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Der andere Haydn

Cpo, 555 042-2; EAN: 7 61203 50422 0

Michael Haydn: Symphonien 13 & 20, Notturno Nr. 1; Deutsche Kammerakademie Neuss, Lavard Skou Larsen (Leitung)

Mit vorliegender Aufnahme der Symphonien 13 und 20 sowie dem Notturno Nr. 1 findet die Gesamtaufnahme aller Symphonien Michael Haydns ihren Abschluss. Es spielt die Deutsche Kammerakademie Neuss unter Lavard Skou Larsen.

Verwandte Komponisten haben es oft schwer: In den allermeisten Fällen sticht nur ein Familienmitglied an Bekanntheit hervor, während die anderen üblicherweise nicht mehr als eine Randbemerkung erhalten. Man denke alleine an Leopold und Franz Xaver Mozart, die Bach-Söhne, Fanny Mendelssohn, Siegfried Wagner und viele andere. Nicht umsonst änderte der jüngste Sohn des großen norwegischen Symphonikers Harald Sæverud, Ketil, seinen Nachnamen zu Hvoslef, als er zu komponieren begann: Denn von zwei Größen eines Namens bleibt beinahe immer eine im Schatten.

So ergeht es heute auch Johann Michael Haydn, ein Bruder Joseph Haydns. Zu Lebzeiten war er ausgesprochen gefragt, erhielt zahllose Kompositionsaufträge und Stellenangebote, unter anderem auch bei Fürst Esterházy – was Michael Haydn ablehnte. Nach seinem Tod geriet der Komponist allmählich in Vergessenheit, während sein Bruder nach wie vor zu den „großen 3“ der Wiener Klassik zählt. Michael Haydn verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Salzburg, wo er gerade für den jungen Wolfgang Amadeus Mozart als Leitbild galt, der sich bei mehreren Jugendkompositionen deutlich an Haydn orientierte.

Michael Haydn blieb lange Zeit der führende Komponist in Salzburg, sein Stil erfreute sich wegen der nachvollziehbaren Struktur großer Beliebtheit, und wegen der Eingängigkeit des thematischen Materials sowie der feinen Orchestrierung. Komplexere Elemente setzte Haydn mit Bedacht, um Spannung zu erzeugen, ohne dabei den Hörer zu überfordern. Über 800 Werke sind uns heute überliefert, darunter 44 Symphonien (41 davon nummeriert) und 3 Notturni. Die Gattung des Notturnos diente abendlicher Unterhaltung, es handelt sich um Orchesterwerke ohne regulierte Satzabfolge oder Instrumentation.

1991 begann das Slowakische Kammerorchester unter Bohdan Warchal damit, alle Symphonien Michael Haydns einzuspielen. Die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein übernahm das Projekt 1995 mit Johannes Goritzki und Frank Beermann als Dirigenten. Lavard Skou Larsen bringt nun die Gesamteinspielung zu einem glänzenden Ende, mit den Symphonien 13 und 20 sowie dem 1. Notturno.

Ich bedauere nach wie vor, dass Lavard Skou Larsen im vergangenen Jahr die Deutsche Kammerakademie Neuss verließ, denn er brachte das Orchester auf ein bislang unerreichtes Niveau, das genaueste Kenntnis über den Notentext und intensive Arbeit an den Stücken erkennen lässt. Entsprechend ist die letzte CD des Michael-Haydn-Projekts zugleich dessen Höhepunkt. Die Darbietung besticht dadurch, dass sie unprätentiös und leichtfüßig erklingt. Skou Larsen gibt nichts in die Musik hinein, sondern holt etwas aus ihr heraus, stellt sich in den Dienst der Töne. Er überfrachtet die Symphonien nicht durch übermäßige Kontraste, sondern kostet die vorhandene Spannung aus. Lediglich die kurzen Noten könnten etwas voluminöser und sonorer sein, sie wirken teils abgehackt und spitz, verlieren dadurch ihr Nachschwingen im Ohr. Die Freude an der Musik hört man der Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein an, was dem resultierenden Klang Freiheit und Natürlichkeit verleiht.

[Oliver Fraenzke, September 2018]

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Händel in absoluter orchestraler Vollendung

Georg Friedrich Händel
Orgelkonzerte Op. 7 Nr. 1-6, Fassung für Klavier und Streichorchester
Matthias Kirschnereit, Deutsche Kammerakademie Neuss, Lavard Skou Larsen
cpo 777855-2 (EAN: 761203785520)

Georg Friedrich Händels unsterbliche Orgelkonzerte auf das Klavier zu übertragen: eine wunderbare Idee, denn nicht nur gibt es dadurch endlich auch von ihm Klavierkonzerte, die mehr als attraktiv für den Solisten wie für den Hörer sind, sondern es ergibt sich dadurch die Gelegenheit einer tatsächlich musikalisch differenzierten Gestaltung hinsichtlich Dynamik und Nuancierung der Artikulation, die ungemein belebend wirkt und die Orgel musikalisch weit hinter sich lässt, sofern der Solist der Sache stilistisch gewachsen ist und die innermusikalischen Zusammenhänge tatsächlich erfasst.

Um es vorweg zu nehmen: auch mit dieser abschließenden Folge ist man der ‚Konkurrentin’ Ragna Schirmer in jeder Hinsicht weit voraus, zu nivelliert und eintönig war ihr nur klanglich experimenteller Zugang, der ja damals in einem etwas missglückten Crossover-Versuch ‚kulminierte’. Doch auch Matthias Kirschnereits Darbietung hat ihre Schwächen, wenngleich auf verfeinertem Niveau.

Die eigentliche Sensation dieser Einspielung ist das Orchester. Wohl niemand heute ist in der Lage, Händels Geist in solch emphatisch beschwingter und zugleich endlich mal wieder auch die tieferen Schichten der Musik erspürender Weise aufzuführen. Wie wunderbar bewusst alles artikuliert und wie gesanglich phrasiert das durchgehend ist, wie unwiderstehlich die Themen herausgeschält werden und die Begleitung eben nicht in den eingeebneten Routinemodus verfällt, der sich einstellt, wenn die Inspiration an der Oberfläche – also lediglich auf die offensichtlichen Hauptstimmen bezogen – bleibt. Keine Spur davon. Dieser Händel ist ein Fest ohnegleichen, er knüpft im besten, aufgeklärten Sinne an an die unvergänglichen Dokumente, die wir beispielsweise von Wilhelm Furtwängler oder den Adolf Busch Chamber Players besitzen. Er hat also das Zeug, vielleicht irgendwann als würdiges ‚Weltkulturerbe’ erkannt und gewürdigt zu werden. Ja, in Neuss dreht sich die Uhr der Musik weiter, während sie vielerorts, wo viel mehr mediale Aufmerksamkeit eingefordert wird, stagniert oder sich im Rädchen vermeintlicher Perfektion „zurückdreht“. Man kann eben aus dem vollen Musizieren, muss keine Puppenstuben-Niedlichkeiten oder dümmlichen Grobheiten begehen, um in der Musik jene Ursprünglichkeit, Kraft und Freude wiederzuentdecken, die sie potentiell stets in sich getragen hat. Ungehemmt, ja geradezu ungestüm gelegentlich, in den langsamen Sätzen mit Würde, Tiefe, Pracht und – ja! – Erhabenheit, und niemals ins Willkürliche, Altmodische, Sentimentale abgleitend. Stets schlank, leicht, beweglich und geschmeidig, und dabei in strahlender Fülle und mit jenem innerlichen Prunk geschmückt, wie ihn nur Händel hat, und der, versucht man ihn zu vermeiden, wie eine Amputation wirkt. Skou Larsen und seine hellwache Truppe bringen das singuläre Kunststück zustande, sowohl offenkundig historisch informiert als auch zeitlos im Ausdruck zu sein – das können nur paradoxe Charakterisierungen fassen: spannungsvoll und vollkommen losgelöst, den weit ausschwingenden Bogen mit fein ziselierter Detailkunst überhaupt erst organisch erstehen lassend, rundherum hochkultiviert und immer von entschiedenem Charakter. Solist Kirschnereit hat derart traumhafte Bedingungen für sein Agieren, das bei aller Liebe zum Detail, pianistischen Finesse und wendigen Lyrik die klare Orientierung vor allem hinsichtlich der größeren Entwicklungszüge vermissen lässt. Da er alle dynamischen Möglichkeiten des Klaviers hat, bräuchte es eben nicht jene verspielten Rubati, die fortwährend die durchgängige Kraft und Linie unterbrechen oder schwächen. Doch das Orchester fängt all diese Schlingereien jedes Mal in souveränster und hinreißend klar konturierter Weise auf. So ist es insgesamt doch eine großartige Sache.

Niemand heute vermag Händels Musik auch nur annähernd so reich und charakteristisch aufzuführen. Es wäre der große Wunsch des Rezensenten, dass sich Lavard Skou Larsen und die Deutsche Kammerakademie nun auch der 12 Concerti grossi op. 6 – und, wenn noch ein weiterer Wunsch drin wäre, auch der Concerti grossi von Arcangelo Corelli – annehmen. So gespielt, würde jeder Hörer damit einen Sechser ziehen, mit passender Zusatzzahl, und das ganz ohne Lotto, sondern via cpo in Osnabrück. Nicht aufhören, unbedingt weiter so!

[Ernst Richter, August 2016]