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Ein fehlendes Verbindungsglied

Musik Dabringhaus und Grimm, MDG 901 2133-6; EAN: 7 60623 21336 1

Christoph-Mathias Mueller entdeckt gemeinsam mit dem BBC National Orchestra of Wales Orchesterwerke des Komponisten Alexander Weprik. Auf dem Programm stehen die Tänze und Lieder des Ghettos op. 12, die Zwei symphonischen Lieder op. 20, Fünf kleine Stücke für Orchester, Pastorale und die späten Zwei Poeme für Orchester.

Alexander Weprik zählte als einer der führenden Komponisten der Sowjetunion, wurde allerdings aufgrund seiner jüdischen Abstammung immer weiter bedrängt und schließlich inhaftiert; als gebrochener Mann kehrte er nach Stalins Tod aus dem Gulag zurück, erlag wenige Jahre später einem Herzleiden. Geboren wurde er 1899 in Balta, wuchs in Warschau auf und übersiedelte dann mit der Mutter aus Angst vor antisemitischen Übergriffen nach Leipzig, wo er Klavier bei Karl Wendling studierte. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, zog Weprik zurück nach Russland, beendete sein Klavierstudium bei Dubassow und begann, bei Alexander Schitomirski Komposition zu studieren, schloss 1923 bei Mjaskowski ab. Im gleichen Jahr wurde er zum Dozent berufen und etablierte sich schnell als einer der führenden Lehrer für Instrumentation, erhielt schließlich den Posten als Dekan. Wepriks Musik wurde in den 1920er-Jahren international bekannt und von Dirigenten wie Scherchen und Toscanini aufgeführt. Zu dieser Zeit reiste er selbst viel durch Europa und versuchte, eine kulturelle Zusammenarbeit vor allem zu Deutschland, Österreich und auch Frankreich zu etablieren. Besonders setzte Weprik sich für die jüdische Musik ein, dessen Charakteristika er – selbst in Zeiten, wo dies heikel wurde – als Grundsprache seiner Kompositionen verwendete.

Stilistisch ordnet sich die Musik Alexander Wepriks offenkundig in die russische Tradition des frühen 20. Jahrhunderts ein. Möglicherweise könnte man ihn als eine Art fehlendes Verbindungsglied ansehen zwischen der russischen Schule des 19. Jahrhunderts von u.a. Mussorgski und Rimski-Korsakov zu den frühen Modernen, namentlich vor allem Schostakowitsch und Weinberg. Weprik offenbart in seinen Orchesterwerken eine besondere Liebe zum Melos, meist durchzogen von bitterer Melancholie und tiefem Weltschmerz. Dieses Charakteristikum eint ihn mit Weinberg, sie beide ziehen ihre Inspiration aus der jüdischen Musik. Weprik besitzt auch eine Vorliebe zu militärisch auftrumpfenden Höhepunkten (ähnlich zu Schostakowitsch) mit perkussiver Kraft, gestützt von reichlich Schlagwerk und Blechbläsern. Die früheren Werke Wepriks zerfasern teils formal noch zu kleineren Episoden, haben dennoch bereits die ureigene Handschrift des Komponisten inne. In der Pastorale und den Zwei Poemen gelingen ihm organischere Übergänge, so dass eine frei fließende und rhapsodische Form entsteht. In allen hier zu hörenden Werken blitzt die jüdische Musik mit ihren Modi und Rhythmen hervor, gepaart mit einer feinen Sinnlichkeit und Empfindsamkeit. Die Musik besitzt eine Fragilität, über die manche Höhepunkte hinwegtäuschen wollen, die aber doch stets durchdringt. Extrem hören wir dies in der angsterfüllten Pastorale, anders geartet aber auch in den Zwei Poems, die Weprik nach seiner Gefangenschaft noch in symphonischem Ausmaß komponierte: umso überraschender, dass hier die Musik stellenweise gar siegreich aufbegehrt und gewaltig expandiert.

Wiederentdeckt wurde die Musik Wepriks erst durch Jascha Nemtsov, der auch seine Klavier- und Kammermusik auf CD einspielte. Er sowie die Expertin zu Musik im Gulag, Inna Klause, wirkten im umfangreichen und profund informierenden Booklettext mit, der nicht nur Leben und Wirken von Alexander Weprik beleuchtet, sondern zudem einen Einblick ins kulturelle Leben der sowjetischen Gefangenenlager bietet.

Das BBC National Orchestra of Wales stellt die Werke Wepriks transparent und einfühlsam dar, geht unter Führung von Christoph-Mathias Mueller auf die düster-tragische Stimmung ein, ohne in der Melancholie zu versinken. Besonders gelingt die Ausarbeitung der weitschweifenden Melodie und des ewigen Flusses der Musik. In den episodenhafteren Stücken versucht das Orchester nicht erst, über die Brüche hinwegzuspielen, sondern nimmt die Musik in ihrer Beschaffenheit und präsentiert sie so dem Hörer. Würdigung sollte vor allem auch die Leistung des Tonmeisters Friedrich Wilhelm Rödding erfahren, der jedes Instrument mit seinen Klangeigenschaften perfekt darzustellen weiß und die Timbres einer jeden Gruppe hervorhebt, ohne dabei das Zusammenspiel als Gesamtes zu vernachlässigen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2020]

Das blühende Leben

paladino music, pmr0074; EAN: 9120040730741

Dimitri Ashkenazy spielt Klarinettenwerke von Jean Françaix. Gemeinsam mit dem Cincinnati Philharmonia Orchestra unter Christoph-Mathias Müller bietet er das Klarinettenkonzert dar, mit der Pianistin Yvonne Lang Tema con variazioni, und mit Ada Meinich und Bernd Glemser das Trio für Klarinette, Viola und Klavier.

Nach wie vor wird der französische Komponist Jean Françaix (1912-97) vor allem von den Bläsern aktiv wahrgenommen, gerne im Konzert gespielt und aufgenommen. Auch knapp zwanzig Jahre nach seinem Ableben ebbt dies nicht ab, was auch nicht verwundern mag, schließlich ist seine Musik kontinuierlich von überragender Qualität und Inspiration. Diese Musik ist das blühende Leben: Leicht, aufgeweckt, in stetiger Frische und mit aufmerksamer Seele – beinahe ein wenig unbekümmert. Der Hörer kann sich leicht hineinhören in diese bei allen Schwierigkeiten so unkomplexe Musik, die mit ihrer Beschwingtheit bezaubert.

Mit seinem unverkennbarem Klang meistert Dimitri Ashkenazy die Klarinettenwerke, besticht durchweg mit Souveränität, verströmt Ruhe und Gelassenheit. Gerade im Konzert gibt er sich scherzend und verspielt, lässt zugleich allerdings auch nie die innere Kontrolle los. Von Willkür kann hier nicht die Rede sein, alles ist bewusst und reflektiert. Leichtfällig rieseln die Töne und formen eine nicht enden wollende Melodie.

Den gleichen unbeschwerten Gestus macht sich das Cincinnati Philharmonia Orchestra unter Christoph-Mathias Müller zu eigen. Die vorliegende Aufnahme erschien übrigens bereits 1995 mit anderen Werken zusammen und wurde vom Komponisten damals sehr positiv aufgenommen – was auch nachvollziehbar ist angesichts der Brillanz und Durchsichtigkeit des Orchesterapparats, in den sich die Klarinette so wunderbar einfügen, mit dem sie zu einer Einheit verschmelzen kann. Was allerdings ein wenig fehlt, sind Kompaktheit, Dichte und Tiefe im Spiels – es wirkt streckenweise etwas dissoziiert.

Im Trio sticht Dimitri Ashkenazy deutlich hervor, seine beiden Mitstreiter haben nicht die selbe Souveränität und nicht die Gegenwärtigkeit im musikalischen Geschehen wie der Klarinettist. Ada Meinich an der Viola wirkt oft hektisch und ohne innere Ruhe, die den Hörer erst teilhaben ließe an den üppig detaillierten Strukturen. Bernd Glemser hat einen angenehm weichen Anschlag, nivelliert leider stellenweise die Wirkung durch monochrome Färbung, durch endlose Gleichförmigkeit und neutrales Notenlesen statt musikalischen Gestaltens. Farbenfroher zeigt sich Yvonne Lang im Duett, wenngleich hier ihre extrem kurzen Staccati stören, wodurch auch die Akkorde nicht wirklich ausgehört sein können. Brillieren kann Lang hingegen an Legato-Stellen, die sehr lebendig phrasiert erklingen.

[Oliver Fraenzke, Januar 2017]