Die Pianistin Dora Deliyska präsentiert ein Programm von Etüden und Präludien von Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Anordnung der einzelnen Stücke, die eigenen Gesetzmäßigkeiten und dramaturgischen Ideen folgt.
Die Pianistin Dora Deliyska, gebürtige Bulgarin, mittlerweile seit Jahren in Wien lebend, hat seit ihrem CD-Debüt 2008 eine respektable Diskographie eingespielt, und so ist ihr im vergangenen Jahr erschienenes neues Album Études & Preludes (nach Angaben ihrer Homepage) bereits das dreizehnte mit ihr am Klavier. Die Palette, die sie abdeckt, ist breit, und neben Liszt-, Schubert- oder Schumann-CDs hat sie speziell in den letzten Jahren offenbar ein besonderes Faible für sogenannte Konzeptalben entwickelt, CDs also, deren Programm einer bestimmten Idee (oder eben: Konzeption) folgt und dabei immer wieder bewusst Grenzen überschreitet, Werke und Komponisten miteinander kombiniert, die man vielleicht a priori nicht unbedingt nebeneinander erwarten würde.
Im Falle von Études & Preludes widmet sich Deliyska zwei der populärsten Genres der Klaviermusik seit dem frühen 19. Jahrhundert, und zwar nicht zufälligerweise im Rahmen eines Programms von 24 Stücken, das sich aus je zwölf Etüden und Präludien zusammensetzt; klassische Zahlen also. Mit Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin geht es dabei vom frühen 19. bis ins späte 20. Jahrhundert auf den Spuren von Marksteinen der beiden Gattungen.
Als besonders raffiniert erweist sich das Konzept im Falle der zwölf Etüden, mit denen die CD beginnt. Deliyska hat hier Stücke aus Chopins 12 Etüden op. 25, Debussys Douze Études sowie György Ligetis 18 Etüden (1985–2001) ausgewählt, wobei sie von Debussy die Idee übernommen hat, die Etüden nach Intervallen anzuordnen. Und so startet das Programm mit der Prime (bzw. einer Etüde, in der die Prime eine prominente Rolle spielt), dann der kleinen Sekunde und so weiter, bis die Oktave erreicht ist; es folgen noch zwei Etüden zu Arpeggien und eine zu Akkorden, und damit ist das Bild vollständig, ohne dass dabei jemals zwei Stücke desselben Komponisten aufeinander folgen würden.
Es ist erstaunlich, wie gut diese Werke nebeneinander funktionieren, exemplarisch zu beobachten am Beginn der CD. Alles beginnt mit den rasenden Tonrepetitionen von Ligetis Etüde Nr. 10 Der Zauberlehrling, gefolgt von Debussys Etüde Nr. 7 Pour les Degrés chromatiques, die Deliyska fast ohne Pause folgen lässt. Gerade in den lapidaren Anfangstakten von Debussys Etüde wirkt der Übergang in der Tat verblüffend natürlich. Eine gewisse Rolle spielt dabei sicherlich auch, dass Ligetis Etüden zwar für den Pianisten horrend schwer sind, auch für den mit Musik des späten 20. Jahrhunderts nicht sonderlich vertrauten Hörer jedoch zu den zugänglichsten seiner Werke zählen dürften – Der Zauberlehrling etwa ist im Grunde genommen fast eine Etüde in C-Dur. Aber selbst, wenn anschließend mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 11 ein Sprung in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgt und, jedenfalls was das Melos betrifft, aus Chromatik Diatonik wird, fühlt man sich doch beim (abermals) chromatischen Wirbelwind in der rechten Hand an das, was in den beiden zuvor gehörten Etüden geschehen ist, erinnert. Allein dies ist bereits ein eindrucksvoller, sehr gelungener Brückenschlag.
Gleichzeitig schaffen diese ersten Stücke eine Atmosphäre permanenter Unruhe, Betriebsamkeit, stetigen Flirrens, auch Dramatik (gerade in Chopins Etüde), die auch in Ligetis Etüde Nr. 4 Fanfares mit ihren unregelmäßigen Rhythmen weitergeführt wird und insofern den Hörer in einen regelrechten pianistischen Strudel reißt, der erst in Track 5 mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 7 gebremst wird, dafür nun umso deutlicher. Ein Ruhepol, der einen Track später in Ligetis Etüde Nr. 2 Cordes à vide, die sanft den Klang leerer Streichersaiten heraufbeschwört, noch einmal bekräftigt wird. Neben dem Fokus auf Intervallen ergibt Deliyskas Auswahl also auch eine veritable Dramatik und Struktur mit Steigerungen, Höhepunkten und Momenten des Durchatmens.
Natürlich folgen nicht alle Etüden dem Intervallschema so deutlich wie etwa Ligeti in den Cordes à vide mit ihren Quinten oder (an neunter Stelle) die mal brausenden, mal innig singenden Oktaven in Chopins Etüde op. 25 Nr. 10, erst recht, zumal Debussys Etüden, die sich ja explizit auf Intervalle beziehen, hier (bis auf Track 2) ausgespart und erst gegen Ende der Abteilung Etüden das Bild mit Arpeggien bzw. Akkorden (Debussys Etüden Nr. 11 und 12) komplettieren. Dabei ergeben sich aber auch interessante Zwischenstellungen. So fallen in Ligetis Fanfares natürlich die Terzen in der rechten Hand auf, aber in der fortwährenden Achtelbewegung in der linken ist es die große Sekunde, die dominiert – eine Etüde „zwischen“ den Intervallen also. Ganz ähnlich verhält es sich mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 7: natürlich hört man hier zunächst Quarten in den Achteln in der linken Hand, aber das Melos wird doch auch stark von der Terz beherrscht.
Generell entsteht jedenfalls speziell in den ersten Etüden in der Tat ganz entschieden jener Eindruck des allmählichen Sich-Weitens der Intervalle, auf den Deliyska mit ihrem Programm offensichtlich abzielt. Dass am Ende Debussys Etüde Nr. 12 für einen robusten Abschluss mit Finalwirkung sorgt, versteht sich von selbst, zumal sie ja im ursprünglichen Zyklus dieselbe Stellung innehat.
Anders verhält es sich mit den Präludien: wieder drei Komponisten, und wieder werden Chopin (mit erneut fünf Stücken aus seinen 24 Préludes op. 28) und Debussy (diesmal mit vier statt drei Stücken aus seinen zwei Büchern von insgesamt ebenfalls 24 Préludes) um einen Komponisten der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ergänzt, nämlich durch Nikolai Kapustin (1937–2020) und drei seiner 24 Präludien im Jazzstil op. 53 (1988). Anders als bei den Etüden gruppiert Deliyska die Präludien aber (konventioneller) nach Komponisten.
So steht am Anfang ein Chopin-Block, der gleich mit dem enorm populären Des-Dur-Präludium (Nr. 15) beginnt, auf das Deliyska das e-moll-Präludium (Nr. 4) folgen lässt und so Parallelen zwischen den beiden Stücken aufzeigen will (die auf einer grundsätzlichen Ebene zweifelsohne vorhanden sind). Ansonsten scheint ihre Anordnung der Präludien vorwiegend von dramaturgischen Überlegungen motiviert, ein wenig auch Tonartenbeziehungen (auf fis-moll folgt, beruhigend, Fis-Dur); auf jeden Fall läuft der kleine Chopin-Zyklus auf einen stürmischen Presto-Abschluss (Nr. 16) hinaus, der in der Tat dann auch eine etwas längere Pause, einen Moment des Sich-Sammelns zur Folge hat.
Ähnlich ist der Debussy-Block aufgebaut: wieder ein ebenso verhaltener wie hochexpressiver Beginn (Des Pas sur la neige), der schließlich in Debussys Beschwörung des Westwindes gipfelt (Buch I, Nr. 7). Kapustins Präludien bilden schließlich ein kleines Triptychon in der „klassischen“ Reihenfolge schnell-langsam-schnell und verwandten Tonarten (gis-moll, H-Dur, h-moll), das hier ein wenig als Zugabe fungiert, als locker gefügter, spielerischer Abschluss eines Programms, das die vollen 80 Minuten der CD ausschöpft.
Deliyskas Argument (im Beiheft), durch die Anordnung gemäß Komponisten seien „die deutlichen Stilunterschiede noch genauer [zu] erkennen“, überzeugt sicher nicht völlig, denn ein Faszinosum am ersten Teil ist ja gerade das ganz leichte Verschwimmen dieser Unterschiede (wohlgemerkt: in kleinen Momenten und Augenblicken, in denen man kurz aufhorcht). Andererseits gibt es sicherlich eine Reihe anderer Gründe dafür, hier eben genau so vorzugehen; das Genre selbst, in dem es ja weniger um technische oder Materialfragen geht als um kurze Impressionen, mag eine Rolle spielen, aber vielleicht auch die Auswahl der Komponisten, denn insgesamt scheint mir Ligeti in seinen Etüden mit ihrem ausgeprägten, raffinierten Klangsinn doch näher an Chopin und Debussy zu liegen als Kapustins schon im Titel aufgezeigter (klassisch fundierter) „Jazzstil“.
Bei alledem überzeugt Deliyska als kompetente, pianistisch sehr gutklassige Anwältin ihrer Programmidee. Ihre Tempi sind insgesamt eher gemäßigt (etwa im Vergleich zu Ligetis Angaben zur Dauer seiner Etüden oder zu Kapustins eigener Interpretation seiner Jazzpräludien), obwohl nicht dezidiert langsam. Gerade bei den Präludien von Chopin fällt ein ausgeprägtes Interesse an Mittel- und Nebenstimmen auf (von ihr selbst im Beiheft im Falle des Préludes Nr. 4 gesondert erwähnt, aber auch an zahlreichen anderen Stellen zu beobachten wie etwa im più lento von Nr. 13).
Gewiss: es handelt sich hier in der Mehrzahl um Repertoire, das diskographisch in einer solchen Breite und Qualität erschlossen ist, dass man fast beliebig stark ins Detail gehen und differenzieren könnte. Im Falle von Ligetis Etüden etwa ist Aimards Lesart der Cordes à vide noch eine Nummer filigraner, ganz exquisit an der Grenze zwischen Stille und zartem Nachhall angesiedelt, während mir in der Teufelstreppe (Nr. 13) der Höhepunkt in Takt 43 (im achtfachen Forte) bei Deliyska deutlich zu wenig Wucht besitzt. Andererseits liegt der Reiz dieser CD ja gerade nicht darin, diese Zyklen (erst recht die ganz bekannten von Chopin und Debussy) wie gewohnt zu hören, sondern sie neu zu kontextualisieren und womöglich in einem etwas anderen Licht zu betrachten. Ebendies erfüllt Deliyskas Album in hervorragender Weise.
Am Sonntag, 28. Januar 2024, dirigierte Sir Simon Rattle im Münchner Herkulessaal das Bayerische Landesjugendorchester. Bei dieser Gelegenheit wurde die Patenschaft zwischen dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und dem BLJO, die bereits seit rund 20 Jahren besteht, offiziell besiegelt. Auf dem Programm standen Paul Hindemiths „Ragtime (wohltemperiert)“, Gustav Mahlers 1. Symphonie und Arnold Schönbergs Klavierkonzert op. 42 – gespielt vom gerade mal 14-jährigen georgischen Pianisten Tsotne Zedginidze, für dessen unglaubliche Leistung und Musikalität kein Superlativ zu hoch gegriffen scheint.
Sir Simon Rattle ist bekannt dafür, sich für Jugendarbeit besonders einzusetzen. So verwunderte es nicht, dass es ihm offenkundig große Freude bereitete, nach wenigen, umso intensiveren Proben mit den zwischen 13 und 20 Jahren jungen Musikern des Bayerischen Landesjugendorchesters ein derart hörens- und sehenswertes, höchst anspruchsvolles Programm im ausverkauften Herkulessaal zu präsentieren. Vor den musikalischen Darbietungen wurde die langjährige Patenschaft zwischen dem BLJO und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in einer feierlichen Zeremonie nun offiziell als Teil der bundesweiten Initiative Tutti pro besiegelt. Einzelheiten darüber konnte man bereits der Tagespresse entnehmen.
Paul Hindemiths gerade mal 3½-minütiger Ragtime (wohltemperiert) gehört ohne Frage zu den Werken des gerne humorvollen Meisters, in denen er Musikgeschichte genüsslich aufs Korn nimmt – hier die c-Moll Fuge aus Bachs Wohltemperiertem Klavier, Teil I. Der aus dem Thema entwickelte Ragtime – oder vielmehr das, was man sich 1921 in Deutschland darunter vorstellte – wird so schnell zu einem brachialen Marsch. Durch die riesige Orchesterbesetzung kann das ganz schön penetrant wirken – vielleicht soll es das ja. Ob dies dann allein deshalb tatsächlich in die Kategorie „musikalischer Spaß“ gehört, sei mal dahingestellt. Immerhin könnte das Stück Helmut Lachenmann zu seinem Marche fatale inspiriert haben. Für das BLJO dient diese wenig differenzierte Randale so eher zum Aufwärmen. Egal – denn was danach kommt, erweist sich als eine echte Sensation.
Allein die Tatsache, dass ein gerade erst 14-Jähriger sich ausgerechnet das zwölftönige, allgemein als sperrig geltende Klavierkonzert Arnold Schönbergs von 1942 vornimmt, dürfte ohne Vorbild sein. Der georgische Pianist Tsotne Zedginidze, der ebenfalls schon seit seinem sechsten Lebensjahr komponiert, spielt zwar das Stück auch nicht auswendig – das tat selbst Alfred Brendel nie. Mit welch ungeheurem Verständnis der junge Mann dann nicht nur strukturell, sondern vor allem emotional die Tiefen dieses immer noch unterschätzten Klavierkonzerts durchdringt und seine Schönheiten zutage fördert, ist allerdings kaum angemessen zu beschreiben. Vergleicht man diese Aufführung mit der letzten Münchner Darbietung von Kirill Gerstein mit dem BRSO unter François-Xavier Roth – der Rezensent sah sich seinerzeit zu einem wahren Verriss genötigt –, zeigt Zedginidze genau all das, was bei Gerstein schmerzlich vermisst wurde: klangliche Sensibilität bis ins kleinste Detail des an Noten nicht gerade armen Klaviersatzes – das fängt schon beim großartig gestalteten Thema an. Vor allem aber eine derart vorausschauende, poetische Darstellung der dem Werk innewohnenden Teleologie, die man nach anfänglicher Unbeschwertheit mit per aspera ad astra beschreiben könnte.
Die graduelle Entwicklung vom desolaten Adagio-Abschnitt bis zum hoffnungsvollen, puren Optimismus ausstrahlenden Schluss des Giocoso habe ich noch nie emotional derart überzeugend gehört. Und Zedginidze traut sich selbst bei diesem Stück sogar, manche Stellen quasi gegen den Strich zu bürsten. Betrachtet man – nur als ein Beispiel – den Beginn der relativ kurzen, überhaupt nicht auf äußerliche Virtuosität angelegten Kadenz am Ende des Adagios: zweimal Akkordtremoli mit Fermaten, jeweils gefolgt von nervösen, gegenläufigen 32stel-Figuren, über die Schönberg „(presto)“ schreibt. Die klingen normalerweise so, als ob ein traumatisierter Irrer an den Wänden seiner Gummizelle kratzt. Zedginidze spielt die Tremoli überirdisch zart, ignoriert bei den nachfolgenden Figuren das Presto, interpretiert sie als Vorboten wiederaufkeimenden Lebensmuts – eine keineswegs abwegige, interessante Lesart.
Über den Pianisten wird gesagt, er verfüge über absurd gute Blattspielfähigkeiten. Das führt bei ihm jedoch keinesfalls zu oberflächlichem Darüberhinwegspielen, sondern – ganz im Gegenteil – zu noch genauerem Hinterfragen des Notentexts. Während des ganzen Konzerts werfen sich Pianist und Dirigent präzise die Bälle zu, hören genauestens aufeinander. Oft muss Rattle die Dynamik im Orchester ungewohnt stark zurücknehmen. An einigen Stellen fehlt dem recht knabenhaft wirkenden Ausnahmetalent schlicht noch die Kraft, sich mit dem Orchesterklang im Fortissimo-Bereich messen zu können – und so geraten die wenigen Spitzen, an denen es im Schönberg-Konzert wirklich mal unangenehm hart klingen soll, etwas blass. Gerade dort übertrieb Gerstein freilich grotesk; insgesamt tut dem Stück Zedginidzes Betonung dessen lyrischer Qualitäten sehr gut. Das Orchester begreift die Bedeutung von Schönbergs Reihentechnik, die immer mit thematischen „Gestalten“ verbunden ist, glasklar und es passieren allenfalls ein paar Kleinigkeiten: Das können Profis kaum besser. Nach dieser phänomenalen Aufführung kann man eigentlich nur noch Tränen der Begeisterung in den Augen haben. Bei der Zugabe – Debussys erstem Prelude aus Band I …Danseuses de Delphes – merkt man sofort an der souveränen Lösung des nicht-trivialen Pedalisierungsproblems, über welch ungeheures Potential Tsotne Zedginidze schon heute verfügt. Rattle ließ sich gar zu folgender Bemerkung hinreißen: „Wir sind privilegiert, mit Tsotne zur gleichen Zeit auf diesem Planeten zu sein. Es ist ein historischer Moment.“
Bei Teilen des Publikums stößt die Musik der Zweiten Wiener Schule jedoch nach wie vor auf Unverständnis. Da hat es Gustav Mahlers 1. Symphonie zweifellos leichter. Erstaunlich, wie ein Jugendorchester dieses spieltechnisch enorm schwere, dabei agogisch sich ständig von einem Extrem ins andere bewegende Stück bewältigt. Das über 100 Mitspieler starke Ensemble wird zusätzlich noch durch zehn Streicher des BRSO unterstützt. Vor allem ist es hier nötig, dem Dirigenten exakt zu folgen und absolut zu vertrauen. Simon Rattle ist bei Mahler in München offensichtlich momentan im Flow. Wie er diese Energie auf die jungen Musiker überträgt und klanglich nun ungemein differenziert zum Leben erweckt, macht schon beim Zuschauen Freude. Von den zahlreichen Soloeinsätzen – bis hin zum „Fernorchester“ – gelingt eigentlich alles. Rattle – auswendig dirigierend – zeigt dabei noch deutlich mehr an als bei seinen Profis: ein hartes Stück Arbeit. Dass die Gruppen ebenso gespannt wie ein Flitzebogen reagieren, zeigt sich u. a. an der berühmten Bratschenstelle, die gegen Schluss des Finales nochmal einen großen Wendepunkt einleitet. Nach dem triumphalen Ende der Symphonie sind alle – Beteiligte wie Zuhörer – zu Recht glücklich. Solch einen fantastischen Abend erlebt man selten.
Selbstverlag Andreas Willscher, Hamburg 2021; ISBN: 978-3-9823800-0-1
Die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts kennt die Namen zahlreicher Musiker, die durch Krieg, Vertreibung und politische Verfolgung einen gewaltsamen Tod gefunden haben. Mit der Auslöschung ihrer physischen Existenz ging in der Regel die Zerstörung ihres künstlerischen Erbes einher. Auch zahlreiche wertvolle Dokumente, die über den Lebenslauf der Künstler Auskunft hätten geben können, gingen verloren. Biographie und Schaffen wurden gleichermaßen fragmentiert.
Als ein solches Fragment stehen heute Leben und Werk des sudetendeutschen Komponisten Erich Skoczek vor uns, einem der konsequentesten Adepten des französischen Impressionismus im deutschsprachigen Kulturraum. Der 1908 im mährischen Olmütz geborene Skoczek hatte in Wien studiert und war dort in den späten 1920er Jahren als Orgelvirtuose zu Ansehen gelangt. Neben seinem musikalischen Wirken war er auch als Maler und Schriftsteller tätig. 1941 in seine Geburtsstadt zurückgekehrt, wurde er kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, im Mai 1945, während einer gegen die deutsche Bevölkerung gerichteten Verhaftungsaktion in das nahegelegene Konzentrationslager Hodolein deportiert, wo er wenig später zu Tode kam. Die tschechischen Behörden ließen seine Wohnung ausräumen, wobei auch die Manuskripte seiner Kompositionen auf den Müll geworfen wurden. Dass immerhin ein winziger Teil von Skoczeks Nachlass erhalten blieb, ist dem Organisten Anton(ín) Schindler zu verdanken, der sich die Bewilligung verschaffte, „zur Stampfe“ vorgesehene Papiere zu sichten. Durch seine Umsicht ist u. a. das umfangreichste heute noch vorhandene Werk Skoczeks, das 1928 komponierte Konzert für Orgel und großes Orchester op. 20, auf uns gekommen.
Nun hat es Andreas Willscher, einer der meistgespielten Orgelkomponisten unserer Zeit, Förderer wenig bekannten Repertoires und ausgewiesener Kenner der sudetendeutschen Musikgeschichte, unternommen, das Wissen über Erich Skoczek zusammenzutragen. Sein im Selbstverlag erschienenes, 170 Seiten umfassendes Buch dokumentiert nicht nur sämtliche bislang bekannte Quellen zu Skoczeks Biographie, sondern macht auch mit dem Großteil seiner erhaltenen Kompositionen bekannt. Nicht weniger als fünf Orgelstücke, die zu Lebzeiten des Komponisten veröffentlicht worden waren, finden sich bei Willscher vollständig abgedruckt, zwei davon auch in Fassungen für Klavier. Es sind:
Basilica di Roma op. 33
Eine holländische Mondnacht. Sinfonisches Intermezzo op. 39 (auch Fassung für Klavier 4-händig)
Deux piéces polytonales op. 42, Nr. 1: À Claude Debussy. Poème symphonique
Deux piéces polytonales op. 42, Nr. 2 Chanson
Eine Seelenwanderung op. 55 (auch Fassungen für Klavier 2-händig)
Studiert man diese Kompositionen, die zusammen etwa 2/3 des Bandes ausfüllen, wird sofort deutlich, dass Skoczek, der spätestens seit op. 42 seinen Vornamen zu „Eric“ französisierte, unter den deutschen und österreichischen Orgelkomponisten seiner Zeit eine der originellsten Erscheinungen gewesen ist. Sein großes Vorbild war offensichtlich Claude Debussy, dessen freie, von der klassischen Funktionsharmonik gelöste Akkordbildung und Stimmführung er auf die Orgel überträgt. Auch hinsichtlich der Registrierung gibt Skoczek sehr differenzierte Anweisungen. So nimmt es nicht Wunder, dass sich aus diesen Stücken ein wahres Füllhorn aparter, zauberischer Klänge ergießt.
Auszugsweise macht uns Willscher mit dem Orgelkonzert op. 20 und der Apotheose des Namens BACH op. 26 bekannt, einem Orgeltriptychon, in dessen Finale ein Sopransolo „Bach’s Verklärung im Himmel“ schildert. Als weitere musikalische Dokumente finden wir noch die einzig erhaltene Bassstimme des Chorwerks Christi Geburt op. 27 sowie den Anfang des von Skoczek erstellten Klavierauszugs einer Opernouvertüre von Arthur Johannes Scholz (1883–1945) mitgeteilt.
Als Musikschriftsteller lernen wir Skoczek mit einer kurzen Einführung in Beethovens letzte drei Klaviersonaten kennen, von der leider die Besprechung des Finales von op. 111 fehlt, sowie mit einem für eine Olmützer Zeitung verfassten Aufsatz über „Musik im Radio“, in welchem sich der Komponist zu den Verwendungsmöglichkeiten der verschiedenen Instrumente unter den Bedingungen des damaligen Rundfunks äußert und zu dem Schluss kommt: „Um die Feinheiten des Werkes feststellen zu können, muß man dieses aus erster Hand hören, das nur im Konzertsaal möglich ist, nicht durch den besten Radioapparat.“
Neben der Biographie des Komponisten, einem Verzeichnis seiner Werke (das 62 Opuszahlen umfasst), einer Übersicht über die Interpreten seiner Musik, und einer Sammlung zeitgenössischer Konzertkritiken, enthält der reich bebilderte Band weiterhin einen kurzen Abschnitt, in welchem sich Willscher kritisch mit den Thesen des Musikschriftstellers Anton Popovici auseinandersetzt, der 1935 eine kleine Monographie über Skoczek veröffentlicht hatte. Besonders dieser Teil des Buches lässt ahnen, über welch umfassende Kenntnisse der Orgelliteratur Andreas Willscher verfügt. Im Anhang finden sich außerdem das von Skoczek in seinem op. 26 vertonte Gedicht „Bach’s Verklärung“ von Grete Jank, sowie drei Improvisationsthemen, die der Retter des Orgelkonzerts, Anton Schindler, für Willscher aufgezeichnet hat.
Kritisch anzumerken wäre, dass das Buch besser hätte lektoriert werden müssen, denn leider sind einige Druckfehler stehen geblieben. Der erste findet sich bereits auf dem Einband, wo der Name des Komponisten „Scoczek“ geschrieben wird (was dazu führen kann, dass das Buch bei einer Suche schwerer gefunden wird). Auf S. 159 erfahren wir zwar die genauen Lebensdaten und einen knappen Lebenslauf des Komponisten des „Phantasiegemäldes mit Gesang in drei Aufzügen“ Der Zeitgeist oder Ein Besuch aus der Vorzeit von 1841, nicht aber dessen Namen Adolph Müller. Auch hätte man sich im Verzeichnis der Werke Skoczeks präzisere Angaben gewünscht. Zwar liest man dort die Titel aller bekannten Kompositionen (einige Opuszahlen konnten nicht zugeordnet werden) und auch, welche davon zu Lebzeiten gedruckt wurden, doch wird bei den anscheinend Manuskript gebliebenen nicht klar, welche verschollen und welche erhalten sind. So erhält man zum erhaltenen Orgelkonzert und zur fragmentarisch überlieferten Christi Geburt nicht mehr Informationen als zu anderen Kompositionen, deren Uraufführungsdatum bekannt ist. Gerade weil uns aus dem ganzen Buch die Liebe entgegenschlägt, mit der der Autor es geschrieben und gestaltet hat, wirken diese Einzelheiten störend! Dennoch muß betont werden, dass es sich um eine außerordentlich wichtige Veröffentlichung handelt, die Beachtung verdient. Musikwissenschaftler sollten sich davon zu weiteren Forschungen über Erich Skoczek anregen lassen, und Musiker dazu, seine Werke wieder zu Gehör zu bringen. Den Organisten hat Willscher hier genug Material an die Hand gegeben. Mögen sie es nutzen!
Um einen Eindruck von Skoczeks Klangwelt zu vermitteln, sei noch auf Auszüge einer Aufführung seines Orgelkonzerts durch die Mährische Philharmonie unter Petr Šumník mit Kateřina Chroboková an der Orgel hingewiesen:
Nach dem Auftritt Aris Alexander Blettenbergs im Juni dieses Jahres erklang im Bad Rodacher Jagdschloss am 16. Oktober 2022 ein weiteres Mal Felix Draesekes Klaviersonate op. 6 unter den Fingern eines berufenen jungen Talents. Die Leipziger Pianistin Charlotte Steppes spielte das Werk am Ende eines Programms, das mit Claude Debussys Suite bergamasque begann und als Herzstück Ludwig van Beethovens Sonata quasi una Fantasia cis-Moll op. 27/2 enthielt. Veranstaltet wurde das Konzert von der Internationalen Draeseke-Gesellschaft, deren 36. Jahrestagung es beschloss, in Zusammenarbeit mit dem Rückertkreis Bad Rodach.
Bereits mit dem Beginn der Suite bergamasque wurde klar, dass man hier Gelegenheit hatte einer Künstlerin zu lauschen, die es trefflich versteht, die von ihr vorgetragenen Stücke als profilierte Charaktere zu präsentieren. Jeder der vier Sätze hatte ein eigenes Gesicht. Im Prélude wurde Debussys geistige Verwandtschaft mit Couperin deutlich. Dem Menuett fehlte es weder an Grazie noch an Energie. Das Mondscheinpanorama, das Steppes in Clair de Lune entfaltete, klang vor allem deshalb so zart und innig, da die Pianistin jedes Zerfließen der melodischen Konturen geschickt vermied. Man hörte, dass Debussy nicht nur ein Klangfarbenkünstler, sondern auch ein großer Melodiker war. Die durchlaufenden Achtelfiguren im abschließenden Passepied spielte Steppes sehr markiert und zeigte dabei, dass der Bass nicht einfach nur die spritzige Melodie begleitet, sondern im Verlauf des Satzes sehr wohl gewichtige Worte mitzusprechen hat. Angemessen sanfte Töne fand sie für den kontrastierenden Mittelteil, den sie geschickt in die Wiederkehr des Anfangs zu überführen wusste.
Das einleitende Adagio der Beethovenschen cis-Moll-Sonate korrespondierte schön mit Debussys Clair de Lune, denn auch hier erklang ein vielschichtiges Charakterbild. In flüssigem Tempo, mit dezentem Rubato, modellierte Steppes die Basslinie als weit ausholenden Gesang und arbeitete den Dialog zwischen Ober- und Unterstimme in der Mitte des Stücks prägnant heraus. In den letzten beiden Sätzen gestaltete sie pointiert die inneren Kontraste der Themen. Die Sechszehntelläufe des Finales wurden sorgfältig periodisiert; bei aller Geläufigkeit war doch stets Gesang in ihnen.
Steppes‘ Aufführung von Draesekes op. 6 – wie Beethovens op. 27/2 eine Sonata quasi Fantasia mit langsamem Kopfsatz – bildete den krönenden Abschluss des Konzerts. Ich sage dies mit umso größerer Freude, da ich dieses von Draesekes einstigem Förderer Franz Liszt hochgeschätzte und regelmäßig gespielte Meisterwerk selten so hervorragend dargeboten gehört habe wie an diesem Tag. Die Pianistin traf durchaus den heroischen Grundton der Komposition. Man merkte, warum Draeseke als junger Mann im Liszt-Kreis „der Recke“ hieß. Aber dieser Recke konnte nicht nur mit Kraftakten imponieren, er besaß auch eine empfindsame Seele und viel Feingefühl in der Formulierung seiner Gedanken.
Steppes begann die Einleitung des Kopfsatzes sehr rasch und energisch, fand jedoch sogleich die nötige Ruhe für den folgenden Abschnitt, den sie frei im Tempo, wie improvisierend, vortrug, wobei sie aber stets auf die Struktur der Perioden Rücksicht nahm. Spannungsvoll leitete sie in den Trauermarsch über, der herb und streng tönte, mit grollenden Bässen, und an den Höhepunkten orchestrale Wucht entfaltete. Der auf die Einleitung zurückgreifende Mittelteil (mit gut gegliederter Triolenbewegung) bot in seiner Geschmeidigkeit einen wirkungsvollen Kontrast. Das Ende des Satzes wurde feierlich zelebriert.
Den zweiten Satz hat Draeseke als „Valse-Scherzo“ bezeichnet. Mit viel Liebe zum Detail widmete sich Steppes den zahlreichen kapriziösen Hakenschlägen, vergaß aber nie, den Walzertakt noch durchklingen zu lassen. Die Doppelnatur dieses Intermezzos – halb Walzer, halb Scherzo – kam wunderbar heraus. Ein einziges Mal stellten sich mir in dieser Aufführung Bedenken ein: als die Pianistin das Finale so stürmisch begann, dass ich mich fragte, ob von diesem Ausgangspunkt aus die großen Steigerungen, die der Satz bereithält, noch realisiert werden können. Charlotte Steppes tat aber das Richtige: Durch gut angebrachte Ritardandi wurde sie zum Seitensatz hin langsamer, ließ es dort an gesanglichem Vortrag und Detailfreudigkeit nicht fehlen, und hielt auch im folgenden Geschehen das Tempo flexibel. So gelang es ihr, die höchste Kraftentfaltung bis zum Schluss aufzusparen und das Werk mit ekstatischem Jubel zu bekrönen.
Das Publikum dankte mit stehendem Applaus.
[Norbert Florian Schuck, Oktober 2022]
(NB: Der Verfasser dieses Artikels ist Mitglied der Internationalen Draeseke-Gesellschaft und wurde auf der Mitgliederversammlung am 15. Oktober zu ihrem neuen Ersten Vorsitzenden gewählt. Da die Organisation des hier besprochenen Konzerts aber in den Händen des früheren Vorstands lag, dem er nicht angehörte, spricht der Verfasser im vorliegenden Artikel nicht als IDG-Vorsitzender, sondern als einfacher Rezensent.)
Die evangelische Gustav-Adolf-Kirche in Berlin-Charlottenburg gehört zu jenen Gebäuden, die sich wunderbar als Veranstaltungsstätten für Konzerte eignen, als solche aber überregional noch nicht bekannt geworden sind. Insofern leistet das Quartet Berlin-Tokyo, das man mit Fug und Recht zu den herausragenden Streichquartettformationen unserer Zeit zählen kann, an diesem Ort mit seinem am 3. September begonnenen Haydn-Hauschild-Zyklus musikalische Pionierarbeit.
Im ersten Konzert des Zyklus erklang neben Joseph Haydns op. 33/2 und dem Streichquartett Nr. 5 von Kurt Hauschild auch das Zweite Streichquartett op. 13 von Felix Mendelssohn Bartholdy. Haydns Quartette op. 33 und das Streichquartettschaffen Kurt Hauschilds bilden den roten Faden auch der folgenden Programme, in welchen zudem Werke von Wolfgang Amadé Mozart, Franz Schubert, Robert Schumann und Claude Debussy zu hören sein werden. Die Reihe endet am 24. September mit einer Aufführung von Haydns Sieben letzten Worten unseres Erlösers am Kreuze.
Kurt Hauschild (1933–2022) arbeitete im Brotberuf als Mathematiker und konnte sich lange Jahre nur in seiner Freizeit der Musik zuwenden. Er setzte sich intensiv mit der Musik der Wiener Klassiker auseinander und komponierte zahlreiche Streichquartette in stilistischer Nachfolge Joseph Haydns. Der Öffentlichkeit wurde sein musikalisches Schaffen erst nach 1989 allmählich bekannt. In den Konzerten des Quartet Berlin-Tokyo tritt Hauschild nun in direkten Dialog mit seinem Vorbild.
Nachdrücklich hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf die rundum hervorragende erste CD-Aufnahme des Quartetts, die neben den Fünf Stücken von Erwin Schulhoff die Ersteinspielung der Quartett-Symphonie von Gawriil Popow enthält. Über eine Aufführung des letzteren Werkes durch das Quartet Berlin-Tokyo wurde auf diesen Seiten bereits berichtet, siehe hier.
Auf ihrem Album mit dem Tite Volupté bündeln die Sopranistin Emma Moore und die Pianistin Klara Hornig Liederzyklen von Debussy, Kraus und Ullmann. Sie beginnen mit den vergleichsweise selten zu hörenden Cinq Poèmes de Charles Baudelaire von Debussy in ihrer für den Tonsetzer ungewohnt romantisch-wuchtigen Ausgestaltung. Im Zentrum stehen die Acht Gesänge nach Gedichten von Rainer Maria Rilke des eher als Dirigent bekannten Clemens Krauss. Ergänzt wird das Programm durch Viktor Ullmanns Fünf Liebeslieder nach Ricarda Huch op. 26.
Sinnlichkeit der Texte und der Musik, das bildet den Mittelpunkt des Albums Volupté von Emma Moore und Klara Hornig. Der nicht wörtlich ins Deutsche übersetzbare Titel steht dabei nach Aussagen der Künstlerinnen für das Schwelgerische, den Ausbruch aus den Konventionen und das Eintauchen in rauschhaft-weltfremde Zustände.
Als Auslöser für die Aufnahme fungierte ein Liedzyklus von Clemens Krauss bestehend aus acht Rilke-Vertonungen, der die Künstlerinnen seit Jahren in den Bann zieht und dem sie einen prominenteren Platz im Liedrepertoire wünschen. Die Musik von Krauss wird beeinflusst durch seine künstlerische wie private Nähe zu Richard Strauss, von dem er einige Werke uraufgeführt hat und sogar am Libretto der Oper Capriccio beteiligt war. Gerade harmonisch lässt sich die Nähe erkennen, wobei Krauss dem Höreindruck nach mehr den tonalen Zentren verbunden bleibt und unmittelbare Ausbrüche daraus ausschließlich in Ausdeutung des Textes unternimmt. Zumindest lässt Krauss seine Modulationen leichter verfolgen, als Strauss es meist tat – so behaupten sie Eigenständigkeit, die man ihnen nicht absprechen sollte. Die Acht Lieder muten im Klaviersatz äußerst orchestral an und bieten den Interpret*innen Herausforderungen nicht bezüglich des Mechanischen, sondern des Gestalterischen. In ihrer Wirkung erweisen sie sich jedoch als äußerst dankbar, da man den Text und die musikalischen Kommentare auf diesen gut verfolgen kann und sich so die Worte in den Tönen vornehmlich entfalten.
Die Cinq Poèmes de Charles Baudelaire erscheinen fast untypisch für Claude Debussy, so getragen voll und wuchtig behandelt er das Klavier. Trotz der typisch französischen Akkorderweiterungen schwingt ein wenig die deutsche Spätromantik mit, zumindest angesichts der ausladenden Gesten und des süffig schwelgenden Pathos. Allein die Länge des ersten Liedes erstaunt: Knappe neun Minuten misst es. Unabhängig dessen untermauern sie Debussys feines Gespür für die Texte und deren Bildlichkeit, die er bedingungslos in Töne verwandelt und es einmal mehr schafft, auch andere Sinne als das Hören allein durch die Imagination zu aktivieren.
Musikalisch am radikalsten begehren die Fünf Liebeslieder nach Ricarda Huch op. 26 auf, die gerade auch das sehnende, verlangende Element des Liebens thematisieren und greifbar mitfühlend ausdrücken. Ullmann setzt auf Kürze und Prägnanz, reduziert auf entscheidende Motive, statt die Linie frei dem Text nach umzusetzen, woraus eine extreme Geschlossenheit und Dichte resultiert. Er kreiert hoch expressive Mikrokosmen, die unter steter Hochspannung stehen. Ihm gelang wie nur wenigen anderen im Umkreis Schönbergs ein solch unverwechselbarer Personalstil.
Die vorliegende Aufnahme durch Emma Moore und Klara Hornig präsentiert eine innige, wohldurchdachte und doch emotionale Deutung der drei Liedzyklen. Die beiden Musikerinnen setzen auf Wärme und weichen Klang, auf Expressivität ohne Zwang. Klara Hornig denkt gerade Debussy und Krauss orchestral, was bei Letzterem an die Grenzen der klanglichen Möglichkeiten des Klaviers stößt. Ullmann erscheint bei ihr wieder pianistischer, dabei stets abgründig. Hornig kultiviert einen samtenen Anschlag frei von Härte und schlagenden Bewegungen, sie entwickelt eine ausgewogene Dynamik mit reicher Abstufung. Bei Emma Moore sticht besonders ihre klare Aussprache hervor, die jeden Konsonanten erklingen lässt, ohne ihn überzubetonen, was einerseits dem Textverständnis zugutekommt, andererseits aber auch einen angenehmen Ambitus an Konturen hervorbringt. Bis in die hohen Lagen brilliert sie durch einladend warmes Timbre. Unverkennbar bleibt die langjährige Zusammenarbeit der beiden Musikerinnen, die im gleichen Atem agieren und ihr Drängen und Innehalten perfekt abstimmen.
Am 30. November 2021 jährt sich Wilhelm Furtwänglers Todestag zum 67. Mal – kein runder Jahrestag zwar, nichtsdestoweniger ein guter Anlass, mit seinen Kritikern ins Gericht zu gehen, nämlich: kritisch zu betrachten, was sich an Vor- und Fehlurteilen über Furtwänglers Kompositionen in jahrzehntelanger Wiederholung verkrustet hat. Der erste Teil widmet sich einer ausführlichen Darstellung und Widerlegung der drei großen Vorurteile über den Komponisten Wilhelm Furtwängler.
Über wenige große Komponisten ist so viel Unsinn geschrieben worden wie über Wilhelm Furtwängler. Vorurteile gegen seine Musik lassen sich noch in Literatur finden, die Jahrzehnte nach seinem Tod erschienen ist. Ja, man kann sagen, es hat sich seit seinen Lebzeiten eine Tradition der Schmähung des Komponisten Furtwängler gebildet. Ihr Vokabular ist arm und darum repetitiv. Immer wieder liest man die gleichen wenig bis nichts sagenden Floskeln, die sich letztlich gegen ihre Urheber richten. Sie sind teils ideologischer Art, teils schlicht auf die Unfähigkeit der Autoren zurückzuführen, den Verlauf der Werke nachzuvollziehen, und natürlich verquickt sich beides häufig.
Es lassen sich innerhalb der entsprechenden Literatur drei Haupttendenzen feststellen. Handeln wir sie ab!
Vorurteil Nr. 1: Der nicht in seine Zeit Gehörige
Der vielleicht beliebteste Vorwurf, der gegen Furtwänglers Musik erhoben wird, ist der, sie sei (um es in abgegriffenen Floskeln auszudrücken) nicht „auf der Höhe der Zeit“ oder würde „den Forderungen der Zeit“ nicht gerecht. Das liest sich dann etwa so:
„So vermag er nicht zu spüren, dass die Epoche der romantischen Aussage heute der Vergangenheit angehört, nachdem ihr Kreis völlig abgeschritten war. Dies aber will der Komponist Furtwängler nicht wahrhaben. […] Was einst die Unschuld in der Musik zu manifestieren vermochte, was von der Natürlichkeit der Aussage gezeichnet war, was einst aus dem tonalen Kadenzprinzip einen lebendigen Organismus schuf, das ist heute steril und erschöpft. Furtwänglers Zweite Symphonie in e-Moll ist dafür ein Beweis.“ (Süddeutsche Zeitung, 10. Januar 1950)
„Da forscht ein unermüdlicher Sinnsucher und hofft wie Parsifal auf Erlösung im Reich der Klänge, verweigert sie sich aber immer wieder selbst, indem er, diesmal eher ein Don Quijote, anrennt gegen die Windmühlen seiner Zeit.“ (Rondo, 5. September 2002)
„Bei ihrer Uraufführung [gemeint ist die Symphonie Nr. 2] rührte sie die Frage des Spätgeborenen an, dessen Tragik es ist, die Sprache einer Zeit zu sprechen, die er existenziell längst verlassen hat.“ (Kurier, 21. September 1954)
„In seiner zweiten Symphonie unternimmt Furtwängler den Versuch – wir wiederholen uns, Verzeihung – [Ja, ihr wiederholt euch, Verzeihung!] – fünfzig Jahre Musikentwicklung zu negieren und wieder in der Tonsprache der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu sprechen.“ (Münchner Merkur, 15. Dezember 1954)
Äußerungen dieser Art gehen von dem Gedanken aus, dass sozusagen von „der Geschichte“ selbst (also von wem?) regelmäßig Parolen ausgegeben werden, was gerade als zeitgemäß und darum als bedeutend zu gelten habe, und jeder, der sich nicht an diese Vorgaben hält, mit Nichtbeachtung oder gar Verachtung abzustrafen sei. Hierbei wird mit der Schere im Kopf gedacht, denn es läuft darauf hinaus, die Existenz aller Phänomene zu leugnen, die nicht ins geistige Prokrustesbett der jeweiligen Autoren passen. Das Geleugnete ist aber nichtsdestoweniger da! Ein solches Denken verhindert von vornherein ein ganzheitliches Erfassen historischer Epochen, in welchen ja stets Traditionen und Neuerungen nebeneinander existiert haben und existieren. Zu welchen Ergebnissen dieses Scherendenken führt, zeigt folgender Passus aus Diether de la Mottes Harmonielehre (Kassel 1976, S. 261):
„10 bis 30 Jahre nach entschiedener Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität und dem Prinzip des Klangaufbaus durch Terzenschichtung entwickelten Schönberg und Hauer unabhängig voneinander unterschiedliche Zwölftontechniken, formulierte Hindemith in seiner ‚Unterweisung‘ die Gesetze seiner neuen Harmonik, stellte Messiaen eine neue modale Ordnung auf.“
Es lohnt sich, intensiv über diesen Satz nachzudenken, namentlich über die „Terzenschichtung“! Im jetzigen Zusammenhang soll lediglich die „Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität“ interessieren, die der Autor, rechnet man nach, auf um 1910 ansetzt. Noch einmal: Die Abkehr der meisten Komponisten von der Dur-Moll-Tonalität um 1910! Ich will de la Motte gar nicht vorwerfen, dass er mit Absicht unwahre Behauptungen in die Welt gesetzt hätte. Nein, er sprach einfach direkt aus, was für ihn und viele seiner Zeitgenossen Wahrheit war. So weit konnte es nur kommen, weil die Scheren in den Köpfen so sauber schnitten, dass die Menschen gar nicht mehr bemerkten, dass geschnitten wurde. Wer also nach 1910 in Dur und Moll komponierte, den gab es im Bewusstsein gewisser Autoren und ihrer Leser gar nicht mehr, und wenn doch noch jemandem der Name eines solchen Komponisten geläufig war, so konnte dieser für seine Werke jedenfalls nicht die hohe Ehre in Anspruch nehmen, zur Musik des 20. Jahrhunderts dazuzugehören! (Es fragt sich natürlich auch, ob nicht in Hindemith mehr Dur und Moll steckt, als de la Motte wahrhaben will. Und was ist mit Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan, Walton, Britten, Barber, Poulenc, Milhaud, Honegger, um nur einige der populärsten zu nennen, die #- und b-Vorzeichnungen, ja gar C-Dur nicht gescheut haben?) Dass gegen Ende des 20. Jahrhunderts plötzlich ganze Serien von CDs mit in unzweideutigem Dur und Moll komponierter Musik ebendieses 20. Jahrhunderts auf dem Markt erschienen, ist die logische Folge dieser Verdrängung. Man merkte schließlich allgemein, dass mehrere Generationen von Musikgeschichtsschreibern und Journalisten bei sich und anderen die Schere angesetzt hatten, und fragte völlig zurecht, was da weggeschnitten wurde. Der Schluss, der aus dieser Geschichte folgt, lautet: Musik des 20. Jahrhunderts ist Musik, die zwischen 1901 und 2000 entstanden ist. Jede andere Definition ist ideologisch motiviert.
Erst wenn man erkannt hat, dass Wilhelm Furtwängler eine genauso charakteristische Erscheinung seiner Epoche ist wie beispielsweise Arnold Schönberg, Igor Strawinsky, Paul Hindemith (drei Komponisten, deren Werke er dirigierte, obwohl er sie nicht sonderlich mochte), wird man ein lebendiges Bild dieser Epoche gewinnen können, wird man eine Vorstellung davon bekommen, welche Spannungen in ihr wirksam waren. Dann erweist sich die Behauptung, Furtwänglers Werke hätten fünfzig, ja siebzig Jahre zuvor komponiert werden können als das, was sie ist: ein Trick, den gewisse Autoren anwenden, um ihr auf Verdrängung gegründetes Musikgeschichtsbild aufrecht erhalten zu können. Fakt ist dagegen, dass auch Komponisten, die nicht versuchen, sich vom Dur-Moll-System zu lösen, um 1950 anders komponieren als ihre Kollegen um 1880. Will denn jemand wirklich im Ernst behaupten, ein Stück wie der Finalsatz der Dritten Symphonie Furtwänglers hätte im 19. Jahrhundert, etwa von einem Generationsgenossen Brahms‘ und Bruckners, geschrieben werden können? Sehen wir uns unter den Komponisten des deutschsprachigen Raumes in Furtwänglers Generation um, so finden wir etwa Ernst von Dohnanyi, Fritz Brun, Karl Weigl, Joseph Marx, Walter Braunfels, Egon Wellesz, Ernst Toch, Heinz Tiessen, Max Trapp, Gustav Geierhaas, Wilhelm Petersen, Philipp Jarnach, Erich Wolfgang Korngold. Auch sie schrieben Symphonien in klarem Dur und Moll, und auch diese Werke klingen anders als Symphonien der Zeit vor 1900. Hier eine historische Entwicklung zu leugnen, ist sinnlos.
Vorurteil Nr. 2: Der komponierende Dirigent
Das zweite große Vorurteil besagt, dass Furtwänglers Dirigententätigkeit seiner Entfaltung als Komponist hinderlich gewesen sei. Seine Kompositionen seien lediglich Aufgüsse der großen Meisterwerke, die er regelmäßig dirigierte. Es ist dies der Vorwurf der stilistischen Uneigenständigkeit und Unpersönlichkeit. Zur Beantwortung der Frage, ob ein großer Dirigent auch gut komponieren könne, genügt es, ein paar Namen zu nennen: Mahler, Strauss, Pfitzner und Reger, auch Mendelssohn, Schumann, Liszt, Wagner und Weber, Haydn und Bach, nicht zu vergessen Schütz und Praetorius, Lasso und Palestrina, sind dauerhaft oder zumindest zeitweise hauptberufliche Kapellmeister gewesen. Furtwängler war völlig im Recht, als er einmal bemerkte, dass es der natürliche Zustand sei, wenn ein Komponist sich auch als ausführender Musiker betätigt. Er selbst war ja nicht nur Komponist und Dirigent, sondern auch ein ausdrucksstarker Pianist, wie seine Aufnahmen Wolfscher Lieder und des Fünften Brandenburgischen Konzerts belegen – ein wahrhaft universaler Musiker! Seine Dirigentenlaufbahn begann er mit 20 Jahren, nachdem er bereits ungefähr 100 kleinere Stücke und eine Symphonie komponiert hatte. In seinem ersten öffentlichen Konzert 1906 erklang, wie in seinem letzten 1954, eine eigene Komposition. Als der jugendliche Furtwängler bei Josef Rheinberger und Max Schillings studierte – auch sie zugleich Komponisten und Dirigenten –, deutete noch gar nichts darauf hin, dass er einmal der berühmteste deutsche Kapellmeister werden würde, wohl aber alles auf eine Laufbahn als Komponist. Er war also kein Dirigent, der irgendwann begann sich einzureden, dass er auch komponieren müsse. Der Dirigent Furtwängler ist jünger als der Komponist.
Der Versuch, den Dirigenten Furtwängler gegen den Komponisten in Stellung zu bringen, konnte nur deshalb mit solcher Hartnäckigkeit durchgeführt werden, weil Furtwängler zu den ersten Dirigenten gehört, die ihr Repertoire umfassend auf Tonträgern festhalten konnten. Die Leistung des Dirigenten wurde so der Nachwelt überliefert und verschwand nicht in der Legende. Um sich die Bedeutung dieses Umstands zu verdeutlichen, denke man an Arthur Nikisch, Furtwänglers Vorgänger in Leipzig und Berlin. Wie wenig ist von ihm dokumentiert! Beethovens Fünfte, kürzere Stücke von Berlioz, Liszt und Mozart. Gewiss handelt es sich um Teile seines Kernrepertoires, aber was fehlt nicht alles: Die übrigen Beethoven-Symphonien, die Bruckner-Symphonien, von denen er die Siebte uraufgeführt hat, Brahms, Tschaikowskij, Felix Draeseke, für den er sich ähnlich stark gemacht hat wie später Furtwängler für Max Trapp und Heinz Schubert. Dem steht bei Furtwängler eine große Anzahl Aufnahmen gegenüber, deren Repertoire sich von Bach und Händel bis Ernst Pepping, Wolfgang Fortner und Karl Höller erstreckt. Freilich handelt es sich bei diesem Fundus letztlich um ein monumentales Fragment, gibt es doch nur vergleichsweise wenige Operngesamtaufnahmen (etwa von Wagner nur den Ring und Tristan) und Aufnahmen zeitgenössischer Musik (schmerzlich bedauert man etwa den Verlust der Konzertmitschnitte von Symphonien Frommels, Hessenbergs und Waltons), aber es genügt, ein umfassendes Bild vom Wirken des Dirigenten zu erhalten. Der Dirigent Furtwängler ist kein toter Musiker, den man nur aus der verbalen Überlieferung kennt. Anders als Dirigentenlegenden wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Carl Maria von Weber, Hans von Bülow, Fritz Steinbach, Ernst von Schuch blieb Furtwängler lebendig. Er dirigiert mittels Tonträgern mittlerweile für ein Publikum, das ihn nie gesehen hat.
Dagegen sieht es bei den etwas älteren Kapellmeister-Komponisten wie Strauss, Pfitzner, Schillings, Zemlinsky, Hausegger, Weingartner nicht wesentlich anders aus als bei Nikisch. Als einziger von ihnen hat Weingartner mit den Beethoven- und Brahms-Symphonien komplette Werkzyklen festgehalten. Von Schillings, Strauss und Pfitzner gibt es einige Aufnahmen eigener Werke, aber wenig Historisches und abgesehen von ihnen selbst nichts Zeitgenössisches, obwohl auch sie Uraufführungen anderer Komponisten geleitet haben. Gar keine Aufnahmen hinterlassen haben beispielsweise Jean-Louis Nicodé, Wilhelm Berger, Richard Wetz, Felix Woyrsch, Paul Büttner, Hermann Suter, Fritz Volbach. Diese Musiker haben nicht anders als Furtwängler einen Großteil ihres Lebens als Dirigenten zugebracht. Sie sind uns heute aber nur noch als Komponisten greifbar. Ihre Werke können wir spielen, ihre Aufführungen sind für immer verloren. So verhält es sich (abgesehen von wenigen Klavierrollen eigener Stücke) auch mit Gustav Mahler, dem seinerzeit berühmtesten Operndirigenten der Welt, dessen Symphonien und Lieder heute berechtigten Weltruhm genießen, wohingegen sie zu seinen Lebzeiten regelmäßig den Vorwurf über sich ergehen lassen mussten, nachempfundene „Kapellmeistermusik“ zu sein. War es für den Komponisten Mahler vielleicht letzten Endes ein Vorteil, dass die Kunst des Dirigenten Mahler mit seiner sterblichen Hülle verfrüht ins Grab sank? Wäre ein über seine Lebenszeit hinausreichender Dirigentenruhm vielleicht ebenso gegen seine Musik in Stellung gebracht worden, wie in Furtwänglers Fall?
Über Mahler sagt man, er war „Komponist und Dirigent“. Niemandem würde es heute mehr einfallen, ihn als „komponierenden Dirigenten“ zu bezeichnen. Dies würde als eine Minderung seines künstlerischen Ranges, ja als eine Schmähung gedeutet werden. Derjenige, der sich so äußerte, würde Gelächter auf sich ziehen. Furtwängler dagegen findet sich in der Literatur verschiedentlich als „komponierender Dirigent“ abgehandelt (so im Artikel „Symphonie“ in der zweiten Auflage der MGG). Wie definiert man aber, wer „komponierender Dirigent“ und wer „Komponist und Dirigent“ ist? Wenn Mahler kein „komponierender Dirigent“ ist und wenn, wie ich meine, diese Bezeichnung auch auf Furtwängler zu Unrecht angewendet wird, so lässt sich darunter wohl nur ein hauptberuflicher Kapellmeister verstehen, der das Komponieren nicht als sein wesentliches Betätigungsfeld erachtet, aber eben „auch“, „nebenbei“ „ein bisschen“ komponiert und ein Schaffen vorlegt, in dem es keine „Hauptwerke“ gibt. „Komponierende Dirigenten“ wären dann etwa Hermann Abendroth, Clemens Krauss, Rolf Agop, Günter Wand, Herbert Kegel. Sie alle beschränkten sich auf kleine Formen (Lieder) oder komponierten nur zu bestimmten Gelegenheiten (Bühnenmusiken). Dann gibt es Fälle, in denen ein Musiker zu Anfang seiner Laufbahn komponiert und dirigiert, jedoch zu einem frühen Zeitpunkt das Komponieren ganz aufgibt, um nur noch als Nachschaffender zu wirken. Dazu zählen beispielsweise Hans von Bülow, Bruno Walter, Carl Schuricht, Hans Rosbaud, George Szell, Igor Markevitch, auch Walter Rabl, der letzte Protegé von Johannes Brahms. Von ihnen gibt es zum Teil sehr ambitionierte Kammermusik- und/oder Orchesterwerke, zu welchen die Komponisten nach Ende ihrer schöpferischen Laufbahn sehr verschiedene Standpunkte einnahmen: Während etwa Szell im späteren Leben Aufführungen seiner Kompositionen zu verhindern suchte, war sich Markevitch gewiss, dass die Nachwelt die seinen zu schätzen wissen würde. Furtwängler fällt auch nicht in diese Kategorie schaffender Nachschaffender. Er gab das Komponieren eben nicht auf, fing viel mehr als beinahe Fünfzigjähriger erst richtig damit an.
Hier sind wir bei einem Sachverhalt angelangt, der viele Kommentatoren irritiert hat, nämlich der Tatsache, dass Furtwängler zwischen dem Te Deum (1909) und dem Klavierquintett (1935) – also während mehr als zweieinhalb Jahrzehnten – keine Komposition vollendete. Es mag in der Tat bizarr erscheinen, dass von diesem Komponisten nur Jugendwerke und relativ späte Arbeiten existieren – ungefähr, als hätte Beethoven sich nach den Joseph- und Leopold-Kantaten vorerst als Komponist zurückgezogen, um dann mit op. 106 wieder aufzutreten. Dies bietet böswilligen Betrachtern natürlich einen Angriffspunkt: Furtwängler habe es nicht verschmerzen können, in seiner Jugend als Komponist gescheitert zu sein und habe wieder zu komponieren begonnen, nachdem er als Dirigent eine herausgehobene Stellung erreicht hatte, die es ihm erlaubt habe, seine Musik gleichsam mit Gewalt dem Publikum aufzuoktroyieren. Dass die scheinbare Ruhephase tatsächlich eine Zeit der Reifung gewesen ist, die der Komponist brauchte, um seiner Ideen Herr zu werden und zu einem souveränen Künstler heranzuwachsen, geht diesen Betrachtern nicht auf. Hört man sich die Jugendarbeiten Furtwänglers an, so stößt man auf viel Halbgares, Unausgegorenes. In den beiden Jugendsymphonien in D-Dur (von der nur der erste Satz eingespielt wurde) und h-Moll (die über den ersten Satz nicht hinaus gekommen ist) begegnen großartige Themen, aber auch nicht zu leugnende Ungeschicklichkeiten in der Verlaufsgestaltung. Der junge Komponist kann die Spannung nicht aufrecht erhalten und verliert sich in einer Aneinanderreihung von einzelnen Momenten. Als gelungen kann man dagegen die Drei Klavierstücke von 1903 bezeichnen, bei denen es sich jedoch im Wesentlichen um Stilstudien nach Beethovens späten Bagatellen handelt. Mit Furtwänglers reifem Stil haben sie nichts zu tun. Furtwängler war tatsächlich um 1910 daran, „als Komponist zugrunde zu gehen“, wie er gegen Ende seines Lebens schrieb, denn er fühlte deutlich den Zwiespalt zwischen seinen Einfällen und seinen damals noch zu beschränkten Möglichkeiten, sie adäquat realisieren zu können. Er widmete sich verstärkt dem Dirigieren, weil ihm diese Art der musikalischen Betätigung leicht fiel, weil sie ihm das Überleben sicherte, natürlich auch, weil sie ihm rasch zu großen Erfolgen verhalf, aber er gab zwischen 1909 und 1935 das Komponieren nicht auf. Immer wenn ihm sein Dirigentenberuf Zeit ließ, arbeitete er an eigenen Werken, und damit an sich selbst. „Wer hohe Türme bauen will, muss lange am Fundament verweilen“, soll Anton Bruckner – wahrlich auch ein Spätentwickler – gesagt haben; Furtwängler wollte hohe Türme bauen, und er verweilte sehr lange am Fundament – mit Erfolg.
Als besonders schön habe ich an Furtwänglers reifen Werken stets empfunden, dass sie in einem so scharf profilierten Personalstil geschrieben sind, dass man ihren Autor bereits nach wenigen Takten erkennt. Furtwängler schreibt nicht kompliziert. Seine Harmonien sind immer funktional gedacht, und jede steht in einem Zusammenhang zur Vorangehenden und zur Folgenden. Selbst sehr scharfe Dissonanzen (etwa gegen Ende der Durchführung im Finale der Dritten Symphonie) stechen nicht als aufgesetzte „Modernismen“ heraus, sondern dienen dazu eine dramatische Wirkung zu erzeugen, die ihren notwendigen Platz innerhalb der Gesamthandlung hat. Dem Streben nach Einfachheit im Harmonischen entspricht seine Bevorzugung diatonischer Melodik. Seine Themen klingen vokal erfunden und sind stets sangbar (ein Potpourri der „schönsten Melodien“ Furtwänglers könnte ich jederzeit zum Besten geben). Allerdings sind es nicht eigentlich liedhafte Melodien. Zumindest wüsste ich keine, die ich mir als Volkslied denken könnte. Märsche gibt es bei ihm nicht, und Tanzcharaktere bestenfalls in äußerst sublimierter Gestalt. Es ist insgesamt eine nicht sehr „weltliche“ Musik. In seiner ausschließlichen Ausrichtung auf das Erhabene gleicht Furtwängler Bruckner – gewaltige Steigerungen und bedeutungsvolle Generalpausen („die Fenster in der Kathedrale“ nannte das Robert Simpson) gehören denn auch zu den liebsten Stilmitteln beider. Gerade Bruckner aber ist hinsichtlich der Melodik seiner Themen und ihrer metrischen Gestaltung nahezu Furtwänglers vollkommener Gegensatz: Bruckner liebt signalhafte Motive, häufig dreiklangsbasiert; die Hauptakzente liegen immer auf dem Anfang, er denkt entschieden abtaktig; Synkopen und Synkopenfolgen müssen immer auf metrisch schweren Zählzeiten beginnen; Abweichungen vom „quadratischen“ Bau der Perioden mit seinem regelmäßigen Wechsel „schwerer“ und „leichter“ Takte kommen sehr selten vor. Furtwängler entwickelt seine Themen weniger aus dem Dreiklang als aus der Tonleiter heraus und bevorzugt den Beginn auf leichter Taktzeit, sodass leise Anfänge wirken, als würden sich die Themen beim ersten Erscheinen unauffällig einschleichen. Mit dieser Neigung korrespondiert eine Vorliebe für Melodien, die nicht auf dem Grundton beginnen und nicht zu ihm hinführen, sondern ihn nur vorübergehend streifen. Dies erinnert ein wenig an das Streben mittelalterlicher Kirchengesänge von der Finalis weg, hin zur Repercussa. Überhaupt ähneln Furtwänglers Melodien am ehesten gotischen Chorälen, einer Art Musik also, mit der er sich kaum näher beschäftigt haben dürfte. Hier wie dort finden sich einfache Rhythmen und eine freie Metrik, die der Regelmäßigkeit Bruckners ganz entgegengesetzt ist. Eine Melodie in wechselnden Taktarten wie das Hauptthema des langsamen Satzes der Zweiten Symphonie, oder ein unregelmäßiger Takt wie zu Beginn des Finales desselben Werkes, wären bei Bruckner nicht zu denken. Das Erhabene stellt sich Furtwängler offenbar leichtfüßiger, schwebender, eleganter vor als Bruckner.
Ebenso wie Bruckner könnte man jeden von Furtwängler besonders geschätzten Komponisten zur Gegenüberstellung heranziehen (etwa Beethoven, Wagner, Brahms, Pfitzner) und müsste letztlich immer die Eigenständigkeit Furtwänglers gegenüber dem früheren Meister feststellen. Furtwängler hatte es wahrlich nicht nötig zu versuchen, den Stil irgend eines Anderen zu imitieren. Von seiner künstlerischen Unabhängigkeit zeugen nicht zuletzt die kritischen Betrachtungen in seinen Schriften und Aufzeichnungen. Der letzte Komponist, den er uneingeschränkt bewundert, ist Brahms. Wagner und Bruckner steht er bei aller Verehrung nicht unkritisch gegenüber. Über diejenigen Komponisten, die zu seiner Jugendzeit im Zenit ihres Ruhmes standen, äußert er sich, bei allem Respekt, kritisch (Strauss, Mahler) bis äußerst skeptisch (Reger). Am nächsten steht ihm unter ihnen Pfitzner, aber auch zu ihm bekennt er sich nicht ohne Einwände. In diesem Kontext betrachtet, wirkt das Furtwänglersche Komponieren – und die bereits deutliche stilistische Nähe des Te Deums und der Jugendsymphonien zu den Werken der Reifezeit bestätigt diesen Eindruck – wie eine schöpferische Kritik an seinen älteren Zeitgenossen. Er gefiel sich nicht in harmonischen Kompliziertheiten wie Reger, hatte keine Ambitionen auf dem Gebiet effektvoller Programmmusik wie Strauss, wollte nicht in Form gezielter stilistischer Buntscheckigkeit mit seinen Symphonien die Welt umfassen wie Mahler, und von Pfitzner trennte ihn der Umstand, dass dieser im Kern seines Wesens Lyriker war, Furtwängler dagegen Architekt.
Vorurteil Nr. 3: Die zu langen Werke
Das dritte große Vorurteil betrifft diesen Architekten. Es besagt, Furtwängler habe als Komponist zu viel gewollt und es nicht vermocht, mit seinen Gedanken Maß zu halten, was letztlich dazu geführt habe, dass ihm seine Werke in der Länge ausgeufert seien. Diese Behauptungen gehen von der Annahme aus, es müssten sich doch in den sieben Hauptwerken Furtwänglers, deren Spieldauern zwischen einer Dreiviertelstunde (Violinsonate Nr. 2) und anderthalb Stunden (Symphonie Nr. 1 in Fawzi Haimors Aufnahme) betragen, irgendwelche überflüssigen oder übermäßig weit ausgesponnenen Passagen finden. Dass Furtwängler dem Vorwurf übergroßer Länge von Anfang an besonders stark ausgesetzt war, hat auch historische Gründe, trat er doch mit seinen Werken gerade zu einer Zeit in Erscheinung als Kürze Trumpf war. In den 1930er Jahren herrschte die Mode der „Sachlichkeit“, worunter man u. a. ein Komponieren in knappen, angeblich klassischen Formen verstand. Später, nach dem Krieg, konnte auch der allem Neoklassizismus abholde, sich aber ausschließlich miniaturistisch ausdrückende Webern als Sachlichkeitsideal gedeutet werden. Furtwängler stand, ich wiederhole es, nicht „außerhalb seiner Zeit“, wohl aber stand er quer zum damals herrschenden Drang zur Kürze, der ja letztlich eine Umkehrung der um 1900 im Gefolge Wagners aufgekommenen Mode war, sich möglichst lang und breit auszudrücken.
Weder saß Furtwängler den Moden seiner Jugendzeit auf, noch denen, die später aufkamen. Kürze um der Kürze willen war ihm, der Chopin genauso sehr, wenn nicht noch mehr verehrte als Bruckner, und der, wie die frühen Klavierstücke zeigen, durchaus Talent zum Miniaturisten hatte, genauso wenig erstrebenswert wie Länge um der Länge willen. Was er anstrebte, war nichts anderes als seinen Gedanken die ihnen angemessene Entfaltung zukommen zu lassen. Hört man den Kompositionen aufmerksam zu, so wird man feststellen, dass sie gar nicht so immens lang wirken, wie ihre objektive Spieldauer vermuten lässt. Bei Furtwängler haben wir im Grunde das gleiche Phänomen vor uns wie bei Bruckner: Die Sätze dauern zum Teil über 20 Minuten und sind doch knapp geformt. Hören wir beispielsweise den ersten Satz der Neunten Symphonie Bruckners, so können wir bemerken, dass er im Grunde nur aus zwei großen Teilen besteht, denen sich eine kurze Coda anschließt. Robert Simpson nannte dies in seinem Standardwerk The Essence of Bruckner „Statement, Counterstatement, and Coda“ (Darstellung, Gegendarstellung und Coda). Sowohl „Statement“ als auch „Counterstatement“ gliedern sich in wenige Unterabschnitte, von denen jeder nach dem Prinzip der Entwicklung durch Kontrast eine bestimmte Funktion innerhalb des Gesamtverlaufs des Satzes einnimmt. Das „Counterstatement“ beginnt als Durchführung und nimmt später Reprisencharakter an, wobei der Übergang zwischen „Durchführung“ und „Reprise“ erst rückwirkend als solcher wahrgenommen wird. Obwohl mit rund 25 Minuten Spieldauer objektiv der längste Kopfsatz einer Bruckner-Symphonie, ist er doch durch die Verschmelzung von Durchführung und Reprise formal der kürzeste. „Lang“ wird er durch sein verhältnismäßig breites Tempo und die Weite der einzelnen Phrasen und Perioden, also durch die Größe der Bauteile, aus denen er errichtet ist. Nicht anders verhält es sich bei Furtwängler: Seine Sätze bestehen aus Abfolgen weniger, aber ausgedehnter Verläufe.
Haben dann vielleicht die einzelnen Glieder seiner Sätze Längen? Ein wiederholt gegen Furtwängler ins Spiel geführter Einwand betrifft seine häufige Verwendung von Sequenzen. So lautet auch der Hauptkritikpunkt in Gerhard Frommels Beurteilung der Zweiten Symphonie. Frommel (1906–1984) ist einer der wenigen Kritiker Furtwänglers, deren Einwänden sich nachzugehen lohnt, denn er war nicht irgendjemand, sondern einer der besten deutschen Komponisten seiner Generation und Furtwängler keineswegs übel gesonnen. Furtwängler schätzte ihn und brachte seine Erste Symphonie mit den Berliner Philharmonikern 1942 zur Uraufführung. Frommel nimmt in seinen 1975 verfassten Lebenserinnerungen seinen Bericht über den persönlichen Umgang mit Furtwängler zum Anlass, sich auch zu dessen Zweiter Symphonie zu äußern:
„Für die Aufführungschancen und darüber hinaus für eine gerechte Würdigung von Furtwänglers Leistung als Komponist sind die überdimensionalen Ausmaße dieser Symphonie äußerst nachteilig. Das lautere Gold vieler schöner Einfälle, z. B. der Anfang des langsamen Satzes, wird überschwemmt von manchmal fast unerträglich langen, sequenzierenden Entwicklungen, die bestechende Plastik und Einfachheit steht in mangelndem Gleichgewicht zu der überladenen Instrumentation dominierender anderer Formen.“
(Gerhard Frommel: Entwurf einer Autobiographie, Tutzing 2013, S. 81. Frommels konsequente Kleinschreibung wurde der konventionellen Rechtschreibung angeglichen.)
Dass Frommel an Furtwänglers wenig koloristischer Instrumentation Anstoß nahm, wird niemanden überraschen, der weiß, dass Frommel, im Gegensatz zu Furtwängler, ein Verehrer Strawinskys war und eine starke Affinität zu südländischer Musik besaß. Von diesem Standpunkt aus mag man tatsächlich manches als überladen empfinden. Schwerer wiegt die Kritik an der Sequenzentechnik. Aber sind diese sequenzierenden Entwicklungen tatsächlich „unerträglich lang“? Mir scheint, in Frommels Kritik schwingt die um 1900 als eine Art Abwehrreaktion gegen die Musik der Wagner-Nachfolge aufgekommene Scheu vor der Sequenz nach, die mit der Scheu vor der wörtlichen Wiederholung (die Mahler einmal als „Lüge“ bezeichnet hat) und der Hinwendung zum Aphoristischen (Debussy, Schönberg, Webern) in ein gemeinschaftliches musikgeschichtliches Kapitel gehört. Nun ist die Sequenz an sich weder gut noch schlecht, sondern ein gewöhnliches Mittel musikalischer Formung. Durch exzessiven und schematischen Gebrauch kann es sich freilich abnutzen und so der Wirkung einer Musik abträglich sein. Ob dieser Fall eintritt, liegt im Geschick bzw. Ungeschick des Komponisten begründet. Gerade aufgrund der Gefahren, die mit ihrer Verwendung verbunden sind, zwingt die Sequenz zum verantwortungsbewussten Umgang. Eine alte Faustregel besagt, dass man eine Sequenz nie auf mehr als drei Glieder ausdehnen sollte.
Betrachten wir nun kurz eine Furtwänglersche Sequenz. Sie findet sich gegen Ende des „Statements“ im Finalsatz der Zweiten Symphonie (in Furtwänglers Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern etwa ab 8’30“; in der Partitur, die sich auf IMSLP findet, ab S. 227). Ausgangspunkt der Entwicklung ist eine fünftaktige Periode (man beachte auch die metrische Freiheit mittels Taktwechsel), die von der Dominante von G zur Dominante von E führt. Sie enthält bereits in sich eine (variierte) Sequenz, in welcher ihr Kopfmotiv dreimal erklingt, bevor es in einen motivisch verschiedenen Anhang ausläuft. Diese fünf Takte werden nun auf anderer Stufe wiederholt, von der Dominante von C zur Dominante von A führend. Es folgt eine (fürs lesende Auge) scheinbar viergliedrige (und damit der „Faustregel“ scheinbar zuwiderlaufende) Sequenz des zweitaktigen Kopfmotivs: Beim ersten Mal hebt es auf der Dominante von F an, dann auf der Dominante von As, dann auf der Dominante von C, dann auf der Dominante von Es. Die Harmonien lassen indessen keinen Zweifel daran, dass es sich tatsächlich um zwei im Quintabstand aufeinander folgende zweigliedrige Sequenzen von jeweils vier Takten über dasselbe Material handelt. Die zweite dieser Sequenzen läuft dann in einen zweitaktigen Anhang aus, der selbst eine Sequenz aus zwei Gliedern ist. Der ganze hier besprochene Komplex ist als Steigerung zu dem „sehr gehaltenen“, hymnischen Thema gedacht, das an ihn anschließt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Furtwängler in diesem Abschnitt des Satzverlaufs die Sequenztechnik zwar sehr ausgereizt hat, aber nirgends der besagten „Faustregel“, die Bach, Mozart, Beethoven oder Brahms stets wach anwandten, zuwidergehandelt hat. Zudem muss man feststellen, dass hier eine lange Steigerung mit äußerst wenig motivischem Material bestritten wurde, also ein Fall bemerkenswerter kompositorischer Ökonomie vorliegt. Das ist kein Sequenzieren aus Unvermögen, auch kein Missbrauch der Sequenz. Es ist eine hohe Schule der Sequenz, die uns Furtwängler hier bietet! Deshalb erlaube ich mir, bei allem Respekt, Gerhard Frommels Ansicht, es gebe bei Furtwängler „unerträgliche“ Sequenzen, nicht zuzustimmen.
Aber verweilen wir ein wenig bei Frommel und hören, was er sonst noch über die Zweite Symphonie schreibt. Eine Seite weiter liest man in seinem autobiographischen Entwurf folgendes:
„Im Gegensatz zu der gängigen Meinung möchte ich der Symphonie […] genialische Züge keineswegs absprechen, und, was die extrem traditionelle Musiksprache betrifft, so sind die mich beeindruckenden Partien in meiner Sicht geradezu ein Beweis, dass auch in unserem Jahrhundert persönliche, eigenständige Aussage im traditionellen Idiom möglich ist. Nebenbei bemerkt finden sich in der Symphonie auch strukturell höchst interessante Einzelheiten, so der fünfstimmige Kanon in der langsamen Introduktion des Finales. […] Zusammengefasst: Über den Fall ‚Furtwängler als Komponist‘ sind die Akten wohl noch nicht geschlossen, vielleicht noch nicht einmal eröffnet.“
Ob man mittlerweile sagen kann, die Akten seien geöffnet worden? Immerhin liegen Furtwänglers sämtliche Hauptwerke in mehreren Einspielungen vor. Gerade in den Jahren seit der Jahrtausendwende hat sich diskographisch einiges für ihn getan. Historische Aufnahmen wurden veröffentlicht, und Neueinspielungen durchgeführt. Die wissenschaftliche Literatur hält sich allerdings in Grenzen. Eine knappe, aber gute Einführung zu Furtwänglers kompositorischem Werk bietet der Aufsatz „Wilhelm Furtwängler als Komponist – das Ethos eines Künstlers“ von Bruno d’Heudières in den 1998 bei Ries & Erler erschienenen Furtwängler-Studien I (Hrsg. Sebastian Krahnert), denen leider kein zweiter Band gefolgt ist. Das einzige mir bekannte Buch, das sich dem Komponisten Furtwängler widmet, ist Oliver Blümels analytisch leider ziemlich missglückte Studie Die zweite und die dritte Symphonie Wilhelm Furtwänglers (Berlin: Tenea 2004). Die Akten sind also geöffnet, aber zu schreiben gibt es noch viel.
Furtwängler meinte gegen Ende seines Lebens in einem Anfall von Resignation, dass seine Kompositionen mit ihm verschwinden würden. Dieser Fall ist nicht eingetreten. Seine Werke wurden nach seinem Tode zwar nicht häufig gespielt, gelangten aber doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit zur Aufführung. Dabei widmete man sich schließlich auch den zu seinen Lebzeiten nicht erklungenen Werken: der Ersten und der Dritten Symphonie sowie dem Klavierquintett. Da oft ein Jubiläum den Anlass gab, eines der Stücke aufs Programm zu setzen, kann man natürlich einwenden, es habe sich in diesen Fällen um bloße Akte der Pietät zum Gedächtnis des großen Dirigenten gehandelt. Sicherlich waren sie auch das, aber man hätte Furtwängler auch mit seinen Lieblingsstücken der klassischen Meister, mit Beethoven und Brahms etwa, feiern, oder aus Pietät nur einen einzigen Satz, etwa das Andante der Zweiten Symphonie aufs Programm setzen können. Man führte aber in der Regel die Werke vollständig auf. Hätten sich namhafte Dirigenten und Solisten dazu bereit gefunden, diese Werke zu Gehör zu bringen, wenn diese das gewesen wären, was die Schmäher Furtwänglers in ihnen sehen wollten: überlange, epigonale Zeugnisse der Selbstüberschätzung eines komponierenden Dirigenten?
Ja, warum haben Musiker wie Edwin Fischer (Klavierkonzert, Uraufführung), Hugo Kolberg (Violinsonate Nr.1, Uraufführung), Georg Kulenkampff (Violinsonate Nr. 2, Uraufführung), Eugen Jochum (Symphonie Nr. 2), Joseph Keilberth (Symphonie Nr. 3, Uraufführung der ersten drei Sätze), Yehudi Menuhin (Uraufführung der vollständigen Symphonie Nr. 3, Te Deum), Wolfgang Sawallisch (Symphonie Nr. 3, Uraufführung des Klavierquintetts), Lorin Maazel (Symphonie Nr. 3), Daniel Barenboim (Symphonie Nr. 2, Klavierkonzert), Zubin Mehta (Klavierkonzert), Rafael Kubelík (Klavierkonzert), Erik Then-Bergh (Klavierkonzert), Paul Badura-Skoda (Klavierkonzert), Lothar Zagrosek (Klavierkonzert), Hans Chemin-Petit (Te Deum), die doch allesamt keine Niemande gewesen sind, sich bereit gefunden, diese Werke aufzuführen?
Am Donnerstag, 4. 11. 2021, sowie am Freitag, 5. 11. 2021, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter François-Xavier Roth drei Klassiker der Moderne: Claude Debussys Jeux, Arnold Schönbergs Klavierkonzert mit dem Solisten Kirill Gerstein sowie Igor Strawinskys Le sacre du printemps. Die Rezension bezieht sich auf den zweiten Konzerttermin.
Dass der BR bei der Planung der laufenden Saison die Abo-Reihen erst ab Januar 2022 starten lässt, und alles davor als „Sonderkonzerte“ unters Publikum zu bringen versucht, hat durchaus auch seine Vorteile. Erklangen bereits bei den Antrittskonzerten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks in der neuen Isarphilharmonie letzte Woche ausschließlich Werke des 20. Jahrhunderts (Kabeláč, Britten und Schostakowitsch, siehe Rezension), so wählte man nun für den Herkulessaal drei echte, alle auf ihre Art wegweisende Klassiker der Moderne aus, die man sicher so konzentriert selten in einem Konzert zu hören bekommen dürfte. Ob es doch wieder an den auch das Publikum fordernden Klängen lag, oder an den bereits angekündigten, erneuten Corona-Verschärfungen: Immerhin war am Freitag der Herkulessaal zu gut zwei Dritteln gefüllt, wenn man es einmal positiv betrachtet. Angesichts der hohen Inzidenzen behielt der größere Teil der Besucher im Saal freiwillig seine Masken auf.
François-Xavier Roth, seit sechs Jahren GMD der Stadt Köln, beginnt den Abend mit Debussys Ballettmusik Jeux, die der Komponist als „poème dansé“ bezeichnet und die ihre eigentlichen Erfolge seit jeher im Konzertsaal gefeiert hat. Debussy treibt mit diesem letzten Orchesterwerk seine Instrumentationskunst auf die Spitze: Klang bzw. Klangfarbe wird hier auf revolutionäre Weise zum zentralen Parameter, hinter dem bei bereits erstaunlich fortgeschrittener Harmonik und sich ständig modifizierender Rhythmik mit enorm flexiblen Tempi die eigentliche motivische Arbeit – zumindest für den Hörer – in den Hintergrund tritt. Damit wurde Jeux zu einem der Katalysatoren der Avantgarde nach 1945. Hier ist der französische Dirigent, der auf einen Taktstock verzichtet, mit klarer Gestik ohne Mätzchen und präziser Agogik in den Übergängen in seinem Element. Im Gegensatz zu Ravel funktioniert Debussys sensible Klangchemie ja keineswegs von selbst, benötigt sehr direkte Kontrolle und genaueste Probenarbeit. Dem BRSO gelingt dies hier in jedem Detail. Die Momente, wo die Musik zwischen unvorhersehbar indifferenten Subtilitäten sehr konkret zu tanzen beginnt, wirken so geradezu betörend – eine ganz ausgezeichnete Darbietung, die die hohen Erwartungen an Roth seit seinem vorzüglichen Feuervogel vor gut 2½ Jahren voll erfüllt. Das Publikum ist entsprechend angetan.
Kirill Gerstein ist, spätestens seit seiner beachtlichen Bostoner Live-Aufnahme des intrikat schwierigen Busoni-Klavierkonzertes, sicher zu den technisch befähigtsten Virtuosen zu zählen. Den Herkulessaal kennt er ebenfalls, hat Anfang 2020 dort Thomas Adès‘ neues Konzert aufgeführt, das freilich seine Wirkung über Strecken aus oberflächlichen Effekten erzielt. Dennoch war dies, noch mehr 2018 Bernsteins Age of Anxiety, auch vom Anschlag her durchaus differenziert und überzeugend gestaltet. Am heutigen Abend ist der Künstler jedoch eine einzige Enttäuschung! Schönbergs zwölftöniges Klavierkonzert von 1942 widerlegt eigentlich die weitverbreitete Meinung, solche Musik sei unverständlich, kalt oder gefühllos. Ganz im Gegenteil: Die vier Abschnitte des Stückes bauen auf fest umrissenen, emotionalen Situationen auf, mit einer an die Romantik anknüpfenden Teleologie – vom heiter durchsichtigen Beginn mit typisch wienerischer Jovialität über die sich bald erschreckend steigernde Dramatik bis zur desolaten Verzweiflung des Adagios, wonach sich der Solist in einer kurzen Kadenz quasi am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht, um nach einigem Zögern affirmativ optimistisch in die Zukunft zu blicken.
Man fragt sich, woran es wohl liegen mag, wenn ein Pianist derartig verspannt und mit klobigem Anschlag agiert wie Gerstein. Ist’s der Flügel? Stört die Bedienung des Notepads (selbst Brendel spielte das Schönberg-Konzert nie auswendig)? Schon das lange Hauptthema klingt nur hart, keine Spur von Leichtigkeit oder Wiener Schmäh. Das wird in der Folge noch schlimmer: Bei aufsteigenden Kaskaden übertönt Gerstein immer brutal das Orchester, das zumindest in der ersten Hälfte versucht, seinen thematischen Figuren adäquat Gestalt zu verleihen. Dies ist aber weder das Busoni-Konzert noch der alte Gasteig, wo sich der Solist derart berserkerhaft Gehör verschaffen muss. Schönberg schreibt bei seinem Opus 42 nicht allzu viel in die Noten. Von dem, was hier alles „zwischen den Zeilen“ zu entdecken wäre, ist Gerstein jedenfalls meilenweit entfernt. Nein, man muss das Stück nicht derart romantisieren wie Kubelik. Wer allerdings das Schönberg-Konzert mit Brendel oder Aimard erlebt hat, weiß, welche Schönheiten hier besonders im Klavierpart realisierbar sind. Beim Giocoso-Thema des letzten Abschnitts scheint es, als ob Gerstein nun umdenkt; aber statt dieses zarte Pflänzchen langsam wachsen zu lassen, bis das Konzert ganz am Schluss ekstatische Freude versprüht, poltert er doch schnell wieder gewalttätiges Hardcore-Gehämmer herunter. Und – auch wenn das Werk fast in C-Dur endet: Es ist eine Unsitte, dem eher kurzen Schlussakkord noch eine Fermate aufzusetzen. Mit seinen Zugaben – einer Debussy-Etüde und einem Jazz-Standard von Oscar Levant, dem ursprünglich geplanten Widmungsträger des Schönberg-Konzerts – kann Kirill Gerstein den zweifelhaften Eindruck nicht wettmachen.
Zu Strawinskys Le sacre du printemps – einst Skandalstück, heute Publikumsrenner – braucht man nicht viel zu sagen. Das Werk ist mittlerweile eine Visitenkarte jedes Orchesters mit entsprechender Besetzung. In der Aufführung heute geht nicht alles glatt: Richtig gut sind die beiden Einleitungen und vom Tempo her eher ruhige Teile (Rondes printanières usw.). Aber ein paar schwierige Passagen klappern dann hörbar: Danse de la terre spätestens ab dem Trompeteneinsatz, manches im Danse sacrale. Völlig unverständlich, wie ein ausgebuffter Profi wie Roth es über etliche Takte [Zif. 131] nicht schafft, ein wenig nervös gewordene Holzbläser – die ansonsten einen exzellenten Job machen! – wieder zusammen zu bringen. Die Dynamik gerade an Tutti-Stellen könnte besser gestaffelt sein: So verpufft die 1913 das Zwerchfell so ungewohnt massierende Polyrhythmik teils in lautem Klangbrei (Cortège du sage). Das hohe Violinsolo [Zif. 83] könnte man besser durchlassen. Dies sind ziemliche Beckmessereien; das Orchester hat den Sacre natürlich drauf – wurde gerade deshalb etwa zu wenig geprobt? Jedenfalls hat man das Stück vom BRSO schon besser gehört, zuletzt unter Cristian Măcelaru und natürlich Mariss Jansons. Der Beifall des Publikums ist trotzdem beinahe frenetisch.
Sophie Dervaux (Fagott) und Selim Mazari (Klavier) widmen sich auf ihrem bei Berlin Classics erschienenen Album Impressions französischen Kompositionen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Ich weiß schon, warum das Fagott zu meinen Lieblingsinstrumenten gehört. Noch dazu, wenn es von solch einer Könnerin gespielt wird! Sophie Dervaux präsentiert auf ihrer CD Stücke französischer Komponisten, die ihr als Französin natürlich besonders liegen. Im Booklet betont sie in einem Interview, wie wichtig es ihr ist, die verschiedenen Möglichkeiten des Fagotts zu zeigen, von den tiefsten Basslagen bis hin zu ungewöhnlichen melodischen Possibilitäten.
Verständlicherweise kommen Bearbeitungen solcher „Reißer“ wie Debussys Clair de Lune, Faurés Après un Rêve und Ravels Habanera dran. Aber eben auch in Deutschland weniger Bekanntes wie die 1918 komponierte dreisätzige Sonate op. 71 von Charles Koechlin (1867–1950), die Transkription des Liedes A Chloris von Reynaldo Hahn (1874–1947), oder die Sarabande von Henri Dutilleux (1916–2013), ein Frühwerk von einem der außergewöhnlichsten Komponisten des modernen Frankreich. Den Abschluss bildet die Komposition Interferences von Roger Boutry (1932–2019), bei der Sophie Dervaux in Bereiche des Instruments vorstößt, die extrem ungewöhnlich sind und einen schönen Kontrapunkt bilden zur Sonate op. 168 von Camille Saint-Saëns (1835–1921).
Die Arrangements stammen von der Musikerin selber und von ihrem Lehrer Carlo Colombo. Der Pianist Selim Mazari, der „begleitet“, ist ein adäquater Partner, sehr sensibel und bereitet damit genau das „Silbertablett“ vor, auf dem die Solistin wunderbar zum Strahlen kommt. Es ist eine wunderbare CD, die hoffentlich diesem Instrument noch viele Türen öffnen kann.
Ars Produktion Schumacher, ARS 38 308; EAN: 4 260052 383087
Uta Weyand spielt ein Programm aus vier Stücken, die alle im Jahr 1892 komponiert wurden – auf einem Steinway & Sons aus dem eben diesem Baujahr. Sie beginnt in Frankreich mit Claude Debussys Nocturne, setzt ihre Reise fort nach Spanien zu Isaal Albéniz, von dem sie drei Stücke aus Cantos de Espana op. 232 spielt, und nach Norwegen zu Edvard Grieg, dessen Lyrische Stücke op. 57 erklingen. Schließlich erreicht sie Österreich und präsentiert die dort komponierten Fantasien op. 116 von Johannes Brahms.
Das Projekt hat etwas Besonderes: vier unterschiedliche Werke aus dem gleichen Jahr auf einer CD zusammenzufassen und dazu noch gespielt auf einem Flügel aus dem gleichen Jahr. Dies holt nicht nur den Klang der damaligen Zeit zu uns ins Wohnzimmer, sondern zeigt auch auf, wie vielfältig und grundverschieden die einzelnen Musiktraditionen Ende des 19. Jahrhunderts ausarteten. Wer noch die Vorstellung einer linearen Musikgeschichtsführung vertritt, wird spätestens durch diese CD vom Gegenteil überzeugt.
Uta Weyand spielt einen Flügel aus dem Besitz von Alexander Friedrich Landgraf von Hessen (1863-1945), der sich noch immer im Schloss Fasanerie befindet, nun ein privates Museum im Besitz des Großneffen Rainer von Hessen. 2014 wurde das Instrument grundsaniert, wozu Weyand durch ein Benefizkonzert beitrug und im Rahmen dessen den Flügel kennenlernte und sich in seinen präzisen und gleichzeitig lyrisch-singenden Ton verliebte.
1892: In diesem Jahr wurden erste Telefonleitungen von New York nach Chicago eröffnet, die Zeit wurde synchronisiert, Fußballclubs gegründet, Sherlock Holmes-Romane veröffentlicht. Dvorák wurde nach New York berufen und arbeitete an seiner Symphonie aus der Neuen Welt, Rachmaninoff schrieb sein Erstes Klavierkonzert, Strauss seine Macbeth, Sibelius seinen Kullervo, Tschaikowski Den Nussknacker und Jolanthe, Leoncavallo Pagliacci, Rimski-Korsakov Mlada und Magnard Yolande. Es herrscht Aufbruchsstimmung in Politik wie Kultur, Altes steht neben Neuem, die Einflüsse beginnen zu vermischen und Individualitäten schälen sich kontinuierlich mehr und mehr aus dem nur noch vereinzelt für zusammengehörig geglaubten Strom heraus.
Als Debussy seine Nocturne komponierte, hatte er bereits mit seinen Deux Arabesques (1888-91) und der Suite bergamasque (1890) seinen Klavierstil begründet, der sich bald schon mit den Images (1894) festigen wird. Verglichen mit den anderen Beiträgen dieser CD holt Ute Weyand am wenigsten aus diesem Stück heraus: es fehlt das „Parfüm“, die Aura des Klangs, mit dem Debussy einen so verzaubern kann wie kein anderer – also die zartbesaitete Fragilität der Linie, die dennoch ausstrahlt und durch bebende Harmonien introvertiertes Volumen erhält. Technisch betrachtet wirkt die Gestaltung zu „real“, zu robust und zu kernig im Anschlag.
Präzision und Feingefühl entwickelt Uta Weyand bei Isaac Albéniz, aus dessen Cantos de Espana op. 232 sie drei Stücke spielt, von welchen eigentlich nur das Prélude 1892 veröffentlicht wurde – es ist bekannter in der Version für Gitarre mit dem Titel Asturias. Córdoba und Seguidillas wurden erst 1898 hinzugefügt. Das Werk zieht seine Einflüsse aus der spanischen Folklore und wurde vom Komponisten in seinem unverkennbaren Individualstil gesetzt, den man heute dem Impressionismus zuordnet – hauptsächlich wohl, da die französischen Impressionisten eine Vorliebe für Spanien entwickelten und die Form-, Rhythmus und Harmoniemodelle übernahmen. Weyand gelingen vor allem die unscheinbaren Kontraste zwischen den rhythmisch vorwärtstreibenden und den singenden Passagen, allgemein behält sie die Contenance, sich nicht von der gewaltigen Energie dieser Stücke hinfortschwemmen zu lassen.
Die drei Säulen von Griegs Musik sind 1) die Folklore, 2) die romantische Tradition von Schumann, Mendelssohn und Gade (zumindest dessen hochinspiriertes Frühwerk) sowie 3) die moderne Harmonik, welche er wie kaum ein anderer Komponist prägte. Letzteres mag vielen wunderlich erscheinen, da man Grieg in das Klischee eines verträumt-romantischen Lyrikers zwängt, welches ihm in keiner Weise entspricht: Debussy und Ravel bekundeten beide offen, die Einflüsse Griegs würden in jedem ihrer Werke wirken. Bestes Beispiel ist das hier zu hörende Stück Illusion, welches mit einem übermäßigen Akkord ansetzt, welches sich erst später als Dominante entpuppt. In den Lyrischen Stücken op. 57 widmet er sich besonders seiner musikalischen Herkunft, widmet zwei Stücke seinem einstigen Lehrer Nils W. Gade (Gade und Geheimnis, welches in der leicht versteckten Tonfolge G-A-D-E liegt) und kehrt sich in Entschwundene Tage und Heimweh seiner norwegischen Heimat zu, die er durch stilisierte Volksmusik anklingen lässt, wobei diese beide Male nur als vergangener Traum erscheint. In diese leichte, angenehme und doch vorwärtsgewandte Musik taucht Uta Weyand besonders tief ein. Gerade die Volksmusikanklänge bestechen durch ihr unwirkliches Erscheinen; die Tasten singen förmlich die Melodien mit, während auch die komplexen harmonischen Fortschreitungen verständlich erscheinen.
Ganz zuhause ist Uta Weyand dann bei Brahms, dessen Fantasien op. 116 bestehend auf drei wilden Capricci und vier gemäßigteren Intermezzi sie an den Schluss dieser CD setzte. Hier herrschen herbere Kontraste und virtuoses Spiel vor, die Musik steht mit beiden Beinen auf der Erde und negiert den träumerischen Stil, den die zuvor erklingenden Werke je auf ihre Weise verfolgen. Mit robustem, nicht aber harten Ton bewältigt Weyand diese Musik, elegant und doch energiegeladen wie eine Löwin holt sie Ausdruck und Kernigkeit aus dem historischen Instrument heraus.
Der niederländische Pianist Ralph van Raat präsentiert »Französische Klavier-Raritäten«, darunter einige erst spät aufgetauchte Stücke von Debussy und Ravel, Messiaens «La Fauvette passerinette» sowie zwei Solonummern aus «Des canyons aux étoiles». Höhepunkt sind aber drei Stücke von Boulez: Une page d’éphéméride, die frühen 12 Notations und – als Ersteinspielung – Prélude, Toccata et Scherzo.
Ralph van Raat (Jahrgang 1978) hat sich mittlerweile als Spezialist für Neue Musik ein ziemlich beeindruckendes Repertoire erarbeitet und für Naxos schon etliche Alben eingespielt, darunter Pärt, Adams, Tavener und Rzewski. Auf der neuen CD widmet er sich noch recht unbekannten Werken von vier französischen „Großmeistern“ der Klaviermusik: Debussy, Ravel, Messiaen und Boulez. Dennoch sind die hier vorgelegten Stücke allesamt bereits auf CD erhältlich – bis auf eines: Pierre Boulez‘ Prélude, Toccata et Scherzo, ein Frühwerk (1944), das der Komponist nie veröffentlicht hat, das aber bereits an der Schwelle zu seinen „offiziellen“ Stücken steht und den Rezensenten hier restlos begeistern konnte.
Bleiben wir zunächst bei Boulez: Die nur Monate später entstandenen, knappen – insgesamt ~ 10-minütigen – Douze Notations zeigen einen radikalen Stilwandel, verkürzt: eine Hinwendung von Schönberg und Messiaen zu Webern. Jedes Stück hat genau 12 Takte und alle benutzen dieselbe Zwölftonreihe. Van Raats Darbietung deutet die Musik als Abfolge von kontrastierenden Charakterstücken, klanglich kultiviert, mit intelligentem Pedalgebrauch und Sinn für „schöne“ Wendungen. Von der Radikalität und auch Rauigkeit, die etwa Pi-Hsien Chen oder Pierre-Laurent Aimard hier immer zelebrieren, distanziert er sich aber anscheinend ganz bewusst. Dafür gelingt ihm bei Prélude, Toccata et Scherzo – mit 27 Minuten immerhin so umfangreich wie die 2. bzw. 3. Sonate – ein echter Premieren-Kracher. Die Musik ist derart mitreißend virtuos und lässt, besonders in der Toccata, schon den echten Boulez aufblitzen, dass man staunt, warum der Komponist dieses erstklassige Werk dem Publikum so lange vorenthalten hat – bis er es von Ralph van Raat hörte. Boulez‘ letztes Klavierstück Une page d’éphéméride ist mehr als ein „Albumblatt“ – schade jedoch, dass Naxos die etwas älteren Incises auf einen gesonderten Digital-Download (10 Minuten für 8 Euro ?!?) ausgelagert hat.
Man hätte stattdessen besser einen der Solo-Sätze aus Messiaens vielleicht großartigstem Orchesterwerk Des canyons aux étoiles weglassen können. Nicht, dass van Raat Le Cossyphe d’Heuglin und Le Moqueur polyglotte weniger gut spielte – auch hier hat er seinen eigenen, typisch klangschönen Zugang für die eigenartigen Vogelklänge. Trotzdem entfalten diese beiden Sätze erst im großen Kontext ihre wahre Bedeutung. Lohnenswert auf alle Fälle die erst 2012 entdeckte La Fauvette passerinette, gewissermaßen eine Zugabe zum großangelegten Catalogue d’oiseaux. Die „Spätentdeckungen“ von Debussy und Ravel sind natürlich interessant, aber dennoch nur etwas für den enzyklopädischen Sammler: Ravels Menuet ist lediglich eine Petitesse, Debussys Les Soirs illuminés par l’ardeur du charbon war ein Geschenk an seinen Kohlenhändler im strengen Winter 1917, das an ähnlich betitelte Stücke aus den Préludes anknüpft, die Étude retrouvée ist die – dann verworfene – Erstfassung der Etüde Pour les arpèges composés. Ralph van Raat gestaltet dies so, dass die historischen Zusammenhänge sofort evident werden.
Fazit: Erstklassig dargebotene Seltenheiten, die mancher vielleicht trotzdem schon kennt. Aber allein wegen Boulez‘ Prélude, Toccata et Scherzo wird diese Scheibe dann doch ein absolutes Muss für jeden Freund moderner Klaviermusik. Da war Naxos mal wieder schneller als die Konkurrenz…
Unter dem Titel „France
Romance“ verbergen sich Klavierwerke vorwiegend französischer Komponisten,
gespielt von Kotaro Fukuma. Auf dem Programm stehen zwei kurze Werke Debussys,
aus der Feder Faurés zwei der acht kurzen Stücke op. 84 und die drei Romanzen
ohne Worte op. 17, Ravels Pavane pour une infante défunte und La Valse (neu
arrangiert), die erste der Gymnopédies und Je te veux (bearbeitet vom
Pianisten) von Satie, Poulencs 15. Improvisation und drei Novelettes, 6
Arrangements des Bulgaren Alexis Weissenberg von Charles Trenets Liedern und
Parlez-moi d’amour von Jean Lenoir, arrangiert vom Pianisten.
Zunächst erweckte dieses bunt gemischte Programm
verschiedener, größtenteils französischer Komponisten mein Interesse, denn man
hätte einige Werke dieser Tonsetzer sicherlich stimmig zusammenfügen können zu
einem einheitlich wirkenden Ganzen. Doch das Aufstellen eines guten Programms
ist eine Kunst für sich, wie diese CD als Gegenbeispiel eindrücklich zeigt.
Zusammengefasst wurden die Werke unter dem kitschigen Titel
„France Romance“, was weder der epochalen Vielseitigkeit der Musik gerecht
wird, noch derem teils enormen Gehalt. Auch die Reihenfolge der einzelnen
Stücke wirkt komisch: Wie kann man nach dem skurrilen und hoch virtuosen
Glanzstück La Valse die „Möbelmusik“ Saties, zumal dessen erste Gymnopédie,
programmieren? Sicherlich, Kontraste geben Vielfalt und halten die Spannung,
doch es hängt schließlich auch keiner einen Bilderrahmen eines schwedischen
Möbelkonzerns neben die Mona Lisa. Wo es hier zu viele Kontraste gibt, gibt es
an anderen Stellen zu wenige, und ein sentimentales Stück reiht sich ans
Nächste. Will also Kotaro Fukuma ein seriöses Klavieralbum präsentieren oder
eine Kamin-Musik für romantische Abende? Die Zusammenstellung passt zu keinem
von beidem.
Technisch spielt Kotaro Fukuma auf höchstem Niveau und
bleibt absolut akkurat, was die Ausführung der Spielanweisungen angeht. In den
melancholischen und sentimentschwangeren Stücken verträumt er sich gerne in
eine Stimmung, hier könnte er noch mehr die innermusikalischen Kontraste
hervorheben. Präzise bleibt Fukuma in La Valse, dem er noch einige der
Orchesterstimmen hinzugefügt hat: Bei diesem Werk merkt man die enorme Arbeit,
die der Pianist hineinstecken musste, um die eigenwillige Klangwelt zum Leben
zu erwecken, was abgesehen des etwas gedroschenen Finals durchaus gelingt.
Weniger Mühe machte sich Fukuma mit Ravels Pavane pour une infante défunte, das
zwar seine Wirkung nicht verfehlt, allerdings in vielen Details vor allem der
Pedalisierung nicht der Intention des Komponisten entspricht: welch enormen
Ausdruck kann das Thema entfalten, wenn man es die ersten beiden Male ohne oder
fast ohne Pedal nimmt! Ich denke hier an die grandiosen Aufnahmen von Juan José
Chuquisengo und auch die von Håkon Austbø, welche das je auch ihre Art intensiv
und reflektiert umgesetzt haben. Etwas schockiert war ich von Fukumas
Bearbeitung von Saties Je te veux. Dieses Lied lebt, wie eben die Musik Saties
allgemein, von größtmöglicher Einfachheit und Sachlichkeit: Fukuma fügt
allerdings virtuose Passagen wie von Liszt ein, verschnörkelt die Melodie oder
fügt neue Stimmen hinzu. Bei romantischer Musik ließe sich sowas durchaus
machen, nicht aber bei einer Musik, die eben aller Virtuosität entsagt.
SWR music publiziert
eine CD mit dem Klavierrezital des französischen Pianisten Samson François vom
3. Mai 1960. Auf dem Programm stehen zwei Lieder ohne Worte (op. 67/5 und op.
62/6) von Felix Mendelssohn, die Nocturne f-Moll op. 55/1 sowie die
Klaviersonate Nr. 2 b-Moll op. 35 von Frédéric Chopin, drei Preludes von Claude
Debussy (La danse de Puck, La cathédrale engloutie, Feux d’artifice) und die 7.
Klaviersonate B-Dur op. 83 von Sergei Prokofieff.
Oberflächlich bekannt als enfant terrible, als glänzender
Virtuose und dem Alkohol zugeneigter Nachtschwärmer, vergisst man gerne die
unvorstellbare musikalische Potenz von Samson François. Der Pianist starb
bereits im Alter von 46 Jahren an den Folgen eines zwei Jahre zuvor erlittenen
Herzinfarkts und wir können nur erahnen, was wir von ihm noch hätten erwarten
können. Vorliegende CD gibt uns ein umfangreiches Bild seines Schaffens, wir
hören ein Rezital vom 3. Mai 1960, welches er also kurz vor seinem 36
Geburtstag spielte.
Samson François war ausgestattet mit einem genuinen Gespür
für musikalischen Ausdruck; er wusste genau, wie viele Freiheiten er sich
lassen konnte, um die Musik zur vollen Entfaltung zu bringen, so dass sie weder
zum Museumsstück noch zum persönlichen Stimmungsgemälde degradiert wird. Bei
aller Wildheit bleibt dabei die Struktur klar und die Linien nachvollziehbar,
die innermusikalischen Kontraste deutlich. François spürte die Intention des
Komponisten auf und brachte diese ans Licht, wodurch er verblüffende
Gegendarstellungen zu den landläufigen Vorträgen der Stücke schuf.
Das Programm wählte Samson François geschickt und
abwechslungsreich, so dass es gut am Stück durchhörbar ist, ohne, dass die
Aufmerksamkeit schwindet. Er beginnt mit zwei Liedern ohne Worte von Felix
Mendelssohn und einem Nocturne Chopins, in denen er je seine lyrische Seite
präsentiert, schlichter und sanglicher Vortrag von reinster Schönheit. Bei
Chopins Nocturne pedalisiert er ausgesprochen wenig, um die
Staccato-Artikulation der linken Hand zum Vorschein zu bringen. Die einzelnen
Formteile setzt er durch starke Ritardandi voneinander ab, hält ansonsten das
Momentum jedoch aufrecht – was in einer herrlich unverträumten Darstellung des
Nocturnes resultiert, die dennoch nicht weniger sinnlich ist. Die zweite
Klaviersonate hält François formal streng zusammen und strafft sie sichtlich,
nicht zuletzt durch Auslassung sämtlicher Wiederholungen. Im Grave sticht der
graduelle Aufbau am Anfang hervor, im Scherzo die enormen Kontraste zwischen
den einzelnen Teilen. Der Marche funèbre erklingt tatsächlich einmal als Marsch
und nicht wie gewohnt als Trauergesang! Dies gelingt François durch eine
markige linke Hand, so dass die Tiefen sonor heraufklingen und nicht beiläufig
unter der Melodie verlorengehen, und durch präzise Rhythmik – so darf der
Mittelteil auch ein wenig sanfter dagegenwirken. Das Finale rauscht beinahe
konturlos und rasend schnell (1:05!) an uns vorüber; und doch nehmen wir eine
unterschwellige Bogenform wahr bis zu einem kurzen Sforzato und sofort wieder
zurück. Glänzende Virtuosität, aber mit musikalischem Impetus.
Debussy wollte die Titel seiner Preludes ursprünglich gar nicht
abdrucken, entschied sich aber auf Wunsch des Verlegers doch dafür. Eine gute
Entscheidung, denn die Stücke strahlen eine derartig hypersensitive Bildlichkeit
aus, dass die Titel beinahe unentbehrlicher Bestandteil werden – zumindest zur
Vollendung der Imagination. Diese Bilder setzt François präzise um und lässt
die Subjekte der Preludes regelrecht im Geiste auferstehen (ich glaube, selbst
ohne Wissen um die Titel, doch das kann ich nicht beurteilen). Wie lebendig und
keck springt der kleine Puck umher, und wie farbenprächtig strahlt das
Feuerwerk voller Spielfreude und Flexibilität. Zum Geniestreicht wird vor allem
aber die cathédrale engloutie, deren Aufsteigen und wieder Hinabtauchen wir
förmlich miterleben. Dabei überspielt François geschickt den notwendigen
Tempowechsel vor dem volltönenden Höhepunkt durch langes Accellerando und hütet
sich davor, aus dem zweiten Fortissimo noch einen Höhepunkt zu machen, was der
Gesamtstruktur sehr zugute kommt. François erlaubt sich sogar kleine Änderungen
des Notentexts inklusive einer neuen Bassnote im Höhepunkt, die jedoch durchaus
Sinn ergibt, da man so den Bass komplett durchhört und die tiefe Ebene nicht
zwischenzeitig entschwindet.
Die siebte Prokofieff-Sonate hören wir heute meist als wild
hämmerndes Getöse ohne Sinn und Struktur. Bei François geht es nicht weniger
wild zu – eher im Gegenteil – und doch vernehmen wir jede Linie glasklar und
den Verlauf schlüssig. Auch hier zieht der Pianist den Reiz aus
innermusikalischen Kontrasten, wobei er die Andante-Passagen nicht verträumt,
sondern im gleichen Precipitato-Trieb hält, der sich im Finale wörtlich
niederschlägt. Die teils unterschwellige Polyphonie bleibt luzide und jede
Stimme erhält ihren festen Platz.
Virtuosität und Brillanz müssen nicht gleichbedeutend sein
muss stumpfen oder unmusikalischem Spiel. Viel zu oft ist dies ein „entweder,
oder“, nicht jedoch bei Samson François. Und genau deshalb lege ich diese
Aufnahme alldenjenigen ans Herz, die trotz unbändigem Ausdruck nicht auf das
verzichten wollen, was Musik eigentlich ausmacht – denn diese beiden Pole sind
vereinbar, wie wir hier eindrucksvoll hören.
Ars Produktion Schumacher, ARS 38 558; EAN: 4 260052 385586
„Pour le tombeau de Claude Debussy“ der Pianistin Judith Jáuregui beschäftigt sich mit Werken des französischen Meisters und seines Umfelds. Beginn und Ende des Albums stehen im Zeichen spanischer Komponisten, auf die Debussy großen Einfluss ausübte: Manuel de Falla, dessen Homenaje mit gleichem Titel ‚Pour le tombeau de Claude Debussy‘ wir hören, und Federico Mompou, von dem Jáuregui ‚Jeunes filles au jardin‘ aus Debussys Todesjahr 1918 spielt. In der Mitte des Programms finden wir Debussys Estampes L100 und L’Isle joyeuse, welche umgeben sind von zwei Komponisten, auf die sich Debussy seinerseits bezog: Franz Liszt, dessen Ballade Nr. 2 S.171 gespielt wird, und Frédéric Chopin, von dem Andante Spianato und Grande Polonaise Brillante op. 22 erklingen.
Im vergangenen Jahr hörten wir anlässlich des 100. Todestags
von Claude Debussy zahlreiche Aufnahmen seines Werks; zum Ausklang dessen
erschien nun Judith Jáureguis CD „Pour le Tombeau de Claude Debussy“, ein
Mitschnitt ihres Livekonzerts vom 4. Oktober 2018 im Rahmen der Imperial in Concert Series in Wien.
Jáuregui widmet sich Werken, die Debussy prägten, die Debussy komponierte und
auf die Debussy Einfluss übte.
Zur ersten Kategorie, die für Debussy maßgeblichen
Komponisten, zählen Franz Liszt und Frédéric Chopin. Besonders bei Liszt gibt
sich schnell Jáureguis eigener Ton zu erkennen: Bereits in den ersten Takten
verblüfft die Pianistin durch ein extrovertiertes und markiges Spiel. Sie hält
die umherirrend chromatischen Läufe der linken Hand nicht in geheimnisvoller
Dunkelheit, wie man sie meist hört, sondern stellt sie als aussagekräftige
Figur in den Raum, zu der die rechte Hand später gleichwertig hinzutritt.
Virtuos, aber ohne übermäßige Selbstzurschaustellung durchbrechen die
rasanteren Passagen die Stimmung des Beginns, die Ruhepole nimmt Jáuregui nicht
zu schleppend in sanglichem Zeitmaß. Chopins Andante Spianato gestaltet die
Pianistin zu einem großen Einatmen vor der rasenden Grande Polonaise Brillante:
Hier gelingen ihr die größten Kontraste zwischen absoluter Introversion und
übermächtig rhythmischen Drang.
Jáureguis Debussy-Aufnahmen sollte man sich mehrfach
anhören, um sich in ihre Darstellungsweise einzuhören. Denn sie überrascht
durch offenes und vergleichsweise extrovertiertes Spiel, das so gar nicht zu
dem üblichen Bild passt, was wir von Debussy haben. Doch es funktioniert! Vor
allem Pagodes erscheint anfangs ungewohnt, besticht jedoch durch enormen
Farbenreichtum und präzise abgestuften Klang. La soirée dans Grenade ruft
sogleich Erinnerungen an das zuvor gehörte Stück de Fallas wach; in Jardins
sous la pluie werden die Regentropfen regelrecht spürbar beim Spiel von Judith
Jáureguis und man nimmt dieses Stück mit allen Sinnen wahr. L’Isle joyeuse ist
der Pianistin förmlich auf den Leib geschrieben, die sprudelnde Energie und die
fröhliche Stimmung schmeicheln ihrem Stil das Werk wird zur erquickenden Quelle,
die Fernweh evoziert.
Fernweh nach Spanien vielleicht. Das Programm beginnt mit
Manuel de Fallas Homanaje ‚Pour le tombeau de Claude Debussy“, welches
ursprünglich für Gitarre komponiert wurde und einen Trauermarsch in Form einer
langsamen Habanera darstellt – ein von Debussy sehr geschätzter und selbst
mehrfach in Noten gesetzter Tanz. Beschlossen wird die CD durch Mompous ‚Jeunes
filles au jardin‘. Judith Jáuregui nimmt die Musik temperamentvoll, in jedem
Ton klingt Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit mit, dass sie das, was sie spielt,
genauso meint. Dabei bleibt die wechselseitige Verbindung zwischen der
französischen und der spanischen Musik unverkennbar.
Wir hören den Pianisten Julian Riem mit einer Etüden-CD: Er spielt die
Douze Études 1er Livre von Claude Debussy sowie die Études op. 33 von Karol
Szymanowski.
Nachdem Frédéric Chopin die
Gattung der Etüde von ihrem rein pädagogischen Zweck befreit und sie
konzertreif gemacht hat, blühten die Übungsstücke (oder früher „Handstücke“
genannt) auf und zahllose Meister nahmen sich ihrer an. Die meisten blieben
dabei, eine technische Hürde auszukosten und sie dem Pianisten das gesamte
Stück über in immer anderen Formen und Variationen abzuverlangen. Andere
suchten neue Wege: So schrieb beispielsweise Brahms ein Etüdenwerk in
Variationsform, die Paganini-Variationen über dessen berühmte Caprice Nr.24, Schumann
schrieb „Symphonische Etüden“ ebenfalls mit Variationscharakter, und
Rachmaninoff nannte seine Etüden Etudes Tableaux, also Etüdenbilder: Besonders
im op. 33 gelang ihm dadurch eine Symbiose aus pianistischen Hürdenläufen und
hinreißenden Klangwelten voller Farbe und Magie.
Ein Jahr, nachdem Rachmaninoff
seine Etüden fertigstellt hatte, widmete sich Claude Debussy dem Genre – und
präsentiert uns gänzlich andere Dimensionen von Klang und Technik. Die
insgesamt 24 Etüden in zwei Bänden sind vielleicht Debussys eigenartigstes
Klavierwerk und zeigen doch seine ganze Meisterschaft. Sie bilden einen harten
Gegenpol zu den drei Jahren zuvor vollendeten Préludes. Debussy widmet jede
seiner Etüden einem Ausgangsmaterial, einem Intervall oder einer bekannten
Fingerübung, Ornamenten oder Klängen.
Ein weiteres Jahr später setzte
sich Karol Szymanowski mit dem Genre der Etüde auseinander und schuf zwölf
nicht weniger eigenwillige und teils gar widerborstige Werke, die zu einer
Einheit zusammengehören und mit „attacca“ untrennbar miteinander verbunden
sind. Szymanowski experimentierte in ihnen mit der freien Atonalität, die zu
dem Zeitpunkt recht neu für ihn war, und bildete komplexe Polyphonien. Für
Hörer wie Spieler gestaltet es sich schwierig, die dichten Strukturen zu
durchdringen – als einzig wahre logische Konsequenz sah Szymanowski von langen
Formen ab und beschränkte sich in allen Etüden auf eine Länge von maximal zwei
Minuten.
Julian Riem machte er sich zur
Aufgabe, einen Zugang zu diesen beiden verqueren Werken zu finden und, nicht
zuletzt, zu vermitteln. Dies gelingt auf erstaunliche Weise, vor allem Debussys
Etüdenzyklus ist mir nun wesentlich zugänglicher als vor dem Hören dieser CD.
Bei Debussy verzichtet Riem auf virtuose Zurschaustellung und degradiert die
technischen Anforderungen zum Randphänomen, konzentriert sich dafür auf die
harmonische Struktur und die feine Klang- und Sinnlichkeit der Stücke. Die
Akkorde tönen warm, voll und exakt, die einzelnen Intervalle wirken ausgewogen.
Rasche Passagen verbindet Riem zu sich aufbäumenden Tonwellen, die frei und
zwanglos auf den Hörer niederkommen. Besonders keck kostet Riem die Dissonanzen
aus, die Erwartungen unterminieren und das Gefüge der Tonalität langsam lösen.
Szymanowski erklingt
pathetischer, wilder und losgelöster. Riem versucht nicht, die einzelnen
Stimmen der Polyphonie zu hierarchisieren, er genießt den Dissenz der einzelnen
Linien. Der Anschlag bleibt selbst im Getöse weich und durchlässig, Riem
phrasiert dabei sogar die kleinsten Melodiefetzen und verleiht ihnen logische
Geschlossenheit.