Zum
Ende des Weinbergjahrs anlässlich dessen 100. Geburtstag beschenken uns die
Flötistin Claudia Stein gemeinsam mit dem Szczecin Philharmonic Orchestra unter
David Robert Coleman und der Pianistin Elisaveta Blumina mit einer CD, auf der
wir Mieczysław Weinbergs beiden Flötenkonzerte hören, die 12 Stücke für Flöte
und Orchester und die 5 Stücke für Flöte und Klavier.
Wer hätte das gedacht, dass Mieczysław
Weinberg zu seinem 100. Geburtstag international so viel gefeiert wird?
Gelangte er schließlich zu Lebzeiten nie zu anhaltender oder überlokaler
Bekanntheit. Schicksalsschläge begleiteten den in Warschau geborenen
Komponisten, dessen Familie von den Nationalsozialisten ermordet wurde, der
unter Stalin verhaftet wurde und gegen Ende seines Lebens vollkommen verarmte.
Musikalisch spiegelt sich dies gerade in den späten Werken in Form einer inneren
Niedergeschlagenheit und Fahlheit, die bedrücken und entrücken. Weinbergs Musik
hat die immense Macht, den Hörer unmittelbar anzusprechen und dort zu treffen,
wo es berührt. Wie viele Komponisten dieses Kreises orientierte sich auch
Weinberg an der Musik seines langjährigen Freundes und Seelenverwandten
Schostakowitsch, dessen rhythmische Aufwühlung und dessen drängender Zug nach
vorne er allerdings nicht übernahm, sondern vom Jetztgefühl ausstrahlendere
Sphären und statischere Kantilenen bevorzugte.
Der Flöte als Hauptinstrument widmete sich
Weinberg erstmals 1947 mit 12 Miniaturen und 5 Stücken für Klavier. Die 5
Stücke bestehen aus drei „Tänzen“, einer einleitenden „Landschaft“ und einer „Melodie“,
kulminieren vor allem im zweiten Tanz. Die 12 Miniaturen arbeitete Weinberg
1987 für Streichorchester um und betitelte sie nun ebenfalls als „Stücke“. Hier
lotet der Komponist die Wechselwirkung zwischen Solist und Orchester (Klavier)
aus, lässt beispielsweise in der eröffnenden Improvisation das Orchester nur
für den Schlussakkord antreten, überlässt dafür in anderen der Stücken dem
Orchester die Hauptaufgabe. Auf kurzem Raum werden hier verschiedene
Charaktere, Möglichkeiten und Grenzen spielerisch erkundet, zumeist in (für
Weinberg erstaunlich) heiteren Wesenszügen. Auch das Erste Flötenkonzert von
1961 greift diese Ausgelassenheit auf und sprudelt in den Randsäten
überschäumend vor sich hin, während das Largo über das restliche Geschehen
reflektiert. Das Zweite Flötenkonzert hingegen ist gezeichnet von Weinbergs
spätem und zermürbtem Stil: Resigniert hallt eine längst vergangene Zeit nach
und lässt kurze Ausbrüche als Farce erscheinen.
Feinfühlig geht die Flötistin Claudia Stein
an die unterschiedlichen Werke Weinbergs heran, entlockt ihrem Instrument
klagende Töne und aufmüpfige Weisen, kann aber gleichsam auch heiter parlieren.
Auf das oft nur zum Streichorchester zusammengestauchte Orchester geht sie in
spielerischer Selbstverständlichkeit ein und mischt ihren Klang mit den Tönen
der Streicher. Schwieriger erweist sich das Zusammenspiel mit Elisaveta
Blumina, die sich dynamisch zurückhält und die rechte Hand derart verblassen
lässt, dass der Flöte die Tragfläche fehlt. Die dagegen markanten Bassnoten wirken
wie fehl am Platz, beziehungslos in den Raum gestellt. Die Idee Bluminas ist
eigentlich richtig, die Flöte nicht übertönen zu wollen und folglich nicht zu
laut in ihr Register hineinzuspielen – leider übertreibt sie damit.
Ins Ohr sticht vor allem das beherzte Dirigat von David Robert Coleman, der mit unvergleichlicher Handschrift den Orchesterklang signiert. Dies fiel mir bereits auf, als ich ihn live mit Oper „An allem ist Hütchen Schuld!“ von Siegfried Wagner hörte [hier zur Rezension], nun erkenne ich diesen Stil auf vorliegender CD wieder. Coleman zeichnet sich aus durch voluminöses und strahlendes Spiel, das sogar die Fahlheit des späten Weinbergs auszugleichen vermag: Akkorde erhalten unter seiner Stabführung ein nachklingendes Portato, das aus dem Kern des Klangs ausstrahlt, Melodielinien verfolgt er energetisch und bringt sie zu vollendeter Ausgewogenheit.
Im Rahmen der Bayreuther Festspiele werden nun jedes Jahr auch Opern von Richard Wagners Sohn Siegfried aufgeführt. Pünktlich zu dessen hundertfünfzigstem Geburtsjahr startet dieses Projekt am 9. und 10. August mit seiner Oper „An Allem ist Hütchen Schuld!“ op. 11 aus dem Jahr 1915 im Markgräflichen Opernhaus. Die orchestrale Basis der Oper gibt das Karlsbader Symphonieorchester unter Leitung David Robert Colemans; es wirkt das pianopianissimo-musiktheater München und der Philharmonische Chor Nürnberg mit. Inszeniert wurde die Oper von Peter P. Pachl, die Bühne machte Robert Pflanz und die Kostüme Christian Bruns; Sebastian Rausch designte die Filmprojektion und Achim Bahr arbeitete an der Dramaturgie. Den (stummen) Kobold Hütchen spielt Niklas Mix, die Hauptrollen Frieder und Katherlies’chen Hans-Georg Priese und Rebecca Broberg. Alessandra die Giorgio hören wir als Frieders Mutter und des Teufels Ellermutter sowie als Sonne; Maarja Purga schlüpft in die Rollen der Trude, der Wirtsfrau und der Mächenfrau; Silvia Micu spielt das Hexenweibchen und eine von Frieders Schwestern; Daniel Arnaldos ist der Dorfrichter und der Sakristan; den Tod wie den Menschenfresser verkörpert Ulf Dirk Mädler; Axel Wolloscheck tritt als Teufel und Mond auf; Joa Helgesson sehen wir als Königssohn und als Müller; Müllerin und eine weitere Schwester Frieders erleben wir durch Sarah Marguerite Ring. Antonia Schuchardt spielt das singende, springende Löweneckerchen, den Stern und eine andere von Frieders Schwestern, zudem hören wir sie als Hütchens Stimme; weitere Rollen sind Sophie Catherin als die vierte von Frieders Schwestern, und die Nachbarn sowie Teufelsgeneräle Matthew Peña, Max Jakob Rößeler, Reuben Walker und Maximiliano Michaikovsky. Zu nennen ist zudem das stets präsente Filmteam Carolin Streckmann und Svenja Marzinowski unter Koordination von Robert Pflanz.
Söhne großer Komponisten haben es oftmals schwer, sich
durchzusetzen. Prominente Beispiele finden wir nicht nur bei Bach oder Mozart,
sondern auch bei Wagner, dessen Sohn Siegfried (zugleich ein Enkel von Liszt)
nicht weniger als 17 Opern und andere große Orchesterwerke wie ein
Violinkonzert schuf. In den letzten Jahren gibt es vermehrt Bemühungen, sein an
den Rand der Wahrnehmung gedrängtes Oeuvre wiederaufleben zu lassen; einen ersten
richtungsweisenden Bühnenerfolg verzeichnet nun die Aufführung der Oper „An
allem ist Hütchen Schuld“ op. 11 im Rahmen der Bayreuther Festspiele, der in
den kommenden Jahren weitere folgen sollen.
Die Handlung ist dabei durchaus verworren: Siegfried Wagner mischte über dreißig Märchen von Jacob Grimm, mit dem er selbst als Minirolle seiner Oper in Konflikt gerät. Der Frieder will sein Katherlies’chen heiraten, die allerdings nur als Magd am Hof seiner Mutter arbeitet, weshalb er die reiche Trude heiraten soll, von der er wenig angetan ist. Hütchen schreitet ein und schiebt dem Katherlies’chen die Tasche von Trude unter, woraufhin sie als Diebin eingesperrt wird. Vor Scham will sie sich umbringen, doch Hütchen vertauscht Gift und Honig. Zeitgleich will Trude den Frieder an sie binden und lässt sich von einem Hexenweibchen das Rezept eines Zaubertranks geben. Im Gegenzug zur Freilassung Frieders und Katherlies’chens verlangt sie von ihnen je die Beschaffung der Zutaten und den Schwur, einander fern zu bleiben. Die beiden Getrennten befragen unabhängig voneinander Mond, Stern und Sonne, woher sie denn die eigenartigen Zutaten bekommen könnten, worauf diese sie unwirsch zum Teufel und zum Menschenfresser schicken. Frieder überlistet den Teufel, wodurch er nicht nur zwei Zutaten, sondern zudem das Tischlein-deck-dich, den Goldesel und den Knüppel-aus-dem-Sack erhält; Katherlies’chen rettet zuerst den Tod, von dem sie als Dank eine heilende Salbe erhält, und trickst dann den Menschenfresser aus, um das singende, springende Löweneckerchen zu bekommen, das Hütchen allerdings geschwind freilässt – zum Trost schenkt ihr eine Kröte ein Sternenkleid aus einer Nussschale. Die Liebenden sehen sich zwei Mal wieder, doch verzaubert Hütchen je einen von ihnen, den anderen nicht mehr zu erkennen. Sie kehren mit ihrer Beute zu Trude zurück, doch sind die Wunder verschwunden und nicht einmal die magischen Gegenstände funktionieren, was Frieder in die Ehe mit Trude zwingt. Trude ist derart entzückt vom Sternenkleid, dass sie dem Katherlies’chen dafür sogar eine Nacht mit Frieder verspricht – dem sie allerdings Schlafmittel beimischt, sodass ihre Konkurrentin die Zeit nicht nutzen kann. Doch kurz vor der Eheschließung wird Trude als Hexe enttarnt und verbannt; der Rest will jetzt die Hochzeit zwischen Frieder und dem Katherlies’chen feiern. Hütchen kommt erneut und lässt alle in Streit entzweien, was ihn amüsiert. Die Märchenfrau deckt Hütchens Identität auf und zeigt, wie er zu fangen ist. Katherlies’chen lässt ihn frei und Hütchen bringt aus Rache an den anderen das Haus zum Einstürzen, was nur seine Retterin und ihr Verlobter überleben. Tod und Teufel kommen, die Beute zu holen, doch Frieder kann sie verjagen und Katherlies’chen die Toten mit ihrer Salbe wiedererwecken. Alle geloben Hütchen, von nun an gut zu sein.
Anders als die Handlung gibt sich die Musik durchweg
verständlich und durchsichtig. Sie orientiert sich an französischen und teils
italienischen Opernstilen, lässt auch viel von Wagners Lehrer Humperdinck
durchhören. Auch sein Vater hallt stellenweise noch nach, von dem die Musik
sich aber durch ihren deutlich weicheren und fließenderen Stil scheidet und die
pompösen Elemente reduziert. Die
thematischen Gestalten tauchen größtenteils bereits im Vorspiel auf, wo auch
das scharfe Hütchen-Motiv bereits keck dazwischenfunkt. Allgemein ordnet sich
die Musik der Handlung unter, um diese verständlich zu machen, wodurch auch die
Gesangslinien sich nach der Verständlichkeit orientieren (mit wenigen Ausnahmen
wie der reich verzierten Stimme des Hexenweibchens).
Die Inszenierung am 9. und 10. August im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth basiert auf der Handlung entsprechend skurrilen und leicht überzeichneten Figurendarstellungen und einer Videoleinwand, auf die neben dem Bühnenbild auch die live gefilmte Handlung projiziert wird und die manche Elemente der Oper durch Einblendungen unterstreicht. Auf der Bühne selbst stehen meist nur drei Tische, die mit wenigen Requisiten geschmückt werden. Die Handlung wird durch neue Medien ins 21. Jahrhundert gesetzt, beispielsweise ersetzt ein iPad mit Facecam den Spiegel.
Das Konzept der Videoleinwand eröffnet ganz neue
Möglichkeiten, so können Elemente dargestellt werden, die sonst nicht sichtbar
wären beziehungsweise anders dargestellt hätten werden müssen. Den Blick in den
Spiegel kann man nun aus der Perspektive Trudes mitverfolgen, die drei
magischen Gegenstände des Teufels trägt Frieder in Taschenformat immer mit sich
rum und trotzdem stehen sie bei Bedarf groß im Bild. Andere Details wurden
dadurch jedoch überakzentuiert, beispielsweise, dass die „sich putzende Katze“
plötzlich bildlich auftaucht oder Trude in überdimensionaler Stretchlimousine
einfährt. Diese Elemente sowie die teils übervolle Bühne, auf der manchmal
einige mir nicht erklärliche Zweithandlungen ablaufen, lenken von der Musik ab.
Gerade das thematisch unentbehrliche Vorspiel wird durch zwei Handlungen
überdeckt. Mir scheint, diese Inszenierung sei für eine größere Bühne gedacht
gewesen, auf der manches freilich überdeutlich zum Vorschein treten muss, was
sich in einem kleinen Theater wie dem Markgräflichen Opernhaus problemlos
offenbart.
Hinreißend gelingen die Kostüme, die zwar teils recht überspitzt sind (Trude und Frieders Mutter als Oligarchen; der Müller mit der Müller-Tüte in der Hand; der Sakristan im Sadomaso-Outfit), oftmals aber den Charakter perfekt beschreiben. Hütchen sticht besonders hervor mit seinem blutenden, schwarzen Ganzkörperoutfit zwischen Dämon und Kobold; ebenso glänzt der ganz in weiß gehaltene Teufel mit dem fiesen Lächeln und der grimmige Menschenfresser mit seinem Löweneckerchen.
Von der schauspielerischen Leistung bleibt natürlich
besonders Niklas Mix als Hütchen in Erinnerung, dessen schadenfrohes Lachen und
allgemein dessen kecke Mimik den Zuschauer in den Bann ziehen. Ulf Dirk Mädler
gibt einen glaubhaften Tod und Menschenfresser ab, der mit düsterer Gestik
besticht; gleichso Axel Wolloscheck als naiver Teufel, der sich der
Konsequenzen seiner ungeschickten Taten nicht bewusst zu sein scheint. Als Tier
zwischen Raubkatze und Vogel lebt sich Antonia Schurchardt in das
Löweneckerchen ein, das teils Piept, teils Faucht. Verführend und sexuell
aufgeladen umgarnt Silvia Micu als Hexenweibchen die reiche Trude, um sie von
ihrem Trank zu überzeugen.
Musikalisch überzeugen Sänger wie Orchester. Sängerisch
seien besonders die Stimmen der Hauptrollen zu nennen, dargeboten von
Hans-Georg Priese und Rebecca Broberg. Priese besitzt ein unverkennbares Timbre
voller Klarheit und geschickt eingesetztem Vibrato, Broberg besticht durch
bestimmte Sanftheit. Alessandra di Girorgio hören wir in vielseitigen Rollen
mit einer äußerst flexibel wandelbaren Stimme und Antonia Schurchardt kann
sogar eine Kinderstimme frappierend realistisch darstellen, wo sie zuvor noch
als Vögelchen fauchte. Bei allem unentbehrlich, wenngleich bedauernswerterweise
selten nur im Vordergrund zu hören, das Karlsbader Symphonie Orchester unter
David Robert Coleman. Plastisch im Klang und dynamisch wohl abgestimmt
verhelfen erst die Instrumentalisten den Sängern zu ihren Höhenflügen, sorgen
für den fruchtbaren Boden, auf dem alles andere erblüht. Coleman sucht
Beziehungen zwischen den einzelnen Phrasen und Teilen, hält große Kontexte
zusammen und fokussiert die instrumentale Abstimmung, so dass alles in logischer
wie organischer Konsequenz abläuft und sich zusammenfügt. Dem Schwebenden und
Nicht-materialistischen misst er dabei besonderen Stellenwert bei, wodurch
impressionistische oder besser gesagt naturalistische Ausdruckswelten
entstehen. Überflüssiger Effekthascherei schwört Coleman ab, zieht die Energie
rein aus der vorhandenen Substanz, die er unmittelbar ans Publikum vermittelt.