatischen Seiten interpretieren, aber das Muster bleibt eben doch die Wärme, der melodisch-kantable Fluss, wie ihn zum Beispiel ein Arthur Grumiaux ganz außergewöhnlich zu gestalten wusste. Es sei aber betont, dass es sich dabei um eine Kritik im Kontext von Spitzeneinspielungen handelt; insgesamt liegt hier fraglos eine hochrangige Neuaufnahme vor.

Mit der Romanze G-Dur op. 26 (1881) von Johan Svendsen (1840–1911) folgt einmal mehr das deutlich populärste Werk seines Schöpfers; dass es sich dabei eigentlich um eine Gelegenheitsarbeit handelt, wird im Beiheft durch eine hübsche Anekdote illustriert. Überhaupt: natürlich ist Svendsen als Komponist bei weitem nicht so bekannt wie sein fast exakter Zeitgenosse und Freund Edvard Grieg. Ein Blick auf seinen Werkkatalog verrät aber auch, dass diese Romanze bereits eines seiner letzten Werke ist, denn die Majorität seines Schaffens entstand in einem Zeitraum von kaum mehr als 15 Jahren von Mitte der 1860er (damals noch als Student u. a. von Reinecke in Leipzig) bis zu den frühen 1880er Jahren. Sein Einfluss auf seine Zeitgenossen als Dirigent (ab 1883 in Kopenhagen) und Persönlichkeit des Musiklebens war indes sein Leben lang immens.

Svendsen Romanze ist in ihren Außenteilen ein echtes Idyll und legt insbesondere ein beredtes Zeugnis von der Orchestrierungskunst ihres Schöpfers ab. Man beachte etwa die Wiederkehr des Anfangs (das Stück ist – natürlich – in ternärer Form gehalten): hier wird der Solist, der das Hauptthema in variierter, mit allerhand Ornamenten versehener Form vorträgt, von einem Teppich aus Tremoli sul ponticello und Pizzicati begleitet, ergänzt um einige helle Flötentupfer, was alles zusammen ein ausnehmend apartes Klangbild ergibt. Im bedeckteren Mittelteil in g-moll beschleunigt sich das Tempo, eine Art Volkstanz; das Ende der Romanze ist Verklärung. Hemsings Ton ist insgesamt hell und lyrisch-expressiv; speziell in den Außenteilen gibt sie der Musik wiederum viel Zeit zur Entfaltung, zur runden gesanglichen Linie, und scheut auch die große Geste nicht, die in dieser Musik durchaus inbegriffen ist. Bemerkenswert dabei zudem, wie sie im Mittelteil sehr bewusst ihren Ton variiert und der Musik gekonnt eine wesentlich nervösere, flüchtigere Aura verleiht.

Der eindeutig am wenigsten bekannte Komponist auf diesem Album ist der in Drammen geborene Sigurd Lie (1871–1904), ein Schüler von Iver Holter und dann (wiederum!) von Reinecke in Leipzig. Der berühmte Mathematiker Sophus Lie war sein Onkel, wohingegen mir eine verwandtschaftliche Beziehung zum Komponisten Harald Lie (1902–1942, wie Sigurd Lie jung an Tuberkulose verstorben) nicht bekannt ist. Eingespielt ist hier Lies Konzertstück über die norwegische Volksweise „Huldra aa’n Elland“ (1894/95). Das besagte Volkslied taucht bereits in den Døleviser von Edvard Storm (1749–1794) auf, eine Geschichte über den jungen Elland, der ermattet von der Sommerhitze Rast sucht und von einer Huldra, also einer kuhschwänzigen Waldnymphe, bezirzt wird (was selbstverständlich zum Scheitern verurteilt ist). Dabei besteht das Lied aus zwei Teilen, nämlich Ellands Klagelied und dem Lied bzw. Tanz der Huldra; den ersten Teil findet man auch in Griegs Norwegischen Melodien für Klavier EG 108 (dort Nr. 100), den zweiten in Svendsens (orchestraler) Norwegischer Rhapsodie Nr. 2.

Lie überführt dies in ein dreiteiliges Konzertstück in e-moll, dessen Eckteile auf Ellands Klage basieren, während der lebhafte Mittelteil in G-Dur auf dem Lied der Huldra beruht. Grundsätzlich ist Lies Tonsprache speziell harmonisch nicht wesentlich avancierter als Bruchs oder Svendsens Musik, eine Ausnahme bilden allerdings die übermäßigen Akkorde in der Coda, die dem Konzertstück für einen Moment einen geradezu leicht übernatürlichen Hauch verleihen. Im Vergleich zu Svendsens Romanze wirkt Lies (ebenfalls grundsätzlich langsames) Konzertstück atmosphärisch fast wie ihr Negativ: hier Idyll, dort Elegie, hier eine kurze Eintrübung in der Mitte, dort eine temporäre Aufhellung. Außerdem zeugt gerade dieses Werk von der intelligenten Zusammenstellung der CD, denn im Mittelteil scheint hier und da durchaus das Finale von Bruchs g-moll-Konzert als Vorbild durch, während an anderen Stellen die Violinstimme an eine Hardangerfiedel denken lässt. Das Konzertstück ist bereits vorher auf einem Album des norwegischen Labels 2L eingespielt worden, das zur Gänze Sigurd Lies Orchesterwerken gewidmet ist. Im Vergleich überzeugt die Neueinspielung durch Hemsings sattes, kraftvolles Spiel, ein exzellentes Orchester und eine etwas direktere Akustik; ich möchte aber auch die Alternativeinspielung explizit empfehlen, allein schon um Lies sehr hörenswerte Sinfonie a-moll kennenzulernen.

Am Ende des Programms steht mit dem großen Norweger Geirr Tveitt (1908–1981) ein Komponist, der um die Jahrtausendwende durch eine ganze Reihe von Veröffentlichungen der Labels Naxos, BIS und Simax einige Präsenz auf dem Tonträgermarkt erhalten hat; in den letzten Jahren ist dies leider etwas abgeebbt (sodass man auf CDs mit Werken wie seiner Sinfonie Nr. 1 Julabend oder auch seinem Violinkonzert offenbar bis auf weiteres noch vergeblich warten muss). Umso erfreulicher ist die vorliegende Neueinspielung seines Konzerts für Hardangerfiedel und Orchester Nr. 2 op. 252 „Drei Fjorde“ aus dem Jahre 1965. Auch Tveitt studierte (wie alle auf diesem Album versammelten Komponisten) in Leipzig (bei Grabner), dann in Wien bei Wellesz und anschließend in Paris bei Honegger und Villa-Lobos, eine sehr illustre Schar von Lehrern also. Grundsätzlich tief in der norwegischen Folklore verwurzelt, die er sammelte, arrangierte oder auch einfach mehr oder weniger selbst komponierte, ist es ganz besonders die französische Musik (des Impressionismus), die in den schillernden Farben und der faszinierenden Atmosphärik seiner Partituren ihren Niederschlag gefunden hat. Tragischerweise brannte im Jahre 1970 sein Hof nieder, sodass eine erhebliche Anzahl seines auch zahlenmäßig eindrucksvollen Œuvres unwiederbringlich verloren ging – ein Jammer, wenn man bedenkt, was dort alles in den Flammen aufgegangen sein muss.

Der erste Komponist, der die Hardangerfiedel mit einem Orchester kombinierte, war Johan Halvorsen in seiner Fossegrimen-Suite (1904); der erste Komponist, der ein Konzert für Hardangerfiedel und Orchester schrieb, war offenbar Tveitt (1955). Dass er zehn Jahre später ein zweites folgen ließ, ging auf einen Kompositionsauftrag zurück. Dabei ist sein zweites das etwas kompaktere der beiden Konzerte, eigentlich eine Folge von drei Tonbildern, die jeweils einem norwegischen Fjord gewidmet sind. So blüht im ersten Satz nach einem kurzen orchestralen Vorhang eine Landschaft mit dem Hardangerfjord regelrecht vor dem Hörer auf, gleich einem großen, weiten Panorama. Tveitts exquisiter Klangsinn ist in den fein ausgehörten, leise verklingenden Schlusstakten exemplarisch zu bestaunen: hier ist jeder Ton, jedes Detail der Orchestrierung ein kleines Ereignis. In den Eckteilen des dem Sognefjord gewidmeten langsamen zweiten Satzes steht die schlichte Weise der Hardangerfiedel sich bedrohlich auftürmenden Blechbläserfiguren wie schroff in die Höhe ragenden Berggipfeln gegenüber. Und schließlich steht am Ende mit dem Nordfjord ein Satz, den Tveitt selbst gegenüber Sigbjørn Bernhoft Osa, dem Solisten der Uraufführung, mit den Worten „Her kan du bare juble på“ in Worte fasste: nichts als jubilieren soll das Soloinstrument hier. Und abgesehen von einer kurzen Reminiszenz an den zweiten Satz ist tatsächlich das ganze Finale von urwüchsigem Optimismus bestimmt, eine Musik in nahezu ungetrübtem (stark modal, insbesondere lydisch bzw. mixolydisch gefärbtem) D-Dur, festlich-ausgelassen und voller Lebensfreude.

Ragnhild Hemsings Spiel auf der Hardangerfiedel ist ungemein klangvoll, sonor und reich an Resonanzen; die improvisatorischen Passagen spielt sie frei und mit großer Selbstverständlichkeit, als würde die Musik in diesem Moment gerade entstehen. Im Vergleich zur Alternativeinspielung mit Arve Moen Bergset (BIS) fallen eine Reihe von kleineren Freiheiten wie Ornamenten auf, die Hemsing offenbar selbst eingebaut hat (vgl. etwa die Solopassagen zu Beginn des zweiten Satzes), ein wenig wie ein eigener Zungenschlag. Eine rhythmisch pointierte, kraftvolle, in der Leistung des Orchesters in vielen Details prägnantere Einspielung als die BIS-Aufnahme (Hemsings Spiel ist ohnehin spektakulär gut und extrem idiomatisch), sodass man hier entschieden von einer neuen Referenz sprechen kann. Faszinierend, und allein deswegen schon den Kauf voll und ganz Wert.

Das Beiheft vom Grieg-Experten Erling Dahl jr. ist insgesamt solide, obwohl man an einigen Stellen noch stärker ins Detail gehen könnte (z. B. im Falle der Werke von Lie und Tveitt). Dass Bruchs Beziehung zur Volksmusik weniger „tief“ war als diejenige Tveitts, mag erst einmal trivial richtig sein; Bruchs Blick auf die Volksmusik anderer Länder ist eben der eines deutschen, akademisch geprägten Romantikers, was im Übrigen völlig ohne Wertung zu verstehen ist. Die von Ragnhild Hemsing aufgezeigte Linie zwischen Bruch und Tveitt würde ich vielleicht vorwiegend als eine Reihe von Parallelen, ähnlicher Schwerpunkte und Konstellationen begreifen, eine direkte, unmittelbar zwangsläufige Linie zwischen den beiden (im Übrigen auch von mir persönlich hochgeschätzten!) Komponisten sehe ich eher nicht. Die Tonqualität entspricht sehr guten zeitgenössischen Standards.

Alles in allem ein sehr empfehlenswertes Album.

[Holger Sambale, Mai 2023]

Skride folgt der Musik

Orfeo, C 950 191; EAN: 4 011790 950129

Béla Bartók steht im Zentrum von Baiba Skrides neuen CD-Produktion. Gemeinsam mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter Eivind Aadland spielt sie das zweite Violinkonzert Sz 112 und die beiden Rhapsodien für Violine und Orchester Sz 87 und Sz 90.

Neben dem Klavier inspirierte vor allem die Geige die musikalische Vorstellungskraft von Béla Bartók. Durch ihre Verwandtschaft mit Fiedeln eignet sich dieses Instrument perfekt für die Darstellung folkloristisch angehauchter Werke; außerdem kann sie problemlos Mikrointervalle realisieren. Die beiden Violinkonzerte und die beiden Rhapsodien (insbesondere die erste) zählen nach wie vor zu den meistgespielten Konzertstücken der Moderne, ihre rhythmische Kraft, prächtige Virtuosität und die formale Ausgewogenheit machen sie zu wahren Publikumslieblingen.

Baiba Skride folgt der Musik. Die technisch-mechanischen Höchstschwierigkeiten meistert sie beiläufig, während sie sich mental auf den Fluss der Musik fokussiert. Skride hält das Ganze im Auge, sie weiß um die verwinkelten Abzweigungen und plötzlichen Charakterwechsel, deren Übergänge sie adäquat ausgestaltet. So entsteht ein nachvollziehbarer Zusammenhang selbst in den großen Dimensionen des Violinkonzerts. Dabei besitzt sie eine hinreißende Tongebung, die entsprechend der Musik nicht zu lyrisch, ebenso aber nicht zu harsch erscheint, sondern kernig und voll; ergriffen, aber nicht sentimental; distanziert, aber nicht kalt. Die beiden volksmusiknahen Rhapsodien, die Béla Bartók traditionell in Lassù und Friss teilte, erklingen beinahe spielerisch leicht nach dem gewaltigen Violinkonzert. Dennoch nimmt Skride sie nicht leitfertig, sondern sucht auch in ihnen die innermusikalischen Bezüge und entlockt den Werken durch ihre Spielfreude reinste Eleganz.

Das Orchester integriert Skride als prima inter parens, so dass sie trotz der deutlichen Zurschaustellung des Soloparts nicht herausbricht, sondern nur in der Gemeinschaft wirken kann. Eivind Aadland erweist sich als präziser und luzide hörender Dirigent, der jede Stimme hörbar macht und ein geklärtes Bild freigibt, in dem die Effekte der Musik umso frappierender zur Geltung kommen. In den kleiner besetzten Passagen entsteht so eine beinahe kammermusikalische Wirkung, wonach die Tuttis deutlich kontrastieren.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2019]

Edvard Grieg zum 175. Geburtstag

Kurzbiographie

Edvard Grieg by Karl Anderson TM.T01607 (edit)

(Foto: Karl Anderson)

Edvard Hagerup Grieg wurde am 15. Juni 1843 in Bergen geboren und zeigte beim Klavierunterricht mit seiner Mutter Gesine Hagerup früh musikalische Begabung, wohingegen er die Schule vernachlässigte und schließlich die dritte Klasse wiederholen musste. Griegs Perspektiven änderten sich, als die Familie Ole Bull als Gast empfing, der nicht nur einer der bedeutendsten Geiger damaliger Zeit war, sondern als Komponist die Musik Norwegens maßgeblich veränderte: Er kämpfte für das Norwegische, Urtypische und Bäuerliche in der Musik, womit er später auch Grieg anstecken sollte. Auf den Rat Bulls begann Grieg 1858 ein Studium der Musik in Leipzig, wo zu seinen Lehrern neben Carl Reinecke auch Ignaz Moscheles und Louis Plaidy zählten. Griegs Berichten zufolge habe er nichts gelernt in Deutschland, auch von seinen Lehrern wurde er als aufmüpfig beurteilt; und doch sind Griegs handwerkliches Geschick und Wissen um einfache, aber effektive Formgestaltung sowie seine kontrapunktischen Fähigkeiten zweifelsohne auf ein gründliches Studium zurückzuführen.

Neue Einflüsse erhielt Grieg in Kopenhagen, wohin er 1863 nach kurzem Aufenthalt in seiner Heimat reiste. In Niels W. Gade fand er seinen neuen Lehrer, der bis heute zu den erfolgreichsten Komponisten Dänemarks gehört. Dieser überzeugte Grieg, ein großer Komponist müsse große Symphonien schreiben, und so machte sich Grieg an seine c-Moll-Symphonie. Diese zog er allerdings vor der Uraufführung zurück, als Johan Svendsen sein symphonisches Erstlingswerk vorlegte, das Grieg für überlegen hielt. Uraufgeführt wurde die Symphonie erst 1980 in Russland, womit das von Grieg ausdrücklich verlange absolute Aufführungsverbot des Werks gebrochen wurde. Kurze Zeit nach der Symphonie folgten auch die Klaviersonate e-Moll op. 7 und die Violinsonate F-Dur op. 8, die beide bis heute regelmäßig auf Konzertprogrammen zu finden sind. Ole Bull kritisierte Gades Einfluss im Werk seines Schützlings und forderte ihn dazu auf, Musik zu komponieren, die sein Land ehre und nicht den Spuren Gades folge. In Dänemark lernte Grieg auch Rikard Nordraak kennen, mit dem zusammen er 1864 Euterpe gründete, eine Vereinigung zur Förderung nordischer Musik. Für Euterpe entstanden die Humoresken op. 6, die erstmalig den Bezug zu den norwegischen Bauerntänzen „Slåtter“ aufweisen.

Weiter ging die Reise 1866 nach Christiania, heute Oslo, wo er seine Cousine Nina Grieg heiratete, mit der er eine Tochter bekam, Alexandra, die allerdings im Alter von 13 Monaten verstarb. 1869 ging er nach Rom und traf dort Franz Liszt, der hingerissen war von der Musik des Norwegers. Besonders begeistert zeigte sich Liszt vom Kopfsatz des neu komponierten Klavierkonzerts a-Moll op. 16, welches er dem Publikum prima vista präsentierte.

Zurück in der Hauptstadt Norwegens wollte Grieg eine feste Orchestervereinigung gründen, woraus sich später die Osloer Philharmonie entwickeln sollte. Ab 1874 konnte er als freier Künstler von staatlichem Künstlerlohn leben, konzentrierte sich entsprechend mehr aufs Komponieren und war nicht so sehr auf andere Geldquellen angewiesen. Arbeiten an einer ersten nationalen Oper Norwegens mit Bjørnstjerne Bjørnson gab Grieg auf (mit ihm schuf Grieg bereits Sigurd Jorsalfar op. 22 und Bergliot op. 24) und nahm dafür ein Angebot Ibsens an, der Grieg dafür gewinnen wollte, Bühnenmusik für eine Aufführung von Peer Gynt zu komponieren. Das Werk und die beiden Orchestersuiten daraus erwiesen sich sogar noch vor dem Klavierkonzert als größte Erfolge Griegs.

Im Jahr darauf starben beide Elternteile Griegs innerhalb kürzester Zeit, was Grieg zu seinen beiden musikalisch wohl substanziellsten Werken trieb: dem Streichquartett g-Moll op. 27 und der Ballade op. 24 in gleicher Tonart.

Die frühen 1880er-Jahre waren durchzogen von einer tiefen Krise, die sich persönlich durch eine Trennung von seiner Frau Nina und künstlerisch durch eine Formkrise beginnend mit seiner Cellosonate a-Moll op. 36 abzeichnete – der Komponist war der Ansicht, er könne keine geschlossene Form mehr schreiben. Grieg reiste in Richtung Frankreich, wo er die Malerin Leis Schjelderup treffen wollte, kehrte allerdings zuvor schon zurück und versöhnte sich mit seiner Frau. Anlässlich des 200. Geburtstags von Ludvig Holberg, dem „Moliere des Nordens“, sollte Grieg eine Kantate schreiben, die ihn allerdings wenig inspirierte. Er legte ein durchschnittliches Werk vor, konzentrierte sich parallel auf ein anderes Stück zu gegebenem Anlass: Aus Holbergs Zeit, Suite im alten Stil op. 40, in welcher er Formmodelle der Barockzeit mit romantischer Musik aktualisierte. Der Formkrise war Grieg damit allerdings noch immer nicht entkommen, erst 1886 entfloh er seiner Angst, keine große Form mehr komponieren zu können, indem er die Dritte Violinsonate c-Moll op. 45 veröffentlichte.


Troldhaugen, Villa von Edvard Grieg (Foto von: Oliver Fraenzke)

Zuvor schon erwarb Grieg 1884 seine berühmte Residenz in der Nähe Bergens: Troldhaugen. Hier lebte er bis zu seinem Tod und liegt nun unterhalb des Hauses begraben; heute dient das Gebäude als Museum, daneben steht eine neu gebaute Konzerthalle. 1887 fand ein geschichtsträchtiges Treffen in Leipzig statt: Brahms, Tschaikowsky und Grieg saßen an einem Tisch: Während Brahms und Tschaikowsky sich zwar menschlich leiden konnten, verabscheuten sie die Musik des jeweils anderen, zu Grieg bauten beide menschlich wie künstlerisch ein gutes Verhältnis auf.

Nach der Jahrhundertwende verschlechterte sich Griegs Gesundheit rapide: Bereits als junger Mann verlor er durch eine Krankheit die Funktion eines Lungenflügels, nun wurden die Atembeschwerden kritisch. Am 4. September 1907, nach einer letzten Tour nach Deutschland, starb er im Zentralkrankenhaus Bergen in den Armen seiner Frau.

Musik und Stil

Grieg zählt zu den großen Nationalromantikern des 19. Jahrhunderts, die sich auf die Volksmusik beriefen. Formal bleibt er weitgehend klassisch-konservativ, harmonisch hingegen beschritt er neue Pfade und ebnete den Weg für den Impressionismus in Frankreich: Debussy und Ravel betrachteten beide Grieg als eine ihrer zentralen Inspirationsquellen.

Als Meister der kleinen Formen geltend, brachte Grieg uns doch zahlreiche grandiose Werke großen Formats: Die frühesten dieser sind die Klaviersonate e-Moll und die Erste Violinsonate F-Dur, wobei die Klaviersonate bereits Ideen enthält, welche Grieg später im Klavierkonzert a-Moll wiederaufgriff und erweiterte. Die beiden Sonaten entstanden zeitgleich, die Zweite Violinsonate G-Dur op. 13 folgte kurze Zeit später. In ihr wendet sich Grieg aktiv der Volksmusik zu und erhebt sie in die Sphären von Konzertmusik, der erste Satz ist ein ausgedehnter norwegischer Volkstanz. Von der ersten Aufführung an etablierte sich das Klavierkonzert a-Moll op. 16 zu einem Publikumsliebling: Die eingängige Thematik, die harmonischen Wechsel und das Ursprüngliche und Natürliche dieses Werks begeistern jedes Mal von Neuem. Düster und aufbrausend geben sich das Streichquartett g-Moll und die Klavierballade, in denen Grieg den Tod seiner Eltern verarbeitete: Das Quartett bildet eine Geschichte ab um einen Pakt mit einem Wassergeist, die Ballade errichtet sich auf einer Volksmusikmelodie, welche in Variationsform bearbeitet wird und in alle Abgründe der menschlichen Seele blicken lässt: Trauer, Resignation, Hoffnung, Wut, Angst, Unsicherheit, Ausgelassenheit und mehr spiegeln sich in den dreizehn Variationen der Klavierballade, die umfangreicher und technisch noch anspruchsvoller ist als Chopins g-Moll-Ballade op. 23 und Züge aufweist von Schumanns Symphonischen Etüden op. 13. Die Cellosonate führt zum Klavierkonzert zurück und behält packende Dramatik, die Dritte Violinsonate ist ebenfalls ein energiegeladenes Werk voll innerer Zerrissenheit und eruptiver Gewalt.

Der Zweifel gehörte zu Griegs lebenslangen Weggefährten, immer wieder überarbeitete er alte Werke und verwarf seine Skizzen, unter anderem mehrere Instrumentalkonzerte kamen nie über ein Skizzenstadium hinweg, andere Werke wie sein F-Dur-Streichquartett blieben unfertig. Aus dem Finale der Klaviersonate strich Grieg eine lange Passage, den Höhepunkt des zweiten Satzes setzte er vom Fortissimo ins Pianissimo, entsagte somit der Zurschaustellung von Virtuosität.

Der Angst vor langen Formen entfloh Grieg, indem er kurze Sätze aneinanderreihte, wie bei der Holberg-Suite, deren längster Satz, die innige Air, in der ursprünglichen Klavierfassung lediglich vier Seiten umfasst. In großen Kontexten behält Grieg gerne eine klare Struktur, Reprisen sind meist ganz regelkonform durchgeführt und auch in seinen Miniaturen vertraut Grieg einer exakten Wiederkehr von bekanntem Material.

Gern gespielt werden die zahlreichen Klavierminiaturen des Norwegers, allen voran seine 66 Lyrischen Stücken in zehn Bänden, vernachlässigt im Repertoire sind hingegen seine etwa 180 Lieder. In den Lyrischen Stücken tastet sich Grieg langsam an die Volksmusik heran, anfangs nennt er seine Stücke „Im Volkston“, oder „Norwegisch“, später erst betitelt er sie nach den Bauerntänzen.

Das Norwegische ist omnipräsent im Schaffen Griegs, sei es durch Stilisationen von Bauerntänzen oder durch Bearbeitungen von Volksliedern, was viele Melodien vor dem Vergessen bewahrte.  Die Liedtranskriptionen und -bearbeitungen op. 66 dürften die feingeistigsten Umsetzungen sein, op. 72 rückt das Volkstümliche mehr in den Konzertkontext. Auch die Ballade beruht auf einer Melodie, die von Ludvig Mathias Lindeman aufgezeichnet wurde.

Zuletzt zu nennen ist das abbildende Element in Griegs Musik: Für eine treffende Illustration überging der Norweger alle Regeln bis hin zu freien Quintrückungen in Glockenklang aus den Lyrischen Stücken. Ob Grieg nun im An den Frühling ganze Lawinen talwärts rutschen lässt, die Vöglein quirlig durcheinandersingen oder das Bächlein ununterbrochen rauschen, die Bilder sind stets eindeutig. Und wer erkennt nicht die Morgenstimmung als DIE Darstellung einer Landschaft bei aufgehender Sonne? Was Peer Gynt betrachtete, hören wir nun in zahlreichen Filmen als Untermalung des angehenden Tages.

Aufnahmen im Vergleich

Es liegt eine beachtliche Anzahl an Gesamteinspielungen Griegs vor, besonders das Symphonische Oeuvre wurde in den letzten Jahren mehrfach vollständig aufgenommen. Ein „Must have“ für alle Grieg-Fans bleibt die „Grieg Edition“ von Brilliant Classics, welche fast das gesamte Schaffen des Norwegers auf 21 CDs bannt: Hervorzuheben hierbei ist die Klaviermusik mit Håkon Austbø. Eivind Aadland legte mit dem WDR Sinfonieorchester Köln eine Gesamtaufnahme des Orchesterwerks vor (erschienen bei audite), die durch Plastizität und Ökonomie der Mittel besticht, sachlich und feingeistig fasst er diese Musik auf. Etwa zeitgleich brachte Naxos die „Complete Orchestral Works“ heraus mit Bjarte Engeset, dem Malmö Symphony Orchestra und dem Royal Scottish National Orchestra. Das Glanzstück hier ist die gesamte Bühnenmusik zu Peer Gynt, die nicht nur in den beiden Suiten zu hören ist, wie in den anderen verglichenen Einspielungen. Herbert Schuch kann im Klavierkonzert für audite mehr überzeugen als Håvard Gimse für Naxos. Wo Engeset in der Gesamtaufnahme allgemein empfehlenswert ist, enttäuschen seine Einspielungen für Streichorchester, die es auch in die Box geschafft haben. Carl Petersson legte für Grand Piano das a-Moll-Konzert vor und begeistert vom ersten bis zum letzten Ton – darüber hinaus spielt er das unvollendete h-Moll-Konzert, von welchem nur wenige Fragmente erhalten sind, in der Vervollständigung von Helge Evju, eine Weltersteinspielung. Leider vergriffen ist die Aufnahme des Komponisten und Dirigenten Nicolas Flagello, der aus einem schlechten Orchester (Da Camera di Roma) Unvorstellbares herausholt und eine der brillantesten Aufnahmen der Holberg-Suite hervorbringt.

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Die Kammermusik lernte ich durch die 3-CD-Box von Brilliant Classics kennen, die ungeschlagen vom Preis-Leistungs-Verhältnis ist: Die Aufnahmen sind vielleicht nicht die Überragendsten, und doch geben sie vieles preis, was die Kammermusik ausmacht – überraschend innig gibt sich das g-Moll-Streichquartett. Die Violinsonaten glänzen in der Referenz-Aufnahme mit Ingolf Turban und Jean-Jacques Dünki, die Musiker erfüllen jeden Takt mit Ausdruck und Substanz. Ein weiterer Schatz, der komplett verborgen blieb, ist die Aufnahme dreier Sonaten mit Tateno, Rautio und Söderblom. Die neueste Aufnahme, welche mir in die Finger fiel, ist die Erste Violinsonate mit den Schwestern Birringer, welche frei und organisch entsteht, durch Musizierfreude mitreißt. Das gleiche Werk erschien nun mit Aleksey Semenenko und Inna Firsova.

Mehr noch als die Orchester- und Kammermusik wurde die Klaviermusik aufgenommen. Mitreißen können dabei vor allem die Stars von früher: Arturo Benedetti Michelangeli belebt jeden Ton des Klavierkonzerts ebenso wie der Solomusik, Emil Gilels bringt unvorstellbares Gefühl aus allen 66 Lyrischen Stücken und Walter Gieseking achtet bei diesen auf jedes noch so kleine Detail. In neueren Aufnahmen finden wir oft Auszüge aus den Lyrischen Stücken, so etwa sehr puppenhaft gekünstelt von Alice Sara Ott oder übermäßig frei von Janina Fialkowska. Die wohl bekannteste Gesamteinspielung des Klavierwerks ist die von Einar Steen-Nøkleberg, der zwar live interessante Details hervorholt, dessen Aufnahmen allerdings doch auf Masse produziert scheinen, makellos, aber uninspiriert wirken. Auch Skizzen und Verworfenes hören wir bei diesem Pianisten. Zwei der Schätze aus Griegs Zeit seien noch hervorgehoben: Percy Grainger, der sich als junger Mann noch mit Grieg anfreundete, präsentierte mit Leopold Stokowski das Klavierkonzert in einer unerhört bezaubernden Version und spielte unter anderem die Ballade ein, für die er lediglich 12(!) Minuten brauchte. Und Grieg können wir selbst erleben, wie er seine eigenen Werke darbietet: 1903 entstanden Aufnahmen auf Wachsplatte und 1906 verewigte er sich auf einer Klavierrolle von Welte Mignon – heute würde keiner seine Musik so spielen, doch als Dokument der Musikgeschichte sind diese Aufnahmen unentbehrlich.

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[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Perlen des Nordens

audite 92.651, 92. 579, 92.669, 92.670, 92.671

EAN: 4 022143 926517, 4 022143 925794, 4 022143 926692, 4 022143 926708, 4 022143 926715

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Für audite spielt Eivind Aadland mit dem WDR Sinfonieorchester Köln das gesamte symphonische Werk des großen norwegischen Nationalkomponisten Edvard Hagerup Grieg ein. Auf 5 CDs finden sich die Symphonischen Tänze Op. 64, die Peer Gynt-Suiten Op. 46 und 55, der Trauermarsch für Richard Nordraak, Zwei Elegische Melodien Op. 34, Aus Holbergs Zeit Op. 40, Zwei Melodien Op. 53 für Streichorchester, Zwei Nordische Melodien Op. 63, die Konzertouvertüre Im Herbst Op. 11, die Lyrische Suite Op. 54, Klokkeklang Op. 54 No. 6 (nicht in die viersätzige Suite aufgenommen), Altnorwegische Romanze mit Variationen Op. 51, Drei Orchesterstücke aus „Sigurd Jorsalfar“ Op. 56, die frühe Symphonie c-Moll, das Klavierkonzert a-Moll Op. 16, Musik zu Henrik Ibsens Peer Gynt Op. 23, sechs Orchesterlieder, zwei Lyrische Stücke, Der Einsame (Den Bergtekne) Op. 32 und die von Hans Sitt orchestrierten Norwegische Tänze Op. 35 (von Grieg autorisiert). Nicht dabei sind die symphonischen Werke mit Chorbesetzung wie Landerkennung und Olav Trygvason sowie die Bühnenmusik zu Peer Gynt in ihrer vollständigen Form.

Kaum ein anderer Komponist mag uns heute so unmittelbar zu verzaubern wie der große Norweger Edvard Hagerup Grieg. Er trifft genau den Nerv unserer Zeit. Seine Schlichtheit, seine Natürlichkeit und seine Naturverbundenheit, unzertrennlich mit dem Gefühl von Freiheit und Sehnsucht geeint, sprechen den heutigen Hörer direkt an, und so gehören nicht zu Unrecht die Peer Gynt Suiten (vor allem die erste), das Klavierkonzert oder die Lyrischen Stücke für Klavier zu den meistgespielten Stücken überhaupt. Zwar gab es eine Zeit, in der Grieg nur wenig rezipiert wurde, und es schrieb beispielsweise Klaus Wolters 1967 in seinem Handbuch der Klavierliteratur, Grieg sei von der alten Generation noch geliebt worden und nun als „Eintagsfliege“ verschwunden, da seine Musik schlicht nicht mehr anspreche, doch: er kehrte wieder und das mit aller Macht. Immer mehr neue Einspielungen gibt es von seinem breiten Œuvre, Gesamtaufnahmen von Klavier-, Kammermusik-, Lied- oder Orchesterwerk, und in den Konzertsälen sind manche Werke absolute Dauerbrenner – und das, obwohl Grieg von sich selber sagte, er werde in 100 Jahren vollkommen vergessen sein.

Doch gibt es noch immer Vorurteile, die Grieg falsch interpretieren. So stellt man sich den Norweger heute meist nur als alten Mann mit Schnauzer und Hirtenstock vor, wie er glücklich auf seinem Fjord sitzt und so schöne wie harmlose Miniaturen verfasst. Wahr ist an diesem Bild eigentlich nur der Schnauzbart, und der Komponist war ein Leben lang von schwerer Krankheit gezeichnet – früh schon verlor er einen Lungenflügel und hatte bis zu seinem Tod ständige Atemnöte -, war geprägt von familiären Krisen (das lange Verbot der Eltern einer Heirat mit seiner Cousine Nina Hagerup, der Tod seiner Tochter Alexandra, kurz darauf der Tod beider Eltern, Probleme mit Nina und Gerüchte um Ehebruch von beiden Seiten aus bis hin zu einer längeren Trennung des Paares, der Suizid seines Bruders etc.) und kämpfte mit ständigen Selbstzweifeln und einem geradezu destruktiven Perfektionismus. Seine Werke überarbeitete er teils unzählige Male, im Falle der Orchestration seines Klavierkonzerts sogar bis zu seinem Tod immer wieder aufs Neue, seine Symphonie zog er vor der Uraufführung als Gesamtwerk zurück und verbot jegliche Aufführung, zu welcher es erst 1980 in Russland durch einen klassischen „Kulturraub“ kam. Und auch das Klischee eines Kleinmeisters ist letztlich nicht ausreichend, denn obgleich Grieg unzählige Klavierminiaturen und eine mit Schubert zu vergleichende Anzahl an Liedern schuf, gingen auch viele große und bedeutende Werke aus seiner Feder hervor: Fünf grandiose Sonaten schuf er, besonders die drei für Violine und Klavier sind bemerkenswert, eine Ballade, die denen von Chopin in nichts nachsteht und diese gar hinsichtlich innerer Bezüge, Länge, pianistischer Schwierigkeiten, Gesamtwirkung und Stringenz zu überbieten versucht, die hier vorliegende Symphonie und das Klavierkonzert sowie ein überwältigendes Streichquartett in g-Moll, quasi Schwesterwerk zur Ballade, um nur einige dieser Werke zu nennen. Nicht zuletzt wird Grieg vorgeworfen, zu abhängig den Traditionen verbunden geblieben zu sein ohne Sinn für Moderne und Fortschritt. Grieg war tatsächlich einigen Neuerern abgeneigt und sagte gar nach einer Aufführung von Strauss‘ Salome, er habe zu lange gelebt und die Musik habe ihn überholt, doch als Reaktionär kann er deshalb keinesfalls bezeichnet werden. Ganz im Gegenteil, gerade in Bezug auf die Harmonik war er fortschrittlicher als die meisten wissen, so beginnt beispielsweise die „Illusion“ mit einem übermäßigen Dreiklang-Akkord und in der Ballade wird ein Durseptakkord in zweiter Umkehrung gegen alle Regeln zehn Mal chromatisch nach oben gerückt, ähnliches findet sich in der Flucht vor den Trollen in der Schauspielmusik zu Peer Gynt. So mag es nicht verwundern, dass Debussy immer wieder Griegbezüge aufweist (teils ganz deutliche wie zu Beginn seines Doktor Gradus Ad Parnassum, wo er unverkennbar auf den Beginn der Holberg-Suite anspielt) und Ravel gar sagte, in jedem seiner Werke stecke der Einfluss von Grieg.

Eivind Aadland geht dem Orchesterwerk dieses grandiosen Komponisten auf den Grund, gemeinsam mit dem WDR-Sinfonieorchester Köln spielte er es auf fünf CDs für audite ein. Das Orchester spielt klar und durchhörbar, der Dirigent verzichtet auf alle unnötigen Romantizismen und überdehnte Tempi rubati. Man fasziniert mit äußerst wandelhaften Charakteren, so agiert man in der Barockgesten aufgreifenden und diese romantisierenden Suite Aus Holbergs Zeit Op. 40 recht nachdrücklich und mit angenehm bleibender Härte, wogegen beispielsweise die Symphonischen Tänzen durchaus lyrisch und weich gestaltet sind. Es entstehen vielfarbige Schattierungen und das Ganze wird nicht wie viel zu häufig zu hören in einem einzigen monochromen „Grieg-Klang“ verschmolzen. Bemerkenswert ist die Lebendigkeit aller Stimmen, also auch derer, die nicht im Vordergrund stehen, was besonders bei den Klavierstücktranskriptionen von Vorteil ist, aber auch in Symphonie und Klavierkonzert eine ungewöhnliche Plastizität und Vielschichtigkeit erwirkt. Alles in Allem entsteht so eine gewisse Sachlichkeit, die jedoch nicht ins Sterile abgleitet, sondern nur die Reflexion und das Bewusstsein über das Werk zeigt anstelle von Überrumpelung durch klischeehafte Gefühlsausbrüche. Auch wird die Dynamik zu keiner Zeit kopflos ausgereizt in übermäßig krachendes Fortissimo oder unhörbares Pianissimo, wodurch das Zuhören sich sehr angenehm gestaltet und nicht in ständiges Lautstärke-Nachpegeln ausartet. Die Aufnahmen sind von höchster Qualität und können den ganzen Farbenreichtum Griegs dem Hörer authentisch vermitteln.

Herbert Schuch ist Solist im Klavierkonzert a-Moll, dem einzigen fertiggestellten Solokonzert Griegs, der zumindest noch drei weitere für Geige, Cello und erneut für Klavier geplant hatte. Ebenso objektiv wie das Orchester versteht er seinen Solopart und passt sich auf natürliche Weise in den Orchesterklang ein. Er spielt feingliedrig und lyrisch ohne Hektik oder Überstürzung, präsentiert gediegene Sanftheit gleichermaßen wie anspringende Scherzhaftigkeit. Außergewöhnlich ist sein Gefühl für große Crescendi und Decrescendi, die in einer kaum erreichten Kontinuität anwachsen beziehungsweise ausblenden.

Eine der wohl schönsten Inspirationen darf Camilla Tilling mit ihrer vielseitigen Sopranstimme vortragen: Solveigs Lied – und fünf weitere Orchesterlieder. Gerade in diesem Lied umfängt sie mit zwei offenkundig divergierenden Seiten ihrer Stimme, einer betrübt zurückgehaltenen im Textteil und einer hell strahlenden im Vokalisenteil. Und auch in den weiteren Liedern gelingt ihr die ganze Bandbreite vom großen Operngesang bis hin zur schubertischen Verinnerlichung. Ihr Vibrato ist durchaus vielseitig, dabei recht kontinuierlich eingesetzt, und nimmt verschiedenste Färbungen ein, so dass auch hier einige Abwechslung entsteht. Auch sie setzt auf innere Gelassenheit und wohltuende Reflexion des Inhalts. Ebenso eine farbenreiche Stimme hat Ton Erik Lie, wenngleich er teilweise etwas im Orchester verloren zu sein scheint. Im Op. 32 vermittelt er ein starkes und glaubhaftes Gefühl von Einsamkeit. Das Vibrato ist ein wenig statisch, doch gleicht er dies durch dynamische Vielfalt aus.

Ohne jeden Zweifel liegt hier eine wahrlich hörenswerte Gesamteinspielung des symphonischen Werkes von Edvard Grieg vor. Aadlands Ökonomie der Gestaltung merkt man die lange Beschäftigung mit dem Komponisten an, er weiß, worauf es ankommt in Griegs Musik. Jedem, der nur die „Hits“ wie die Peer Gynt-Suiten, Holberg-Suite oder das Klavierkonzert kennt und mag, sei wärmstens empfohlen, sich auch mit dem restlichen Orchesterwerk auseinanderzusetzen. Hier (wie auch im Klavier- und Kammermusikbereich) warten bei Grieg phantastische Schätze, wahre Perlen des Nordens!

[Oliver Fraenzke, März 2016]