Ausgehend vom Concerto d-Moll BWV 1052 von Johann Sebastian Bach spannten der Cellist Julius Berger und die vielseitig aktiven Schlagwerkspieler Andrei Pushkarev und Pavel Beliaev ein Programm, das sich intuitiv dem menschlichen Herzschlag zwischen 60 und 90 Schlägen pro Minute annähert. Sie (re?)konstruierten eine verlorengegangene Urfassung von Bachs Concerto für ein Streichinstrument, hier das Violoncello piccolo, und führten auch Alessandro Marcellos d-Moll-Oboenkonzert, welches von Bach für Klavier solo umgearbeitet wurde, weiter in eine Fassung für Cello piccolo. Die Orchesterstimmen arbeiteten die Musiker um für Marimba und Vibraphon. Um diese Eckpfeiler herum hören wir Schostakowitschs Prelude C-Dur aus op. 87, Bachs Choräle Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ BWV 639, Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit BWV 106 und Jesus bleibet meine Freude BWV 147, die Aria BWV 590 und Piazzollas Umarbeitung von Bach-Goundos Ave Maria.
Was begann als zufällig gelesene Randinformation, mündete in einer zutiefst persönlichen Aufnahme, die als eine Art der Corona-Bewältigung angesehen werden darf. Der Cellist Julius Berger hörte, dass Bachs d-Moll-Konzert BWV 1052 wohl ursprünglich für ein Streichinstrument geschrieben sei, in dieser Version allerdings als verschollen gelte – einige Techniken, besonders die E-Barriolagen, sprächen dafür, dass es sich beim Soloinstrument um eine Violine handle, oder um ein Violoncello piccolo, welches Bach gerade in Kantaten gerne besetzte. Die Idee war geboren, diese verloren gegangene Fassung in der heutigen Zeit zu rekonstruieren, und zwar für das Violoncello piccolo. Doch da dieses heute kaum bis überhaupt nicht als Soloinstrument zu hören ist, stellten sich bereits instrumentale Schwierigkeiten: Denn wo erhält man eine E-Saite, die alle Anforderungen nicht nur für eine solistische Bachaufführung, sondern auch für Darbietungen neuerer Musik erfüllt? Berger ließ sie als Sonderanfertigung von Pirastro kreieren. Auch war angesichts des Lockdowns 2020 an eine Aufnahme mit Orchester nicht zu denken; so fragte Berger Andrei Pushkarev an, wie man denn die Orchesterstimmen sinnvoll kammermusikalisch umsetzen könnte. Hierfür involvierten sie Pavel Beliaev und transkribierten die Stimmen für Vibraphon und Marimba, konnten durch diese klangtechnisch weichen, dabei vielstimmig einsetzbaren Instrumente das gesamte Orchester abbilden und voluminös ausfüllen.
Um das Konzert entwickelte sich ein Programm aus verschiedenen Chorälen Bachs, hinzu kamen Werke anderer Komponisten, die eng mit der Leitfigur Bach in Verbindung stehen. Schostakowitsch bezog seine für Klavier geschriebenen Präludien und Fugen op. 87 ganz klar auf das Wohltemperierte Klavier und integrierte mehrfach deutliche Parallelen. Piazzolla griff das C-Dur-Präludium aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers auf, das bereits von Gounod mit der sich darüber erhebenden Melodielinie Ave Maria versehen wurde. Diese Melodie nahm Piazzolla als Grundlage, spann allerdings eine eigene Fantasie daraus, die meines Erachtens stimmiger auf die Vorlage passt als die von Gounod, und so zu einer besonderen Entdeckung avanciert. Einer weiteren mehrfachen Bearbeitung unterliegt das Marcello-Konzert, welches dieser für Oboe konzipierte, was Bach dann mit reicher und wohlüberlegter Ornamentik als Klavierstück umarbeitete: Nun von Berger und Pushkarev in die Klangwelt des Violoncello piccolo eingeführt, übernahmen sie die melodiösen Auszierungen Bachs, gingen in den Orchesterstimmen von Marcellos Original aus.
Der gemächliche Grundpuls von etwa 60-90 Schlägen die Minute rückte dabei rein zufällig ins Zentrum, wohl einer inneren Intuition entspringend, in all den Wirren der aktuellen Zeit zu sich selbst zurückzufinden. Das zur-Ruhe-Kommen, was wir mehr denn je nötig haben, wird so zu einem Kernelement der Aufnahme und überträgt sich auf den Hörer. Die Musiker suchten ihren Halt in der Musik selbst und in einer möglichst persönlichen, innigen, dabei nicht schwärmerisch-romantischen, sondern geistig durchdringenden, sprich menschlichen Darbietung. In der so entstehenden Echtheit berührt die Musik und legt sich so als wohltuender Balsam über uns. Aus der Wahl von Marimba und Vibraphon resultiert eine beinahe meditative Flächigkeit, die dennoch Konturen schafft und gerade die Steigerungen elastisch ausgestalten kann. Julius Berger wählt für die Aufnahme ein niederländisches Instrument von Jan Pieter Rombouts mit Darmsaiten, was den anderen, moderneren Instrumenten zwar scheinbar entgegensteht, sich aber eben durch diesen Kontrast auf eine ganz eigene Weise mischt und einen ganz persönlichen Klang aufkeimen lässt. Der Aufnahmeort in der Christkönigkirche Dillingen wirkt sich positiv auf die Abmischung der Instrumente aus und schafft sanften, nicht übermäßigen Hall: Es musste in der Nachbearbeitung nichts mehr am Klang geändert werden, es handelt sich tatsächlich um das, was mit dem englischen Terminus Natural Sound bezeichnet wird. Nennenswert ist noch, dass Julius Berger mit allen Beteiligten, Saitenhersteller, den Schwestern der Regens-Wagner-Einrichtung, zu welcher die Kirche gehört, den Aufnahmeleitern und den Mitmusikern in jahrelangem freundschaftlichem Kontakt steht, wie man dem Booklet entnehmen kann: Solch ein kollegiales Verhältnis zwischen allen Beteiligten bringt eine Harmonie hervor, die das Persönliche nur unterstreicht.
Im Begleittext bringt Julius Berger seinen Enthusiasmus zu diesem Projekt auf den Punkt: „Corona war plötzlich kein Schatten mehr über unseren künstlerischen Zielen, sogar im Gegenteil, endlich hatten wir Zeit für ein Projekt, das schon lange in mir schlummerte.“
„Ich halte ihn für ein Genie. […] Und ich glaube, eines Tages werden die Leute bemerken, daß es zwei große Komponisten gibt, die den gleichen Namen tragen.“ Der Name, von dem Mstislaw Rostropowitsch hier spricht, lautet „Tschaikowskij“. Der eine der beiden Komponisten ist der berühmte Tonsetzer aus dem 19. Jahrhundert. Der andere ist Boris Alexandrowitsch Tschaikowskij, dessen Todestag sich heute zum 25. Male jährt.
In dem Vierteljahrhundert seit seinem Tode ist Boris Tschaikowskij, dessen erste größere Werke Mitte der 1940er Jahre entstanden, zu einem der international bekanntesten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts geworden, und gehört mittlerweile zu den diskographisch am besten erschlossenen. Bis auf wenige Nebenwerke liegt nahezu sein ganzes Instrumental- und Vokalschaffen auf CD vor. Zu Produktionen aus sowjetischer Zeit treten dabei zahlreiche Einspielungen jüngeren Datums. Die seit der Jahrtausendwende rasch ansteigende Veröffentlichung von Aufnahmen seiner Musik trug wesentlich dazu bei, dass auch für Musikfreunde außerhalb Russlands das Bild der Künstlerpersönlichkeit Boris Tschaikowskij immer stärker an Kontur gewann. Man konnte nun erkennen, dass dieser Komponist, der zunächst vor allem als Schostakowitsch-Schüler oder -Nachfolger wahrgenommen wurde und in seinen letzten Lebensjahren, was öffentliche Aufmerksamkeit betraf, im Schatten der etwas jüngeren Avantgardisten um Alfred Schnittke stand, einer der begabtesten und auch eigenständigsten Meister seiner Zeit gewesen ist.
Boris Tschaikowskij wurde am 10. September 1925 als Sohn eines Wirtschaftsgeographen und einer Medizinerin in Moskau geboren. Im Alter von neun Jahren begann er seine musikalische Ausbildung an der Gnessin-Musikschule und wurde 18-jährig Schüler des hervorragenden Symphonikers Wissarion Schebalin am Moskauer Konservatorium. Als Dmitrij Schostakowitsch 1946 begann, am Konservatorium zu unterrichten, empfahl ihm Schebalin, Tschaikowskij in seine Kompositionsklasse aufzunehmen. 1947 vollendete Tschaikowskij seine Erste Symphonie, die Schostakowitsch so begeisterte, dass er sie Jewgenij Mrawinskij zur Aufführung empfahl. Die bereits angesetzte Premiere kam 1948 jedoch nicht zustande. Als im Zuge der „antiformalistischen“ Kampagne von Stalins rechter Hand Andrej Shdanow auch Schebalin und Schostakowitsch öffentlich scharf kritisiert und ihrer Lehrämter am Moskauer Konservatorium enthoben worden waren, weigerte sich Tschaikowskij, der Aufforderung nachzukommen, sich von seinen Lehrern zu distanzieren. Sein bisheriges Schaffen wurde deshalb ebenfalls als „kontaminiert“ betrachtet, die Uraufführung der Symphonie Nr. 1 erst 1962 nachgeholt. Weitgehend unbeachtet schloss Tschaikowskij 1949 sein Studium bei Nikolai Mjaskowskij ab und wurde dadurch zu einem der letzten Schüler des Begründers der sowjetischen Symphonik. Folgendes Zeugnis Mjaskowskijs belegt, dass Tschaikowskij auch der Stolz dieses Lehrers war: „Boris Tschaikowskij ist ein sehr begabter junger Komponist mit guter Kompositionstechnik und einer unzweifelhaft bedeutenden schöpferischen Individualität.“
Nach dem dramatisch abgebrochenen Beginn seiner Laufbahn führte Tschaikowskij zunächst ein unauffälliges Leben als Mitarbeiter in der Musikabteilung des All-Unions-Rundfunks. 1952 gab er diese Stelle auf, um nur noch als freischaffender Komponist zu arbeiten. Seine besondere Fertigkeit auf dem Gebiet der angewandten Musik sprach sich herum und wurde offensichtlich hoch geschätzt, sodass er seinen Lebensunterhalt zum großen Teil aus den mehr als ein halbes Hundert Theater-, Hörspiel- und Filmmusiken bestreiten konnte, die er bis 1987 komponierte. Als nach Stalins Tod 1953 die staatliche Gängelung der Künstler nach und nach gelockert wurde, begann auch Boris Tschaikowskij, im sowjetischen Musikleben allmählich bekannt zu werden, wobei er sich der Unterstützung namhafter Dirigenten und Solisten wie Alexander Gauk, Kirill Kondraschin, Rudolf Barschai, Wladimir Fedossejew, Mstislaw Rostropowitsch und Viktor Pikaisen erfreuen konnte. 1968 wurde er, auf Empfehlung Schostakowitschs, von Georgij Swiridow ins Komitee des Russischen Komponistenverbandes berufen, eine Position, die er bis 1973 – auf eigenen Wunsch ehrenamtlich – einnahm. In ähnlicher Funktion war er während der 1980er Jahre auch im Sowjetischen Komponistenverband tätig. Durchaus von Seiten des Staates geehrt (Staatspreis der UdSSR 1969 für die Symphonie Nr. 2, Volkskünstler der UdSSR 1985), gehörte er jedoch nie zu den bevorzugt von der Partei geförderten Komponisten. Auch liegen keine politisch konnotierten Kompositionen von ihm vor. 1989 erhielt Tschaikowskij eine Kompositionsprofessur an der Russischen Gnessin-Musikakademie in Moskau, die er bis zu seinem Tode am 7. Februar 1996 inne hatte. Der Pflege seines Andenkens und der Verbreitung seiner Werke widmet sich die 2002 auf Initiative seiner Witwe, der Musikwissenschaftlerin Janina Tschaikowskaja-Moschinskaja, gegründete Boris-Tschaikowskij-Gesellschaft (Russisch: Общество Бориса Чайковского; Englisch: The Boris-Tchaikovsky-Society).
Tschaikowskij gehört – wie Qara Qarayev, Alexander Lokschin, Arno Babadschanjan, Eduard Mirsojan, German Galynin, Revol Bunin, Michail Nossyrew, Weniamin Basner, Andrej Eschpai, Boris Parsadanjan, Sulchan Zinzadse (auch der gebürtige Pole Mieczysław Weinberg ist hier zu nennen) – zu einer Generation von Komponisten, die im ersten Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution zur Welt kamen. Die entscheidenden Jahre ihrer künstlerischen Entwicklung fallen somit in eine Zeit, die wesentlich vom Schaffen Dmitrij Schostakowitschs bestimmt wurde. Schostakowitsch hatte selbst Mitte der 30er Jahre eine stilistische Metamorphose vollzogen und sich von den avantgardistischen Experimenten seines Frühwerks abgewendet. Seine öffentliche Demütigung als „Formalist“ und „Volksfeind“ durch die stalinistische Kulturpolitik im Jahr 1936 mag diese Entwicklung besiegelt haben; Werke wie die bereits zuvor entstandene Cellosonate, aber auch die Lady Macbeth von Mzensk, zeigen indessen, dass die Ursachen der Wandlung künstlerischer Art gewesen sein müssen. In der Fünften und Sechsten Symphonie trat dann zum ersten Mal jener Stil zu Tage, der sich mit dem Namen Schostakowitsch fortan verbinden sollte: ein melodiebetonter Stil aus dem Geiste eines typisch russischen Modusempfindens (lad), linear gedacht, von den mannigfaltigen Anreicherungsmöglichkeiten der hergebrachten Tonleitern intensiv Gebrauch machend; dabei im Tonsatz sparsam, eher zur Kargheit als zur Üppigkeit neigend; alles gekleidet in eine Instrumentation, die die Orchestergruppen oft getrennt, in „reinen Farben“, sprechen lässt. All diese Eigenschaften lassen sich auch an Tschaikowskijs Musik feststellen, dennoch findet sich bei ihm kaum ein Stück, das man für ein Werk Schostakowitschs halten könnte. Für Tschaikowskij (wie auch für manchen anderen Schüler Schostakowitschs) gilt das Wort Charles Koechlins: „Manchmal reicht ein einziger Takt eines genialen Kollegen aus, um uns das Tor zu den verzauberten Gärten zu öffnen, in denen wir dann vielleicht ganz andere Blumen pflücken dürfen als er selbst.“
Von Anfang an hat Tschaikowskijs Musik einen ganz anderen „Grundcharakter“ als diejenige Schostakowitschs. Es ist eine Musik, die ihre Kraft aus einer unerschütterlichen inneren Ruhe schöpft. Tschaikowskij war (neben seinem Altersgenossen Revol Bunin) der vielleicht feierlichste russische Komponist seiner Zeit; nicht feierlich im Sinne lärmender offiziöser Festmusik, auch nicht im Sinne orthodoxer Kirchenmusik, sondern auf eine frappierend an Franz Schubert oder Anton Bruckner gemahnende Art. Wie bei diesen ließe sich von einer Musik transzendenter Naturfrömmigkeit sprechen. Entsprechend geht ihr auch die Weltschmerz- und Anklagerhetorik Schostakowitschs ab. An deren Stelle tritt bei Tschaikowskij das freie Spiel musikalischer Elementarereignisse.
Das motivische Material Tschaikowskijs ist in der Regel entwaffnend einfach. Wenige Töne – ein Tonleiterausschnitt, eine rhythmische Formel, ein Intervall – werden ihm Anlaß zu mannigfachen Veränderungen, die ganz allmählich geschehen, wobei er ausgiebige Wiederholungen nicht scheut, wenn sie ihm angebracht erscheinen. Die Lakonik und Prägnanz der Motive mag gelegentlich an Mussorgskij oder Janáček erinnern, doch strebt Tschaikowskij im Gegensatz zu diesen Komponisten offenbar keine Annäherung der Musik an gesprochene Sprache (und die damit verbundene Kürze der musikalischen Sinneinheiten) an. Er ist ein geborener Symphoniker, den es nach Gestaltung langer Strecken und weiter Räume verlangt.
Tschaikowskijs melodische Begabung sei hier kurz anhand eines extremen Beispiels erläutert, das selbst im Schaffen dieses Komponisten einzigartig dasteht: der Kopfsatz seines Klavierkonzerts aus dem Jahr 1971. Er beginnt im Klavier mit einem 32mal von der rechten Hand angeschlagenen g‘, durchweg Achtelnoten. Die linke Hand spielt daraufhin die 32 Achtel eine Oktave tiefer, sodass in den ersten acht Takten des Stückes keine Harmoniefortschreitung, ja nicht einmal ein Akkord zu hören ist. In Takt 9 gehen die Achtelrepetitionen wieder auf g‘ weiter, wobei zu Beginn des Taktes die Streicher mitspielen. Am Anfang von Takt 11 erscheint erstmals mit b‘ ein neuer Ton, mit dem zweiten Achtel folgt a‘, das bis zum Ende von Takt 12 wiederholt wird. Spätestens hier wird klar, dass man es nicht mit schwungloser Repetitionsmusik, sondern mit der Eröffnung einer gewaltigen melodischen Entwicklung zu tun hat, die erst am Ende des Satzes zum Stillstand kommt. Hauptsächlicher Handlungsträger der Musik sind (wie übrigens auch in Beethovens Fünfter Symphonie) nicht die unablässig repetierten Achtel, sondern die von ihnen ausgefüllten, mehrere Takte langen Perioden, die mit ihren Harmoniewechseln die Atembewegungen einer ganz großen Melodie markieren. Wie es den Komponisten reizte, diesen Satz mit einer Folge unablässiger Achtelnoten zu füllen, so hat er überhaupt eine Vorliebe für von obstinaten Rhythmen durchzogene Klangflächen. Gern lässt er diese durch Gegeneinandersetzen rhythmischer Schwerpunkte fluktuieren.
Auch wenn kontrapunktische Passagen in seinen Werken selten sind, so prägt lineares Denken Tschaikowskijs Harmonik stark. Die Polyphonie erscheint meist in aufs äußerste reduzierter Form, nämlich als Akkordfortschreitung, aber sie ist nichtsdetoweniger da. Im Allgemeinen liebt Tschaikowskij das Kunstmittel der Reduktion: So kommen in seinen Werken immer wieder Abschnitte vor, in denen die melodieführende Stimme nur von wenigen Basstönen gestützt wird, oder sich über Orgelpunkten ausbreitet; mitunter verzichtet der Komponist ganz auf Begleitungen und schafft Abwechslung, indem er die Melodie von einer Instrumentengruppe zur nächsten wanden lässt. Der sparsame Tonsatz bewirkt, daß in dieser Musik jeder Ton zu einem Ereignis wird. Unterstützt wird dies von einer die ganze Farbpalette der Orchesters ausnutzenden Instrumentation, wobei Tschaikowskijs Gespür für intensive klangliche Ausleuchtung auch seine Kammermusikwerke prägt.
Verglichen mit Schostakowitsch oder seinem direkten Zeitgenossen Mieczysław Weinberg (dessen Todestag sich am 26. 2. 2021 ebenfalls zum 25. Male jährt) mutet Tschaikowskijs Werkverzeichnis relativ schmal an. Sein Schaffen umfasst an Orchestermusik: vier Symphonien, zwei Symphonische Dichtungen, je eine Kammersymphonie und Sinfonietta, Konzerte für Klavier, Violine, Violoncello und Klarinette, sowie verschiedene kleinere Orchesterwerke; an Kammermusik: sechs Streichquartette, ein Klavierquintett, ein Klaviertrio, ein Sextett, Sonaten für Violine und Violoncello, Suiten unterschiedlicher Besetzungen; dazu kommen verschiedene Kantaten und Liederzyklen; die zahlenmäßig größte Werkgruppe stellt die Film-, Radio- und Theatermusik dar. Letztere mag Tschaikowskij vor allem zum Gelderwerb geschrieben haben, es finden sich allerdings auch hier zahlreiche Preziosen.
Einen guten Eindruck von Tschaikowskijs künstlerischer Entwicklung vermitteln seine vier Symphonien, von denen keine der anderen gleicht. Die Erste, seine 1947 vollendete Abschlussarbeit am Konservatorium, aber in keinem Takt unsicher oder schülerhaft, folgt als einzige dem konventionellen viersätzigen Typus, wobei das Finale als Mischung aus Variationssatz und Rondo angelegt ist. Charakteristisch für das ganze Stück ist ein fortwährender Wechsel von Dur und Moll auf engem Raum. Vielleicht schrieb Tschaikowskij aufgrund des Schocks von 1948 nach diesem Werk lange Zeit keine große Symphonie mehr. Die Erste fand jedoch 1953 in der Sinfonietta für Streicher einen in den Dimensionen zwar kleineren, in der künstlerischen Vollendung jedoch ebenbürtigen Nachfolger.
Mit 53 Minuten Spieldauer stellt die 1967 uraufgeführte Zweite Symphonie Tschaikowskijs umfangreichstes Werk dar, eine Monumentalkomposition, in der der Tonsetzer alle Register seines Könnens zieht. Das Stück besteht aus drei umfangreichen Sätzen. Der Kopfsatz, sehr lebhaft bewegt mit vereinzelten ruhigen Episoden, beginnt mit einem originellen Instrumentationseinfall: Die Exposition wird wörtlich wiederholt, doch ist Tschaikowskij der bloße Doppelstrich mit zwei Punkten zu wenig; so gibt er die Musik im ersten Durchgang an Streicher und Harfe und läßt sie beim zweiten Mal von Bläsern und Pauken spielen. Vor der Coda erscheint ein retardierender Abschnitt, in dem sich die Themen des Satzes in Anklänge an Stücke von Mozart, Bach, Beethoven und Schumann verwandeln. Einem sehr langsamen, verinnerlichten Mittelsatz schließt sich ein Finale an, das durchweg einen mäßig bewegten Schreitduktus aufrechterhält und nach einigen Steigerungsverläufen in einen Dur-Moll-Mischklang mündet.
Nach einem über zehnjährigen Arbeitsprozess vollendete Tschaikowskij 1980 seine Dritte, die Sewastopol-Symphonie, kein explizit programmmusikalisches Werk, jedoch inspiriert von der wechselvollen Geschichte der Hafenstadt am Schwarzen Meer (die der Komponist nie besucht hatte, bevor er das Werk schrieb). Die Symphonie besteht aus einem einzigen halbstündigen Satz, der zunächst drei Themenkomplexe exponiert, dann aber anstatt die Themen durchzuführen, ihre Bestandteile umbildet, sodaß im weiteren Verlauf aus dem alten Material immer neue Themen geformt werden, bis schließlich doch eine – deutlich veränderte – Reprise einsetzt. Hier kündigt sich eine Art der musikalischen Verlaufsgestaltung an, wie sie in Tschaikowskijs späteren Werken immer dominanter wird – in der Sewastopol-Symphonie allerdings noch im Kontext eines großen Satzes, während der Komponist in der Folge eine suitenartige Reihung kurzer Sätze aus gemeinsamem Material bevorzugt (etwa der siebensätzigen Musik für Orchester von 1987).
Dies kommt auch in der letzten, 1993 vollendeten Symphonie des Komponisten zum Tragen, die er wegen der charakterisitischen Harfen-Soli Symphonie mit Harfe nannte. Dieses Werk, das seine letzte größere Arbeit bleiben sollte, ist eine musikalische Reflexion über das Alter. Einen integralen Bestandteil der Symphonie, gleichsam die Wegmarken ihres Verlaufs, bilden fünf Präludien, Tschaikowskijs erste Kompositionen, die er als Elfjähriger für Klavier geschrieben hatte und nun, 68-jährig, vollständig in der Vierten Symphonie zitiert. Die übrigen drei Sätze des Werkes tragen die Titel „Poem“, „Herbst“ und „Epilog“ und können als typische Beispiele eines konzentrierten, ausgesparten Spätstils gelten.
Man könnte in dieser Weise den Streifzug durch Tschaikowskijs Schaffen fortsetzen. Man müsste noch einiger anderer Orchesterwerke gedenken, etwa des aus einem riesigen Satz von 40 Minuten bestehenden Violinkonzerts, oder der Tondichtung Sibirischer Wind – vielleicht das großartigste musikalische Portrait ungebändigter Natur seit Sibelius‘ Tapiola. Man müsste auch die Kammermusik berücksichtigen, beispielsweise die Cellosonate, die der Komponist zusammen mit Rostropowitsch einspielte; vor allem aber die sechs Streichquartette, von denen, wie im Falle der Symphonien, jedes anders ist als die übrigen (Nr. 3 von 1967 besteht aus sechs langsamen Sätzen und gilt als Vorbild für Schostakowitschs ähnlich gestaltetes Fünfzehntes Streichquartett). Dass auch die Vokalwerke Meisterleistungen des russischen Repertoires sind, sei ebenfalls noch erwähnt. – Kurzum: Boris Tschaikowskijs Gesamtwerk gleicht einer Schatzkiste, nahezu jede seiner Kompositionen einem bezaubernd funkelnden Edelstein.