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Gordon Sherwood zum 10. Todestag

Der Lebenslauf Gordon Sherwoods darf mit Fug und Recht als einer der ungewöhnlichsten gelten, die sich in der Musikgeschichte finden lassen. Frühzeitig preisgekrönt und mit einer Aufführung an exponiertester Stelle ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, anschließend in jahrelangen Aufbaustudien bei besten Lehrern ausgebildet, entschied sich der 1929 geborene US-Amerikaner schließlich gegen eine Laufbahn im etablierten Musikbetrieb und zog jahrzehntelang rastlos kreuz und quer über den Globus. Er sah über 30 Länder auf fünf Kontinenten und durchstreifte als Künstler die Musikkulturen der Welt ebenso wie das klassische Erbe der abendländischen Musik. Den Entbehrungen eines strapaziösen Wanderlebens zum Trotz schuf er, unablässig weiter komponierend, ein sich auf nahezu alle Gattungen der Instrumental- und Vokalmusik erstreckendes Gesamtwerk von bemerkenswerter stilistischer Vielfalt. Vor zehn Jahren, am 2. Mai 2013, endete dieses abenteuerliche Leben im oberbayerischen Peiting. Anlässlich seines Todestages sei hiermit ausführlich an Gordon Sherwood erinnert!

Gordon Holt Sherwood kam am 25. August 1929 in Evanston nahe Chicago zur Welt. Seine musikalische Begabung zeichnete sich früh ab, doch legten seine Eltern keinen Wert darauf. Stattdessen ließen sie ihn zwischen seinem zwölften und fünfzehnten Lebensjahr in Kadettenanstalten unterbringen. Der Drang des empfindsamen Jungen zur Musik wurde durch den militärischen Drill, den er über sich ergehen lassen musste, aber nur gesteigert. Nachdem er 1944 zum ersten Mal Beethovens Siebte Symphonie gehört hatte, stand für ihn fest, dass er Komponist werden würde. 1950 nahm er ein Musikstudium an der Western Michigan University in Kalamazoo auf, das er 1953 mit dem Bachelor of Music abschloss. Ab 1954 studierte er an der University of Michigan in Ann Arbor und erwarb dort 1956 den Master of Music. Bereits während seiner Studienzeit gewann er 1955 den 1. Preis beim nationalen Wettbewerb für junge Komponisten der National Federation of Music Clubs. Während seines Studiums erschloss sich Sherwood die Vielfalt der zeitgenössischen und historischen Kompositionsstile abendländischer Musik. Die stärkste Wirkung übte das Schaffen Johann Sebastian Bachs auf ihn aus, doch beschäftigte er sich intensiv auch mit allem anderen, was ihm an Musik begegnete, bis hin zu Bartók, Stravinsky, Schönberg und den Nachkriegsavantgardisten. Aus einer Prüfungsaufgabe heraus entstand seine Erste Symphonie op. 3, deren letzte beide Sätze er als „Introduction and Allegro“ 1957 zum 12th Gershwin Memorial Award einreichte. Sherwood erhielt den Preis, wobei die Stimme von Dimitri Mitropoulos den Ausschlag gab, der das Werk anschließend mit dem New York Philharmonic Orchestra in der Carnegie Hall uraufführte. Dies schien der Beginn einer vielversprechenden Karriere zu sein. Sherwood konnte sich in Tanglewood kurzzeitig bei Aaron Copland weiterbilden, und, mit Stipendien ausgestattet, den Sprung über den Atlantik wagen. Seine Studienaufenthalte an der Hamburger Musikhochschule bei Philipp Jarnach und in Rom an der Accademia Santa Cecila bei Goffredo Petrassi krönte er 1967 mit einem weiteren Kompositionspreis.

Den scheinbar folgerichtigen Schritt, sich mit diesen optimalen Voraussetzungen um eine feste Position im öffentlichen Musikleben zu bemühen, tat Sherwood jedoch nie. Anstatt in Europa oder Amerika eine abgesicherte Existenz, etwa als Kompositionsprofessor, zu führen, ging er gemeinsam mit seiner Ehefrau Ruth, einer Sängerin aus Hamburg, in den Nahen Osten. Zunächst zogen sie nach Kairo, wo Sherwood die Musik zu Fatin Abdel Wahabs Spielfilm Ard el Nifaq (Land der Heuchelei) komponierte. Von 1968 bis 1970 hielten sie sich in Beirut auf – damals, vor den Verheerungen des Libanesischen Bürgerkriegs, weithin als „Paris des Nahen Ostens“ gerühmt – und verdienten ihren Lebensunterhalt u. a. durch gemeinsame Auftritte in Hotels. Als Bar- und Kinopianist entdeckte Sherwood während dieser Zeit die Welt des Blues, Ragtime und Boogie-Woogie für sich. Nach einem weiteren Aufenthalt in Ägypten und einer Reise durch Griechenland, wandten sich die Sherwoods 1972 nach Kenia und ließen sich in Nairobi nieder, wo sie, unterbrochen durch kürzere Aufenthalte in Mombasa und Nakuru, acht Jahre lang lebten. Hier begann Gordon Sherwood ein Studium in Kisuaheli, das er mit Diplom abschloss. Er bemühte sich um eine Förderung durch die Familie des Staatspräsidenten Jomo Kenyatta, doch letztlich ohne Erfolg. Zunehmende Ehekonflikte und das Auslaufen der Aufenthaltsgenehmigung ließen ihn 1980 einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben ziehen. Er trennte sich von Ruth und begab sich, vom Buddhismus begeistert, auf eine Reise durch Südostasien. Mit seinem letzten Geld flog er von Singapur nach Oslo, von wo man ihn nach London abschob. Nachdem er dort erstmals gebettelt hatte, wurde er in die USA ausgewiesen und fand sich schließlich in einem New Yorker Obdachlosenheim wieder. Nach kurzzeitiger finanzieller Unterstützung durch seinen früheren Studienkollegen George Crumb ging Sherwood 1982 nach Paris.

Zunächst versuchte er dort an ein Geschäftsmodell anzuknüpfen, das er bereits während seiner Zeit im Libanon praktiziert hatte: seine Kompositionen an Passanten zu verkaufen. Bald allerdings merkte er, dass er mehr Geld verdienen konnte, wenn er die Leute direkt um Almosen bat. So entschied er sich für ein Leben nach dem Vorbild buddhistischer Bettelmönche und wurde „Selbst-Sponsor“. Seine Zeit teilte er dabei streng ein: Einen Teil des Jahres widmete er dem Gelderwerb auf der Straße; war er finanziell gut genug abgesichert, zog er sich in Domizile zurück, die ihm Freunde zur Verfügung stellten, um ungestört zu komponieren, oder ging auf Reisen, um sich in fernen Ländern zu eigenem Schaffen inspirieren zu lassen, stets mit einem Diktiergerät und einer Stimmgabel im Gepäck. Vom offiziellen Musikleben mittlerweile völlig abgeschnitten, als Komponist nur einer Anzahl kreuz und quer über die Welt verstreuter Eingeweihter bekannt, wurde er 1995 durch Erdmann Wingerts Filmportrait Der Bettler von Paris einem deutschen Publikum vorgestellt. Die in Deutschland lebende russische Pianistin Masha Dimitrieva sah die Dokumentation zufällig im Fernsehen und nahm sofort Kontakt mit Gordon Sherwood auf, der sich zu dieser Zeit bevorzugt in Costa Rica aufhielt. Ihrem begeisterten Einsatz für sein Schaffen verdanken nicht nur mehrere Kompositionen Sherwoods ihre Entstehung, es gelang ihr auch 2004 dem fast 75-jährigen Komponisten zu seinem CD-Debüt zu verhelfen: Für cpo hatte das Bayerische Landsjugendorchester unter der Leitung Werner Andreas Alberts neben der Ersten Symphonie die Sinfonietta op. 101 und, mit Masha Dimitrieva als Solistin, das Klavierkonzert op. 107 aufgenommen. Nachdem bereits im Jahr 2000 sein in Zusammenarbeit mit der Weltmusikgruppe Die Dissidenten entstandenes, oratorienartiges Werk Memory of the Waters op. 113 (Das Gedächtnis des Wassers, die originale Gattungsbezeichnung lautet „Dokumentar-Oper“) in Berlin erfolgreich uraufgeführt worden war, konnte Sherwood schließlich noch erleben, wie seine Musik allmählich bekannt zu werden begann. Seit 2005 lebte er in der diakonischen Kolonie Herzogsägmühle in Peiting, wo man sein Gesamtwerk digitalisierte. Solange es seine Gesundheit zuließ, unternahm er auch von dort noch Reisen. Er starb 2013, kurz nachdem er die Zusage zur Uraufführung seiner Dritten Symphonie op. 118, der Blues Symphony, erhalten hatte.

Gordon Sherwood war ein unabhängiger Künstler, der ausschließlich Musik schuf, die seinen eigenen Vorstellungen von Schönheit und künstlerischer Vollendung entsprach. So wenig es ihn reizte, auf das Rücksicht zu nehmen, was er einmal als Tagesmode oder Konvention erkannt hatte, so breit gestreut waren seine musikalischen Interessen: Indische Ragas, japanische Tempel- und arabische Volksmusik konnten ihn genauso in ihren Bann schlagen wie Johann Sebastian Bach und die Wiener Klassiker; Thomas „Fats“ Waller und Thelonious Monk nicht weniger als Arnold Schönberg, Béla Bartók und Paul Hindemith. Abneigungen hegte er lediglich gegen primitive Militärmusik und die sentimentalen Lieder Stephen Fosters, die ihn an die traumatischen Erfahrungen seiner Jugendzeit erinnerten und ihm als klingende Entsprechungen materialistischer Weltsicht und entseeltem Funktionierenmüssens erschienen. Reizte ihn dagegen ein klingendes Phänomen zur künstlerischen Auseinandersetzung, so reagierte er darauf ohne Berührungsängste, sei es Musik von der Straße oder Beethovens op. 111.

Eine Entwicklung von einem „Früh-“ zu einem „Spätwerk“ lässt sich bei Sherwood nicht feststellen. Er ist bereits in seinen ersten gültigen Werken ein ebenso stilsicherer wie technisch virtuoser Komponist. Die Vorliebe für kontrapunktischen Tonsatz, dissonanzreiche Harmonik, chromatische Melodik, markante Rhythmen, unregelmäßige Metren und konzise Formung aus tonalen Spannungen heraus lässt ihn als Vertreter einer für die USA der 1950er Jahre typischen Stilrichtung erscheinen, die der Musikhistoriker Walter Simmons als „Modern Traditionalism“ bezeichnet hat. Sherwood pflegte dieses Idiom sein ganzes Leben lang gewissermaßen als seinen „Grundstil“. Die von Blues und Jazz inspirierten Werke bauen ebenso darauf auf wie die folkloristischen. Lediglich wenn er streng auf den Spuren der Wiener Klassiker oder Johann Sebastian Bachs wandelt, beschränkt sich der Komponist auf die Kunstmittel der traditionellen Funktionsharmonik, handhabt diese allerdings auf so charakteristische Weise, dass bei aller Anlehnung an die Vorbilder ein „echter Sherwood“ entsteht.

Sherwood war sich sicher, dass sich seine persönliche Ausdrucksweise in jeder seiner Kompositionen zeige, gleich welchen Aufgaben er sich in dem jeweiligen Stück gestellt hatte. Es störte ihn folglich auch nicht, dass sein Werk für manchen Beobachter eklektisch, ja auf den ersten Blick betont uneinheitlich wirken musste. Dabei lag ihm kaum etwas ferner als ein ungefüges Nebeneinander disparater Elemente. Überblickt man sein Gesamtschaffen, so fällt im Gegenteil auf, dass er ganz genau abwog, welche Stile er in seinen Kompositionen wie zusammenbrachte. Das scheinbar ungefilterte Einströmen verschiedenster akustischer Reize gibt es bei ihm sehr wohl. In der autobiographischen Beggar Cantata op. 99, in der er seine Zeit auf den Straßen von Paris thematisiert, dient es ihm als Mittel zur Darstellung des großstädtischen Chaos, mit dem sich der Held des Werkes herumzuschlagen hat. Auf ähnliche Weise lässt er im Gedächtnis des Wassers, ganz unterschiedliche Musikidiome aufeinander treffen, um das kulturelle und historische Erbe der Donauregion zu verdeutlichen. Doch sind dies programmatisch motivierte Einzelfälle. Im Übrigen liegt den Sherwoodschen Kompositionen die Grundidee der Synthese zugrunde: Der Komponist spürt im musikalischen Material Verbindungen auf, um Einheit zwischen verschiedenen Musiksphären zu stiften. Sein Gespür für tonale Zusammenhänge – in klassischem Dur-Moll wie im Blues, im modern-dissonanten Tonsatz wie in nichtabendländischen Volksmusikmodi – ist ihm dabei ein zuverlässiger Kompass. Stets formbewusst, sorgt Sherwood in allen seinen Werken für eine wohlproportionierte Entfaltung der jeweiligen musikalischen Gedanken und tendiert eher zur Kürze als zur Länge. Die meisten seiner sonatenförmigen Instrumentalwerke dauern deutlich weniger als eine halbe Stunde.

Sherwood hinterließ ein Gesamtwerk von 143 Opuszahlen, darunter drei Symphonien, ein Klavierkonzert, mehrere Dutzend Kammermusikwerke vom Solo bis zum Oktett, vier Klaviersonaten und zahlreiche kleinere Klavierstücke, Chormusik von der A-cappella-Motette bis zur symphonischen Kantate und über 80 Lieder. Zehn Jahre nach seinem Tode liegt nur ein kleiner Teil dieses Schaffens gedruckt vor. Fünf Werke (der Klavierzyklus Boogie Canonicus op. 50, die Sonata in Blue für Klavier zu vier Händen op. 66, 4 Duos für Flöte und Viola op. 102, die Blues Symphony op. 118 und 10 Stücke für Altsaxophon solo op. 125) sind bei Ries & Erler erschienen. Die Beggar Cantata und die 3 Stücke für Chor a cappella op. 35 können vom Verlag Sonus Eterna erworben werden. Letzterer hat auch den Großteil der bislang erschienenen Sherwood-CDs veröffentlicht. Unter Federführung Masha Dimitrievas, der Verwalterin des künstlerischen Nachlasses Sherwoods, entstanden bislang jeweils zwei CDs mit Klavierwerken und Liedern (gesungen von Felicitas Breest). In absehbarer Zeit wird sich ihnen eine Aufnahme der Orgelkompositionen, eingespielt von Kevin Bowyer, anschließen. Von Sherwoods Orchestermusik kann man sich durch das bereits erwähnte cpo-Album mit der Symphonie Nr. 1, dem Klavierkonzert und der Sinfonietta ein Bild machen. Für Telos Music haben Matthias Veit und Henning Lucius die Sonata in Blue aufgenommen. Die 4 Stücke für Harfe op. 135 gibt es auf einer Eigenproduktion der Harfenistin Xenia Narati zu hören, das Posaunenquartett op. 87 auf dem Album „Trombonismos“ von Trombones de Costa Rica. Die Dissidenten haben den Uraufführungsmitschnitt von Memory of the Waters herausgebracht. Bei Archipel erschien 2022 die Aufführung des Finales der Ersten Symphonie durch das New York Philharmonic unter Dimitri Mitropoulos aus dem Jahr 1957.

Für weiterführende Informationen stehen Masha Dimitrieva und der Verlag Sonus Eterna zur Verfügung.

[Norbert Florian Schuck, Mai 2023]

Der Komponist Wilhelm Furtwängler und seine Gegner (2)

Hatten wir uns in Teil 1 dieses Aufsatzes den drei großen Vorurteilen gegen den Komponisten Wilhelm Furtwängler und ihrer Widerlegung gewidmet, so befasst sich der zweite Teil (der heute zum 136. Geburtstag Furtwänglers erscheint) zunächst mit den Reaktionen der Musikkritik auf die 2021 bei cpo erschienene Aufnahme der Ersten Symphonie durch die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor und schließt mit einer Untersuchung der Vorgehensweise eines besonders hartnäckigen Gegners des Komponisten.

Presseschau: Fawzi Haimors Einspielung der Ersten Symphonie

Vor kurzem erschien bei cpo eine Aufnahme der Ersten Symphonie durch die Württembergische Philharmonie Reutlingen unter Fawzi Haimor. Sie bedeutet in der Diskographie insofern einen Markstein, als dass mit Haimor sich erstmals ein Dirigent des Werkes angenommen hat, der an ihm keine Grundlagenarbeit mehr geleistet hat, denn der Dirigent der Erstaufnahme, Alfred Walter, leitete auch die Uraufführung, George Alexander Albrecht, der die zweite Einspielung durchführte, war Herausgeber des Erstdrucks. Es ist also ein Schritt getan vergleichbar dem, als der Komponist 1954, kurz vor seinem Tod, mit Rolf Agop erstmals einem anderen Dirigenten seine Zweite Symphonie anvertraute – gewissermaßen ein Schritt in die Normalität. Die Kritiken fielen für das Werk nahezu durchweg anerkennend aus.

So meint Operalounge zum Finale der „überraschenden Ersten“: „Es grenzt an Unmöglichkeit, hiervon unberührt zurückzubleiben.“

In Svens Opernparadies liest man, dass von diesem „überaus melodischen Werk“ eine Interpretation vorgelegt wurde, „die man unbedingt gehört haben sollte“. Außerdem sei es ein „Vorurteil“, wenn behauptet würde, Furtwänglers Werke seien „hoffnungslos veraltet“.

Auf der Angebotsseite von jpc haben die dort regelmäßig schreibenden Rezensenten „meiernberg“ und „JAW-Records“ dem Werk und der Einspielung die Höchstpunktzahl (5/5) gegeben.

Die Neckar-Chronik gibt dem Interview mit dem Dirigenten Fawzi Haimor den Titel: „Meistersinfonie aus dunkler Zeit“.

Dagegen wärmte der Kulturabdruck alte Kamellen auf: „Die 1. Symphonie, die zwischen 1938 und 1941 entstand und am äußersten Rand der Spätromantik einen monströsen Kampf gegen das Verschwinden derselben führt, ist ein besonders undankbares Objekt. Denn obwohl die vier Sätze mit klassischen Grundmustern und Nachklängen aus der Welt Anton Bruckners aufwarten, verliert sich der Hörer immer wieder in Furtwänglers labyrinthischen Tonfolgen. Nach 90 Minuten bleibt das Gefühl einer vielfachen Überspannung und die Frage, ob hier nicht ein Kosmos um einen leeren Kern kreist.“

In Crescendo bemerkte Christoph Schlüren: „Tatsächlich handelt es sich bei Fawzi Haimors Reutlinger Aufnahme für cpo um die aufnahmetechnisch bislang gelungenste Darbietung des knapp 90-minütigen Kolossalwerks, das in seiner Innenschau so gar nichts gründerzeitlich Macherhaftes bietet, sondern die von aller Effekthascherei völlig unabhängige Konzentration auf die pure organische Formentwicklung einfordert. Und wir warten weiter auf einen Dirigenten, der die gewaltigen Spannungsbögen adäquat zu verwirklichen versteht. Dann können wir auch dieses Werk, das noch immer erratisch erscheint, verstehen.“

Auf Classical CD Reviews hielt Gavin Dixon zwar an der Auffassung fest, Furtwänglers „major flaw“ sei „a tendency towards large-scale, expansive structures, which, although in traditional forms, are not supported by the scale or invention of his melodic writing“ – also dem von mir in Teil 1 beschriebenen Vorurteil Nr. 3 –, gesteht ihm jedoch als Komponisten „a distinctive voice“ zu und lobt immerhin das Scherzo ohne Einschränkung.

Ähnlich äußert sich Rob Maynard auf Musicweb International, der seinen Artikel mit folgendem Fazit beschließt: „We must hope that it foreshadows a full cycle of Furtwängler’s symphonic oeuvre that will bring his frequently flawed but nonetheless fascinating – and most certainly enjoyable – music to a wider audience.“

Ich selbst habe die Aufnahme auf Klassik-Heute rezensiert und dort auch meine vom Großteil der zitierten Rezensionen abweichende Ansicht dargelegt, warum ich Haimors Einspielung nicht für diejenige Aufnahme halte, die den bestmöglichen Eindruck von der Komposition vermittelt. Aber darum geht es hier nicht. Wichtig erscheint mir festzuhalten, dass unter den Kritiken der cpo-CD die positiven Stimmen weit überwiegen. Man kann anscheinend tatsächlich davon sprechen, dass die lange Zeit dominierende, von Vorurteilen geprägte Sicht auf den Komponisten Furtwängler nun einer unvoreingenommenen, von echtem Interesse geprägten Herangehensweise an seine Musik weicht.

Norman Lebrechts Attacke

Doch halt! Da meldet sich ein älterer Herr zu Wort, um energisch sein Veto einzulegen. Es ist der britische Kritiker und Buchautor Norman Lebrecht, der sich in der Vergangenheit regelmäßig zu Wilhelm Furtwängler geäußert hat. Er steht offenbar im Ruf, ein Furtwängler-Experte zu sein, denn sonst hätte ihn die Deutsche Grammophon 2019 kaum damit beauftragt, einen Einführungstext zu ihrer 34 CDs und eine DVD umfassenden Edition sämtlicher DG- und Decca-Aufnahmen Furtwänglers zu schreiben. Seine Kritik der Haimor-Aufnahme unterscheidet sich von den oben erwähnten dadurch, dass sie in einem Kontext steht, den ihr Autor im Laufe vieler Jahre schuf. Lebrecht inszeniert sich als eine Art Enthüllungsjournalist der Musikwelt. Eine Konstante seiner Tätigkeit als Autor ist die Suche nach charakterlichen Schwächen namhafter Musiker. Liest man seine Texte, meint man mitunter, ihn geradezu aufjauchzen zu sehen vor Freude, wenn er meint, etwas gefunden zu haben, das ihm die Möglichkeit gibt, eine bekannte Figur des Musiklebens als fehlerhaften Menschen darstellen zu können. Der Energie, die Lebrecht in Suchaktionen dieser Art steckt, steht eine bemerkenswerte Unachtsamkeit in Sachen Fakten gegenüber. Wer sich kurz informieren möchte, wie dicht in seinen Veröffentlichungen Fehler auf Fehler folgt, der lese die in der englischen Wikipedia zitierten Ausschnitte aus Besprechungen des Buches The Maestro Myth (1991, deutsch: Der Mythos vom Maestro) durch John von Rhein (Chicago Tribune), Roger Dettmer (Baltimore Sun) und Martin Bernheimer (Los Angeles Times).

Lebrechts Texte sind als Informationsliteratur nicht zu gebrauchen. Ihr Erfolg gründet sich auf die Art und Weise, wie der Autor Fakten, oder was er dafür hält, präsentiert. Wer sich von seiner Diktion einlullen lässt und ausreichend unkritisch alles schluckt, was Lebrecht seinen Lesern vorsetzt, wird am Ende damit belohnt, dass er es ihm gleichtun und sich wonnig in Schadenfreude suhlen kann. Diese Schadenfreude erscheint als die eigentliche Motivation der Lebrechtschen Schriftstellerei.

Wilhelm Furtwängler gehört offensichtlich zu Lebrechts Lieblingszielscheiben. Was Lebrecht über Furtwängler schreibt, ist im Grunde nicht interessant. Aber es ist interessant zu sehen, wie er gegen Furtwängler vorgeht und wie er Furtwänglers Kompositionen in diesem Zusammenhang benutzt. Zunächst lässt sich feststellen, dass er Furtwängler keineswegs pauschal verdammt. Auch für Lebrecht ist Furtwängler ein großer Dirigent. Das muss er auch sein, denn Lebrecht gibt sich nicht mit kleinen Fischen zufrieden. Einem großen Mann Anrüchiges anzuhängen, das ist seine Freude. Außerdem gehört Lebrecht zu jenen Autoren, die nie ernsthaft gegen den Strom schwimmen. Er möchte ein großes Publikum bedienen und braucht demzufolge die gängigen Klischees seiner Zeit, an die er anknüpfen und die er in seinem Sinne zuspitzen kann. Also kann er sich in diesem Falle gar nichts anderes leisten als den Dirigenten Furtwängler einen großen Mann sein zu lassen. Er versucht deshalb, ihn auf anderen Gebieten zu demontieren: Sein Ziel ist es zu zeigen, dass der berühmte Dirigent als Komponist wie als Mensch versagt habe. Auch dazu bedient er sich gängiger Klischees. Erwartet man etwas anderes?

Im Jahre 1992 veröffentlichte Lebrecht bei Simon & Schuster, New York, einen Companion to 20th Century Music, der acht Jahre später unter dem hochtrabenden Titel Complete Companion to 20th Century Music in erweiterter Form neu aufgelegt wurde. Auf S. 127 der Erstfassung findet sich über Furtwänglers Werke der folgende Absatz, der wörtlich auch in die Neufassung übernommen wurde:

He saw himself, like Mahler, as primarily a composer, yet his music is of little consequence. In three symphonies (1941–54), he seems repeatedly to linger and luxuriate in the sound he has created, though none of it bears the mark of an original mind. The works lack momentum, daring and, above all, anything personal to say – an unbelievable neutrality, given the times and the composer’s musical stature. The third in C-minor is classically formed and derivative of Bruckner. There is also a piano concerto that does a thematic tour around the great composers.“

Hier finden sich alle im ersten Teil des vorliegenden Textes ausführlich behandelten Vorurteile gegen Furtwängler gleichsam in der Nussschale zusammengefasst. Vor allem die Behauptung einer Bruckner-Abhängigkeit der Dritten Symphonie kann jeden, der mit dem Werk einigermaßen vertraut ist, nur belustigen. Kennt jemand eine Bruckner-Symphonie, die mit einem langsamen Satz beginnt, oder ein Scherzo enthält, in dem das Trio die Stelle einer Sonatendurchführung vertritt? Kann man sich auch nur ein Thema aus Furtwänglers Werk in eine Bruckner-Symphonie versetzt vorstellen? Welche Themen anderer Komponisten Lebrecht im Klavierkonzert gehört hat, verschweigt er. Würde er seine Funde öffentlich machen, hätte er zwei Möglichkeiten: Entweder müsste er zugeben, dass die Ähnlichkeiten zu gering sind um von einer „thematic tour“ zu sprechen (unter der er sich wahrscheinlich eine Art Potpourri vorstellt), oder dass Furtwängler die fremden Themen (welche auch immer es sein mögen) so stark verwandelt hat, dass sie zu seinen eigenen geworden sind. Außerdem fällt auf, dass Lebrecht sich in der Tonart der Dritten Symphonie irrt (cis-Moll muss es heißen, nicht c-Moll!). Furtwängler schien ihm wohl der Mühe nicht wert gewesen zu sein, den Fehler in der zweiten Auflage auszubessern. Dort steht er noch auf S. 136.

Seine zweite Angriffsfläche sieht Lebrecht in Furtwänglers Charakter im Allgemeinen und seinem Handeln während der NS-Zeit im Besonderen. Da greift er sehr hoch: „Moralisch lässt sich an Furtwängler nichts finden, das man bewundern könnte“, heißt es im Begleittext zur oben genannten Edition der Deutschen Grammophon. Was soll man davon halten angesichts dessen, dass Furtwänglers Einsatz für zahlreiche von den Nationalsozialisten Verfolgte eine durch Quellen hinreichend belegte Tatsache ist, und dass es darunter wenigstens zwei Fälle gegeben hat, in denen akut bedrohte Menschenleben durch eine direkte Intervention Furtwänglers gerettet worden sind (Carl Flesch und Heinrich Wollheim)? Aber nein, Lebrecht will in ihm nur einen „Günstling des Führers“ sehen, der „[n]ach einem Zwist mit Joseph Goebbels wegen einer Hindemith-Symphonie [gemeint ist Mathis der Maler] […] für kurze Zeit von seinem Amt bei den Berliner Philharmonikern suspendiert“, dann aber „von Hitler höchstselbst wieder eingesetzt“ worden sei. Wieder ein Lebrechtscher Fehler! Furtwängler ist als Chefdirigent der Philharmoniker 1934 aus eigenem Antrieb zurückgetreten und übernahm dieses Amt erst 1952 wieder. Es hat ihn niemand suspendiert, und erst recht hat ihn kein Hitler wieder eingesetzt.

Anscheinend immer bereit, in diese Kerbe zu hauen, frohlockte Lebrecht am 27. März 2019 auf seiner Seite Slipped Disc über ein angebliches „unknown pic[ture] of Furtwängler and the Füh[rer]“, das er mit folgenden Zeilen begrüßte: „After decades of censorship, whitewash and hagiolatry, documents continue to emerge of Wilhelm Furtwängler’s deeply compromised position with the leadership of the Third Reich. This latest discovery is from the Süddeutsche Zeitung archives. It shows Furtwängler conducting a factory concert in 1939 in front of a huge portrait of his Führer.“ Wer genau liest, wird feststellen, dass Lebrecht seine Leser mit der Überschrift in die Irre führt, denn, wie er ja selbst im Text schreibt, handelt es sich nicht um ein Bild, das Furtwängler mit Hitler zeigt, sondern lediglich um eine Aufnahme Furtwänglers vor einem überdimensionalen Hitler-Plakat (dem er übrigens mit nicht gerade begeistertem Blick den Rücken zukehrt). Das eigentlich Interessante an Lebrechts Beitrag ist allerdings, dass diese „latest discovery“ gar nicht neu ist. Das Bild, von dem er spricht, war der Öffentlichkeit spätestens bekannt, seit Fred K. Prieberg es 1986 in seinem Buch Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich publiziert hatte, auf dessen Schutzumschlag es außerdem zu sehen ist. 1986 bis 2019 macht 33 Jahre. Lebrecht hat sich also wieder einmal geirrt. Nicht „censorship, whitewash and hagiolatry“ haben dafür gesorgt, dass er die Photographie erst mit solch immenser Verspätung zur Kenntnis genommen hat, sondern schlicht seine Unwilligkeit, sich korrekt zu informieren. Bezeichnend erscheint auch der Umstand, dass er auf ein Bild, das vor Jahrzehnten in dem Buch eines Musikhistorikers abgedruckt wurde, durch die Süddeutsche Zeitung aufmerksam geworden ist. (Die Photographie gefiel Lebrecht übrigens so gut, dass er sie am 25. September 2019 zur Illustration eines weiteren Beitrags auf Slipped Disc verwendete, in welchem er „a series of videocasts, elaborating on the unofficial aspects of the great conductor“ ankündigte.)

Das angeblich neu entdeckte Bild 2019 auf Lebrechts Seite…
… und 1986 auf dem Umschlag von Priebergs Buch.

Soviel zu Lebrechts früheren Eskapaden. Die Veröffentlichung von Fawzi Haimors Aufnahme der Ersten Symphonie durch cpo nahm er nun zum Anlass, seinem jahrzehntelangen Verächtlichkeitsfeldzug die Krone aufzusetzen.

Seine Kritik findet sich im englischen Original auf My Scena, ist aber auch bereits auf Französisch, Tschechisch und Spanisch erschienen. Auf seiner eigenen Seite kündigte Lebrecht noch weitere Übersetzungen an.

Was er da in die Welt hinausgeschickt hat, ist, um es vorneweg zu sagen, ein Gebräu aus offensichtlichen Fehlern, Halbwahrheiten, Verleumdungen und schwachen Versuchen witzig zu sein. Aber sehen wir uns den Text Absatz für Absatz genauer an!

In the spring of 1943, with millions being murdered across the continent of Europe, Germany’s wealthiest conductor summoned the Berlin Philharmonic Orchestra to rehearse a symphony he had written in B minor, his first. Furtwängler had been writing it, on and off, since 1908 and had lately added a fourth movement for which he had high hopes. These aspirations were dashed on first play-through. ‘Am very depressed,’ he told his wife. [/] Of all things to get depressed about at this darkest moment in modern history, a symphony seems relatively trivial, but such was the size of the maestro’s ego that it occluded most things around him, including the Nazi horrors which he chose to ignore. The symphony was supposed to be his ticket to posterity and he must have realised, during rehearsal, that it would not buy him a ride anywhere beyond the suburbs.“

→ Zunächst fällt wieder ein sachlicher Fehler auf: Die Erste Symphonie wurde weitgehend in den späten 30er und frühen 40er Jahren komponiert. Will man ihre Entstehungsgeschichte mit dem Largo-Satz beginnen lassen, der mit dem Kopfsatz der Ersten Symphonie das Anfangsthema (und nur dieses) gemeinsam hat, und von Furtwängler 1906 in seinem ersten Konzert uraufgeführt wurde, so muss man die Anfänge der Komposition ins Jahr 1905 verlegen, nicht 1908.

→ Lebrecht beginnt effektvoll mit dem Zweiten Weltkrieg. Furtwängler soll hier als moralisch fragwürdiger, egoistischer Mensch erscheinen, der es sich mitten im Krieg gut gehen lässt („Germany’s wealthiest conductor“) und sich nur um seine Kompositionen sorgt. Schwerer wiegt die Behauptung, Furtwängler hätte sich entschieden, die Nazi-Greuel zu ignorieren. Erneut muss man sich fragen: Wie kann man einem Manne, der sich persönlich für Verfolgte eingesetzt hat, der aus Protest gegen die Beeinflussung des Kulturlebens durch die Politik bereits 1934 alle öffentlichen Ämter niederlegte, der sich weigerte in von der Wehrmacht besetzten Ländern zu dirigieren, der sich dem Missbrauch seiner Person durch die NS-Propaganda so weitgehend entzog, wie es ihm möglich war, vorwerfen, er habe die Augen vor der nationalsozialistischen Terrorherrschaft verschlossen? Man lese zu diesem Thema seriöse Bücher wie Klaus Langs Wilhelm Furtwängler und seine Entnazifizierung (Aachen: Shaker Media 2012) und Fred K. Priebergs Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im Dritten Reich (Wiesbaden: F. A. Brockhaus 1986).

→ Lebrecht meint, Furtwänglers Niedergeschlagenheit nach der Probe wäre Wasser auf seine Mühlen. Nun hat Furtwängler tatsächlich nie wieder einen Takt aus der Ersten Symphonie dirigiert. Dies bedeutet aber nicht, er hätte das Werk als misslungen betrachtet und beiseite gelegt. Nein, er überarbeitete es ein weiteres Mal, sodass er 1946 Eugen Jochum schreiben konnte: „Von meinen Symphonien wird eine in diesem Jahr, die andere ein Jahr später herauskommen.“ (Klaus Lang: Wilhelm Furtwängler und die Tragik seines Komponierens, Aachen: Shaker Media 2013, S. 55) Dies hätte er (damals noch unter Auftrittsverbot) nicht geschrieben, wenn ihm die Erste zu dieser Zeit nicht aufführungsreif erschienen wäre. Während er die Zweite (die er 1948 uraufführte) als „fix und fertig“ ansah, war die Erste für ihn aber nur „fertig“ (ebenfalls an Jochum 1946, siehe Lang: Tragik, S. 49), und noch 1954 feilte er an einzelnen Stellen der Partitur. Dass er bis in sein Todesjahr um die endgültige Gestalt dieses Werkes rang, zeigt deutlich genug, wie wichtig ihm dieses Stück war. Ein Künstler macht sich nicht eine solche Arbeit mit einem Werk, das er für misslungen hält! Es kam lediglich durch den Tod des Komponisten zu keiner „Fassung letzter Hand“. Furtwängler hat die Erste Symphonie „’fertig‘, aber mit einigen Fragezeichen für die Nachwelt hinterlassen“, wie Sebastian Krahnert über den vergleichbaren Fall des Klavierquintetts schreibt.

Furtwängler died in 1954 and, though his cult as a legendary conductor continued to grow, his first symphony did not get performed until 1991. Two recordings were issued soon after, neither of them convincing. I was hoping for more from the Württemberg Philharmonie of Reutlingen, conducted by Fawzi Hamor [sic], on a label that performs noble service to German music, great and small. It soon confirmed my long impresion [sic] that Furtwängler’s composing talent was too small to be measured on any musical scale.“

→ Natürlich lässt sich Lebrecht nicht entgehen, die lange Zeitspanne zwischen Furtwänglers Tod und der Uraufführung hervorzuheben. Der Grund für die verspätete Uraufführung (die Ersteinspielung geschah bereits 1989) lag, ähnlich wie im Falle des Klavierquintetts, in dem philologisch problematischen Zustand der Partitur begründet. Die Furtwängler-Pflege konzentrierte sich zunächst auf die Werke, zu denen ein Notentext letzter Hand vorlag.

→ Kann man Lebrecht angesichts seiner Sätze von 1992 tatsächlich glauben, wenn er schreibt: „I was hoping for more“, oder ist dies nur reine Rhetorik?

If Bruckner married Mahler and hired Wagner and Brahms to tutor their backward child, the infant might have doodled something like Furtwängler’s B-minor symphony. This work is not so much composed as collaged. Trademarked themes of other composers are pasted onto a vast canvas of almost ninety minutes, each movement opening with a tune you know you’ve heard before. [/] The wholesale theft of classical treasures becomes so blatant that, six minutes into the Adagio, Furtwängler starts churning out chunks of Beethoven’s ninth symphony, as if we’d never know. Vanity aside, he repeats himself (or others) over and over again until you wonder how it was possible that so insightful and atmospheric a conductor could be so deaf and senseless to his own emanations. The fine musicians of Reutlingen do their level best to get us through; the fawning sleeve-notes are the most muddled I have read in years.“

→ Hier wird Lebrecht nicht nur gegen Furtwängler ehrenrührig, sondern auch gegen Eckhardt van den Hoogen, den Autor des Begleittextes. Als Übersetzung des Wortes „fawning“ wird mir von den konsultierten Nachschlagewerken nicht nur „liebedienernd“, sondern auch „kriecherisch“, „hündisch“, „schwanzwedelnd“ angeboten. Mit diesem Wort wird ein Autor bedacht, der sich sorgfältig mit Leben und Werk des von ihm dargestellten Komponisten vertraut gemacht hat und auf Grundlage dieses umfassenden Wissens in seinem Text ein möglichst getreues Charakterbild des Künstlers zu vermitteln strebt. Van den Hoogens Art, sich gleichsam in die Psyche der Komponisten, über die er schreibt, hineinzudenken, mag nicht Jedermanns Sache sein und birgt gewiss Risiken. Gerade aber, weil van den Hoogen diese Risiken auf sich nimmt, verdient er Respekt. Er ist ein Autor, der wagt, was sich viele andere nicht trauen. Und das Ergebnis gibt ihm meistens Recht. Der Furtwängler-Text macht darin keine Ausnahme.

→ Zum Schluss seines Artikels lässt Lebrecht die Katze aus dem Sack und zeigt uns, dass er offensichtlich rettungslos in Reminiszenzenjägerei befangen ist. Nach Anklängen an andere Werke Ausschau zu halten, mag ein hübscher Zeitvertreib sein und mitunter auch tatsächlich Interessantes zu Tage fördern, aber was ist davon zu halten, wenn diese Tätigkeit mit solch fanatischem Ernst betrieben wird, wie Lebrecht es hier tut? Lebrechts Worte sind ein Dokument uneingestandener Hilflosigkeit. Man hat einen routinierten Kritiker vor sich (oder besser: einen in Routine erstarrten Kritiker), welcher 1. offensichtlich weder willens noch fähig ist, sich mit dem Werk ernsthaft auseinanderzusetzen, und 2. die Vorurteile, die er gegenüber dem Komponisten hegt und selbstgefällig pflegt, auf Biegen und Brechen sich und anderen bestätigen will. Für Lebrecht ist Furtwängler also ein Dieb (bereits 1992 klingt dies in seiner Einschätzung des Klavierkonzerts an), und der Kritiker hält sich für besonders schlau, weil er meint, diesen „Dieb“ überführt zu haben. Wenn man weiß, dass Lebrecht ein leidenschaftlicher Verehrer Gustav Mahlers ist, und bedenkt, dass er bereits 1992 in seinem Handbuchartikel Furtwängler und Mahler einander gegenübergestellt hat, so möchte man glauben, er versuche hier die Vorwürfe, die man früher Mahler gemacht hat, auf einen anderen Komponisten (der zugleich, wie Mahler, ein großer Dirigent war) zu übertragen und damit gleichsam ein Negativbeispiel zu Mahler zu schaffen: Seht her – scheint er uns zwischen den Zeilen sagen zu wollen –, die Diebstähle, die man Mahler zu Unrecht vorwarf, Furtwängler hat sie begangen! Da stellt sich die Frage, was eigentlich so schlimm daran sein soll, wenn ein Komponist aus einem fremden Einfall einen eigenen macht. Dass bei Mahler die Anfangsthemen der Dritten und Sechsten Symphonie und das Rondo-Thema der Siebten auffallend an Melodien von Brahms, Bruckner und Wagner anklingen, ist doch keine Schande! Wenn Mahler hier den Reminiszenzenjägern Köder ausgelegt hat, so tat er das – Humorist, der er war –, um sie zu foppen. Bereits bei der Komposition dürfte er innerlich darüber gelacht haben, dass das „jeder Esel hören wird“, um es mit Brahms zu sagen. Außerdem hat er allen Themen etwas Neues, Eigenes hinzugefügt. In der Form, in der er sie präsentiert, sind sie nicht mehr die Themen anderer Komponisten.

Mahler ist kein Melodiendieb. Noch unsinniger wirkt der Versuch, Furtwängler dergleichen anzuhängen, denn dessen melodische Erfindung war so eigen, dass jedes Zitieren fremder Musik im Kontext seines Stiles wie ein Fremdkörper hätte wirken müssen. Dabei gibt es allerdings Reminiszenzen in Furtwänglers Werken. Ich erinnere an ein Thema im Kopfsatz der Ersten Symphonie, dessen Anfang im zweiten Satz der Dritten wieder auftaucht. Auch fängt das Symphonische Konzert mit beinahe dem gleichen Motiv an wie die Zweite Symphonie. Themen, die auf Tonleiterausschnitten basieren, oder solche mit sinusartigen Melodieverläufen gibt es in jedem Werk Furtwänglers, sodass schon dadurch Anklänge der Werke untereinander gewährleistet sind. Dies liegt schlicht daran, dass Furtwängler der Archetyp eines „Igels“ ist. So nennt Isaiah Berlin in seinem Buch Der Igel und der Fuchs, anknüpfend an das antike Sprichwort „Der Fuchs weiß verschiedene Sachen, der Igel aber nur eine große“ diejenigen Künstler und Denker, die von einer großen Idee besessen sind, auf welche sie alles beziehen. Auch Furtwängler hat sein Leben lang eigentlich immer das gleiche Ziel verfolgt. Die einzelnen Werke sind individuelle Lösungen einer stets gleich bleibenden Aufgabenstellung – wie bei Bruckner, der ja auch als „Igel“ in Reinform gelten kann (als spätere Vertreter dieses Typus lassen sich etwa Allan Pettersson, Robert Simpson, Peter Mennin nennen). Und so wie Bruckner mit gewisser Regelmäßigkeit sich selbst zitiert, vielleicht sogar unbeabsichtigt, so tut dies Furtwängler ebenfalls.

Ich gebe gern zu, dass mir die Anklänge an Beethovens Neunte, die Lebrecht im Adagio der Ersten Symphonie Furtwänglers zu hören meint, nie aufgefallen sind. Warum nicht? Weil dieses Adagio mich durch das, was es ist, so gefesselt hat, dass ich mich nicht darum kümmerte, ob Reminiszenzen an ein anderes Meisterwerk darin sind oder nicht. Gedanken darüber, was es zur individuellen Beschaffenheit dieses Satzes zu sagen geben könnte, kommen Lebrecht gar nicht. Meint er ernsthaft, dass es das Wesentliche an diesem Stück sei, dass Furtwängler hier „gestohlen“ habe? Lebrecht hat mit seinen Lesern etwas Bestimmtes vor: Sie sollen gedanklich gelenkt werden, und zwar nicht hin zu einem besseren Verständnis des Werkes, sondern sie sollen ebenso eine Mauer zwischen sich und dem Werk hochziehen, wie sie Lebrecht für seine Person errichtet hat. Wenn in der Kritik steht, jeder Satz der Symphonie beginne mit einem Thema, von dem man wisse, dass man es schon einmal gehört habe, so ist das eine Aufforderung an die Leser, sich, wenn sie denn dazu kommen das Stück zu hören, auf die Frage zu konzentrieren, wo man dieses oder jenes Thema bereits gehört haben könnte. Sie sollen davon abgelenkt werden, den musikalischen Ereignissen zu folgen, so wie Lebrecht ihnen nicht mehr folgen kann, da seine alten Vorurteile gegen Furtwängler ihm den Weg versperrt haben. Man erlebt in seinem Text, wie ein Kritiker, um seine einmal gefestigten Ansichten über einen Komponisten zu bestätigen, alle seine Kräfte zur Reminiszenzenjagd aufbietet, um wenigstens irgendetwas zu finden, das gegen den Komponisten verwendet werden kann. Dass Lebrecht dann keine Kraft mehr hat, sich auf das Werk selbst zu konzentrieren, ist die natürliche Folge.

Sowenig man Furtwängler einen derivativen Komponisten nennen kann, so sehr sind Lebrechts Ausführungen zu seinem Schaffen von Anfang bis Ende ein Derivat, zusammengeleimt aus dem Billigsten, was an Klischees und Vorurteilen über Furtwänglers Kompositionen im Laufe der Zeit von Unwissenden und Übelwollenden in Umlauf gebracht worden ist. Unter seinen Händen ist dieses Gedankengut geradezu eine Karikatur seiner selbst geworden. Man kann beinahe von einer unfreiwilligen Satire sprechen. Kann man angesichts dieser Bankrotterklärung eines der hartnäckigsten Verleumder Furtwänglers vermuten, dass die Gegner des Komponisten ihr Pulver verschossen haben? Gewiss wird man sie noch zu der einen oder anderen Schlammschlacht ausrücken sehen, aber ihre hohlen Phrasen, die sie mangels tatsächlicher Argumente gezwungen sind fortwährend zu wiederholen, werden sich immer weiter abnutzen. An Furtwänglers Werken werden ihre Attacken zerschellen wie eh und je. Dem Konzertleben, den Tonträgerproduktionen und der Musikwissenschaft dagegen steht ein zahlenmäßig nicht großes, aber dafür umso gehaltvolleres Schaffen zur Verfügung, das diejenigen reich belohnen wird, die sich mit Ernst und Zuneigung seiner Ergründung widmen. Es verdiente eine bessere Pflege als sie ihm im 20. Jahrhundert zu Teil wurde. Tun wir es nicht Lebrecht und seinesgleichen gleich, sondern:

Hören wir dem Komponisten Wilhelm Furtwängler gut zu!

Programmzettel zur ersten Aufführung von Furtwänglers Zweiter Symphonie, die nicht vom Komponisten selbst geleitet wurde. Es dirigierte Rolf Agop (1908-1998).

[Norbert Florian Schuck, Januar 2022]

Musik zur Weihnachtszeit: Das Weihnachts-Oratorium von Richard Wetz

Unter den oratorischen Werken, die die Weihnachtsgeschichte thematisieren, nimmt das Weihnachts-Oratorium auf alt-deutsche Gedichte für Sopran- und Bariton-Solo, gemischten Chor und Orchester op. 53 von Richard Wetz (1875–1935) eine besondere Stellung ein. 1929 vollendet, fällt seine Entstehung in eine Zeit, in der nur verhältnismäßig wenige Komponisten größere Konzertwerke zum Thema „Weihnachten“ schrieben. Zu nennen sind unter Wetzens Generationsgenossen Ottorino Respighi mit seiner Lauda per la Natività del Signore (1930) sowie Walter Braunfels mit seiner Adventskantate op. 45 und seiner Weihnachtskantate op. 52 aus dem Zyklus Das Kirchenjahr (1934–1937). Im Gegensatz zu Wetzens Weihnachtsoratorium ist allerdings keines dieser Werke abendfüllend. Die Christnacht op. 85 von Joseph Haas (1933) hebt sich von Wetz auf andere Weise ab, denn es handelt sich um ein betont volkstümlich gehaltenes geistliches Liederspiel. Mit seiner einfachen, von der Idee der „Gebrauchsmusik“ beeinflussten Gestaltung wurde dieses Werk ebenso wegweisend für zahlreiche spätere Weihnachtsmusiken wie Hugo Distlers Weihnachtsgeschichte op. 10, die, zur gleichen Zeit entstanden, eine Rückbesinnung auf die strenge A-cappella-Polyphonie eines Heinrich Schütz einleitet.

Aber auch aus der entgegengesetzten Perspektive des Zeitstrahls betrachtet, wirkt Wetzens Oratorium in seiner Zeit isoliert, da eine verstärkte Hinwendung zur Komposition von Weihnachtsoratorien sich letztmals in der Zeit um 1900 feststellen lässt: Heinrich von Herzogenberg komponierte 1894 Die Geburt Christi op. 90, Philipp Wolfrum 1898 Ein Weihnachtsmysterium op. 31, der Dresdner Kreuzkantor Oskar Wermann sein Weihnachs-Oratorium op. 110 1904, im gleichen Jahr wie Andreas Hallén sein Juloratorium. Somit erscheint im historischen Zusammenhang das Wetzsche Weihnachtsoratorium nicht nur als letztes groß dimensioniertes Weihnachtswerk spätromantisch-symphonischen Stils (oder zumindest als eines der letzten), sondern überhaupt als ein erratischer Block, der sich markant aus der geistlichen Chorliteratur seiner Zeit heraushebt.

Der Komponist war sich dessen durchaus bewusst. Am 6. Februar 1927, etwa zwei Monate bevor er mit der Komposition begann, schrieb er in einem Brief an seine Jugendfreundin Martha Grabowski: „Auf diesem Gebiete habe ich nur einen zu fürchten, freilich den gewaltigen Johann Sebastian Bach. Aber ich denke gar nicht daran, ihm auch nur an die Seite und in seine Nähe zu treten, wie ich ja auch im ‚Requiem‘ [op. 50, 1925] mich ganz fern von Mozart gehalten habe.“

In der Tat: Wer den vor Freude und Zuversicht strotzenden Eingangschor des Bachschen Werkes im Ohr hat und sich die Eröffnung eines Weihnachtsoratoriums gar nicht mehr anders denken kann, wird womöglich erschrecken angesichts der Klänge, mit denen Wetz die ersten sechs Minuten seines Weihnachtsoratoriums gestaltet. Die vier Anfangstakte, in denen über einem Orgelpunkt der tiefen Streicher leise Akkorde der Flöten, Klarinetten und Hörner mildes Licht in die Dunkelheit werfen, könnten eine Totenmesse einleiten. Tatsächlich ähneln sie auffallend dem Beginn des Wetzschen Requiems. Dann eröffnen die Bratschen eine ausdrücklich als „sehnsuchtsvoll“ bezeichnete langsame Fuge in e-Moll, die sich bis zum Fortissimo steigert, um anschließend wieder abzuschwellen. Während sie im Pianissimo versinkt, erklingt ein unscheinbares Motiv in den Posaunen, das sich nach einer Generalpause unvermittelt in dissonanten Imitationen aufbäumt. Das erste Intervall, das gesungen wird, ist ein Tritonus. Über heftig bewegten Ostinati sammelt sich der Chor zu einem dreifachen Aufschrei: „O Heiland, reiß den Himmel auf“. Damit wird ein stürmischer Satz in Gang gebracht, in dem der Chor in immer wieder neuen Fugati Anlauf nimmt, das Erscheinen des Heilands zu erflehen, um schließlich mit der Forderung – von einer Bitte lässt sich kaum noch sprechen – „Komm tröst‘ uns hie im Erdental“ in sich zusammenzustürzen. Hier wird weder gejauchzt, noch frohlockt. Das ist Musik der Verzweiflung. Das Erdental, von dem die Rede ist, wird eindeutig als irdisches Jammertal gezeichnet.

Damit haben wir den Schlüssel zum Verständnis des Wetzschen Weihnachtsoratoriums. Begeht Bach Weihnachten als das Fest unerschütterlicher Glaubensgewissheit, so liegt der Anlass für Wetz darin, die Ankunft Dessen zu feiern, der den Menschen Trost im leidvollen Erdendasein spendet und ihnen letztlich Erlösung bringt. Die hymnisch strahlenden Schlüsse, in welche alle drei Teile des Werkes münden, bringen eine Freude zum Ausdruck, die sich aus der Erfahrung des Leides speist. Die Gedankenwelt, der dieses Weihnachtsoratorium entstammt, gehört einem Künstler, der zeitlebens gleichermaßen von der pessimistischen Philosophie Schopenhauers wie von Goethes Glauben an das Wirken des Göttlichen in der Natur geprägt war und dessen Gefühlsleben sich in ständiger Spannung zwischen diesen beiden Polen befand. Weltschmerz und Entsagung einerseits, zum andern der Lobpreis des „einigen, ewigen, glühenden Lebens“, von dem Hölderlin am Schluss seines Hyperion spricht (den Wetz als Kantate vertonte), geben dem gesamten Schaffen des Komponisten das Gepräge. Dabei scheidet Wetz die beiden Ausdruckssphären weniger voneinander als dass er sie miteinander verbindet. Dem Licht ist bei ihm nahezu immer Schatten beigemischt und umgekehrt. In Harmonik und Instrumentation kultiviert er eine Tonsprache feinster Hell-Dunkel-Effekte, sodass man geneigt ist, ihn einen ausgesprochenen Chiaroscuro-Komponisten zu nennen.

Im Weihnachtsoratorium kommt diese Haltung darin zum Ausdruck, dass der Komponist auch nach dem Abklingen der düsteren Einleitungsmusik, wenn sich ein freudiger Grundcharakter eingestellt hat, deutlich die Sphäre des zu überwindenden Leides betont, wo sein Text dies gestattet. So folgt direkt auf Mariae Verkündigung und Empfängnis die Hinweisung auf den Kreuzestod Jesu („mit seiner bittern Marter hat er uns all erlost“, Teil 1, Takt 338ff.), und wenn Christus im Stall zu Bethlehem von den Hirten mit den Worten gepriesen wird: „du machst mich jeden Jammers frei“ (Teil 2, Takt 479ff.), so liegt der Akzent der Vertonung eindeutig auf dem Jammer. Die Freude auszudrücken, in welche „Angst und Not“ verkehrt werden, bleibt der anschließenden Chorfuge vorbehalten. Nach der Geburt Christi kommentiert Wetz die Menschwerdung Gottes im Orchester mit einem Beinahe-Selbstzitat (Teil 2, Takt 110):

Es handelt sich um ein Motiv, das, immer etwas abgewandelt, in mehreren seiner Werke auftaucht und sich erstmals am Beginn der Kleist-Ouvertüre op. 16 (1899/1903) findet, die es mottoartig durchzieht. Kleist symbolisierte für Wetz den an der Welt scheiternden, aber mit seinem Werk triumphierenden Künstler. Die Anspielung auf die Kleist-Ouvertüre gerade an dieser Stelle des Weihnachtsoratoriums lässt sich kaum anders deuten als dass Wetz auch Jesus mit seiner Geburt in eine Welt geschickt sieht, in welcher ein schreckliches Ende auf ihn wartet, über die er jedoch letztlich den Sieg davonträgt.

Viel milder und zarter mischt Wetz Licht und Schatten in den instrumentalen beziehungsweise vom Frauenchor gesungenen Hirten- und Kinderszenen des zweiten und dritten Teils („Hirtenmusik“, Teil 2, Takt 316ff.; „Christkindle, Christkindle, komm doch zu uns herein“, Teil 2, Takt 402ff.; „Du lieber, frommer, heilger Christ“, Teil 3, Takt 282ff.). Die freundlichen, leicht beschwingten Melodien in mäßig bewegtem Tempo erklingen hier zunächst in Moll, bevor sie sich nach Dur aufhellen. Durchgangs- und Vorhaltsdissonanzen, die sich aus der Stimmführung ergeben, bewirken, dass der Musik eine gewisse Herbheit immer erhalten bleibt. Ein weiteres Stilmittel, dessen sich Wetz im Verlauf des Werkes immer wieder bedient, um das Mysterium der Christgeburt zu charakterisieren, ist die plötzliche „Entrückung“ der Musik in andere Tonarten nebst harmonischen Schwebezuständen. Beispielsweise zeichnet er den „alten Stall“ in Bethlehem, indem er über einem Quint-Oktav-Orgelpunkt D-A-d die Musik durch die Dreiklänge von d-Moll, C-Dur, B-Dur, as-Moll, d-Moll, es-Moll, des-Moll, as-Moll, Ges-Dur wandern lässt, um ihn anschließend in einem übermäßigen Dreiklang über Des, der verminderten Dominante zu A, der Subdominate zu D und der Dominante zu H „als wie einen Kristall“ glänzen und scheinen zu lassen (Teil 2, Takt 229–236). Das Orchester reicht dem eine „sehr weiche“ Passage nach, die mittels Quintparallelen in Violinen und hohen Holzbläsern das Schimmern noch verstärkt.

Wetz arbeitete an seinem Oratorium ziemlich genau zwei Jahre. Den Vermerken am Ende der bei Kistner & Siegel erschienenen Partitur zufolge, begann er die Komposition am 12. April 1927 und vollendete sie am 22. April 1929. Als Textgrundlage dienten ihm, wie der Titel des Werkes besagt, „alt-deutsche Gedichte“, die er zu drei Teilen zusammenfasste: „Erwartung und Verkündigung“, „Die Geburt Christi“ und „Die heiligen drei Könige“. Die dichterische Geschlossenheit dieser Texte verdeckt, dass sie aus sehr unterschiedlichen Quellen zusammengesetzt sind, deren Entstehungsdaten zum Teil mehrere Jahrhunderte auseinanderliegen (das jüngste Textstück war erst 80 Jahre vor Beginn der Komposition erschienen). Dichtungen prominenter Autoren finden sich ebenso darunter wie Volkspoesie, Texte katholischen Ursprungs stehen neben protestantischen, gottesdienstliche Gesänge neben geistlichen Kinderliedern. Die Formenvielfalt der Texte und ihre konfessionelle Mischung verraten, dass es Wetz nicht darum ging, ein in irgendeiner Weise liturgisch gebundenes Werk zu schaffen. Er selbst war katholisch getauft und blieb auch zeitlebens Mitglied der katholischen Kirche, ohne dass man ihn einen praktizierenden Katholiken nennen kann. Er schätzte Luther und betrachtete die Reformation als hochbedeutendes Ereignis, allerdings eher unter historischem als theologischem Gesichtspunkt. Interessanterweise sah er sein Christusbild als von dem Rationalisten David Friedrich Strauss bedeutend geprägt – im Weihnachtsoratorium dürfte sich davon kaum eine Spur finden lassen. Diese persönliche Indifferenz in religiösen Dingen kontrastiert auffallend zu der großen Zahl geistlicher Texte, die Wetz vertont hat – ein Sachverhalt, der seinen Biographen Rudolf Benl dazu brachte, den Komponisten als einen rastlosen Gottsucher zu charakterisieren. Vielleicht hat Wetz den Heiligen drei Königen in seinem Weihnachtsoratorium gerade deshalb vergleichsweise viel Raum zugestanden, da sie doch ebenfalls Gottsucher, im wahrsten Sinne des Wortes, sind.

Die Textwahl belegt zudem die außerordentliche Belesenheit des Komponisten, der brieflich berichtete, während der Instrumentation des fertigen ersten Teils im August 1928 „30 Bände [!] ausgelesen“ zu haben. Da Wetz in der Partitur seine Quellen nicht genannt hat, seien sie im Folgenden aufgeschlüsselt:

Teil 1

O Heiland reiß den Himmel auf (Friedrich Spee von Langenfeld, 1622)

Kommst du, kommst du, Licht der Heiden (Ernst Christoph Homburg, 1659)

Es wollt gut Jäger jagen (Nürnberg, 1551)

Und unser lieben Frau’n, der träumete ein Traum (Graz, 1602)

Komm, Herr Gott, du höchster Hort (Heinrich Bone, 1847)

Teil 2

Kaiser Augustus legete an (Nikolaus Herman, 1560)

Gott, dem der Erdenkreis zu klein (Leipzig, 1724)

In unser armes Fleisch und Blut (Martin Luther, 1524)

Da Christ geboren war (Michael Weiße, 1531)

Auf, auf nun ihr Hirten, und schlaft nicht so lang (alpenländisch, 18. Jahrhundert)

Laufet ihr Hirten, lauft alle zugleich (Schlesien, vor 1842)

O heilig Kind, wir grüßen dich (Franz von Pocci, 1834)

Christkindle, Christkindle, komm doch zu uns herein (Elsass, 18. Jahrhundert)

Wir singen dir, Immanuel (Paul Gerhardt, 1653)

Teil 3

Es führt drei Könige Gottes Hand (Köln, 1632)

Jauchzet ihr Himmel (Gerhard Tersteegen, 1731)

Du lieber, frommer, heilger Christ (Ernst Moritz Arndt, vor 1810)

Empor zu Gott mein Lobgesang (Friedrich Adolf Krummacher, 1811)

Alles, was aus Gott geboren (Salomo Franck, 1715)

Wie man sieht, scheute Wetz nicht davor zurück, Texte zu verwenden, die bereits zuvor von anderen Komponisten vertont wurden, etwa Brahms (Es wollt gut Jäger jagen op. 22/4) oder Reger (Unsrer lieben Frauen Traum op. 138/4), ja er baute sogar ein paar Verse ein, die eigens für Bachsche Kantaten geschrieben wurden: „Gott dem der Erdenkreis zu klein“ entstammt Gelobet seist du Jesu Christ BWV 91, die Schlussverse des Oratoriums, „Alles, was aus Gott geboren, / ist zum Siegen auserkoren“, sind Ein feste Burg ist unser Gott BWV 80 entnommen. Für den freien Umgang des Komponisten mit seiner Textvorlage ist charakteristisch, dass er Francks nüchternes „von Gott geboren“ zu „aus Gott geboren“ gesteigert hat (eventuell ein Reflex auf das „Deus sive natura“ des von ihm hochverehrten Spinoza). Größere Eingriffe nahm er in Tersteegens Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr Erden vor, um den Text in ein einfacheres Versmaß zu bringen. Auch vertonte er nur von einem Teil der Gedichte alle Strophen. Eine originale Liedmelodie hat Wetz in keinem der Fälle übernommen und auch sonst keine präexistenten Themen (etwa Choräle) verwendet.

Literarisches Rückgrat aller drei Teile ist ein längeres Erzählgedicht, in welchem die Handlung des jeweiligen Abschnitts geschildert wird. Die beiden letzten Teile beginnen mit einer solchen Erzählung, während sie im ersten Teil erst nach dem Eingangschor und dem in die Bitte „Jesu meines Herzens Tür steht dir offen, komm zu mir“ mündenden Bariton-Solo mit „Es wollt gut Jäger jagen“ einsetzt. In den Teilen 2 und 3 fungiert der Bariton als Erzähler, seine Rolle erscheint hier der des Evangelisten in barocken Oratorien angenähert. Den Bericht von der Verkündigung Mariae im ersten Teil lässt Wetz dagegen von einem vierfach geteilten, vorwiegend imitatorisch gesetzten Frauenchor vortragen, dergestalt den mysteriösen, übernatürlichen Teil der Geschichte von Christi Geburt gegen den irdischen abgrenzend.

Jeder Großabschnitt des Weihnachtsoratoriums ist in einem Zug durchkomponiert, wobei die einzelnen Unterabschnitte relativ in sich geschlossen und durch eigene Melodien vom Rest des Werkes abgegrenzt sind. Einigen Motiven kommt jedoch eine mehr als lokale Bedeutung zu, sie durchziehen als „Gefühlswegweiser“ (um Richard Wagners ursprüngliches Wort für „Leitmotiv“ zu verwenden) größere Teile des Werkes. Die beiden wichtigsten erscheinen zuerst, gegen Anfang des ersten Teils. Bereits erwähnt wurde das aufsteigende Motiv aus Quarte, Sekunde und Quarte (bzw. Tritonus), das am Ende des Orchestervorspiels erklingt und dann den ersten Chor ankündigt (Teil 1, Takt 68ff.). Es tritt im zweiten Teil nur zweimal kurz auf, ist aber in den Eckteilen häufiger zu hören. Ich möchte es das „Erwartungsmotiv“ nennen, denn es erscheint immer dann, wenn es im Text in irgendeiner Form um Erwartung geht. Seine harmonische Struktur sorgt dabei stets für eine Zunahme der Spannung:

Noch wesentlich bedeutender ist das zweite Hauptmotiv des Werkes. Es symbolisiert die Person Christi und ist entsprechend in allen drei Teilen des Oratoriums sehr präsent. Zum ersten Mal hört man es nach dem ersten Bariton-Solo, wenn das Orchester auf die Worte des Solisten: „Jesus, […], komm zu mir“, mit diesem Motiv gleichsam verdeutlicht, dass die Bitte erhört wurde, der Heiland tatsächlich kommt. Man kann es somit das „Heilands-“, oder „Christus-Motiv“ nennen. Im Gegensatz zum Erwartungsmotiv wird der Erlöser durch ein gelöstes Fortschreiten in Sekunden und Terzen dargestellt. Man kann das Motiv übrigens in die Tradition musikalischer Kreuzessymbole einordnen, was sich leicht zeigt, wenn man zwischen dem ersten und dem letzten sowie dem dritten und dem vierten Ton jeweils eine Linie zieht:

Beide Hauptmotive sind rhythmisch und melodisch äußerst einfach gestaltet, was ihre Verwendung als Wegmarken innerhalb der Handlung erleichtert. Sie werden im Verlauf des Werkes auf vielfältige Weise harmonisiert und in unterschiedliche Kontexte gestellt, bleiben jedoch in jedem Zusammenhang deutlich vernehmbar. In der Regel erklingen sie im Orchester, sind aber in wenigen besonderen Situationen auch textiert zu hören. So berichtet der Frauenchor von Mariae Empfängnis, indem seine Stimmen in Abständen von Quarte, großer Sekunde und Quarte einsetzen (Teil 1, Takt 281f.):

Einige Takte später wird deutlich gemacht, dass das Heilandsmotiv tatsächlich Jesus Christus symbolisiert, indem der volle Chor im fortissimo auf seine Melodie singt: „Herr Jesus Christ der Heiland, also ist er genannt“ (Teil 1, Takt 327ff.):

Neben den zwei Hauptmotiven treten noch drei weitere „Gefühlswegweiser“ als wichtig hervor, ohne allerdings eine ebenbürtige Bedeutung zu erlangen. Sie bestimmen einzelne Teile des Werkes stark, fehlen dafür in anderen ganz und unterscheiden sich von den Hauptmotiven durch ihre größere Ausdehnung und ihr schärferes rhythmisches Profil. Es empfiehlt sich wohl, hier eher von Themen als von Motiven zu sprechen. Eines ist, wie das Erwartungs- und das Heilandsmotiv, instrumentalen Ursprungs. Es handelt sich um das Thema des fugierten Vorspiels zum dritten Teil, das auch im weiteren Verlauf dieses Großabschnitts immer wieder gliedernd auftaucht. Wetz macht es uns durch die Überschrift des Vorspiels leicht, seine Bedeutung zu erkennen: „Die Wanderung der [heiligen drei] Könige“:

Die beiden anderen wichtigen Themen hört man zuerst gesungen. Die Texte, mit denen sie bei ihrem ersten Erscheinen unterlegt sind, werden folglich dem Hörer auch dann ins Gedächtnis zurückgerufen, wenn die Melodien im Folgenden instrumental erklingen. Das eine steht für Maria:

Der Komponist dachte bei diesem Thema übrigens nicht nur an die Mutter Christi, sondern auch an Maria von Pott, eine Krankenschwester, mit der er zu Beginn der 1920er Jahre eine Liebesbeziehung unterhielt, und der er auch dann noch freundschaftlich verbunden blieb, nachdem sie einen wohlhabenden Landwirt geheiratet hatte. Am zweiten Weihnachtstag 1927 schrieb er ihr: „[…] wenn Du mal mein Weihnachtsoratorium hören wirst, wirst Du Dich freuen, wie schön ich immer Deinen Namen komponiert habe.“ Das Marienthema taucht erstmals gegen Mitte des ersten Teils auf, wenn dem „guten Jäger“ auf der Heide „Maria, die Jungfrau schön“ begegnet (Teil 1, Takt 213ff.) und ist letztmals in der Hirtenmusik des zweiten Teils zu hören (Teil 2, Takt 355ff.).

Das andere wichtige Thema, das seinen Ursprung im Gesang hat, taucht nur im zweiten Teil auf. Es ist zum ersten Mal auf die Worte „Da Christ geboren war, freut sich der Engel Schar“ zu hören (Teil 2, Takt 147ff.), liegt in leicht veränderter Form dem Chor „Wir singen dir, Immanuel“ zugrunde (Teil 2, Takt 426ff.) und begleitet im Orchester den auf die Halleluja-Fuge folgenden Schlusschoral dieses Großabschnitts (Teil 2, Takt 622ff.). Nennen wir es getrost „Christgeburtsthema“:

Es bleibt, einen kurzen Überblick über den Verlauf der drei Teile zu geben. Das fugierte Vorspiel zum ersten Teil und der erste Chor wurden bereits erwähnt. Nachdem der e-Moll-Sturm abgeklungen ist, hört man zart und leise den Bariton in Ces-Dur, später F-Dur, um die Ankunft des „Lichtes der Heiden“ und des „starken Trosts im Leiden“ bitten. In B-Dur erscheint erstmals das Heilandsmotiv. In dieser Tonart setzt nun der Frauenchor mit der Erzählung von Gott als dem „guten Jäger“ ein, der Maria auf der Heide antrifft. In der Verkündigungsszene wird der Engel vom Bariton, Maria vom Sopran dargestellt, wobei Wetz die beiden vom Sopran gesungenen Verse mit dem Erwartungs- und dem Heilandsmotiv beginnen lässt, dergestalt die Ergebenheit Marias in das ihr von Gott zugedachte Geschick symbolisierend. Ein kurzes, leises und dunkel getöntes Orchesterzwischenspiel (d-Moll), das Anklänge an den Eingangschor mit dem Heilandsmotiv verbindet, leitet zum Bericht des Baritons von Marias Traum über (in G-Dur beginnend): „Und unser lieben Frau’n, der träumete ein Traum, / wie unter ihrem Herzen gewachsen wär‘ ein Baum / […] / Und wie der Baum ein Schatten gab, / wohl über alle Land“, „Herr Jesus Christ der Heiland, also ist er genannt“, ergänzt der Chor lautstark in e-Moll. Leise „Kyrieleis“-Rufe führen zu einem Choral (F-Dur), der mit mächtigem Crescendo in einen an den Eingangschor gemahnenden Aufschrei mündet: „Es harret dein die ganze Welt“. Die Steigerung wird instrumental mit einem Nachspiel des Orchesters fortgesetzt, dem das Heilands- und das Erwartungsmotiv als Ostinati zugrunde liegen und das letztlich in B-Dur schließt, der am weitesten vom e-Moll des Anfangs entfernten Tonart.

Ein unruhiges Vorspiel eröffnet den zweiten Teil in d-Moll, bevor der Bariton in C-Dur mit der Erzählung von der Wanderung Marias und Josephs nach Bethlehem anhebt. Den Moment der Geburt Christi verdeutlichen das Marienthema und das Heilandsmotiv. Die Chorsoprane kommentieren die Menschwerdung Gottes, während das Orchester über einem Orgelpunkt auf B mysteriöse Harmoniewechsel, begleitet von eigenartig pochenden Holzbläsern, vollzieht. Es folgt das Quasi-Zitat aus der Kleist-Ouvertüre. In G-Dur verkünden anschließend der Solo-Sopran und ein bassloser Chor die Freude der Engel über Christi Geburt. Im folgenden Unterabschnitt wechseln zwei Melodien einander ab: eine lebhafte, mit der der Bariton die Hirten zusammenruft, und eine ruhige, mit der der Sopran das Kind betrachtet. Letztere wird später vom Chor aufgegriffen, in erstere stimmt schließlich auch der Sopran koloraturenreich ein. Zuerst ist das Geschehen in Moll-Tonarten gehalten (e, h, a), dann setzt sich A-Dur durch. Der gleiche Dur-Moll-Wechsel vollzieht sich auch in der rein instrumentalen Hirtenmusik (g/G), die das Heilandsmotiv und das Marienthema in wiegendem 6/8-Takt variiert. Ein Choral in Es-Dur und ein pittoresker Frauenchor in g-Moll/G-Dur folgen. Ein „freudig bewegter“ Chor, der „Immanuel“, dem „Friedensfürsten“ und „Gnadenquell“ ein Loblied singt (F-Dur) und als Mittelteil ein ruhiges kanonisches Duett der Solostimmen (h-Moll) enthält, die hier eindeutig Maria und Joseph darstellen, bereitet die ebenfalls lebhafte Halleluja-Fuge vor. Diese ist ein Glanzstück des Kontrapunktikers Wetz, dem man die gute Schulung anhand der (wie er sich ausdrückte) „prächtigen alten Knaben“ aus dem 16. bis 18. Jahrhundert anmerkt, die er als Leiter des Erfurter Madrigalchors regelmäßig zur Aufführung brachte. Eine kurze homophone Coda beschließt den zweiten Teil kraftvoll in F-Dur.

Ist der zweite Teil als deutlicher Kontrast zum ersten angelegt, so knüpft der dritte in mancherlei Hinsicht an diesen an. Auch hier steht ein fugiertes Vorspiel am Anfang (b-Moll). Vielleicht hat Wetz, als er die beschwerliche Gottsuche der Heiligen drei Könige auf diese Weise gestaltete, an die eigentliche Bedeutung des Wortes „Ricercar“ (= Such-Stück) gedacht? Die Fuge verläuft in zwei Steigerungswellen, deren zweite in das Heilandsmotiv mündet. Es erklingt hier im dreifachen forte des vollen Orchesters, als deutliche Reminiszenz an die Stelle „Herr Jesus Christ, der Heiland“ im ersten Teil. Danach wird der fugierte Tonsatz aufgegeben und die Erzählung des Baritons beginnt. Sie wird, der Dichtung folgend, in regelmäßigen Abständen von Reflexionen des Chores unterbrochen, deren zweite („O Gott, erleucht vom Himmel fern, die ganze Welt mit diesem Stern“, D-Dur) mit ihrem imitatorischen Satz wie eine besänftigte Variante des Eingangschors von Teil 1 wirkt. Nach der Ankunft der Könige im Stall jubeln Sopran und Bariton: „Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr Erden, / Gott und der Sünder solln Freunde nun werden.“ Ihre Bitte: „Verleih uns die Huld und schenke uns bald, / heiliger Christ, die Kindergestalt“ gibt das Stichwort zu einem Frauenchor, der ausdrücklich als „kindlich“ bezeichnet ist und von verspielten Instrumentalmotiven begleitet wird. Hier vollzieht sich zum letzten Mal der für das Werk so charakteristische Tongeschlechtswechsel von Moll nach Dur (e zu G, dann zu E). Die im Moll zunächst wehmütig anmutende Gesangsmelodik wandelt sich im Dur zu unbeschwerter Heiterkeit. In den Orchesterritornellen fehlt die Imitation einer Kindertröte nicht. Dieses Geschehen überführt Wetz bruchlos in einen C-Dur-Choral, welcher das Finale des ganzen Werkes einleitet, eine ausgedehnte Doppelfuge über die Worte: „Alles, was aus Gott geboren, / ist zum Siegen auserkoren. / Halleluja.“ Das erste Thema ist in breiten Notenwerten gehalten, das zweite („Halleluja“) erscheint zuerst in den Solostimmen und hat figurativen Charakter. Obwohl Wetz an kontrapunktischen Künsten nicht spart (Engführungen), wirkt diese Fuge durch mehrere homophone Zwischenspiele lockerer gefügt und gelöster als diejenige des zweiten Teils. An äußerer Prachtentfaltung übertrifft sie sie deutlich. „Anwachsend zur höchsten Kraft“ schließt das Weihnachtsoratorium mit dem Heilandsmotiv in C-Dur. Das Ende des dritten Teils (C) liegt also eine Quinte über dem des zweiten (F) und zwei Quinten über dem des ersten (B). Das tonale Emporstreben der Musik wird zum Symbol für das Emporstreben des Göttlichen in der Welt.

Aufnahmen

Bislang kann man sich nur anhand einer einzigen CD-Aufnahme einen klingenden Eindruck des Weihnachtsoratoriums von Richard Wetz verschaffen. Es handelt sich um den Mitschnitt eines Konzerts aus der Erfurter Thomaskirche vom 27. November 2010. Marietta Zumbült (Sopran) und Máté Sólyom-Nagy (Bariton) sangen gemeinsam mit dem Dombergchor Erfurt (Einstudierung: Silvius von Kessel) und dem Philharmonischen Chor Erfurt (Einstudierung: Andreas Ketelhut). Es spielte das Thüringische Kammerorchester Weimar unter der Leitung von George Alexander Albrecht. Die Aufnahme ist bei cpo erschienen:

cpo, 777 638-2; EAN: 7 61203 76382

Der Verfasser dieses Artikels war damals bei dem Konzert anwesend. In gleicher Besetzung wurde das Werk 2012 noch einmal in Weimar (Weimarhalle) zu Gehör gebracht, wobei die Ausführenden ihre Leistung gegenüber 2010 steigern konnten.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2021]

Meisterliche Quartette

Das aus Emeline Pierre, Esther Gutiérrez Redondo, Sandra Garcia Hwung und Marion Platero bestehende Constanze Quartet spielt erstmalig alle drei Streichquartette des deutschen Komponisten Felix Draeseke ein, der zu den spannendsten Komponisten-Entdeckungen seiner Generation zählt. Auf der vorliegenden ersten CD sind zu hören das Quartett Nr. 1 op. 27 in c-Moll und das Quartett Nr. 2 op. 35 in e-Moll.

In Fachkreisen weiß man mittlerweile um Felix Draeseke als einen der bedeutendsten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; im Konzert hört man seine Musik dennoch nur in glücklichen Ausnahmefällen. Zeitlebens sah sich Draeseke im Zeichen des Fortschritts und doch wurde er in seinen späten Jahren als Reaktionär betrachtet, insbesondere nach seinem Mahnruf „Die Konfusion in der Musik“ gegen die Salome von Strauss. Dort schrieb er unter anderem: „Verständnislos wird man angeblickt, wenn wir die jugendlichen Hörer aufmerksam machen auf eine edel gestaltete Melodik, ein fein gefügtes Harmoniegewebe, interessant gegliederte Rhythmik, glatte und abgerundete Form, schön vermittelte  und überraschende Wiedereinführung von Themen. All diese ehemaligen Schönheitsmerkmale erscheinen ihnen wie böhmische Dörfer, die sie nie nennen gehört, und nur wenn von Instrumentation die Rede ist, horchen sie auf, weil nach ihrer Meinung dies neu hinzugetretene Element der Farbe die drei alten Hauptelemente der Musik weit überwiegt, und gut instrumentieren mit gut komponieren für gleichbedeutend angesehen wird. Darüber ist die Melodik fast versiegt, die Harmonik nach einer übertriebenen Verfeinerung durch immerwährende Steigerungen schließlich bei der absoluten Unmusik angelangt, während, wie dies leider in Deutschland von jeher der Fall gewesen, die Rhythmik zu wenig gepflegt, ja geradezu vernachlässigt erscheint.“ Dabei trifft er durchaus einen Kern der Problematik, mit der Musik des 20. Jahrhunderts bis heute zu kämpfen hat, und fand in seinen Thesen auch namhafte Unterstützer; nicht zuletzt Strauss selbst kehrte mit dem Rosenkavalier in die Sphäre der drei von Draeseke angeführten Grundpfeiler zurück: Melodie, Harmonie, Rhythmik. Und innerhalb dieser Pfeiler darf das Schaffen Draesekes fortwährend als modern bezeichnet werden. Er gilt vor allem als begnadeter Melodiker, der durch geschickte Verschmelzung verschiedener Motive große Tragweite in seinen Themen erreichte. In kontrapunktischer Meisterschaft führte er die Themen durch die einzelnen Stimmen durch und formal weiter. Dabei sticht eine erfrischende Rhythmik hervor, besonders für einen deutschen Komponisten (wie er es ja selbst im angeführten Zitat erwähnte). Sein harmonisches Geschick lässt sich auf seine frühe Begeisterung von Liszt und Wagner begründen, deren Ausdruckswelten Draeseke aber für sich weiterführte. Eine erschöpfende Darstellung von Leben, Stil und Werk kann auf zehn Seiten (!) im Begleittext der vorliegenden CD von Norbert Florian Schuck bewundert werden.

Die Streichquartett Draesekes überraschen durch ihre Subtilität, die gänzlich auf äußeren Effekt verzichtet, ebenso wie auf Herbheiten und triumphale Gesten. Erst wer die weitgespannte Melodik erfasst, wird den vollen Charme dieser Meisterwerke entdecken. In schier endlosen Themen bündelt Deaeseke die Kontraste und gibt Ausgangspunkt für große Entfaltung. Die Formen der Sätze muten klassisch an und auch die Ausdehnung der Quartette übersteigt nicht die von Quartetten aus der Wiener Klassik; wohl aber intensiviert der Komponist die harmonische Spannkraft und die kontrastierenden Elemente, was den Quartetten eine ungemein dichte Textur verleiht. In minutiös detailliertem Kontrapunkt herrscht eine konstante Vierstimmigkeit vor, welche die Dichte noch unterstreicht.

Durch konzentriertes, fokussiertes und inniges Spiel besticht das Constanze Quartet auf dieser ihrer Debut-CD. Die Musikerinnen zeigen sich innig ergriffen, ohne dies in äußerlichen Eskapaden darzustellen: so erhalten wir das Gefühl der Echtheit jeder Emotion, allgemein eine Purität in jeder Note. Es entsteht ein Glimmern und Funkeln von innen heraus, das die gesamte Musik wie eine Aura umhüllt. Das Constanze Quartet folgt den Melodien und spüren die subtilen Überraschungen auf, um sie ebenso plastisch wie charmant dem Hörer zu übermitteln. Dabei weben sie ein feines und transparentes kontrapunktisches Geflecht, in dem stets die Richtung klar und nachvollziehbar bleibt.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

Ausdruck puren Glücks

cpo 555 237-2; EAN: 7 61203 52372 6

Die Vorliegende CD stellt den zweiten Teil der Gesamtaufnahme aller Alfvén-Symphonien durch das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Łukasz Borowicz dar. Neben der 3. Symphonie op. 23 in E-Dur hören wir Bergakungen Orkestersvit (Suite aus: Der Bergkönig) op. 37 und die Uppsala Rhapsodie op. 34.

Hugo Alfvén schrieb die erste schwedische Symphonie, die sich in internationalen Konzertsälen etablieren konnte – noch vor seinen Kollegen Wilhelm Stenhammar und Wilhelm Peterson-Berger. Gerne angemerkt wird Alfvéns Meisterschaft der Instrumentation oder sein spätromantischer Stil unter Einbezug schwedischer Folklore. Was über all das vergessen wird, ist die Lebendigkeit und Leichtigkeit, die seine Musik verströmt. Allein durch die Inspiriertheit seiner Einfälle und die dadurch entstehende „Magie“ trägt der Komponist den Hörer selbst durch die längsten Formen. Der Hörer versteht sogleich die musikalischen Strukturen und kann dem Entstehen bewusst beiwohnen, eine gut dosierte Priese Effekthascherei lässt ihn dabei immer wieder aufhorchen und hält die Konzentration oben. Bildlichkeit und Lyrik in reinster Form durchziehen die Musik und halten sie auf der Waage zwischen konkret und abstrakt.

Die dritte Symphonie op. 23 soll kein architektonisches Meisterwerk darstellen, nicht die symphonische Form erneuern oder durch besonderen innermusikalischen Zusammenhalt beeindrucken – sie soll ausschließlich dem Glück Ausdruck geben, das Alfvén zur Zeit ihrer Skizzierung empfand, was ihr auch die sonnige Tonart E-Dur verlieh. Selbstverständlich geht die 40-minütige Symphonie weit über den Inhalt eines reinen Stimmungsbilds hinaus. Mit schlichten Mitteln spannt die Musik große Bögen über die Sätze und verbindet sie teils durch ähnliche Thematik. Zudem bezieht sie Elemente schwedischer Folklore mit ein, die im Rahmen dieses Werks nicht mehr der reinen Volksmusik zugeordnet werden können, andererseits aber auch nicht wie Kunstmusik wirken – was ihnen einen ganz eigenen Charme verleiht. Die Uppsala Rhapsodie op. 24 beinhaltet – ähnlich wie Brahms‘ Akademische Festouvertüre – verschiedene Studenten- und Trinklieder, Alfvén komponierte sie zur Gedächtnisfeier der Universität von Uppsala 1907 zum 200. Geburtstag des Botanikers Carl von Linné. In der Suite aus dem Ballett Der Bergkönig erwachen all die mythischen Figuren der nordischen Sagenwelt musikalisch zum Leben, die Trolle hüpfen und tanzen förmlich vorm inneren Auge. Die Suite gehört zu den feinsten und fragilsten Werken des Romantikers.

Die Bergkönig-Suite ist es auch, die das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin besonders beflügelt, der Musik so viel Farbe und Ausdruck wie möglich zu entlocken. Allgemein präsentiert das Orchester unter Führung von Łukasz Borowicz enorme Präzision und ist sowohl in den einzelnen Instrumentengruppen als auch zwischen ihnen minutiös abgestimmt. Mit dieser Genauigkeit meißelt Borowicz die einzelnen Linien aus der dichten Orchestration Alfvéns heraus und verleiht ihnen Kontur. So gelingt es dem Dirigenten, dass die Präzision nicht zum Selbstzweck degradiert wird, sondern die Massivität der Orchestration auflockert und aus ihr luzide Klänge hervorbringt. Bei der Uppsala-Rhapsodie verlässt sich das Orchester noch zu sehr allein auf die Wirkung der Musik, die Symphonie spornt die Musiker mehr an, als Gemeinschaft in ihr den Ausdruck des Glücks zu erforschen.

Schade bloß, dass die Aufnahmetechnik nicht mit der Interaktion der Musiker mithält, gerade die Tiefen verwässern und trüben sich ein durch unpräzise Klangdifferenzierung. Hier wurde wohl zu viel Aufmerksamkeit auf das Holz und die Geigen gelegt.

[Oliver Fraenzke, Mai 2019]

Fingerübung und Enzyklopädie

Cpo 555 169-2; EAN: 7 61203 51692

Vorliegende Doppel-CD beinhaltet alle 120 Präludien aus Carl Czernys Opus 300, der Kunst des Präludierens, gespielt von Kolja Lessing.

Klavierschüler kennen und fürchten Carl Czerny für seine schier nie enden wollende Vielzahl an stumpfen Fingerübungen, und dieses Bild hat sich bis heute in unsere Köpfe eingebrannt. Dahinter zurück bleiben teils bedeutende Werke aus seiner Feder wie die Klavierkonzerte oder zahlreichen Symphonien. Franz Liszt und Sigismund Thalberg wählten nicht umsonst Czerny als Lehrer: nicht die Virtuosität, sondern die dahinterstehende Kunst überzeugten sie.

Zu Czernys Lehrern wiederum zählten Ludwig van Beethoven, Muzio Clementi, Antonio Salieri und Johann Nepomuk Hummel, was auch die Vielfältigkeit seines Stils begründet. Czerny vermochte es, chamäleonartig zwischen den Klangwelten des Barocks, der Wiener Klassik und der beginnenden Romantik (bis hin zu Mendelssohn und Chopin) zu changieren, sie teils gar miteinander zu verschmelzen. In seinen größeren Werken erinnert er oftmals an die Musik von Hummel, die zwar vor virtuosen Höchstleistungen strotzen, welche allerdings nur selten dem reinen Selbstzweck dienen.

Als „musikalische Enzyklopädie in aphoristischer Konzentration“ beschreibt Kolja Lessing die Kunst des Präludierens op. 300 und vergleicht sie mit den etwa zur gleichen Zeit aufkommenden Wörterbüchern der Deutschen Sprache, vor allem demjenigen der Vorreiter Jacob und Wilhelm Grimm. Die Kunst des Präludierens aus der Feder Czernys umfasst insgesamt 120 Präludien, von denen viele nur wenige Sekunden dauern und manche sogar lediglich eine Modulation umspielen. Andere jedoch erstrecken sich über bis zu fünf Minuten (öfter jedoch zwei bis vier) und beinhalten ganze Kosmen en miniature, komprimierte Opernszenen inklusive Ouvertüre oder kurze Sonat(in?)ensätze. Czerny versetzt sich in die Rolle des musikhistorischen Beobachters und greift für seine Präludien gewisse Elemente vergangener Epochen heraus, barocke Sätze und Techniken, klassische Formen, frühromantische Verspieltheit und beginnende Erweiterungen der Tonalität. Oftmals winken uns Komponisten wie Bach, Mozart, Mendelssohn, Chopin und Paganini, teils wörtlich zitiert; manchmal ahnt man schon die späteren Techniken von Liszt vor.

Es gestaltet sich als schwierig, etwas Allgemeingültiges über dieses Sammelwerk zu sagen, da die Präludien nicht einheitlich zusammengehören, sondern die Vielfalt als Ästhetik sehen. Viele von ihnen dürften als reine Fingerübungen anzusehen sein, andere hingegen zeugen von inspiriertem Können. Ob nun die Kunst des Präludierens als Gesamtheit aufgenommen sich lohnt? Dies ist kaum zu beantworten: Eine kleine Auswahl der aussagekräftigen Präludien würde deren Präsenz besser unterstreichen und sie nicht in der Masse untergehen lassen; und doch offenbart uns der Blick auf die epochenübergreifende Stilvielfalt spannende Gegenüberstellungen, Kontraste wie Gemeinsamkeiten. Auch der Pianist Kolja Lessing schwimmt etwas in der Masse, kann die individuellen Merkmale der einzelnen Präludien nicht voll zur Geltung bringen. In den reinen Fingerübungen scheint er gar teils zu stolpern, während er den romantischen Präludien wenig Gefühl zu entlocken weiß. Lessing konzentriert sich auf die Wiedererkennbarkeit von Zitaten und dort blüht er auch auf, so beispielsweise im letzten Präludium mit der Quelle aus Bachs cis-Moll-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier Band I; auch die opernhaften Figuren lässt er aus den instrumentalen Tönen auferstehen und holt Bellinis Flair aufs Klavier.

[Oliver Fraenzke, Mai 2019]

Fängt gerade erst an…

Christoph Graupner (1683-1760): Das Leiden Jesu, Passion Cantatas III

Solistenensemble Ex Tempore, Barockorchester Mannheimer Hofkapelle, Florian Heyerick

Cpo, CD 555 230 2; EAN 7 61203 52302 3

Wer war Christoph Graupner? Der Komponist am Darmstädter Hof, der etwa 2.000 Werke schrieb, Opern, weltliche Kantaten, 113 Sinfonien, 44 Solokonzerte usw., usw… Seine Neuentdeckung begann zu Beginn des 20. Jahrhunderts und ist noch längst nicht abgeschlossen. Verdienstvoll, dass seine Musik auf mehreren CDs vorliegt, cpo ist wieder federführend, auch diesmal. Die Musik fesselt von ersten bis zum letzten Ton, sowohl von ihrer Melodik als vor allem durch das klangliche und instrumentale Spektrum. Darmstadt war damals eines der wichtigsten und renommiertesten Zentren für die zeitgenössische Musik. Bekannte und berühmte Solistinnen und Solisten kamen an den Hof, Graupner fand also für seine musikalischen Utopien auch die entsprechenden Musiker, auch wenn er gerne nach Leipzig als Nachfolger von Johann Kuhnau gekommen wäre. Sein Dienstherr erlaubte das nicht, was für Darmstadt eine ganz besondere Blüte bedeutete.

Die Aufführung dieser drei Passionen ist vorbildlich. Nicht nur, was die Solistinnen und Solisten, das Orchester und den Chor angeht, auch Florian Heyerick, der Leiter – vielbeschäftigt und in mannigfachen Funktionen unterwegs – überzeugt durch die Bank in allen Ausdrucksbereichen. Das Hören dieser angeblich so unzeitgemäßen Musik ist gerade im durch Bach’sche Passionen überreich eingeengten Repertoire eine hervorragende Ergänzung und Entdeckung.

Vielleicht gelingt es sogar, einiges aus Graupners Opernschaffen wieder einmal auf die Bühne zu bringen und auch da die Programme zu erweitern?

Zwar verfügte Christoph Graupner, dass alle seine Kompositionen nach seinem Tod vernichtet werden sollten, allein seine Erben setzten in einem jahrelangen Rechtsstreit durch, dass heute fast alle seine Werke in der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt erhalten sind. Wir dürfen also gespannt sein auf weitere großartige Entdeckungen.

[Ulrich Hermann, April 2019]

Der andere Haydn

Cpo, 555 042-2; EAN: 7 61203 50422 0

Michael Haydn: Symphonien 13 & 20, Notturno Nr. 1; Deutsche Kammerakademie Neuss, Lavard Skou Larsen (Leitung)

Mit vorliegender Aufnahme der Symphonien 13 und 20 sowie dem Notturno Nr. 1 findet die Gesamtaufnahme aller Symphonien Michael Haydns ihren Abschluss. Es spielt die Deutsche Kammerakademie Neuss unter Lavard Skou Larsen.

Verwandte Komponisten haben es oft schwer: In den allermeisten Fällen sticht nur ein Familienmitglied an Bekanntheit hervor, während die anderen üblicherweise nicht mehr als eine Randbemerkung erhalten. Man denke alleine an Leopold und Franz Xaver Mozart, die Bach-Söhne, Fanny Mendelssohn, Siegfried Wagner und viele andere. Nicht umsonst änderte der jüngste Sohn des großen norwegischen Symphonikers Harald Sæverud, Ketil, seinen Nachnamen zu Hvoslef, als er zu komponieren begann: Denn von zwei Größen eines Namens bleibt beinahe immer eine im Schatten.

So ergeht es heute auch Johann Michael Haydn, ein Bruder Joseph Haydns. Zu Lebzeiten war er ausgesprochen gefragt, erhielt zahllose Kompositionsaufträge und Stellenangebote, unter anderem auch bei Fürst Esterházy – was Michael Haydn ablehnte. Nach seinem Tod geriet der Komponist allmählich in Vergessenheit, während sein Bruder nach wie vor zu den „großen 3“ der Wiener Klassik zählt. Michael Haydn verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Salzburg, wo er gerade für den jungen Wolfgang Amadeus Mozart als Leitbild galt, der sich bei mehreren Jugendkompositionen deutlich an Haydn orientierte.

Michael Haydn blieb lange Zeit der führende Komponist in Salzburg, sein Stil erfreute sich wegen der nachvollziehbaren Struktur großer Beliebtheit, und wegen der Eingängigkeit des thematischen Materials sowie der feinen Orchestrierung. Komplexere Elemente setzte Haydn mit Bedacht, um Spannung zu erzeugen, ohne dabei den Hörer zu überfordern. Über 800 Werke sind uns heute überliefert, darunter 44 Symphonien (41 davon nummeriert) und 3 Notturni. Die Gattung des Notturnos diente abendlicher Unterhaltung, es handelt sich um Orchesterwerke ohne regulierte Satzabfolge oder Instrumentation.

1991 begann das Slowakische Kammerorchester unter Bohdan Warchal damit, alle Symphonien Michael Haydns einzuspielen. Die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein übernahm das Projekt 1995 mit Johannes Goritzki und Frank Beermann als Dirigenten. Lavard Skou Larsen bringt nun die Gesamteinspielung zu einem glänzenden Ende, mit den Symphonien 13 und 20 sowie dem 1. Notturno.

Ich bedauere nach wie vor, dass Lavard Skou Larsen im vergangenen Jahr die Deutsche Kammerakademie Neuss verließ, denn er brachte das Orchester auf ein bislang unerreichtes Niveau, das genaueste Kenntnis über den Notentext und intensive Arbeit an den Stücken erkennen lässt. Entsprechend ist die letzte CD des Michael-Haydn-Projekts zugleich dessen Höhepunkt. Die Darbietung besticht dadurch, dass sie unprätentiös und leichtfüßig erklingt. Skou Larsen gibt nichts in die Musik hinein, sondern holt etwas aus ihr heraus, stellt sich in den Dienst der Töne. Er überfrachtet die Symphonien nicht durch übermäßige Kontraste, sondern kostet die vorhandene Spannung aus. Lediglich die kurzen Noten könnten etwas voluminöser und sonorer sein, sie wirken teils abgehackt und spitz, verlieren dadurch ihr Nachschwingen im Ohr. Die Freude an der Musik hört man der Deutschen Kammerakademie Neuss am Rhein an, was dem resultierenden Klang Freiheit und Natürlichkeit verleiht.

[Oliver Fraenzke, September 2018]

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Die erste schwedischsprachige Symphonie

cpo 555 043-2; EAN: 7 61203 50432 9

Die erste CD der Gesamteinspielung aller fünf Symphonien des Schweden Hugo Alfvén von Łukasz Borowicz und dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin für cpo umfasst die Erste Symphonie op. 7 in f-Moll, Midsommarvaka op. 19 und Drapa op. 27.

Einer der wenigen international einigermaßen bekannten Komponisten aus Schweden ist Hugo Alfvén, der vor allem durch seine Erste Schwedische Rhapsodie mit dem Titel Midsommarvaka op. 19 für Furore sorgte. Im Laufe seines achtundachtzigjährigen Lebens schuf Alfvén über 300 Werke, zumeist für große Besetzungen. Nach einer kleinen Anzahl von Klavierminiaturen und Kammermusikwerken trumpfte der Komponist 1896 (gerade einmal 24jährig) unerwartet mit einem ersten Orchesterwerk auf und wagte sich damit sogleich an die im Gefolge Beethoven nach wie vor ehrfurchtsvoll behandelte Großform der Symphonie. Ein Jahr später wurde diese Erste unter Conrad Nordqvist uraufgeführt, erschien allerdings erst 1951 nach zwei Revisionen im Druck. Die Symphonie gibt ein Bild auf einen weltoffenen, selbstbewussten und intuitiven Komponisten frei, der bereits über beachtliche technische Mittel verfügt, welche er jedoch nie dem innermusikalischen Gehalt vorzieht. Bereits diese frühe Symphonie stellt persönliche Aussage und Tonsprache unter Beweis, so dass er sie selbst später als „erste schwedischsprachige Symphonie“ bezeichnete, da sie im Gegensatz zu früheren Gattungsbeiträgen des Landes Anklänge an Volksmusik nicht verleugnet. Wichtiger Einfluss hierzu war zweifelsohne Svendsen, dessen Norwegische Rhapsodien und andere Werke folklorenaher Art seinerzeit populär waren. Interessanterweise kommt auch ein ganz unerwarteter Einfluss aus Böhmen zum Vorschein: Der Scherzo-Satz erinnert merklich an Dvořák; und das charakteristische und namensgebende Harfensolo im etwa zehn Jahre später entstandenen Drapa lässt erstaunliche Parallelen zu Smetanas Má vlast erkennen.

Weichheit und Flexibilität der Linie charakterisieren die Darbietung des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Łukasz Borowicz. Der Klang ist voll und dicht, wobei eine stetige expressive Untergründigkeit mitschwingt. Phänomenal ist die sukzessive Zuspitzung und Wandlung ins Groteske der schwedischen Themen in Midsommarvaka. Lediglich der Siciliano-Rhythmus im ansonsten so schwungvollen Scherzo aus der Symphonie wurde ins Unpräzise aufgeweicht (eine der heikelsten Herausforderungen überhaupt für ein Symphonieorchester, womit sogar ein Solo-Musiker zu kämpfen hat). Abgesehen davon ist die Symphonie frisch und lebendig dargeboten und kommt in all ihrem schillernden Farbenreichtum zur Geltung, so dass wir gespannt sein dürfen auf die Fortsetzung dieser Reihe.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

Entdeckung pur

Johann Peter Kellner: Geistliche Kantaten

 Anna Kellnhofer, Sopran – Christoph Dittmar, Altus – Mirko Ludwig, Tenor  – Ralf Grobe, Bass – Cantus Thuringia – Capella Thuringia: Bernhard Klapproth, Orgel und Leitung

 CPO, 555 159-2; EAN: 7 61203 51592 9

 

Wieder einmal eine wunderbare Entdeckung beim Label CPO: Diesmal geht es um die Kirchenkantaten von Johann Peter Kellner (1705-72). Vermutlich war er ein Schüler von Johann Sebastian Bach, jedenfalls hat er für die Überlieferung einiger Bach-Werke gesorgt.

Seine eigene Musik ist sehr ansprechend, die Tonsprache durchaus vertraut aber nie epigonal. Seine Kantaten sind kurz, maximal knapp 14 Minuten lang, meist mit Eingangschor, einem Rezitativ, einer Arie für Solisten oder Duett und einem Abschluss-Choral. Einige Stücke sind für diese Produktion tatsächlich erstmalig in neuerer Zeit aufgeführt, auch für die anderen Kantaten besteht noch Bedarf an Aufführungsmöglichkeiten und viele von Kellners Kompositionen harren noch heute der Übertragung in moderne Notation. Halbwegs ausreichend herausgegeben oder zugänglich sind nur einige seiner Orgelstücke.

Die Textvorlagen stammen von den verschiedensten Zeitgenossen, die Vertonungen des Komponisten sind sehr farbig, ziehen Instrumente aller Couleur hinzu und lassen trotz der Kürze der einzelnen Kantaten nie Routine oder Monotonie aufkommen. Im Gegenteil, die Aufnahmen sind mit spürbarem Vergnügen und dem Enthusiasmus der Wiederentdeckung eines vergessenen Meisters der Nach-Bach-Zeit eingespielt und realisiert. Das umfassende Booklet gibt erschöpfend Auskunft über Johann Peter Kellner, die Kompositionen und die Zeit. Auch wenn der Klang des Chores oder der Solisten zusammen mit Orgel und den anderen Instrumenten – drunter auch Pauken und Trompeten  – aufgenommen wird, sorgt die Abmischung für klare Durchhörbarkeit und Balance. Der Chor Cantus Thuringia verdient besondere Erwähnung: dass man den Text bei einem Chor so klar versteht, ist äußerst selten und könnte ein Maßstab für weitere Produktionen sein oder werden. Jedenfalls ist diese CD mit Musik von Johann Peter Kellner (oder seinem Sohn Johann Christoph, die Zuordnung ist teilweise sehr schwierig und noch nicht abschließend recherchiert) eine ausgesprochen lohnende Neuerscheinung und das Anhören ein berührendes Erlebnis.

[Ulrich Hermann Dezember 2017]

Opernhafte Orchestermusik

cpo 777 962-2; EAN: 7 61203 79622 9

Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien spielt unter Leitung seines Chefdirigenten Cornelius Meister Orchesterwerke Alexander von Zemlinskys. Zu hören sind die Fantasie „Die Seejungfrau“ nach einem Märchen von Hans Christian Andersen sowie Vor- und Zwischenspiel aus der Oper „Es war einmal“.

Irgendwo zwischen Mahler und Schönberg findet sich ein Komponist, der im Schatten der Genannten blieb, aber gerade in den letzten Jahren doch vermehrt Aufmerksamkeit erhielt: Alexander von Zemlinsky. Mit Mahler verbanden den Tonsetzer eine langjährige Freundschaft, gegenseitige Werkaufführungen und tonsprachliche Gemeinsamkeiten; Schönberg war Zemlinskys Schüler, der auf seinem Weg Richtung Befreiung der Tonalität eine Zeit lang seinen Lehrer sogar mitriss (vergleiche das zweite Streichquartett Zemlinskys mit dem Quartett op. 7 Schönbergs – und, wenngleich räumlich entfernt, mit dem zweiten Quartett op. 31 von Josef Suk), bis es zum Bruch kam, da Zemlinsky sich weigerte, dem Schritt in die Dodekaphonie zu folgen.

Auf vorliegender CD sind zwei eher frühe Werke zu hören, die Seejungfrau von 1902/3 und zwei Orchesterstücke aus der Oper „Es war einmal“ von 1897/8, beide noch deutlich unter dem Einfluss Gustav Mahlers stehend. Die Seejungfrau hat ausschweifende Länge, überdehnt die Form geradezu, während Vor- und Zwischenspiel aus „Es war einmal“ vor allem Interludiumscharakter haben. Zemlinskys Musik besitzt etwas Schwärmerisches und Verträumtes – noch vor Komposition des Traumgörge -, damit aber auch etwas Oberflächliches und Klischeehaftes, der vernehmbare „Weltschmerz“ wirkt artifiziell und geradezu genießerisch ausgekostet. Das Opernhafte ist charakteristisch für Zemlinsky, auch in seinen rein orchestralen Werken, was ihn beim Versuch einer Kategorisierung beinahe als eine Art Opern-Mahler erscheinen lässt.

Das ORF Radio-Symphonieorchester unter Cornelius Meister geht sensibel auf die träumerische Klangwelt Zemlinskys ein, bleibt dicht und doch durchhörbar, nicht zu direkt, sondern schattenhaft verschleiert. Die Melodien erklingen sanglich und erspürt, die Höhepunkte werden vorbereitet, es wird flüssig in die retardierenden Momente übergeleitet. Diese Musik eine echte seelische Tiefe offenbaren zu lassen, ist eine kaum bewältigende Aufgabe und würde erfordern, eine Vielzahl an musikalischen Gefälligkeiten ungenutzt verstreichen zu lassen, den Fokus auf korrelierende Form und Nuancen der Harmonisierung zu verlagern, und so ist das formale Bewusstsein auch hier eher lokal begrenzt. Dafür besticht allerdings das ewig Fließende und den Moment Genießende, die Musik dankt das Zuhören mit schwelgenden Höhenflügen zwischen Hochstimmung und Melancholie.

[Oliver Fraenzke, August 2017]

 

S(w)ingende Klarinette

cpo 555 154-2; EAN: 7 61203 51542 4

Drei zeitgenössische Klarinettenkonzerte auf im Grenzbereich zwischen Jazz und Klassik sind auf „Symphonic Jazz with Andy Miles“ zu hören. Die Musik stammt von Jorge Calandrelli, Daniel Freiberg und Jeff Beal, es spielt das WDR Funkhausorchester Köln, bei den ersten beiden Kompositionen geleitet von Wayne Marshall und bei der dritten von Rasmus Baumann.

Der Jazz übte gleich nach seinem Aufkommen eine besondere Faszination auf klassische Komponisten aus – und umgekehrt. Der Komponist übte sich in den swingenden Rhythmen und kühnen Harmonien, der Jazzer in der Konstruktion klassischer Formen. So entstand, es kann nicht verwundern, eine unüberschaubare Vielzahl an Werken zwischen den Genres, nicht selten unter Einbezug lateinamerikanischer Musik, die dem Jazz in mancherlei Hinsicht nahe steht. Milhaud, Gershwin, Antheil, Strawinsky, Schulhoff, Tansman, Zimmermann, Liebermann, Mingus, Honegger, Bernstein, Copland, Ravel, Ellington, Nussa bis hin zu Keith Jarrett, Terje Rypdal, Chick Corea, Michael Daugherty und den ClazzBrothers: die Liste lässt sich sowohl von der Klassik- als auch von der Jazzseite aus beinahe beliebig erweitern. Die stilistische Bandbreite hierbei ist enorm, es entstanden ganz neue Kombinationen und individuelle Stilmischungen, man denke alleine an die avantgardistisch, beinahe ironisch anmutende Erstfassung von Antheils „A Jazz Symphony“, die Gershwin und Milhaud gnadenlos auf die Schippe nimmt, oder an Ernán-López Nussas stilvolle kubanische Bearbeitungen klassischer Werke. Ähnliche Umarbeitungen gingen jüngst online viral durch den Pianisten Joachim Horsley.

Drei zeitgenössische Werke aus dieser ‚Grauzone’ zwischen Klassik und Jazz befinden sich auf vorliegender Platte, jeweils in Form eines Klarinettenkonzerts. Jorge Calandrelli (geb. 1939) und Daniel Freiberg (geb. 1957) geben jeweils explizit einen Jazzklarinettisten als Solisten an, Jeff Beal (geb. 1963) verlangt keine spezifische Klarinette. Calandrelli präsentiert ein weites Spektrum der Interferenz zwischen den Genres, wobei er eine Vielzahl mitreißender Momente heraufbeschwört, die Gesamtform dadurch allerdings eher ins Episodische zerfasert. ’Latin American Chronicles’ heißt das Konzert von Freiberg, das nicht nur durch groovende lateinamerikanische Rhythmen besticht, sondern auch durch eine geschickte Integration der harmonischen und melodischen Klangwelten Lateinamerikas in die symphonische Form. Formal am interessantesten gestaltet sich das Konzert von Beal, dessen erster Satz spezifsch dadurch für sich einnimmt, dass er Jazzelemente sauber in das klassische Formmodell einarbeitet und eine geradezu spielerische Leichtigkeit der Formbewältigung präsentiert. Der dritte Satz ist eigentlich nur der zweite Teil des zweiten Satzes und er lässt verdutzen: Haben die ersten zwei Sätze (’Riches to Rags’ und ’Famines to Feasts, part one’) symphonische Längen, so bricht das Finale (’Famines to Feasts, part two’) nach lediglich anderthalb Minuten ab und lässt den Hörer fassungslos zurück – welch ein schelmischer Zug, der bei genauer Betrachtung sogar noch musikalischen Sinn ergibt!

Dass Beals Konzert in seiner formalen Qualität so hervorsticht, kann zu einem gewissen Teil aber auch den Musikern zu verdanken sein: Rasmus Baumann – welcher nur dieses Konzert dirigiert – erfasst die Musik wesentlich organischer und mehrdimensionaler als Wayne Marshall, dessen Dirigat flach und kontrastlos erscheint, es gibt bei ihm kaum sinnerfüllte Gestaltung der Phrasen und allgemein der gesamtmusikalischen Entwicklung.

Als Solist glänzt Andy Miles mit atemberaubender Souveränität und feinem Gespür für jeden einzelnen Moment. Die technische Spitzenleistung lässt er dabei durch seinen spielerischen Frohsinn, durch pure Freude an der Musik vergessen.

[Oliver Fraenzke, August 2017]

Harfen und Geigen soll’n auch nicht schweigen…

Johann Wilhelm Hertel (1727-1789): Drei Harfenkonzerte in D, G und F; Symphonie in B-Dur
Silke Aichhorn, Harfe; Kurpfälzisches Kammerorchester; Kevin Griffiths, Dirigent

CPO 777 841 – 2; EAN; 7 61203 78412 7

Fakt ist, dass Johann Wilhelm Hertel bisher fast nur SpezialistInnen bekannt war, wo er doch in Schwerin im dortigen Musikleben des 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle spielte. Aber dank CPO – dem Label, das immer wieder für Überraschungen und vor allem Neuentdeckungen gut ist – sollte sich das mit dieser CD mit Hertels Harfenkonzerten ändern.  Die drei Konzerte und auch seine Symphonie in B-Dur lassen einen sehr gewandten Komponisten erkennen, der den Tonfall der damals verbreiteten „Empfindsamkeit“ zu bemerkenswerter Blüte brachte. Denn seine Musik ist nicht nur schön und überzeugend, sie schließt auch die Lücke – wenigstens teilweise – zwischen Bach’scher kunstvollster Polyphonie und dem Idiom der Wiener Klassik. Und daran haben die hervorragende Harfenistin Silke Aichhorn und das Kurpfälzische Kammerorchester unter seinem Dirigenten Kevin Griffiths entscheidenden Anteil.

Das ist nicht nur gut musiziert, sondern lässt diese Musik in all ihrem melodischen, harmonischen und klanglichen Reichtum aufblühen. Da stimmen Phrasierung, Zusammenspiel und Begleitung mit dem überzeugenden Spiel der Solistin überein, das ist ein echtes „Concertare“, eine wunderbare Neuentdeckung einer Musik, die einen vom ersten bis zum letzten Ton mitnimmt und mitschwingen lässt.

Natürlich ist die Harfe ein Instrument – da dem Klavier sehr ähnlich –, das reiche Möglichkeiten der Melodik und der Harmonik zusammen mit der Klanglichkeit, wie sie eben ein Instrument hat, das ohne nötige „Mechanik“ oder Klappen oder Bögen direkt mit den Fingern und eben auch dem dazu gehörigen „Fingerspitzen-Gefühl“ gespielt wird, in die musikalische Waagschale legen kann. Wenn dazu ein Komponist, wie Johann Wilhelm Hertel einer war, sein ganzes Können diesen Kompositionen mitgibt, dann ist es kein Wunder, dass diese CD eine echte Bereicherung der Musik des 18. Jahrhunderts offenbart. Es gab eben auch vor Mozart, Haydn und Beethoven eine Art klassischer Musik, die – dankenswerter Weise – heute wieder stärker in den Blickpunkt rückt.

Ich kann gar nicht sagen, welches der drei Konzerte mir am besten gefällt, alle drei – genau so wie auch die Symphonie – sind für das Ohr ein musikalischer „Schmaus“, der bezaubert und durchaus den Wunsch weckt, mehr zu hören zu bekommen vom Schweriner Meister Johann Wilhelm Hertel.

[Ulrich Hermann, Juli 2017]

Romantik pur [Rezensionen im Vergleich]

Felix Draeseke (1835-1913): Quintett op. 77 für 2 Violinen, Viola und 2 Violoncelli; Szene op. 69 für Violine und Klavier; Quintett op. 48 für Violine, Viola, Violoncello, Horn und Klavier

Solistenensemble Berlin (Matthias Wollong, Violine op.69 & 77; Georg Pohle, Horn op. 48; Brigitta Wollenweber, Klavier op. 69 & 48); Breuninger Quartett (Sebastian Breuninger, Violine op.77; Stanley Dodds, Violine op. 77; Annemarie Moorcraft, Viola op.77; David Riniker, Violoncello op.77); Gäste: Felix Schwartz, Viola op.48; Andreas Grünkern, Violoncello op. 48 & 77

CPO, 555 107-2: EAN: 7 61203 51072 6

Mit Franz Schuberts unvergleichlichem Quintett C-Dur kann sich wenig andere Kammermusik messen. Das Quintett op. 77 von Felix Draeseke  (1835-1913) kann es, und zwar sehr eindrucksvoll und überzeugend. Wie viele andere Komponisten auch, ist Felix Draeseke und seine Musik auch heute noch nicht in den Olymp aufgestiegen, in den sie eigentlich längst gehört. Das von Christoph Schlüren verfasste ausführliche Booklet gibt darüber und über die Ursachen umfassend und kenntnisreich Auskunft, so dass wir uns ganz auf die Musik konzentrieren können.  Das knapp über eine halbe Stunde dauernde Streichquintett glänzt – wie das Schubert’sche – mit zwei Celli, was dem gesamten Klang eine fundierte Note gibt.  Die vier Sätze – der erste (langsam und düster), dann das Scherzo (sehr schnell und prickelnd), es folgt der dritte (langsam und getragen) und abschließend der vierte Finale (langsam und düster – rasch und feurig) – überzeugen sowohl durch die intensive Klanglichkeit, die allen fünf Instrumenten eignet, als auch durch die polyphonen und melodisch weittragenden Strukturen. Dass Draeseke sich durchaus – jenseits aller Romantik – auch als Neuerer verstand, beweist seine oftmals kühne Harmonik. Die Uraufführung seines Quintetts fand übrigens 1903 in Basel statt.

Die Szene op. 69 für Violine und Klavier  – kaum 10 Minuten lang – ist von der Besetzung her kein Experiment, aber was in Draesekes Komposition besticht, ist seine melodische Erfindung, seine polyphone Textur in beiden Instrumenten, die dieser Kombination von Geige und Klavier einen ganz eigenen Reiz verleiht. Die Harmonik ist durchaus neutönerisch – entgegen den damaligen „Regeln“ der maßgeblich Unterrichtenden, wofür Draeseke auch dementsprechend angefeindet wurde. Nach seinem „Germania-Marsch“ 1861 war er so verschrien, dass er für 14 Jahre in die Schweiz ins Exil ging.

Die Besetzung des dritten Werks war ursprünglich für Horn und Streichquartett angelegt, aber auf Bitten des Verlegers ersetzte der Komponist die zweite Violine durch eine Klavierstimme, die in dieser Komposition entscheidende Aufgaben – sowohl melodisch als auch harmonisch und klanglich – übernimmt. Die Musik glänzt durch Spielfreude und ausgeprägte melodische und harmonische Attraktivität, was die seltene Besetzung noch unterstreicht.

Ein weiterer Grund, sich anhand dieser Veröffentlichung sehr viel intensiver und näher mit der Musik eines immer noch fast gänzlich Vergessenen zu beschäftigen, ist, dass wenige Komponisten in ihrer Art Melodisches, Polyphones und Kontrapunktisches zu solch meisterlicher Klangsprache und Musik vereint haben wie Felix Draeseke.

[Ulrich Hermann, Juni 2017]

Neben Bruckner und Brahms [Rezensionen im Vergleich]

cpo, 555 107-2; EAN: 7 61203 51072 6

Kammermusik von Felix Draeseke ist auf vorliegender CD von cpo in Kooperation mit Deutschlandradio Kultur zu hören. Sein Streichquintett op. 77 wird dabei vom Breuninger Quartett und Andreas Grünkorn am zweiten Violoncello gespielt, das Quintett op. 48 für Streichtrio, Horn und Klavier bietet das Solistenensemble Berlin dar, auch hier spielt Grünkorn als Cellist mit, an der Bratsche ist Felix Schwartz zu hören. Zwischen den Quartetten ist noch die Scene op. 69 für Violine und Klavier mit Matthias Wollong und Brigitta Wollenweber zu hören.

Es ist beglückend, in letzter Zeit immer neue Einspielungen von Felix Draeseke zu hören. Viel zu lange war es still um den großen deutschen Komponisten, zweifelsohne einen der substanziellsten seiner Periode. Als Zeitgenosse von unter anderen Bruckner und Brahms folgt er keinem vorgegebenen Pfad, sondern schlägt eigene Wege ein, schafft einen einzigartigen „Draeseke-Klang“, der durch eine gewisse Gemessenheit und Schattenhaftigkeit geprägt ist. Seine Musik ist meisterlich gesetzt im komplexen und oft polyphonen Satz, die Struktur brodelt vor Dramatik, seine Themen hingegen sind gerne schweifend und redselig. Obgleich sich eine Vielzahl namhafter Dirigenten, an der Spitze Hans von Bülow, Arthur Nikisch, Ernst von Schuch, Richard Strauss, Hermann Kutzschbach und Hans Pfitzner, für seine Musik einsetzten, geriet Draeseke bald nach seinem Tod in Vergessenheit. Das gleiche Schicksal sollte übrigens auch seinen wohl begabtesten Schüler, Paul Büttner, ereilen, der nach großen Erfolgen aufgrund seiner Ehe zu einer Jüdin in der Zeit der Nationalsozialisten aus den Programmen gestrichen wurde. Aus Draesekes Schülerschaft sind wenigstens Walter Damrosch und Eugen d’Albert, der aber nicht wirklich ein Schüler im engeren Sinn war, als Komponisten zumindest etwas dem Blick der Öffentlichkeit erhalten.

Das Solistenensemble Berlin und Andreas Grünkorn sind mit dem Quintett op. 48 zu hören, welches für die eigenartige Besetzung Violine, Bratsche, Cello, Horn und Klavier geschrieben ist. Bei solch ungewöhnlicher Instrumentierung ist es natürlich nicht möglich, ein solch eingespieltes Ensemble wie ein festes Streichquartett oder -quintett zu finden, doch ist die intensive Einstudierung und das Aufeinandereingestelltsein der Musiker nicht zu überhören. Manchmal ist die Hauptstimme noch allzu dominant im Vordergrund und die Unterstimmen verlieren sich, so dass nicht die gesamte Polyphonie ersichtlich wird. Es überwiegt eine unruhige Hektik, gerade in den beiden ersten Sätzen, über der Ruhe und Lyrik zu kurz kommen. Der letzte Satz besticht mit mehr innerer Haltung. Dessen ungeachtet ist viel Liebe fürs Detail unüberhörbar und die getane Arbeit an solch einem seltenen Stück bemerkenswert.

Die Scene für Violine und Klavier erklingt gebündelter und lässt manchmal auch feine Lyrik durchscheinen.

Reflektiert gestaltet sich das Quintett op. 77, dargeboten durch das Breuninger Quartett, ebenfalls mit Beihilfe von Andreas Grünkorn. Die Musiker sind gut aufeinander eingespielt und können auch das vertikale Geflecht der Harmonik mit Bedeutung erfüllen. Die Unruhe geschieht auf einer viel innerlicheren Ebene als im anderen, früheren Quintett, ein ständiges Brodeln aus dem Untergrund dient als feuriger Motor für die Musik, wobei auch die Entspannung ein wesentliches Element bleibt und Kontraste schafft. Sowohl die Phrasierung der einzelnen Musiker als auch ihr Zusammenwirken geschehen natürlich und ungezwungen.

Herausragend ist der umfangreiche Booklet-Text dieser Einspielung, der auf Leben und Werk flüssig und profund eingeht.

Alle drei dieser Werke sind es wert, ins ständige Kammermusik-Repertoire aufgenommen zu werden. Die hier zu hörende Aufnahme ist die bislang beglückendste dieser Stücke – bei selten gespielten Stücken ist es nur natürlich, dass die Darbietung noch kleine Wünsche offen lässt, und so bleibt zu hoffen, dass die Entdeckung Draesekes weiter voranschreitet und dieser großartige Komponist nach und nach weiter erschlossen und auch endlich im großen Konzertsaal etabliert wird.

[Oliver Fraenzke, Mai 2017]