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Ein Glaubensbekenntnis an die Musik

Zum Neustart der Klassikreihe im Bürgerhaus Eching spielen der Violinist Denis Goldfeld und die Pianistin Sofja Gülbadamova am 3. Juli 2021 ein hoffnungsvolles Programm fast ausschließlich in Dur. Sie eröffneten den Abend mit Schuberts Violinsonate D-Dur D 384, worauf Beethovens 8. Violinsonate in G-Dur op. 30/3 folgte. Nach der Pause fügten die Musiker ein modernes Werk, welches nicht auf dem Programm stand: Ein Andante Tragico der Komponistin Lera Auerbach, das für die Künstler ein Sinnbild der durchlittenen Coronapandemie darstellt. Als Hauptwerk des Abends spielten Goldfeld und Gülbadamova die Erste Violinsonate op. 78 von Johannes Brahms, rundeten mit dessen Scherzo aus der F.A.E.-Sonate ab.

Welch ein seltsamer Augenblick für uns Zuhörer, auf einmal wieder im Konzertsaal zu sitzen – und wie viel seltsamer noch für die auftretenden Musiker, die nun teils über ein Jahr nicht mehr vor Publikum standen. Das Erlebnis war somit in jeder Hinsicht ein Besonderes. Und dies wurde bei Künstlern wie Zuhörern spürbar: Als die Musik anhob, so waren wir wie in einer Parallelwelt, gebannt von den Klängen. Es fühlte sich zugleich vertraut an und dann fast neuartig. Denis Goldfeld und Sofja Gülbadamova rangen im positivsten Sinne um die aufsteigenden Emotionen, die gerade bei Komponisten wie Schubert und Brahms doppelbödiger kaum sein könnten. Doch gewannen sie den Kampf insofern, als dass sie sich nicht überrumpeln ließen von der geballten Macht der ertönenden Großformen, sondern es schafften, diese zu kanalisieren und dem Publikum zu vermitteln, ja zu verkünden. Denis Goldfeld schwelgte sichtbar auf den Tönen, kontrollierte sie empfindsam im Entstehen und stellte jede Zelle seines Körpers in den Dienst der Musik, was seinem Spiel größtmögliche Sinnlichkeit und Purität verlieh: Echter, ungekünstelter Ausdruck in jeder Schwingung. Sofja Gülmadamova verkörperte eine andere Herangehensweise: Sie näherte sich vom Bild auf die Gesamtform den einzelnen Passagen, um nie den Zusammenhang zu verlieren. Aller äußerlichen Virtuosität schwor sie ab, erwägte gar jede ihre Bewegungen, die nur der Tongebung gelten sollten. In der Symbiose der beiden Künstler verschwammen die unterschiedlichen Grundzüge zu einer durch und durch funktionierenden Einheit. Die Musiker gaben ihr Innerstes preis, was das Erlebnis dieses Konzerts umso intensiver und intimer gestaltete, den Zuhörer vollends in das Geschehen integrierte. Der gemeinsame Atem, der sich in 20-jähriger Kammermusikpartnerschaft etablierte, der nach dieser Pause nun wieder außergewöhnlich erschien, sprang auch auf das Publikum über.

Wohl dauerte es aus Sicht des Publikums teils noch, sich auf diese Situation neu einzustellen, aber spätestens im Mittelsatz der Beethoven-Sonate war auch der Letzte vom Alltag befreit in den Wogen der Musik gefangen. Diejenigen, die sich schon früher aus der normalen Welt zu lösen vermochten, erlebten vom ersten Ton an Großes: Die jugendliche D-Dur-Sonate Schuberts, mit 19 Jahren geschrieben, enthielt schon den Kern des späteren Melodik-Großmeisters, behielt dennoch unter den Fingern Gülbadamovas und Goldfelds die jugendliche Frische und Heiterkeit – wenngleich die scheinbare Fröhlichkeit bereits hier teils gebrochen erscheint. Der Kopfsatz von Beethovens G-Dur-Sonate brodelte und begehrte auf, konnte aber in seiner übermannenden Energie von den Musikern gebändigt werden, was uns davor bewahrte, von den Tönen überrannt zu werden. Im erwähnten Mittelsatz blieb die Zeit stehen, so dass man sprechen möchte: „Verweile doch, du bist so schön.“

Die Intimität noch gesteigert setzten Goldfeld und Gülbadamova in der zweiten Hälfte mit einem zeitgenössischen Werk von Lera Auerbach an, traten in Zwiegespräch mit den Tönen, die teils grelle Dissonanzen aufflammen ließen, dann aber auch wieder beschwichtigende Dur-Harmonien verwendeten, um den Kontrast aus Niedergeschlagenheit und Hoffnung zu extremisieren. Alles, was die Musiker über die Corona-Pandemie gerne sagen wollten: Es war in diesen Tönen. Die „Regenliedsonate“ op. 78 von Brahms folgte, die zwar in Dur geschrieben steht, wohinter sich aber ein tragisches Schicksal verbirgt, nämlich der Tod von Brahms‘ Patenkind Felix Schumann. In ihrer Ansprache nannte Sofja Gülbadamova sie ein „Lächeln durch die Tränen hindurch.“ Diese Musik zu beschreiben, entzieht sich nun doch letztendlich dem verbal Ausdrückbaren; es hätte ein Foto gebraucht vom Ausdruck auf den Gesichtern der Musiker nach der letzten Note – zutiefst betroffen, aufgerüttelt, erschüttert und doch friedlich –, um den entschwundenen Moment zu rekapitulieren.

[Oliver Fraenzke, Juli 2021]

Mit Wort und Ton

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Die junge italienische Pianistin Ottavia Maria Maceratini spielt am 28. November 2015 im Bürgerhaus Eching ein Klavierrezital, welches aufhorchen lässt. Sie beginnt mit der hochvirtuosen Fantasie C-Dur Op. 17 von Robert Schumann und lässt die erste Ballade in g-Moll Op. 23 von Frédéric Chopin folgen. Nach der Pause gibt sie eine weitere Fantasie in C-Dur, nämlich die „Wanderer-Fantasie“ Op. 15, D 760, von Franz Schubert, und der Kreis schließt sich mit „Les cloches de Genève“ und „La Vallée d’Obermann“ aus „Les Années de Pélerinage“ von Franz Liszt, dem die Schumann-Fantasie gewidmet ist.

„Die Suche nach einer neuen Art des Hörens“ nimmt sich Ottavia Maria Maceratini zur Aufgabe, wie sie in ihrem kurzen, sehr inspirierenden Vorwort zu ihrem Rezital im Echinger Bürgerhaus verlautbart. Auf diesem Weg will sie experimentieren und Neues ausprobieren. So macht sie es auch an diesem Abend, wo sie neben der Musik auch die Bühnenatmosphäre stimmig ausgestaltet: Nach hinten ist die Bühne mit schwarzen Vorhängen ausgekleidet und das Licht im gesamten Saal ist extrem heruntergedimmt, dafür leuchtet oberhalb des Flügels für jedes Stück ein neues Zitat aus dem Mund des jeweiligen Komponisten auf, welches sie sorgfältig dafür ausgewählt hat.

Das Programm macht staunen, gleich zu Beginn fesselt eines der ganz großen Werke von Robert Schumann, seine Fantasie C-Dur Op. 17. Zwischen 1836 und 1838 komponiert, zählt die dreisätzige Fantasie zu den bekanntesten Werken Schumanns und verlangt neben höchster Virtuosität auch ein genauestes Verständnis des musikalischen Verlaufs und ein gewisses untergründiges Gespür für die Musik Beethovens, die er mehrfach zitiert. Ottavia Maria Maceratini beweist eine unglaublich gute Kenntnis aller einzelnen Stimmen in dieser Fantasie, die jede zum Leben erweckt wird und deren keine zur bloßen Begleitfloskel degradiert ist – besonders anschaulich lässt sich dies im Intermezzo „Im Legendenton“ des Kopfsatzes erkennen, welches mit einer überwältigenden Stimmpolyphonie in vollkommen unterschiedlichen Spielweisen aufwartet. Die Pianistin besitzt einen äußerst feinfühligen, gesanglichen Ton und lässt ihre Kantilenen in höchsten Sphären schweben, ist aber auch ebenso in der Lage, machtvoll in die Tasten zu langen und ein markerschütterndes Fortissimo hervorzubringen. Dieses wirkt zu keiner Zeit geschlagen oder gewalttätig akzentuiert, sondern folgt viel eher einer natürlichen Energieübertragung aus dem Körper, was Maceratini wohl ihrem intensiven Training von asiatischen Kampfsportarten zu verdanken hat, wo genau diese Weiterleitung der Kraft aus dem Körperzentrum oberste Priorität besitzt.

Bei dem folgenden Werk, der Ballade Nr. 1 g-Moll Op. 23 von Frédéric Chopin, hatte ich bereits häufiger das große Glück, es mit der dieser Musikerin hören zu dürfen. Auch spielte sie es dieses Jahr in Bild und Ton ein und ließ es auf YouTube erscheinen, womit sie geradezu einen absoluten Maßstab setzte. Nun hat die Darbietung dieses Meisterwerks direkt noch einmal an musikalischer Substanz gewonnen, es wirkt als komplette Einheit in fließender Stringenz ohne einen Moment des Spannungsabfalls. Noch nie habe ich die donnernden Schlussläufe so schreiend wild und gleichzeitig so niederschmetternd erlebt wie jetzt, so fokussiert drängten sie auf ihren Abschluss hin (ein Gestus von vergleichbar starker Wirkung findet sich auch noch in der Etüde Op. 33 Nr. 8 von Sergej Rachmaninoff, die ebenfalls in g-Moll steht). Deutlich wahrnehmbar sind auch die Walzeranklänge, die immer wieder durchbrechen und in so vielen Darbietungen komplett verlorengehen. Obwohl Ottavia Maria Maceratini vermutlich erheblich mit dem schwerfälligen Instrument zu kämpfen hatte, waren keine Einschränkungen zu spüren.

Gleich nach der Pause erklang ein weiterer Gigant der Musikgeschichte, Franz Schuberts so beliebte wie gefürchtete „Wanderer-Fantasie“ Op. 15, D 760. Es wirkt, als wäre sie nicht aus Schuberts Zeit, so fortschrittlich modern erscheint die Gestaltung und Fortspinnung des Materials. Die Themen und Motive lässt Ottavia Maria Maceratini auch inmitten des dichtesten Notenbildes noch hervorglänzen und gestaltet alles in feinster Manier aus, die virtuosesten Läufe und Figuren kommen perlend brillant und ohne den geringsten Hauch einer vernehmbaren Anstrengung, und stetig bleibt der große Zusammenhang durch diese Gesamtform in mehreren Teilen hindurch gewahrt. Zwar möchte sich auch hier der Flügel wieder wehren gegen das Donnern der mächtigen Akkordpassagen, doch wird er gebändigt und das Maximum an nur erdenklichen Klangfarben herausgezaubert. Nach dem Konzert eröffnet mir die Solistin, sie übe bereits seit einem Jahr an diesem großen Werk, doch sei ihr Weg damit noch lange nicht an einem Ende – auch wenn der heutige Abend nur eine Zwischenstation auf diesem Weg ist, so liegt auf jeden Fall ein größerer Weg bereits hinter ihr, als ihn die meisten Pianisten jemals beschreiten werden.

Zwei Werke des großen Klaviervirtuosen Franz Liszt, des Paganini auf dem Klavier, bilden den letzten Teil des Klavierrezitals. Die Nocturne „Les choches de Genève“ ist ebenso wie die Wanderer-Fanzasie komplett der Zeit voraus und wirkt eher wie ein Werk des französischen Impressionismus. „La Vallée d’Obermann“, ebenfalls aus Les Années de Pélerinage (Die Pilgerjahre), einem dreibändigen Werkzyklus bestehend aus 26 Stücken, bildet den Abschluss. Das letztere ist ein mit circa 15 Minuten Spielzeit auch recht umfangreiches Werk und wird vor allem durch Akkordrepetitionen und später auch Oktavparallelen bestimmt. La Vallée d’Obermann zu verstehen ist keine einfache Aufgabe, denn es ist sehr dicht und in einer nur schwerlich heraushörbaren Form gestaltet. Ottavia Maria Maceratini gelingt es allerdings, für beide Liszt-Stücke ein tiefgehendes Verständnis zu entwickeln und die beiden so grundverschiedenen Konzepte dahinter zu erfassen und dem Publikum zu vermitteln. Auch wenn mir selber La Vallée d’Obermann noch etwas sehr donnernd und über manche Strecken recht langatmig erschien, so scheint mir das doch hauptsächlich am Stück zu liegen und nicht an der Solistin.

Als Zugabe gibt es noch Aram Khachaturians Toccata in es-Moll von 1932. Auch dieses Bravourstück nahm Ottavia Maria Maceratini vor längerer Zeit bereits auf Video auf und es ist heute auf YouTube zu bewundern. Akzentuierte Rhythmik und ständige Tonrepetitionen treiben diese Toccata einem Motor gleich an, nur unterbrochen von einem konfliktrhythmenreichen kurzen Mittelteil. Das unaufgelöste Ende auf einem stark dissonanten Akkord hinterlässt den Hörer fragend, doch eine Antwort kann es nicht geben. Ottavia Maria Maceratini nimmt die Toccata schwungvoll und fast scherzhaft, ohne zu viel Kraft in die Motorik hineinzugeben, was ihr etwas Leichtes, fast Tänzerisches verleiht. Diese Leichtigkeit verliert sie auch zum Ende hin zu keiner Zeit und lässt unvermittelt in die Schlussakorde hereinbrechen, die sie nicht auskostet, sondern vielmehr den Hörer verdutzt zurücklässt. Diese Art des Zuendekommens habe ich bei dem Stück so noch nie gehört und mir lange den Kopf darüber zerbrochen, was es so einzigartig machen konnte – doch wie das Stück selber gibt auch diese Frage keine Antwort her.

Am Ende ist wohl jeder Hörer im Bürgerhaus Eching im positiven Sinne überrumpelt, erschöpft und glücklich über einen so intensiven musikalischen Abend mit einer absoluten Ausnahmepianistin, die mit einer so freudigen und hellen Art an die Werke geht und immer voll dabei ist, ohne nur den Bruchteil einer Sekunde etwas anderes im Kopf zu haben als die Musik. Sie sucht einen neuen Weg des Hörens und diesen beschreitet sie auf ganz eigentümliche, phänomenale Weise. In einem Alter, wo sich die meisten nur an hochvirtuosen Höchstschwierigkeiten abschinden und die Geschwindigkeit ihrer Finger präsentieren, ist Ottavia Maria Maceratini bereits so gereift und ihrer selbst bewusst, dass sie all das nicht nötig hat; sie vertraut der Musik und sie vertraut ihrer Suche, die sie wohl immer weiter führen wird in das Herz der Musik. Da bleibt nur, gespannt zu sein, mit was noch allem sie uns überraschen wird, welche Pläne sie als Nächstes hat und welch einen unverwechselbar unmittelbaren Zugang sie uns noch schenken wird hinein in die wahre Musikalität.

[Oliver Fraenzke, November 2015]