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Glockenblumenblüh’n auf dem Bluthügel: Torben Maiwald spielt Solowerke auf der Campanula im Goetheanum.

Torben Maiwald

Seit 22 Jahren lebe ich in der Schweiz, doch nach Dornach hatte es mich noch nicht verschlagen. War der Respekt zu groß? Ja, dort befindet sich das (2.) Goetheanum (das erste war ja noch zu Lebzeiten Rudolf Steiners abgefackelt worden, und die Legende besagt, dass er am Tag nach dem verheerenden Brand in der Silvesternacht 1922/23 den Entschluss zum Wiederaufbau – nunmehr aus Stein statt aus Holz, weniger wunderschön und weniger vulnerabel zugleich – gefasst habe), also die Gralsburg der Anthroposophie. Aber zugleich ist dieser herrliche Ort ein ganz schrecklicher, und stolzer: Auf dem Bluthügel, auf welchem das Goetheanum thront, fand 1499 die entscheidende Abwehrschlacht der Eidgenossen gegen den Schwäbischen Bund statt. Der Hügel war durchtränkt mit dem Blut von tausenden Kämpfern, und die Unabhängigkeit der Schweiz nahm ihren unaufhaltsamen Lauf.

Ich komme also in der Abenddämmerung mit der Tram vom Basler Hauptbahnhof an der Endstation Dornach an und frage einen älteren Herrn, wo’s zum Goetheanum geht. Er sagt, dass der schnellste Weg nicht so ganz leicht zu finden ist, und begleitet mich ein gutes Stück bergauf, um mir dann die restliche Fußroute zu weisen, mit dem Hinweis, dass ich jetzt auf den Pfad gelangen werde, der vor wenigen Jahren von ‚Bluthügelweg‘ in Hügelweg umbenannt wurde. Verbale Entschärfung allerorten, auch in der Schweiz, sozusagen als Ausgleich für die verbale Aufrüstung seit der Covid-Gleichschaltung…

Campanula

Zum Goetheanum komme ich erstmals wegen eines besonderen Konzerts. Der deutsche Komponist, Cellist, Pianist, Musikphänomenologe und Philosoph Torben Maiwald, Jahrgang 1978, spielt 525 Jahre nach dem großen Gemetzel auf dem Bluthügel einen Soloabend auf der Campanula. Nein, das ist keine Glocke, die heroisch vom einstigen Schwerterklingeln widerhallt, sondern eine Glockenblume, aber eine große, hölzerne der besonderen Art: ein 5-saitiges Cello mit ganz vielen Resonanzsaiten und einem zusätzlichen turmartigen Schneckenaufbau mit 17 weiteren, ausschließlich die obertönige Höhe erweiternden Resonanz-Saitchen. Es klingt, als würde man ein Cello auf der geschlossenen Wendeltreppe unter der Kanzel einer Kathedrale spielen – wie mit einem kleinen nahen und einem großen fernen Nachhall, mit einer ganz kleinen – eingebildeten – Spur von Echogefühl. Und es ist mutmaßlich einigermaßen heikler zu spielen als ein normales Cello. Das Ganze ist sensationell, aber mehr in Richtung Stille als in Richtung offenkundiger Pracht – was auch, wahrscheinlich vor allem, am Spiel Torben Maiwalds liegt, dessen Auftritt jeglicher Show und Veräußerung entbehrt, ebenso wie jeglicher Trockenheit und Beweislastigkeit. Er musiziert in aller Schlichtheit – in dem Sinne, wie Bach und seine Zeitgenossen das Wort verstanden haben, also mit Klarheit, Verfeinerung und Tiefgang, und mit von nichts zu viel oder zu wenig, der ideale Mittelpfad zwischen Primitivität und Verkünstelung, den kaum einer sicher zu gehen weiß, weil der Narzissmus, den wir alle kennen in uns selbst, in jedem Moment der Todfeind dieser inneren Balance ist. Zwischen Scylla und Carybdis also schifft uns Steuermann Maiwald hindurch, mit so besonnener wie feinnerviger Navigation, und zwischendurch bedaure ich eigentlich nur ein wenig, dass kein Ton Bach erklingt.

Campanula, Detailansicht

Der gesamte Abend ist anthroposophischer Musik gewidmet, und das ist – in Kürze – hochinteressant: Jan Stuten (1890–1948), der Hofkomponist Rudolf Steiners (also symbolisch ein bisschen das, was Thomas de Hartmann für George Iwanowitsch Gurdjieff war), mit echt freigeistiger, in ihrer Schlichtheit weite, manchmal unendlich anmutende Räume durchschreitender Musik (3 Trauermusik-Miniaturen) von durchgeistigter Schönheit in freier Tonalität; Hermann Picht (1905–33), ganz jung verstorben und in seiner Sprache dem Zwölftonspieler Josef Matthias Hauer nah, mit drei kleinen Soloviolin-Stücken von anmutiger Bizarrerie; Christa von Heydebrand (1915–71) mit Bratsche-Solowerken: einem Purgatorio in 4 Miniaturen und einem Abendrot, alles von idiosynkratischer Eigenwilligkeit, unbeirrbar über Stock und Stein geschrieben und gerade in der schroffen Abweisung jeglicher Politur fesselnd; und schließlich der Professionellste im Bunde mit dem einzigen Originalwerk für Cello an diesem Abend (alle anderen Stücke hat Maiwald selbst auf sein Instrument übertragen): Leopold van der Pals (1884–1966), mittlerweile als Orchester- und Kammermusikkomponist auf Tonträger dank einer Serie bei cpo auch ein bekannter Name unter den Unbekannten, mit seiner dreisätzigen Sonate für Cello solo op. 64 von 1925, also zwei Jahre nach der Brandstiftung vor Ort und im Todesjahr seines Meisters Rudolf Steiner komponiert – dieses Werk schließt nicht nur sehr wirkungssicher, es ist wohlproportioniert durchkomponiert, mit klarem Formbewusstsein, wenn auch nicht ganz frei von ein paar Routine-Sequenzierungen. Ein so wunderbares wie eigentümliches und abenteuerliches Programm. Die Darbietungen sind ganz wunderbar und weisen nach innen. Man geht erfüllt nach Hause, ohne Rausch, aber erhellt und sozusagen lichtdurchflutet. Überflüssig zu sagen, dass Maiwald sein Instrument in allen Tonlagen meisterlich beherrscht und der „interpretatorische Dämon“, den einst Celibidache so treffend bei Heinrich Schiff und Kollegen lokalisierte, hier nicht mal die Chance erhielt, hinter dem Griffbrett hervorzulugen, geschweige denn zuzuschlagen. So darf, soll und muss es sein. Musik, die dazu noch passen würde? Johann Sebastian Bach, John Foulds, Heinrich Kaminski, Martin Scherber – ja, und auch Gurdjieff, Pärt, und Maiwald selbst…

[Lena-Salome Bachrich, April 2024]