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Ansprechend Bildhaftes aus Australien und Großbritannien

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte in seinem ersten musica viva Konzert der neuen Saison am 25. Oktober 2024 im Münchner Herkulessaal unter Edward Gardner zwei Orchesterwerke des Briten Oliver Knussen: „Flourish with Fireworks“ und die „Cleveland Pictures“. Von Knussens Schüler Mark-Anthony Turnage erklang „Three Screaming Popes“. Die größte Aufmerksamkeit erregte jedoch die Australierin Liza Lim mit der bejubelten Uraufführung von „A Sutured World“, eine Art Cellokonzert für den Solisten des Abends, Nicolas Altstaedt.

Nicolas Altstaedt, Edward Gardner, Liza Lim, BRSO ©BR/Astrid Ackermann

Nach Meinung des Rezensenten erklingen ja Werke britischer Herkunft, gemessen an ihrer Bedeutung, generell zu wenig auf deutschen Konzertpodien. Nun hatte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks für diesen Abend nicht nur Edward Gardner, den derzeitigen Chef des London Philharmonic Orchestra zur musica viva eingeladen, sondern auch Musik zweier kompositorischer Schwergewichte der letzten Jahrzehnte programmiert, die gerade in München zuletzt nicht oft zu hören waren. Oliver Knussen (1952–2018) war eine eminente, frühreife Doppelbegabung, dirigierte schon mit 15 die Premiere seiner 1. Symphonie beim London Symphony Orchestra. Als Dirigent ein kongenialer Interpret komplexer zeitgenössischer Musik, – etwa der Werke Elliott Carters – bezog sich seine eigene Musik stark auf Strawinsky, knüpfte gerade an dessen Spätwerk an. Seine Instrumentationskunst war immer exzeptionell. Dies beweist das BRSO gleich in Flourish with Fireworks (1993): Zwar nur eine Gelegenheitskomposition für das Antrittskonzert von Michael Tilson Thomas als Chefdirigent des LSO, leitet Gardner den 4-Minüter präzis, ohne mit der linken Hand allzu viel anzuzeigen und kreiert einen mitreißenden Klang, der sich offenkundig an Strawinskys frühem Feu d’artifice orientiert –immerhin ein positiv einstimmendes Warm-up.

Die Australierin Liza Lim (Jahrgang 1966) braucht man in München nicht mehr vorzustellen. Sie erhielt den Happy New Ears Preis der Hans und Gertrud Zender Stiftung für 2021, und ihre Musik erklang mehrfach im Herkulessaal. Vieles davon zeugt von starkem politischem Engagement und Umweltbewusstsein. A Sutured World, dem deutsch-französischen Solisten Nicolas Altstaedt quasi auf den Leib geschrieben, darf das Publikum neben allem philosophischen Über- und Unterbau inklusive Begrifflichkeiten wie Wundheilung, Riss, Sutra oder Narbe schlicht als ein grandioses Cellokonzert genießen. Die für den Hörer klar strukturierte, vierteilige Anlage sowie Altstaedts hochengagierter, zudem von einer enormen emotionalen Spannweite geprägter Vortrag können durchgehend überzeugen: von mystischer Versenkung über Halluzination bis zu ekstatischer Spielfreude – der letzte Abschnitt ist mit Simon says: Alle Vögel fliegen hoch betitelt. Natürlich werden alle spiel- und klangtechnischen Möglichkeiten des Instruments genutzt: So beginnt Altstaedt sein erstes Solo mit einem Barockbogen. Für den wieder intimen Schluss nutzt er gar zwei Bögen gleichzeitig, darf auch mal in durchaus tonal gedachten Kantilenen schwelgen. Das mit nur 2-fachen Bläsern besetzte Orchester tritt oft mit Einzelinstrumenten (Harfe) oder kleineren Gruppen in interessante Dialoge mit dem Solisten und verzaubert mit schlüssiger, fein austarierter Farbigkeit, wird vom Dirigenten mit größter Übersicht und klarer Dynamik so geleitet, dass Altstaedt mit seinem Cello stets durchkommt. Selten hat das musica viva Publikum mit derart ungeteiltem, begeistertem Applaus ein Solistenkonzert bejubelt wie Liza Lims staunenswertes Stück; da verbot sich jede Zugabe.

Nach der Pause gibt es dann zwei Orchesterwerke, die sehr konkret von bildender Kunst inspiriert wurden. Mark-Anthony Turnage (*1960) studierte u. a. bei Oliver Knussen und bezeichnete den Lehrer als Vaterfigur, zu der er eine geradezu familiäre Beziehung unterhielt. Zu Weltruhm gelangte der junge Komponist auf einen Schlag bei der ersten Münchner Biennale 1988 mit seiner Oper Greek. Auch Three Screaming Popes – nach Francis Bacons berühmten Studien über Papstporträts von Velázquez – aus der gleichen Zeit ist eigentlich mittlerweile ein Klassiker. So wie Bacon die alten Gemälde verzerrt, benutzt Turnage historische spanische Tänze als Grundlage. Es ist jedoch weniger die elaborierte Umformung musikalischen Materials als pure Ausdrucksintensität, die sofort unter die Haut geht. Turnage konnte immer mittels Elementen aus Jazz und Pop zusätzliche Härten in seine Musik einbringen, was hier voll aufgeht. Gardner – jetzt mit noch mehr Detailkontrolle als vor der Pause – und das BRSO, die eine unglaubliche Spannung aufrechterhalten, erzielen nebenbei eine bessere Durchsichtigkeit als Simon Rattle in seiner 1992er Aufnahme mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, mit dem Turnage seinerzeit assoziiert war: faszinierend. Der Komponist freut sich sichtlich über diese Darbietung und die Ovationen der Zuhörer.

Zuletzt erklingen Knussens Cleveland Pictures: Sieben geplante Stücke, entstanden zwischen 2003 und 2009, die bereits die letzten Orchesterwerke des Briten darstellen, leider teils unvollendet geblieben sind und erst vor zwei Jahren uraufgeführt wurden. Tatsächlich wollte er quasi neue Bilder einer Ausstellung – nach Exponaten aus dem Cleveland Museum of Art – erschaffen, die freilich weit mehr als pittoreske, mimetische Umsetzungen einzelner Kunstwerke sein sollten. Im ersten Satz mit Bezug auf Rodin wird ein völlig tonaler Streichersatz mit aufmüpfigem Blech konfrontiert, im zweiten (Velázquez) gibt es kurze Renaissance-Anklänge, im dritten (Gauguin) eine knappe, sehr effektiv energiegeladene Streicherlinie. Im freundlichen, fast Tschaikowsky-nahen vierten (Two Clocks) findet sich ein unüberhörbares Zitat aus Mussorgskys Boris Godunow. Der Goya-Satz (St. Ambrose) mit äußerst delikater Harmonik – Mark-Anthony Turnage gewidmet – richtet seinen Blick gebetsartig nach oben, aber wohl, allein durch die verwendeten spanischen Tanzrhythmen, ebenso auf die Three Screaming Popes. Wäre es fertiggestellt worden, hätte man im letzten Bild (Turners The Burning of the Houses of Lords and Commons) mit Sicherheit die Entwicklung einer gewaltigen Feuersbrunst hören können. So bricht das Werk nach einer unglaublich starken, düster-bedrohlichen und unheilschwanger initiierten Atmosphäre schnell ab. Knussen zeigt bei all diesem fast schon unverschämten Schönklang nochmals seine ganze Instrumentationskunst, die Bewunderung verdient. Das Publikum findet großen Gefallen an dieser durch und durch verständlichen Musik. Dirigent und Orchester können mit einem gelungenen, mal überhaupt nicht verkopftem musica viva Abend mehr als zufrieden sein.

[Martin Blaumeiser, 27.10.2024]

Hvoslefs Klavierkonzert endlich auf CD

Simax Classics, PSC1375; EAN: 7033662013753

Unter drei Dirigenten spielt das Bergen Philharmonic Orchestra drei Werke von Ketil Hvoslef. Zunächst hören wir das Klavierkonzert mit dem Pianisten Leif Ove Andsnes unter Stabführung Edward Gardners, dann „Ein Traumspiel“ unter Eivind Gullberg Jensen und zuletzt „Barabbas“ unter Juanjo Mena.

Vor einigen Jahren hörte ich einen Radiomitschnitt eines Klavierkonzerts: Ich weiß nicht mehr genau, unter welchen Umständen dies war, aber als die Musik begann, vergaß ich Zeit und Raum, war gefangen von diesen einmaligen wie packenden Klängen, die mich bis heut nicht loslassen. Als ich nachher auf die Uhr blickte, waren dreißig Minuten vergangen, die mir vorkamen wie nur wenige Augenblicke. Bei dieser Musik handelte es sich um das 1992 komponierte Klavierkonzert von Ketil Hvoslef, das nun der Widmungsträger Leif Ove Andsnes gemeinsam mit dem Bergen Philharmonic Orchestra unter Edward Gardner auf CD gebrannt hat.

Das Konzert öffnet mit einem Wirbel der großen Trommel und mächtigen Akkorden des Klaviers (beinahe eine Karikatur auf das a-Moll-Konzert Griegs); die Akkorde verklingen nach und nach zu einer Zweitonfigur, bis der Solist seine Finger von den Tasten nimmt – doch noch immer klingt die Figur weiter! Hinter der Bühne steht ein zweiter Flügel, etwas tiefer gestimmt als das Soloinstrument, und erzeugt eine einmalige Echowirkung. Das gesamte Werk strotzt vor solchen Überraschungseffekten, was die Spannung hoch hält. Vom Solisten wird enorme rhythmische Energie und Präzision verlangt, die Akzente der einzelnen Figuren gehen beinahe immer gegen die Taktstruktur und oftmals gegen das gesamte Orchester. So abstrakt die Motive teilweise erscheinen, so sehr gehen sie dabei ins Ohr und schaffen eine stringente Form, die auf enorme Kontraste und perfektes Timing beim Wechsel der einzelnen Abschnitte aufbaut. Im Mittelsatz kehrt das Echo zum zweiten Klavier wieder, hier noch enger geballt. Magisch wirkt der gewaltige Aufbau des ganzen Orchesters inklusive des Solisten, bis allerdings die Spannung kippt und das Orchester wieder verebbt, während aber das Klavier weiter in die Höhe treibt. Hvoslef revidierte das Werk bereits mehrfach, in meiner Partitur sind alleine drei Revisionen bis 1999 verzeichnet; für die vorliegende Aufnahme arbeitete der Komponist noch einmal an dem Konzert. Die Veränderungen betreffen das Finale, in dem eine überraschende Kürzung kurz vor Ende den Kontext strafft. Außerdem überarbeitete Hvoslef den Schluss, der nun nicht mehr so düster wirkt wie zuvor, sondern offener und mit Rückbezug auf das Echo-Klavier. Leif Ove Andsnes spielt das Konzert mit mechanischer Perfektion und präzise ausgearbeitetem Anschlag. Für große Emotion ist wenig Platz in dieser Musik, doch Andsnes gelingt es, ein gewisses Maß an Sentiment und Einfühlung in die Noten zu legen. Dynamisch setzt er minutiös die an die Grenzen der Realisierbarkeit stoßenden Vorzeichnungen um und reißt das Orchester mit, was zu erstaunlichen Kontrasten führt.

Bei den anderen beiden Werken dieser CD-Produktion handelt es sich um Archivaufnahmen: „Ein Traumspiel“ wurde bereits 2011 von Eivind Gullberg Jensen eingespielt, Barabbas geht auf das Jahr 2013 zurück. Das einsätzige Werk „Ein Traumspiel“ basiert auf dem poetischen Drama „Ett drömespel“ von August Strindberg und katapultiert den Hörer vom ersten Ton an in eine magische Welt. Es handelt sich um eines der lichtesten Werke Hvoslefs, das selbst eine ausgiebige tänzerische Passage zulässt (wenngleich die Musik wie fast immer bei Hvoslef im 4/4-Metrum verweilt). Jensen dirigiert das ihm gewidmete Stück mit viel Seele und intuitivem Gespür für Klang. Wie kaum ein anderer Dirigent unserer Zeit versteht Jensen instinktiv die Musik, erfasst organische Formen und große Kontexte, setzt diese auf eine Weise um, die den Hörer direkt ansprechen. Auffällig gerät besonders die Schattierung der kurzen Noten von extremem Staccato bis zu voluminös nachklingenden Akzenten.

Die Oper ohne Sänger „Barabbas“ ist das genaue Gegenteil von „Ein Traumspiel“: sie erkundet die Tiefen und hält eine düster-dramatische Aura aufrecht. Kaum ein Lichtblick glimmt in den drei Sätzen/Akten auf, die Musik treibt vorwärts in einem finsteren Sog voller Leid und Qual. Doch genau hierin liegt auch ihre ureigene Qualität, die den Hörer bannt.  Die drei Sätze zeichnen die Geschichte nach um den Entscheidungsprozess, ob Jesus begnadigt werden soll, oder doch Barabbas. Juanjo Mena geht auf die düstere Haltung der Musik ein und fokussiert den Drang in die Tiefe. Wir kennen ihr hauptsächlich als Dirigenten spanischer Musik; hier zeigt sich, welch einen Tiefgang und Gespür er auch für die nordischen Meister besitzt.

[Oliver Fraenzke, Januar 2020]

Alles läuft zusammen

Festspiele in Bergen: Grieghallen, Griegsalen; Edvard Grieg, Ralph Vaughan Williams, Sofia Gubaidulina; Bergen Filharmoniske Orkester, Edward Gardner (Leitung), Gidon Kremer (Violine), Ah Ruem Ahn (Klavier)

[Alle Rezensionen zu den Festspielen in Bergen im Überblick]

Festspiele in Bergen: Griegsalen; Gubaidulina, Kremer und das Bergen Filharmoniske Orkester (Foto von: Oliver Fraenzke)

Im letzten Konzert, welches ich im Rahmen der Festspiele in Bergen höre, läuft alles zusammen: Im Griegsaal der Grieghalle spielt das Bergen Filharmoniske Orkester unter Leitung von Edward Gardner das Offertorium der Festspielkomponistin Sofia Gubaidulina mit Gidon Kremer als Solist an der Geige, die Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis von Ralph Vaughan Williams sowie das Klavierkonzert a-Moll op. 16 von Edvard Grieg. Am Klavier sitzt die Gewinnerin des letzten internationalen Grieg-Wettbewerbs Ah Ruem Ahn.

Sofia Gubaidulina hört das Ende im Anfang, spinnt einen roten Faden durch das gesamte Werk, und erst im letzten Ton erfüllt sich der vollständige Sinn. Sich auf reine Intuition beim Komponieren zu berufen, genügt der gebürtigen Russin nicht, sie benötigt einen mathematischen Hintergrund, der eine zwingende Logik und Stringenz ermöglicht. Es ist die Mitte zwischen den beiden Extremen, die anzustreben ist. Offertorium gehört zu den meistgespielten Werken Gubaidulinas und entstand durch die gegenseitige Bewunderung Gubaidulinas und Kremers, der es auch heute darbietet, 27 Jahre nach der Uraufführung. Der religiöse Kontext bleibt unüberhörbar, wie der Titel suggeriert; die Melodie basiert auf Bachs Musikalischem Opfer BWV 1079. Kremer nimmt das Konzert zurückhaltend und mit gewisser Distanz, lässt sich nicht von den ungeheuren Gefühlswelten überrumpeln. Den Ausdruck verlagert er nach innen, spürt ihn mehr, als ihn aktiv herauszuholen. So entsteht eine ehrliche und glaubwürdige Wirkung der Spiritualität, welche diese Musik durchdringt. Zwar mischt sich im Griegsaal das Zusammenspiel zwischen Solist und Orchester nicht immer, aber doch hören wir kontinuierliche Interaktion zwischen Gidon Kremer und Edward Gardner, der die Bergner Philharmoniker zu enormer Klangfarbenpracht anhält.

In Ralph Vaughan Williams‘ Fantasie über ein Thema von Thomas Tallis kommt der Streicherapparat des Bergen Filharmoniske Orkesters in voller Pracht zum Einsatz. Jede einzelne Stimmgruppe ist für sich vollendet, präsentiert runden und warmen Ton in zahllosen Schattierungen und dynamischen Details. Darüber hinaus verschmelzen sie zu einem miteinander wirkenden Ganzen, ein vielschichtiger und dreidimensional plastischer Klangraum entsteht, der zudem durch das Fernorchester bereichert wird.

Zuletzt hören wir Grieg im Griegsaal der Grieghalle in der Griegstadt Bergen. Die Gewinnerin des Griegwettbewerbs Ah Ruem Ahn präsentiert sein Klavierkonzert a-Moll op. 16, das schon von Franz Liszt in höchsten Tönen gelobt wurde und schnell seinen Weg in die großen Konzerthäuser fand, wo es heute nicht mehr wegzudenken ist. Wie auch schon bei ihrem Rezital in Troldhaugen verblüfft die Koreanerin durch ihr flüchtiges, hingeworfen wirkendes Spiel, das der Musik eine Ungezwungenheit verleiht, die an Improvisation erinnert. Sie lässt es zu, dass das Orchester sie im Kopfsatz teilweise dynamisch übersteigt, doch um so prächtiger kommt sie jedes Mal wieder aus der Tiefe hervor. Für das Bergen Filharmoniske Orkester gehört das Konzert zu den Evergreens, die sie stets auf neue darbieten müssen: Entsprechend bekannt ist allen Musikern diese Musik und jedes Detail des Zusammenspiels. Dennoch stumpfen die Instrumentalisten dadurch nicht ab, sondern nutzen die Werkkenntnis für feine Artikulation und bemerkenswertes Zusammenwirken, haben noch immer Freude an Griegs Musik.

Und mit dem Konzert klingt auch meine Zeit bei den Festspielen in Bergen aus, erfüllt von Musik und Eindrücken geht es zurück nach Deutschland. Doch Norwegen wird mich wieder anziehen: Die Offenheit der Musiker, die Ungezwungenheit und Suche nach immer umfassenderem Verständnis für die Musik gibt der Kultur in den skandinavischen Ländern einen besonderen Stellenwert.

        

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

„Brittissimo!“ – Eine längst überfällige Kollektion im Gedenken eines großen Komponisten

Opus Arte, OA BD7189 BD; EAN: 80947807189

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Die Opern von Benjamin Britten (1913-76) werden auf den heutigen Opernbühnen mit Ausnahme des Peter Grimes leider nach wie vor viel zu selten gespielt. In Anbetracht dieses Umstandes ist es nun umso erfreulicher, dass die meisten in vorliegender Box enthaltenen Produktionen als Hommage zum hundertsten Geburtstag an den englischen Komponisten im Jahr 2013 erstveröffentlicht wurden und nun in dieser Sammelkollektion erhältlich sind. Die Box besticht gleich auf den ersten Blick durch ihre geschmackvolle Aufmachung. Der Schuber, welcher markant durch ein gestrandetes Schiff illustriert ist, nimmt sogleich Bezug auf die häufig in Brittens Opern eingestreute Motivik um See und Seefahrer, was v. a. in Peter Grimes und Billy Budd deutlich wird. Zeit seines Lebens fühlte sich Britten den malerischen Landschaftsbildern der englischen Nordseeküste verbunden und gründete dort auch schließlich das Aldeburgh Festival, welches u. a. als Uraufführungsort diverser Bühnenwerke des Komponisten fungierte.

Drei der in der vorliegenden Box enthaltenen Mitschnitte möchte ich im Folgenden genauer herausheben:

Bereits die erste Produktion innerhalb des Schubers präsentiert das bedeutendste Opernwerk Brittens überhaupt: Peter Grimes. Uraufgeführt im Jahr des Kriegsendes war es zu dieser Zeit das Werk, welches Britten zu nachhaltigem Ruhm verhalf. Die äußerst anspruchsvolle Titelpartie des Grimes hatte Britten für seinen Lebensgefährten, den großen Tenor Peter Pears, geschrieben, mit welchem der Komponist dann auch im Jahr 1958 eine Studioproduktion für das Label Decca einspielte, die bis heute als unangefochtene Referenzaufnahme des Werkes gilt (Decca, 4757713; EAN: 0028947577133). Aufgrund der großen sängerischen Strapazen, mit welchen die Rolle verbunden ist, wird die Partie oftmals von Wagner-Sängern gesungen, darunter v. a. auch von bedeutenden Sängern wie dem kanadischen Heldentenor Jon Vickers, welcher die Rolle in der Gesamtaufnahme von 1978 unter Sir Colin Davis übernahm (Decca, 4782669; EAN: 0028947826699). Wenngleich auch nicht mit derart unerschöpflichen stimmlichen Mitteln ausgestattet wie besagte Vorgänger, so kann der britische Tenor John Graham-Hall doch in der vorliegenden Produktion der Mailänder Scala überzeugen. Auf bühnendarstellerischer Ebene mangelt es ihm in dieser Partie allerdings des Öfteren an Intensität. Das eigentliche Glanzlicht der Produktion ist die Besetzung der Ellen Orford durch Susan Gritton. Ihre lyrischen Qualitäten wie auch ihr intensives Spiel zeichnen eine Frau, die gegen das existentielle Dilemma und die Ungerechtigkeit des konservativen dörflichen Milieus aufbegehrt und letztlich daran scheitert. Susan Grittons Sopran ist bestens disponiert und versprüht eine Wärme, welche der darstellerischen Gestaltung ihrer Rolle aufs Eindringlichste gerecht wird. Unterstützt werden die Sänger vom routinierten Orchester und Chor der Mailänder Scala. Obwohl es dem jungen Dirigenten Robin Ticciati anfangs auch mangels Schwung nicht gelingt, aus Chor und Orchester einen einheitlichen Klangkörper zu formen, spornt er diese doch nach und nach zu voller Leistung an. Spätestens in den bedrohlich-düsteren „Sea Interludes“, v. a. aber im Sturm-Interludium des zweiten Aktes, in welchem das Orchester mit martialischer Kraft aufgepeitscht wird, gelingt es ihm, große Spannungsbögen und orchestrale Facetten von großer Transparenz zu zeichnen. Die teils moderne, teils konservative Inszenierung vermag dabei mittels gezielter Lichteffekte und kontrastreicher Kostüme interessante Eindrücke zu vermitteln und die innerdramaturgische Beklommenheit auf nachvollziehbare Art und Weise herauszustreichen.

Die Produktion des auf einer Erzählung von Herman Melville basierenden Bühnenwerkes Billy Budd kann als eine weitere Sternstunde realistisch-historisierenden Musiktheaters gesehen werden. Die tragische Seemannsoper entstand ursprünglich als Auftragswerk für das Royal Opera House, wo sie 1951 zur Uraufführung gelangte. Ebenso wie den Peter Grimes nahm Britten auch diese Oper zusammen mit Pears im Jahr 1967 für das Decca-Label auf (Decca, 4174282; EAN: 0028941742827). In der Rolle des befehlshabenden Captain Vere der vorliegenden Aufführung vom Glyndebourne Festival ist John Mark Ainsley zu sehen. Sein hellschlanker Tenor vermag, einen von Selbstzweifel geplagten Idealisten darzustellen, welcher letztlich zwischen Gesetz und eigenem Gewissen entscheiden muss. Spiel und Gesang sind von großer darstellerischer Überzeugungskraft. Die Titelpartie ist durch den südafrikanischen Bariton Jacques Imbrailo besetzt, welcher es als jugendlich-lyrischer Bariton aufs Beste versteht, der Figur die nötige Naivität angedeihen zu lassen. Sein tragisches Ende im Fadenkreuz des Spannungsfeldes zwischen Humanität und Ordnungsmacht ist von großer Wirkung und Eindringlichkeit. Hervorragend besetzt ist auch die Rolle des sadistischen Intriganten Claggart, gespielt mit dämonischer Intensität vom kanadischen Bassbariton Philip Ens. Eine besondere Bemerkung wert ist die herausragende Inszenierung von Michael Grandage, welcher die Handlung in das klaustrophobische Innere eines Schiffrumpfes versetzt. Die ungeschönte Brutalität zur Zeit der Revolutionskriege wie auch die Qual des Matrosenalltags werden realistisch nachgezeichnet und durch historische Kostüme ergänzt. Das ausgezeichnete London Philharmonic Orchestra unter der expressiven Stabführung von Mark Elder rundet das Bild dieser erstklassigen Produktion ab.

Brittens Death in Venice nach einer Adaption der Novelle von Thomas Mann wurde als letzte Oper des Komponisten im Jahr 1973 im Rahmen des Aldeburgh Festivals uraufgeführt.     Wie bereits in der vorgenannten Aufnahme des Peter Grimes hat man auch in dieser Produktion der English National Opera den Tenor John Graham-Hall mit der Titelpartie betraut. Und Graham-Hall liefert hier eine weitaus vielschichtigere Darstellung ab als in der Grimes-Produktion! Sein selbstquälerischer Zwiespalt zwischen Eros, also der Neigung zu dem Knaben Tadzio, und Ratio, also der Akzeptanz des gesellschaftlich Tabuisierten im Kontext seiner Reputation als berühmter Schriftsteller, nimmt man ihm ohne weiteres ab. Auch in stimmlicher Hinsicht ist er diesmal bestens disponiert, von fast gehauchten Piani bis hin zu aufschäumendem und stets sicher intoniertem Forte komplexer Melodielinien. Brittens stilistische Wandlung gegenüber den beiden vorgenannten Werken ist deutlich spürbar. In Anbetracht der komplexen Motivik, des archaisch anmutenden Schlagwerks und der farbig-dissonanten Harmonik als Spiegel der psychologischen Innenwelt Aschenbachs meint man immer wieder Komponisten wie den Strauss der Salome und Elektra und v. a. auch Strawinsky aus der Partitur herausblitzen zu sehen. Dieser Umstand wird mit großer Intensität durch die ungeheure Impression atmosphärischer Bühnenbilder unterstrichen, welche sich mit der Musik auf einer stimmungsvollen Verdichtungsebene vereinigen. Wenn auch sängerisch nicht vollauf überzeugend, so ist Bassbariton Andrew Shore doch in darstellerischer Hinsicht als Verkörperung der „Sieben-Personen-Rolle“ mit besonderem Lob zu würdigen. Chor und Orchester gelingen zudem unter der Leitung von Edward Gardner wahre Höchstleistungen.

Alles in allem handelt es sich hierbei um eine herausragende Sammlung der wichtigsten Bühnenwerke Brittens (noch dazu in augenbetörender HD-Qualität), die sich jeder gewissenhafte Musikliebhaber durchaus zu Gemüte führen darf. Ein anerkennendes „Brittissimo!“ wird in diesem Falle dem ein oder anderen im Anbetracht der herausragenden sängerischen und darstellerischen Leistungen mit Sicherheit von den Lippen schallen.

[Georg Glas, April 2016 ]