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Vier Pianisten und die Konzerte Vladigerovs

Capriccio, C8060; EAN: 8 45221 08060 4

In historischen Aufnahmen dirigiert Alexander Vladigerov (1933-1999) das Symphonieorchester des Bulgarischen Nationalradios mit den fünf Klavierkonzerten seines Vaters Pancho Vladigerov (1899-1978). Solist des Konzerts Nr. 1 a-Moll op. 6 ist Teodor Moussev (geb. 1948), Krassimir Gatev (1944-2008) übernimmt den Solopart des Zweiten Konzerts c-Moll op. 22 (und spielt quasi als „Zugabe“ noch die Fünf Silhouetten für Klavier solo op. 66). Die Klavierkonzerte Nr. 3 b-Moll op. 31 und Nr. 4 G-Dur op. 48 werden von Ivan Drenikov (geb. 1945) dargeboten und beim Konzert Nr. 5 in D-Dur sitzt der Komponist selbst an den Tasten.

Nach und nach dringt der einstige Ruhm Pancho Vladigerovs wieder zu uns nach Zentraleuropa. In seinem Heimatland Bulgarien zählt er klar als legendärer Komponist, wobei es bezeichnend ist, dass er sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg dort durchschlagende Erfolge feiern durfte. Gelitten hat durch den Krieg allerdings seine Bekanntheit außerhalb Bulgariens; er zog sich bereits 1932 gänzlich aus Deutschland zurück und verlor so eine vorrangige Stellung, geriet in Vergessenheit. Stilistisch zeichnet sich die Musik Vladigerovs durch eine kontinuierliche Verwurzelung in der Tonalität aus, die bereichert wird durch nationales Kolorit und wirkungsstarke Akkorderweiterungen. Er entwickelte früh eine eigene Handschrift, die sich zwar vor allem an slawischen Idiomen orientiert, sich jedoch durch ihren oft überschwänglich tänzerischen Gestus und die sanftere Art ihrer Lyrik von ihnen abhebt. Während bei den Slawen eine Art des entpersonalisierten Weltschmerzes durchdringt, bezieht Vladigerov das Schmerzende seiner Musik auf das menschliche Individuum direkt, verleiht den Tönen so eine packend persönliche Note.

Es verwundert nicht, dass Vladigerov dem Klavier gleich fünf ausladende Konzerte widmete, war er schließlich selbst ein gefragter Virtuose: Er selbst hob alle seine Konzerte aus der Taufe. Geboren wurde er in Zürich, wuchs aber in Bulgarien auf; später siedelte er nach Berlin, wo er sich seit 1912 als Stipendiat aufhielt und eine glänzende Ausbildung unter anderem durch Paul Juon, später Friedrich Gernsheim und Georg Schumann genoss. Dort komponierte er 1917/1918 auch sein Erstes Klavierkonzert op. 6 in a-Moll, das ihm bei der Uraufführung in Sofia den Durchbruch bescherte. Seine Landsleute bejubelten die spürbar bulgarische Note in den Tönen, die in ein gewaltig dimensioniertes Werk eingebunden war. In diesen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg war das Publikum schlicht bereit für diese Musik, die traditionsverbunden und doch modern tönte, die Altes mit Neuem verband und dazu orchestrale Mächte entfesselte, die an Leid und Schmerz des Krieges gemahnten. Der Erfolg dieses monumentalen Erstlings bleibt nachvollziehbar; im Bezug auf Vladigerovs spätere Konzerte fällt rückblickend jedoch auf, dass sich hier noch keine eindeutige Handschrift abzeichnete. Vladigerov hält sich an seine Idole, übernimmt viel von Rachmaninoff und Medtner, bedient sich im Finale deutlich bei den Konzerten und dem Totentanz von Franz Liszt. Klanglich überfrachtet er das Werk teils haltlos, erschlägt den Hörer mit Wucht und Brutalität. Dies wird gerade in der vorliegenden Aufnahme deutlich, in der Teodor Moussev am Klavier die Gewalt noch unterstreicht und besonders wild in die Tasten greift. Durch sparsamere Krafteinteilung hätte man dem Konzert sicherlich mehr entlocken und auch das ethnologische Element besser vermitteln können.

In den folgenden Jahren untermauerte sich Vladigerovs Ruf als Tonsetzer wie als Pianist, seit 1922 betreute ihn die Universal Edition und die Wiener Philharmoniker führten einige seiner Orchesterwerke auf. 1930 kehrte Vladigerov zum Klavierkonzert zurück, schrieb sein Zweites in c-Moll mit der Opuszahl 22. Der kompositorische Fortschritt bleibt unübersehbar: Stringenter konzipiert, einheitlicher ausgearbeitet und formal geschlossener als der Erstling belegt es ein gesteigertes Bewusstsein für Wirkung und Ökonomie, ohne dabei seinen mit dem a-Moll-Konzert betretenen Pfad zu verlassen. In Krassimir Gratev fand man einen geeigneten Pianisten für die Aufnahme, der eine enorme Anschlagsvielfalt präsentiert, den Kern der Musik erfasst sowie dem Hörer vermittelt. Er bringt subtile Sinnlichkeit in seinen Part hinein, die nicht nur im Mittelsatz entscheidenden Gewinn bringt.

1932 ging Vladigerov zurück nach Bulgarien, wohl in erster Linie aufgrund der allmählichen Ausbreitung des Nationalsozialismus in Deutschland. Er verfeinerte seinen Stil und setzte gerade mit dem Dritten Klavierkonzert b-Moll op. 31 (1937) einen Meilenstein. Dieses ist das wohl leichtfüßigste, luzideste der Konzerte und gleichzeitig das kürzeste: Hier beschränkte sich Vladigerov auf ein Minimum, um doch die volle Wirkung zu entfalten. Als Höhepunkt beschließt das b-Moll-Konzert die Trias der drei Mollkonzerte. Im kommenden Jahr wurde Vladigerov als Professor in Sofia berufen, wo ihn entsprechende Pflichten in Schach hielten – der dadurch entstehende Einschnitt wurde verstärkt durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs.

Siebzehn Jahre vergingen bis zum Vierten Konzert in G-Dur op. 48, das er 1953 komponierte. Das Dur wird zwar gerade im Kopfsatz in Frage gestellt und durch wilde Figuren herausgefordert, dennoch bleibt es vorherrschend und schafft einen gänzlich anderen Charakter, als er in den ersten drei Konzerten dominierte. Man könnte es freilich so deuten, als dass dies ein kleines „Opfer“ gegenüber dem neu gegründeten kommunistischen Regime war, doch würde ich mich davor hüten: schließlich verschaffte ihm allein sein legendärer Status beinahe gänzliche Immunität vor den Restriktionen der Regierung – davon abgesehen, dass seine Musik wohl auch so gut angekommen wäre aufgrund der Tonalitätsbasis und des Einbezugs nationaler Elemente. Das Dritte wie das Vierte Konzert spielt Ivan Drenikov, klar in seinen formalen Vorstellungen und präzise im Anschlag, der vielgestaltig daherkommt und zu keiner Zeit unnötig brutal wäre. Drenikovs Spiel besitzt Volumen und ein Gespür für Kontraste, Verständnis für die melodiösen Linien.

Sein letztes Klavierkonzert komponierte Pancho Vladigerov 1963 in der Tonart D-Dur und gab ihm die Opuszahl 58. Es ist das Strahlendste und Freundlichste aus dem Zyklus, das Dur-Gemüt wird zelebriert. Im Umfang knüpft der Komponist nun wieder an seinen Erstling an, doch gerade im direkten Vergleich fällt auf, wie unbeschwert er nun die Form erfüllen kann und wie elegant er innerhalb dessen überleitet, moduliert und thematisch vernetzt – kurz, welch eine Entwicklung sein Talent über fünf Konzerte und 54 Jahre vollzog. Seine Grundideen, tief verwurzelt in den klassisch-romantischen Traditionslinien, behielt er bei: Im Kopfsatz dürfen sich Orchester wie Solist kraftvoll virtuos präsentieren, Kontraste werden ausgekostet und Extrema ausgelotet. Der Mittelsatz lindert durch pure Lyrik, zarte Melancholie und Sentiment – wenngleich auch er oft Austragungsort für Konflikte ist, die zu regelrechten Eruptionen führen. Der Schlusssatz trumpft in tänzerischem Gestus auf, gerade hier werden die bulgarischen Elemente deutlich, und führt das Konzert zu einem beschwingten, versöhnlichen Ende.

In der Aufnahme des 5. Klavierkonzerts hören wir den Komponisten Pancho Vladigerov selbst am Klavier. Welch ein Erlebnis! Hier bestätigt sich Vladigerovs Ruf als einer der ausgezeichnetsten Musiker seiner Generation, ausgestattet mit einmaligen musikalischen Qualitäten. Bezeichnend für Vladigerovs Spiel ist die Kompaktheit seiner Akkorde, von denen jeder Ton eigenen Stellenwert erhält und mit den anderen Tönen des Griffs präzise abgewogen wird. Vladigerov verzichtet vollkommen auf Härte, verleiht dafür den Tönen Volumen und „kreist“ im Spiel, anstatt anzu“schlagen“: Mit dieser Eigenschaft beschrieb Franz Liszt seinen Kollegen Frédéric Chopin als den vorzüglichsten Pianisten jener Zeit. In der Linie denkt Vladigerov orchestral, diversifiziert so die Tongebung.

[Oliver Fraenzke, November 2020]

Anfang und Ende

Capriccio, C5387; EAN: 8 45221 05387 5

Die beiden ausladenden Klavierkonzerte von Ernst von Dohnányi machen das Programm der vorliegenden CD mit Sofja Gülbadamova als Solistin aus, die bereits das Soloklavierwerk des Komponisten für Capriccio aufnahm. Das Erste Konzert op. 5 steht in der Tonart e-Moll und wurde 1897-98 komponiert, das Zweite Konzert, in h-Moll, entstammt dem Jahr 1947 und trägt die Opusnummer 42.

Ernst von Dohnányis Klavierkonzerte umrahmen sein Schaffen, fünfzig Jahre trennen die beiden Werke, die er sich selbst auf den Leib schneiderte. Das Erste Klavierkonzert e-Moll op. 5 begann er während seiner Lehrzeit bei Eugen d’Albert am Starnberger See, um damit als Solist zu touren. Knapp 50 Minuten misst das traditionell-romantisch gehaltene Konzert, strotzt dabei im vollgriffigen Klaviersatz vor technischen Höchstschwierigkeiten. Zu Lebzeiten Dohnányis gehörte es zu den häufig programmierten Klavierkonzerten, nicht zuletzt dank des eindrucksvollen Klavierparts; insgesamt ist die Anlage allerdings recht prätentiös bis plakativ. Lärmend hangelt sich das Konzert von Höhepunkt zu Höhepunkt, geht verschwenderisch mit großen Tonmengen um und verliert sich im Übermaß. Von ganz anderem Kaliber präsentiert sich da das spätere Konzert, zwar ebenso gesättigt von pianistischem Blendwerk, was aber hier viel mehr der musikalischen Substanz dient und den Themen auch den nötigen Platz zur Entfaltung gibt, ohne sie durch immer neue Solopassagen zu ersticken. Meisterlich vor allem der Mittelsatz, ein herrliches Variationswerk im Adagio, das grazil aus dem Kopfsatz entspringt.

Staunend steht der Hörer vor der brillanten Technik Sofja Gülbadamovas, die unbeschwert eine Hürde nach der nächsten meistert und dabei auch musikalische Substanz offenbart. Präzise und elegant schwingt sie sich in die Höhen und beleuchtet beide Hände gleichermaßen luzide, verfällt zu keiner Zeit in Starrheit oder verliert den Fokus auf die hinter der Technik stehenden Musik. Das Zweite Konzert nehmen auch die Orchestermusiker unter Ariane Matiakh farbenfroh differenziert; im e-Moll-Konzert op. 5 hingegen lässt sich das Orchester blenden von der Wucht und geht in aller Ruppigkeit mit. Doch gerade hier würde ausgeglichenes und abschattiertes Spiel Gewinn bringen, denn die Unnachgiebigkeit hebt eine Gewalt in der Partitur hervor, die differenziertes Spiel umgehen könnte.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

Einems Urteil gegen den Prozess

Capriccio, C5358; EAN: 8 45221 05358 5

Wir erleben Gottfried von Einems Oper „Der Prozess“ in einer Darbietung mit dem ORF Vienna Symphony Orchestra unter HK Gruber. Michael Laurenz singt den Josef K., Jochen Schmeckenbecher den Aufseher, Geistlichen, Fabrikanten und Passanten; als Student und Direktor-Stellvertreter hören wir Matthäus Schmidlechner, Lars Woldt als Untersuchungsrichter und Prügler. Johannes Kammler spielt den Gerichtsdiener und den Advokaten, Jörg Schneider Titorelli. Als Frau des Gerichtsdieners, Leni und buckliges Mädchen spielt Ilse Eerens, Anke Vondung als Frau Grubach. Als Kanzleidirektor und Onkel Albert wirkt Tilmann Rönnebeck. Alexander Hüttner, Martin Kiener und Daniel Gutmann schließlich sind die drei Herren und die drei jungen Leute, ersterer zudem ein Bursche.

Bei diesem Prozesses, den Kafka in Worte fasste und Einem in Töne setzte, läuft es einem eiskalt den Rücken runter. Das Geschehen wirkt surreal, und doch wissen wir, dass es hundert- und tausendfach so ähnlich abgelaufen ist. Wenn wir die Geschichte von Josef K. hören, der aus heiterem Himmel verhaftet und schließlich zum Tode verurteilt wird, denken wir sogleich an das Hitlerregime oder an Stalins Schreckensherrschaft; Kafka hat beide nicht mehr miterlebt, was die universelle Aussagekraft und den sich auf unterschiedlichste Art und Weise wiederholenden Terror vor Augen führt. 

Als Josef K. von seiner Verhaftung erfährt, weiß er um seine Unschuld, beziehungsweise, kann sich nicht einmal einen Grund für die Gefangenname ausmalen. Doch nach und nach entdeckt er, dass scheinbar alle in irgendeiner Weise in Kontakt mit dem Gericht stehen und die Aussichten für eine Freisprechung immer weiter schwinden. Ohne es zu wissen, treibt er mit seinem – in keiner Weise verwerflichen – Handeln den Prozess immer weiter voran, die Meinungen über seine Schuld und den Ausgang der Verhandlung werden immer düsterer und der Schuldspruch immer unausweichlicher. Schließlich ist Josef K. selbst von seiner Schuld überzeugt, nimmt das Todesurteil regungslos an und spricht sogar nachsichtig: „Die Herren werden schwere Arbeit haben“. Besonders schaurig wirkt die ganze Geschichte, da eine bürokratische Ausdruckslosigkeit bei vollendeter Höflichkeit nie durchbrochen wird, was eine Aura der pedantischen Richtigkeit vorgibt.

„Der Prozess“ betont die detaillierte Schilderung der Handlung und besitzt ein umfangreiches Libretto, geschrieben von Boris Blacher und Heinz von Cramer. In Folge dessen nimmt Einem den Gesang zurück zu einem Parlandostil, der in Nachfolge zu den späten Straussopern und einigen Beiträgen von Emil Nikolaus von Reznicek (Benzin, Spiel oder Ernst?) noch mehr einen reinen Sprechgesang in den Vordergrund stellt. Die so entstehende Gleichförmigkeit unterstreicht das Bürokratische, welches so wesentlich für diese Oper ist. Gottfried von Einem legte dennoch schon bei der Uraufführung großen Wert auf Starbesetzung. Umso expressiver gestaltete er das Orchester, welches in fadenscheiniger Beschwingtheit, dämonischem Tanz und offen sarkastischer Heiterkeit immer weiter in die Tiefe treibt. Drohende Fratzen durchziehen gleißend die Musik, es herrscht ein stetes Gefühl der Bedrohung vor. Dabei wechselt Einem rasch die orchestralen Klangfarben und Stimmungen sowie die verwendeten Stilmittel von tonal bis modern, stellt sogar eine für ihn sonst unübliche Zwölftonreihe an den Beginn, die jedoch vor allem als umspielte absteigende Linie in Erscheinung tritt und nicht als thematisches Material Verwendung findet.

Die Darbietung überzeugt durchweg sowohl von der sängerischen als auch der orchestralen Leistung. Die Sänger behalten eine stimmige Distanz bis zu einer Neutralität, die aber ebenso gewünscht ist in dieser Musik. Die langsame Metamorphose von Josef K. bis zu seinem Schuldbekenntnis setzt Michael Laurenz präzise und sogar gewissermaßen einfühlsam um, was seine Rolle sich vom bürokratischen Umfeld absetzen lässt. Mit expressiver Kraft befeuert HK Gruber das Vienna Radio Symphony Orchestra und treibt es so intensiven Höchstleistungen an, unnachgiebig im Ausdruck und der Wechselhaftigkeit.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2019]

Ein unterschätztes Genie

Joseph Martin Kraus, Aufnahmen von 1991 bis 2007; Amphitryon   Kantaten   Sinfonien   Kammermusik

Capriccio C7325

Hätte es Mozart nicht gegeben, Joseph Martin Kraus gehörte heute selbstverständlich zu den ganz Großen der klassischen Musik. Aber so wird er immer mit dem Götterliebling verglichen und dadurch ist sein Nachruhm – wenigstens bei uns in Mitteleuropa – der Qualität nicht angemessen. Seine Übersiedelung nach Stockholm, dem guten Ruf des höchst musischen damaligen schwedischen Königs Gustav III. folgend, wozu ihm ein Studienkollege geraten hatte, bezahlte er erst einmal mit einer langen Durststrecke, bis seine erste Oper „Proserpina“ ihm den gewünschten Erfolg und die Stellung als Hofkompositeur eintrug. Bei steigernder Arbeitsbelastung komponierte er dennoch unaufhörlich. Seine Schwindsucht, die schon sehr früh auftrat, setzte seinem jungen Leben (er teilt mit Mozart das Geburtsjahr 1756) 1792 ein Ende, kurz nachdem im selben Jahr auch sein Gönner – Schwedens König – nach dem berühmten Attentat im März 1792 verstorben war. Für sein Begräbnis hatte er noch eine dreisätzige Trauersymphonie geschrieben in c-Moll, von der ein Hörer schrieb, dass diese Musik die wahre Trauer verhindert habe durch ihre hohe Kunst.

In dieser CD-Box sind Teile aus den Intermezzi zu Molières „Amphitryon“ enthalten, weltliche Kantaten nach Texten von Metastasio, acht seiner 14 Symphonien und zwei Streichquartette samt einem Flötenquintett enthalten. Jeder Hörer kann sich also ein eigenes Hör-Bild davon machen, wie die Musik des Zeitgenossen von Mozart ihn berührt und bewegt.

Ich beschränke mich hier auf die beiden ersten CDs, denn die anderen sind in anderer Form schon früher erschienen.

Die weltlichen Kantaten singt die Sopranistin Simone Kermes, Dirigent ist Werner Erhardt mit dem Ensemble Köln. So virtuos diese Musik komponiert ist und gesungen wird, ist sie doch auf die Dauer einer ganzen CD – trotz der eingeschobenen instrumentalen Zwischenspiele – etwas ermüdend. Ein derart hoher – ich wage zu sagen: manchmal fast hysterischer in seinem exzessiven Vibrato –, an die Grenzen gehender Koloratursopran ist sowieso Geschmacksache, meine Liebe ist es eher weniger. Und natürlich hat Kraus diese Stücke für eine der berühmtesten zeitgenössischen Sängerinnen geschrieben, Lovisa (Sofia) Augusti (1756-1790), aber sicherlich nicht für die Aufführung von fünf dieser Kantaten hintereinander. Da ermüdet man einfach beim Zuhören. Selbstredend ist die Musik genial komponiert, auch ausgezeichnet realisiert und aufgenommen, der Einwand gilt also mehr der Dramaturgie und auch der Sängerin als dem Komponisten.

Dass Joseph Martin Kraus in allen Bereichen zu Hause war, zeigt sein Werkverzeichnis, das alle Sparten umfasst von der Oper bis zur Kirchenmusik, von leichten Singspielen über viele Lieder bis hin zu einer Menge Kammermusik, Symphonien und Konzerte. Dass er mit dem schwedischen Dichter-Musiker Carl Michael Bellman befreundet war, zeigt nicht nur die Musik zu mehreren Singspielen, sondern vor allem die schon zwei Monate nach Mozarts Tod entstandene „Trauerelegie auf Mozarts Tod“ vom Januar 1792, der vermutlich ersten musikalischen Antwort auf dieses Ereignis.

Die erste CD enthält also Intermedien und Divertissement zu Molières „Amphitryon“, die Kraus 1784 auf Wunsch Gustavs III. komponierte. Damals hatte er mit seiner Oper „Proserpina“ schon réüssiert, war ein gefeierter Komponist und begleitete seinen König kurz darauf auf einer ausgiebigen Europareise. Auch in dieser Musik kommt dem Sopran eine tragende Rolle zu, gesungen von Chantal Santon, den Tenorpart singt der schon von anderen Aufnahmen bekannte Tenor Georg Poplutz, der Bonner Kammerchor ist mit von der Partie und wieder dirigiert Werner Ehrhardt das Concerto Köln. Sehr melodisch und natürlich tonal ist diese Musik – Kraus hat sich in seinen Klaviersonaten auch sehr weit in die Chromatik gewagt –, und sie wird seinem König sicher nicht missfallen haben. Denn was da an feinster Instrumentation zu hören ist, ist aufregend, und die immer vorhandene Leichtigkeit dieser Musik beschreibt sein Schüler Pehr Frigel (1750-1842) – nachzulesen im vorzüglichen Booklet – wie folgt: „….eine Arbeit, wo sich all das findet, was an Spielerischem, Naivem, Neuem, Feurigem und Gefälligem komponiert werden kann. Man war nun verwundert zu sehen, dass Kraus‘ Genius sich nicht nur auf das Traurige, das Chromatische beschränkte, sondern dass er ebenfalls ein Meister des Heiteren und des Strahlenden war.“

Kurzum, diese fünf CDs bieten eine – noch dazu recht preiswerte und vorzüglich aufgenommene – Möglichkeit, die Musik dieses Meisters, der vor allem Christoph Willibald Gluck (1714-1787) zu seinen Vorbildern zählte, den aber auch Joseph Haydn schätzte, zu erleben und sich sein eigenes Urteil darüber zu bilden.

[Ulrich Hermann, Juli 2019]

Einer der besten Komponisten der alten Schule

Capriccio C5318; EAN: 8 45221 05318 9

Bei den auf dieser CD aufgenommenen Kammermusikwerken Karl Weigls handelt es sich hauptsächlich um Ersteinspielungen: Zu hören sind die zweite Violinsonate G-Dur, Zwei Stücke für Cello und Klavier op. 33 und Zwei Stücke für Violine und Klavier; lediglich das Klaviertrio d-Moll wurde bereits zwei Mal auf Platte festgehalten. David Frühwirth spielt die Geige, Benedict Kloeckner das Cello und Florian Krumpöck übernimmt den Klavierpart.

Karl Weigl gehört zu den großen Unzeitgemäßen, die bis zum Lebensende der Moderne den Rücken kehrten und die Tonalität fortleben ließen. Ausgebildet bei Zemlinsky, Fuchs und Adler befanden sich schon frühe Werke auf der Höhe der spätromantischen Ausdruckswelt, eine Stelle als Korrepetitor bei Mahler komplettierte dies. Auch mit Arnold Schönberg stand Weigl in gutem Kontakt, zumindest bis sich dieser der Atonalität verschrieb, was den Kontakt verstummen ließ – wenngleich Schönberg 1938 noch schrieb, er betrachte „Dr. Weigl immer für einen der besten Komponisten der alten Schule […]; einer von denen, die die glanzvolle Wiener Tradition fortsetzten. Er bewahrt zweifellos die alte Haltung jenes musikalischen Geistes, welcher einen der besten Teile der Wiener Kultur darstellt.“ Nach dem Anschluss Österreichs an das nazifizierte Deutschland wurde Weigls Musik verboten und er entkam nach Amerika, wo seine Karriere trotz großer Bemühungen von vielen Seiten einen Abbruch fand. Seitdem schlummert seine Musik, darunter sechs Symphonien, mehrere Solokonzerte, Lieder und Kammermusik, gänzlich unbeachtet und wurde erst in diesem Jahrzehnt vereinzelt wieder entdeckt.

Die Musik gibt deutlich die Einflüsse der Wiener Klassik und der spätromantischen Tradition Mahlers und Zemlinskys zu erkennen und bringt doch eine ganz eigene Note hinein. Weigl degradiert Virtuosität und klangliche Effekte nicht zum Selbstzweck, sondern benutzt sie ausschließlich im Sinne der Musik. Im Gegensatz zu Mahler hält sich Weigl an eine stringente Form ohne übermäßiges Eilen von Höhepunkt zu Höhepunkt; er geht ökonomischer mit Ausbrüchen um. Die zwei eingespielten Großformen bewahren die klassische Dreiteiligkeit und auch die Stücke für Violine und diejenigen für Cello und Klavier lassen klassische Modelle durchscheinen. Nie stürmt Weigls Musik ungehalten davon, selbst im „Wilden Tanz“ bewahrt sie Eleganz.

Der Pianist Florian Krumpöck hob 2002 bereits das Konzert für die Linke Hand und Orchester (das vom Auftraggeber Paul Wittgenstein – ebenso wie das bestellte Konzert von Hindemith – abgelehnt wurde) aus der Taufe und nahm es 2013 für Capriccio auf. In diesen teils bereits auf 2012 zurückgehenden Aufnahmen (die Stücke mit Cello sind auf 2016 datiert) hören wir ihn mit Kammermusik für Violine und Cello. Er durchdringt die Musik Weigls und entlockt ihr romantischen Flair und klassische Präzision, spielt sie nüchtern wie einfühlsam zugleich. Auch David Frühwirth hörten wir bereits mit Weigl, er spielte das Violinkonzert auf der gleichen CD, welche das Klavierkonzert beinhaltet. Hier glänzt er in der Violinsonate, den Zwei Stücken und dem Trio als akkurater und sensibler Geiger. Er verleiht seiner Stimme metallischen Glanz und subtile Schönheit, leitet merklich das Geschehen in allen Stücken. Neu hinzu kommt der rasant aufsteigende Newcomer Benedict Kloeckner, der bereits eine beachtliche Diskographie vorzuweisen hat. Sein Spiel ist bestimmt und kräftig, nicht weniger kann er jedoch auch die lyrische Seite zum Vorschein bringen; im Trio passt er sich bestens seinen Mitstreitern an und geht vor allem mit der Violine eine innig-klangliche Verbindung ein.

[Oliver Fraenzke, Juni 2019]

Das allmähliche Wiederaufblühen eines Giganten

Walter Braunfels: Works for piano & Orchestra; Witches‘ Sabbath op. 8, Hebridean Dances op. 70, Concert Piece op. 64; Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, Gregor Bühl (Leitung), Tatjana Blome (Klavier)

Die anfänglich rasch aufstrebende Karriere von Walter Braunfels endete abrupt mit der Machtergreifung Hitlers. Erst seit wenigen Jahren bemüht man sich, den vergessenen Meister wiederzuentdecken. Als Halbjude konnte Braunfels im Dritten Reich nicht auftreten und musste sogar von Glück sprechen, nicht deportiert zu werden, obgleich er nicht emigrierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg passte der traditionsverbundene Stil von Braunfels nicht mehr in das neu entstandene elitäre Musikdenken, man könne nach Auschwitz nicht mehr tonal komponieren. Zu einem guten Teil ist die Renaissance des Komponisten dem Label Capriccio zu verdanken, die schon seit mehreren Jahren CDs mit den Werken Braunfels‘ auf den Markt bringen, die zudem durch außergewöhnliches Design ins Auge stechen.

Walter Braunfels schrieb neben seinem Klavierkonzert op. 21 drei Werke für Klavier und Orchester; diesen ist die neueste Produktion von Capriccio gewidmet. Hexensabbat op. 8 stellt das erste Orchesterwerk des Komponisten dar, es entstand noch während seines Studiums bei Thuille in München. Viel lässt der Hexensabbat von den Einflüssen durch die großen Romantiker durchscheinen, Berlioz, Liszt, Wagner und andere bleiben unüberhörbar; dennoch handelt es sich um ein ernstzunehmendes Jugendwerk voller Elan, Kraft und Energie. Erst 1946 entstand das nächste Werk für Klavier und Orchester, das Konzertstück op. 64, welches wesentlich nüchterner und gesetzter wirkt als der Vorgänger. Mit seinem vorletzten Werk kam Braunfels noch einmal auf das Klavier zurück und schrieb sein Divertissement „Hebridentänze“ op. 70 nach schottischen Tänzen – ähnlich, wie er es bei der Schottischen Fantasie op. 46 für Geige und Orchester gemacht hatte. Bei allen dieser Werke erkennt man, dass Braunfels durch und durch Symphoniker war: Das Klavier wird nie als im Rampenlicht stehender Solopart vorgeführt, sondern die Virtuosität dient allein dem Zweck, mit dem Orchester zusammenzuwirken und gemeinsam etwas entstehen zu lassen.

Die Musiker dieser Aufnahme spielen voller Feingefühl und lauschen auf die Wirkung der Musik. So wird beispielsweise der Hexensabbat zu einem dämonischen Tanz wie im Finale von Berlioz‘ Symphonie Fantastique. Die späteren Stücke erscheinen gemäßigter und noch feiner in den Orchesterstimmen. Tatjana Blome spielt sich nie als Solistin auf, sondern verschmilzt mit der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz zu einer funktionierenden Einheit. Gregor Brühl holt minutiöse Details aus seinem Orchester heraus, wobei er die Werke auch nicht überfrachtet.

[Oliver Fraenzke, Dezember 2018]

Erstklassiges Orchester für Genzmer

Harald Genzmer: Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 (1942); Konzert für Violoncello und Orchester (1950); Konzert für Posaune und Orchester (1999)

RSO Berlin, Leitung: Ariane Matiakh; Klavier: Oliver Triendl; Violoncello: Patrick Demenga; Posaune: Jörgen van Rijen

Label: Capriccio, Katalog-Nr.: C5330; EAN: 845221053301

Anlässlich des 10. Todestags des Komponisten Harald Genzmer gab es dieses Jahr viele Feierlichkeiten: Nicht nur gab es mehrere Neu-Aufnahmen seiner Werke, es wurden auch Konzert-Wochenenden, Wettbewerbe und Sonderveranstaltungen im Namen des Komponisten ausgerichtet, vor allem in München. In München lehrte Genzmer von 1957 bis 1974 Komposition an der Hochschule für Musik und blieb auch danach der Stadt verbunden.

Harald Genzmer ist der wohl bekannteste Schüler Paul Hindemiths, und seine Tonsprache ist der des späten Hindemith zum Teil so frappierend ähnlich, dass man sich wundern muss, warum Paul Hindemiths Musik von den Nazis als „entartet“ verfemt wurde, während Harald Genzmer es sogar in die sogenannte Gottbegnadeten-Liste schaffte, in der Goebbels und Hitler noch 1944 persönlich die ihrer Meinung nach „begnadetsten“ Kunstschaffenden des zu der Zeit schon dem Untergang geweihten „dritten Reichs“ auflisteten.

Unter den vielen Neuerscheinungen, die zu Genzmers 10. Todestag erschienen sind, ist die Einspielung dreier großer Instrumentalkonzerte des Komponisten durch das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin wohl eine der ganz bedeutenden. Im Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 zeigt sich Genzmer ganz und gar seinem berühmten Mentor verpflichtet. Das ganze Stück wirkt wie eine Vorausschau auf Hindemiths eigenes spätes Klavierkonzert (1945). Dabei ist Genzmer stärker als Hindemith einer ganz lyrischen Moderne verpflichtet, wirkt insgesamt „zahmer“ als der Hindemith jener Jahre. Dabei darf man wohl nicht vergessen, dass Hindemith im US-Exil komponierte, während Genzmer im Kompositionsjahr des Klavierkonzerts zu den von der nationalsozialistischen Kulturpolitik tolerierten, gar geförderten Komponisten gehörte.

Das Cellokonzert aus dem Nachkriegsjahr 1950 zeigt einen moderneren, expressiveren Komponisten. Genzmer scheint hier auch dem Fahrwasser Hindemiths zunehmend zu entkommen, wenngleich vereinzelte harmonische Wendungen noch immer direkt „Mathis der Maler“ oder dem „Schwanendreher“ entsprungen sein könnten. Beeindruckend ist die Behandlung der tiefen Blechbläser in diesem Konzert, die immer wieder vollmundige Akzente im satt besetzten Orchester setzen. Der ganze Ensembleklang schwelgt in den mittleren und tiefen Registern und macht das Stück zu einem richtig fetten Sahnehappen.
Das abschließende Posaunenkonzert ist ein Spätwerk Genzmers, der im Kompositionsjahr 1999 seinen 90. Geburtstag feiern konnte. Wie vieles aus Genzmers spätem Schaffen wirkt einiges an diesem Stück (…mit seinem ausgesprochen „Honneger’schen“ Finale…) wesentlich weniger organisch und auch weniger überzeugend als die Werke aus der Zeit von den 1930er-Jahren bis Ende der 1950er. Ich habe den Eindruck, dass in den späten Werken Genzmers zuweilen die kompositorische Technik über die musikalische Erfindung obsiegt. Oder anders ausgedrückt: Komponieren ist in diesen Werken bisweilen zum Handwerk geworden, das technisch zwar einwandfreie Stücke hervorbringt, die „auf dem Papier“ als geradezu mustergültig durchgehen, während sie an Geschmack verlieren und bisweilen mehr „gewollt“ als „empfunden“ klingen, wenn man sie hört.

Insgesamt wird Genzmer auch in der historischen Rückschau wohl nie zu den „A-Liga“-Komponisten gehören. Dazu ist sein Œuvre zu wenig eigenständig und auch qualitativ zu wenig ausgewogen. Aber Genzmer ist doch in vielerlei Hinsicht auch eine sehr interessante Stimme des 20. Jh., die immer wieder hörenswerte Musik geschrieben hat, die vor allem bei den Fans von Hindemith, Strawinsky, Martinů oder Honegger auf offene Ohren stoßen müsste. Es ist schön, dass das Genzmer-Jubiläumsjahr 2017 zu einigen klingenden Würdigungen seines Schaffens geführt hat, wenngleich beim Label Thorofon fast das gesamte Werk des Komponisten in durchaus empfehlenswerten Einspielungen bereits seit langem vorlag.

Diese Aufnahmen des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter der Leitung der ausgesprochen interessanten Dirigentin Ariane Matiakh kann man indes loben: Sie haben in Oliver Triendl, Patrick Demenga und Jörgen van Rijen nicht nur bemerkenswerte Solisten zu bieten, die sich in diesen großen Instrumentalkonzerten allesamt von ihrer besten Seite zeigen, sondern es gehen hier auch viele Pluspunkte auf das Konto des Orchesters. Zwar hat Genzmer eigentlich immer sehr orchesterdienlich geschrieben (wohl auch, um die Aufführung seiner Stücke für möglichst viele Ensembles (auch die weniger professionellen) zu ermöglichen), aber es ist ein Unterschied, ob solche Werke einfach „gespielt“ werden oder wirklich interpretiert. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin schafft eine echte Interpretation der Musik, und dabei eine sehr geschmackvolle.
Die Ausgewogenheit der Stimmen, die feinen Klangfarben, der insgesamt (auch von der hervorragenden Klangtechnik der Deutschlandfunk-Tonmeister im 1 A-Sound eingefangene) Orchesterklang mit seinen seidigen Streichern und wunderbaren Bläsern ist sehr zu loben. Das ist sicher, neben dem absolut erstklassigen Orchester, auch Dirigentin Ariane Matiakh zu verdanken, die man beim Label Capriccio schon öfters positiv wahrnehmen konnte.

Wenn es einen Kritikpunkt gibt, den man dieser Aufnahme anlasten könnte (und der auf eine zu kurze, der Aufnahme vorangegangene Probenzeit hindeutet), so ist es das häufige Missachten der „großen Linien“, die Genzmer in seine Partituren hineingeschrieben hat.
Wie kaum ein anderer Komponist seiner Zeit denkt Genzmer in großen Zusammenhängen, die über das bloße Phrasieren zum Teil weit hinausgehen. Bei Genzmer kann eine „Phrase“ minutenlang dauern. Dass dies in der vorliegenden Aufnahme oft nicht erkannt wurde (während es beim Hören ebenso oft auffällt), ist der in meinen Augen einzige wirkliche Minuspunkt, der zwar sehr schade aber (zumal mangels Alternativen) verschmerzbar ist.

[Grete Catus, Dezember 2017]

Die verspielte Seite des Bad Boy

Capriccio, C5309; EAN: 8 45221 05309 7

Musik von George Antheil ist auf vorliegender CD mit der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Karl-Heinz Steffens zu hören. Neben der Erstfassung von A Jazz Symphony (1925) und dem Ersten Klavierkonzert, jeweils mit dem Solisten Frank Dupree, erklingt die Orchestersuite zu Capital of The World und Archipelago „Rhumba“.

George Antheil wusste, wie man sich selbst darstellen kann: Mit schockierenden Klavierauftritten, bei welchen nicht selten ein Revolver auf dem Klavier lag, mit eigenwilligen Ensemblebesetzungen, die auch mal 16 selbstspielende Klaviere und Flugzeugsirenen vorsehen, und mit verbaler Propaganda, welche ihn sich selbst in seiner Autobiographie als „Bad Boy of Music“ präsentieren ließ.

Neben einer Handvoll solch ohrenbetäubender Werke wie dem berühmten Ballet mécanique oder der Airplane Sonata schrieb Antheil allerdings auch eine überraschend große Menge Musik, die sein selbstgeschaffenes Image so überhaupt nicht bestätigen will. Vor allem der Jazz, welcher damals mehr als heute als reine Populärmusik galt, reizte ihn, so dass er ihn immer wieder in seine Musik einband, subtil wie in späteren Jahren in seiner Fünften Symphonie (Joyous) oder offenkundig wie in der „A Jazz Symphony“ oder in der auf gleichem Material beruhenden „Jazz Sonata“. Aber auch die Operette und der Wiener Walzer zogen Antheil an, in Wien wollte er neben Alban Berg unbedingt die Bekanntschaft von Franz Lehár und Emmerich Kálmán machen – was auch in seine Musik einging!

Beide dieser unorthodoxen Einflüsse der – im damaligen Denken – „leichten Muse“ schlagen sich in der Erstfassung der Jazz Symphony von 1925 nieder. Das Paul Whiteman (Dirigent der Uraufführung von Gershwins Rhapsody in Blue) gewidmete und im Übrigen ausdrücklich nicht in die Nummerierung der großen Symphonien aufgenommene einsätzige Orchesterwerk kombiniert futuristische Techniken wie Clusters mit möglichst originalgetreu nachzustellenden Jazzeffekten – über dem Trompetensolo steht gar geschrieben: „Use all the tricks of the trade“, und im Vorwort zur Zweitfassung von 1955 hob der Komponist hervor, dass die Uraufführung von einem „all-negro orchestra assembled by Handy“ (William C. Handy, 1873-1958, Komponist, Trompeter und Bandleader, der oft als „Vater des Blues“ bezeichnet wurde) gespielt wurde. Die Orchestration weist ebenfalls „native american“-Züge auf, zwei Banjos und eine Steamboat Whistle werden zum Einsatz gebracht. Zugleich ist die Symphonie ein Rundumschlag gegen andere dem Jazz nahestehende Werke wie Milhauds La création du monde, Gershwins Rhapsody in Blue oder Joplins Entertainer, die alle aufgegriffen – wenngleich nie wörtlich zitiert – und pfiffig persifliert werden. Als Finale erklingt ein Walzer, der beinahe von Lehár herrühren könnte, endete er und damit das ganze Werk nicht in einem übermäßigen Dreiklang, was den Hörer etwas verdutzt zurücklässt.

Angedeutete Zitate, die offensichtlich scheinen und doch nicht wörtlich erklingen, finden sich ebenfalls im Klavierkonzert von 1922, das anmutet, als würde es unter dem Einfluss Strawinskys stehen. Tatsächlich machte Antheil kurz zuvor Bekanntschaft mit dem Russen, und so erklären sich Anlehnungen an Le sacre du printemps und noch mehr an Petruschka, was ja ursprünglich ein Klavierkonzert hätte werden sollen und den Orchesterpianisten vor horrende solistische Anforderungen stellt.

Russische Idole sind auch in der Suite aus dem Ballett Capital of the World erkennbar, die Klangwelt von Prokofieff ist nicht fern, und der letzte Satz, Knife Dance and Farruca, erinnert nicht nur durch den Titel an Chatschaturjans Säbeltanz. Noch mehr als bei den vorherigen Werken sticht der Kontrast zwischen Bad Boy und Komponist leichter Musik ins Auge, Antheil komponierte tatsächlich neben dem Ballett auch ca. dreißig Filmmusiken. Etwas Exotisches schwingt in dieser Musik – gerade auch im abschließenden Archipelago „Rhumba“ – mit: farbenfroh, beschwingt, parlierend. Antheil war eben nicht nur der Schock-Pianist und Komponist einer Hand voll wilder Ausnahmewerke, sondern auch begabter Schöpfer unbeschwerter, exotischer und farbenprächtiger Musik für leichteren Hörgenuss.

Sichtlich Spaß haben die Musiker der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz unter Karl-Heinz Steffens. Das Orchester trägt nicht zu dick auf in all den üppigen Passagen, bleibt transparent und luminös, und lässt sich dabei nicht die dankbaren Effekte entgehen, die Antheil in seinen Partituren offeriert. Zumal die Tiefen sind präsent und schmettern bei Bedarf voluminös hervor. Unerwartete Umschwünge kommen so unvermittelt zum Zug, dass der Hörer geradezu ins Stocken gerät, und allgemein erhält die Musik ihre unverbrauchte Frische.

Feinfühlig im Anschlag und subtil in der Klangwahrnehmung ist der junge Pianist Frank Dupree als Solist in A Jazz Symphony (gut abgestimmt mit den anderen zwei Pianisten Adrian Brendel und Uram Kim) sowie im Klavierkonzert. Er kennt seine Funktion im Orchester und kann sich auch bei Bedarf zurückhalten, selbst zur Begleitung werden oder gleichberechtigt in ein Wechselspiel einstimmen. Flächig Komponiertes lädt er nicht expressiv auf, was der Musik allerdings auch entgegenkommt, und gestaltet dafür umso individueller in den sanfteren Passagen. Er realisiert den klaren Kontrast zwischen den harten non-legato-Stellen und den unentschieden zärtlichen Ruhepunkten.

Den rundum informativen und auf mir bislang nicht bewusste Aspekte hinweisenden Booklettext verfasste der Wiener Musikforscher Christian Heindl.

[Oliver Fraenzke, August 2017]

Letzte Lieder

Capriccio, C5292; EAN: 8 45221 05292 2

Den „Schwanengesang“ D. 957 Franz Schuberts singt Bo Skovhus für Capriccio, sein Klavierpartner ist Stefan Vladar.

Das letzte Werk eines Künstlers wird traditionell als Schwanengesang tituliert, und wo passt dieser Ausdruck schöner als bei Schubert, dessen letztes Vermächtnis aus einer Reihe von Liedern besteht, die vermutlich zumindest teilweise zyklischen Zusammenhalt aufweist. Sieben Lieder nach Ludwig Rellstab und sechs nach Heinrich Heine finden sich im gleichen Autograph, ein letztes Lied von Johann Gabriel Seidl (Die Taubenpost), welches oft mit einbezogen wird, ist mit Sicherheit nicht für den Zyklus gedacht gewesen. Die heute übliche Zusammenstellung geht auf Tobias Haslinger, den Verleger Schuberts, zurück.

Bo Skovhus und Stefan Vladar fügen ihrer Aufnahme des Schwanengesang eigenmächtig weitere Lieder hinzu: Sehnsucht, Am Fenster und Wiegenlied aus dem Opus 105, Bei Dir allein aus dem Opus 95 nach Seidl sowie Herbst D 945 nach Rellstab. In ihrer Anordnung kommen zunächst die Seidl-Lieder, es folgen die Heine-Lieder und Rellstab setzt den Schlussstrich passend mit Abschied.

Aus der lang währenden Zusammenarbeit zwischen Bo Skovhus und Stefan Vladar sind damit CD-Aufnahmen der drei großen Liederzyklen Schuberts hervorgegangen, neben der Schönen Müllerin und der Winterreise nunmehr auch der hier vorliegende Schwanengesang. Es gibt hinreißende wie inspirierte Momente im Gesang Bo Skovhus’, der durch deutliche Textverständlichkeit besticht. Gut gelingen ihm gerade die trüben, verhaltenen Passagen, denen er stimmlich etwas geradezu Belegtes und Unheimliches verleihen kann. Hingegen verfallen die aufbegehrenden Passagen und Höhepunkte in einen flachen Opern-Gestus, der wenig zu den intimen Liedern Schuberts passen mag. Standardisiertes Vibrato und selbstdarstellerisches Dröhnen kompensiert den Eindruck der intim monologisierenden Welt, in die der Sänger uns zuvor zuvor mitgenommen hat.

Als Liedbegleiter erweist sich Stefan Vladar als aufmerksamer Zuhörer und kann auf seinen Partner adäquat eingehen. Dies überrascht positiv, gerade in Bezug auf seine letzten Aufnahmen als Konzert-Solist, in welchen nur rudimentäre Verbindung zu seinen Orchestermitstreitern erkennbar war. Verträumte Lieder wie das Wiegenlied D 867 erhalten so eine sanft erspürte Ruhe und stimmige Phrasierung. Je mehr sich die Stimmung allerdings aus der Intimität entfernt, desto eingeebneter, ruppig geschlagener und konturschwächer wird allerdings Vladars Spiel. Und doch ist erwähnenswert, wie sich sein Spiel insgesamt gewandelt hat, wie sein Ausdruck an der Seite eines Sängers selbst sängerischer wurde, und wie sich der Schwerpunkt von leerer Pianistik in Richtung sensibler Musikalität verlagert hat.

[Oliver Fraenzke, August 2017]

Meistvergessener? Ungekannter!

Ernst Toch: Solo Piano Pieces – Anna Magdalena Kokits
Capriccio; Kat.-Nr. C5293 / EAN: 845221052939

Anna Magdalena Kokits hat für das österreichische Label Capriccio die zum Teil hoch virtuose Klaviermusik des gebürtigen Österreichers Ernst Toch eingespielt, der aber bis zum zweiten Weltkrieg überwiegend in Deutschland wirkte und als Komponist in dieser Zeit als Musterbeispiel für den musikalischen Expressionismus in der Zeit der Weimarer Republik gelten kann.

Ernst Toch ist ein Name, der polarisiert. Nicht selten wird seine Musik als spröde, exzentrisch oder sogar als unnahbar wahrgenommen. Die Frage stellt sich allerdings noch dem Genuss (ich möchte dieses Wort bewusst gebrauchen) der vorliegenden Einspielung von Tochs Klaviermusik, welches womöglich verzerrte Bild wir von diesem Komponisten bislang wahrgenommen haben. Denn in der Klaviermusik zeigt sich Toch als ein viel zugänglicherer musikalischer Geist als beispielsweise in seinen späten Sinfonien.

Das mag damit zusammenhängen, dass das gesamte Œuvre, das wir auf diesem schönen Album finden, noch in die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg fällt (1923-1931), in eine Zeit also, in der in Deutschland der Expressionismus die bestimmende, richtungsgebende kreative Strömung war, und in der sich während der Zeit der Weimarer Republik ein enorm vielschichtiges, experimentierfreudiges Musikleben entwickelt hatte, das die Nationalsozialisten freilich mit ihrem Machtantritt so gründlich ausmerzten, dass man diese gar nicht so ferne Zeit bis heute nur mühsam und stückhaft rekonstruieren kann. Doch Namen von damals sehr erfolgreichen Komponisten wie Heinz Tiessen, Walter Braunfels, Ernst Krenek, Erwin Schulhoff, Viktor Ullmann oder eben Ernst Toch werden in letzter Zeit glücklicherweise wieder häufiger genannt, was letzten Endes auch dazu führt, dass ihre Musik wieder häufiger zu hören ist.

CDs wie die vorliegende bilden dabei eine unschätzbare Bereicherung unserer kulturellen Diversität. Denn auch, wenn sie (zumindest laut Ausweisung auf dem Cover) wohl keine Welt-Ersteinspielungen enthält, so ist das eingespielte Repertoire doch so gut wie unbekannt geblieben.

Dabei finden sich hier wirkliche Preziosen und Überraschungen. So bekommt man unmittelbar den Eindruck, dass der Expressionist und Avantgardist Ernst Toch in seinen Burlesken op. 31 oder in seinen Capriccetti op. 36 ganz unzweifelhaft auch an romantische Traditionen anknüpft (und wie wir auf diesem Album feststellen sogar mit Gattungen wie Etüden und Sonaten kokettierte, wenngleich die „enthaltene“ Musik dem Gattungsbegriff nicht mehr folgt), wobei einem durchaus Namen wie Schumann oder auch Chopin in den Sinn kommen. Die Musik dazu ist freilich Expressionismus in Reinkultur: rebellisch, exaltiert, durchaus auch mit einem Augenzwinkern bis hin zum offenen Sarkasmus. Doch erstaunlich heiter und an sich freundlich klingt diese Klaviermusikwelt, ganz anders als die meist griesgrämig-verbitterten späten Orchesterwerke des Österreichers, die dieser in den USA schrieb, wo er zunächst ab 1935 als Komponist von in Nazideutschland als „entartet“ empfundener Musik im Exil lebte und sich dann dauerhaft bis zu seinem Tod 1964 dort niederließ.

Obwohl er in den USA mit einem Lehrauftrag, diversen Kompositionsaufträgen für u.a. Filmmusik und immerhin einer Grammy Award-Auszeichnung gar nicht so schlecht über die Runden kam (vergleicht man seine Laufbahn mit etlichen anderen Exilkomponisten, denen es meistens weitaus schlechter erging), entwickelte Toch, der offenbar immer mit einer inneren „Düsternis“ kämpfte, eine tiefe Verbitterung und bezeichnete sich selbst sogar als den „meistvergessenen Komponisten des 20. Jahrhunderts“, dies wohlgemerkt nur drei Jahre nachdem er den renommierten Grammy Award gewinnen konnte.

Toch ist in der Tat ein ambivalenter Charakter, und Ambivalenz ist auch ein naheliegendes Wort, um seine Musik zu umschreiben. Was steckt da nicht alles an Widersprüchlichem drin: Neoklassik trifft auf freie Atonalität, Exaltiertheit trifft auf Kontemplation und Selbstbezogenheit, Avantgarde trifft auf Traditionsgebundenheit, Virtuosität trifft auf Banalität als Stilmittel, Heiterkeit schlägt um in Sarkasmus. Interessante Musik ist das, im besten Sinne!

Anna Magdalena Kokits ist eine technisch perfekte Interpretin (geradezu atemberaubend in den irre virtuosen Etüden), und auch der äußerst gelungene, vollkommen natürliche Aufnahmeklang ist zu loben. Ihre Interpretation folgt insgesamt dem verbreiteten Leitbild, Tochs Musik nicht mit zu viel Emotionen aufzuladen, ihn als einen eher kühlen, vielleicht sogar analytischen Musikkonstrukteur zu präsentieren. Das klingt überzeugend, aber ob das richtig ist? Der Expressionismus war auch eine Zeit der Ausschweifungen, der Tabubrüche und der emotionalen Extreme. Als Kunstgattung wird er heute insgesamt nicht selten als Vorahnung zum Zweiten Weltkrieg verstanden, als eine Art „Tanz auf dem Vulkan“, und man hätte sich gewünscht, dass diese extremen Positionen, die in Tochs Klaviermusik zweifellos in großer Zahl zu finden sind, von Frau Kokits mit etwas weniger Zurückhaltung interpretiert würden. Es dürfte auf dieser CD ruhig noch etwas mehr „Enthemmtheit“ herrschen, doch das ist Mosern auf hohem Niveau. Dieses Album geht so wie es ist vollkommen in Ordnung und präsentiert neben einem Komponisten, dessen Klaviermusik mehr Gehör finden sollte auch eine interessante Interpretin, von der man hoffen darf, dass sie ihren eigenen Weg gehen wird und dabei den Mut haben wird, noch mehr Persönlichkeit und Tiefe zu entwickeln, als sie es auf diesem beachtenswerten Album bereits zeigt.

[Grete Catus im Mai 2017]

Ein Schalk als Held

Capriccio, C9006; EAN: 8 45221 09006 1

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In einer Koproduktion von Capriccio und EntArte Opera wurde erstmalig Walter Braunfels‘ Oper Ulenspiegel eingespielt, wenngleich in reduzierter Orchesterfassung durch Werner Steinmetz. Das Israel Chamber Orchestra unter Martin Sieghart spielt gemeinsam mit dem von Franz Jochum einstudierten EntArteOpera Choir. Die Hauptpartien singen Marc Horus (Till Ulenspiegel), Christina Ratzenböck (Nele), Joachim Goltz (Profoss) und Hans Peter Scheidegger (Klas).

Knappe 100 Jahre lag diese Oper im Verborgenen. Walter Braunfels hatte sich nach dem ersten Weltkrieg von diesem antikatholischen Werk distanziert, da er selbst vom Protestantismus zum Katholizismus konvertiert war. Erst 2011 wurde die 1913 komponierte Oper neu entdeckt und in Gera auf die Bühne gebracht. 2014 schließlich wurde Ulenspiegel in Linz erneut aufgeführt und anschließend aufgenommen, allerdings in einer Fassung für kleineres Orchester, die eigens von Werner Steinmetz angefertigt wurde. Dies kommt der Rezeption insofern zugute, als es die Sänger schwer hatten, sich gegen das vollbesetzte Orchester zu behaupten. Noch immer sind manche Partien durch die Dopplungen herausfordernd, allerdings durchaus im Bereich des Realisierbaren.

Das Libretto stammt von Braunfels selbst, basierend auf einem Roman von Charles de Coster. Die Geschichte des berühmten Schalks wird zum Kriegsdrama ausgebaut, Ulenspiegel erscheint als Widerstandskämpfer gegen die spanische Besetzung und kämpft trotz Folter und Gefangenschaft gegen die Unterdrücker. Die kollektiv blutrünstige Kriegslust vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs ist unverkennbar, das Werk ist politisch ambitioniert, preist patriotische Aufopferung und Heldentum.

Die Oper ist markant im Tonfall, bleibt streckenweise mit großem Wiedererkennungswert im Ohr und ist reich an Durchchromatisierung und raffinierten Details. Es gibt keine übermäßigen Neuerungen in dieser Musik, doch mangelt es nicht an interessanten Feinheiten und erlesener Liebe zum Detail.

Das trotz starker Reduzierung klangvoll erscheinende Orchester klingt im Tutti oft nicht gerade transparent, und nicht allzu oft gelingt es Martin Sieghart, die wünschenswerte Luzidität zu erreichen. Allgemein mangelt es an dynamischem Fluss und Breite des Spektrums. Die reinen Orchesterpassagen weisen mehr an bemerkenswerter musikalischer Ausgestaltung auf, und immer wieder gelingt es doch, den Hörer mit manch schönem Momente in den Bann zu ziehen. Inspiriert funkelnd ist die Partie der Nele mit Christa Ratzenböck besetzt, die sich in ihre Rolle förmlich eingelebt hat und die halsbrecherischen Partien mühelos meistert, obwohl einige tiefe Töne schon die Untergrenze ihrer Sopranlage sprengen. Marc Horus als Ulenspiegel kann im Pianobereich überzeugen, wirkt in aufbrausenden Momenten hingegen etwas gekünstelt, überbetont auch vieles; seine schauspielerische Leistung ist fesselnd und zweifellos eigenartig und ungewöhnlich. Klas, gesungen von Hans Peter Scheidegger, überzeugt in seiner recht kurzen Partie, und auch Joachim Goltz ist als Profoss keineswegs fehlbesetzt. Am überzeugendsten agiert jedoch der in der Oper oft erscheinende EntArteOpera Choir, einstudiert von Franz Jochum, der mit Einheit des Ausdrucks und Bündelung der Energie ergötzt, auch in Phrasierung und Tongebung zu gefallen weiß.

Wie auch die anderen kürzlich erschienen CDs mit Musik von Walzer Braunfels bei Capriccio ist vorliegendes Album eine Empfehlung wert. Zwar vermag die Darbietung nicht immer vollständig überzeugen, doch tut dies die Musik einer vernachlässigten Größe am Opernfirmament.

[Oliver Fraenzke, Mai 2017]

Ouvertüren-Symphonien

Capriccio, Encore, C8006; EAN: 8 45221 08006 2

Als Vokalmusikkomponist spielte William Boyce eine wichtige Rolle im England des 18. Jahrhunderts. Weitaus weniger bekannt sind seine zahlreichen Instrumentalwerke. Dabei handelt es sich um herausragende Werke, und Boyce wird nicht grundlos nachgesagt, einer der wenigen englischen Komponisten seiner Zeit gewesen zu sein, die qualitativ den Größen des kontinentalen Festlands nahe kommen. Die acht Symphonien Op. 2 sind formal eher dreisätzige Ouvertüren als Symphonien im später etablierten Sinne, und tatsächlich leiten sich abgesehen von der achten (im Übrigen auch der einzigen in Moll stehenden) alle von Bühnen- oder Vokalwerken ab. Einen interessanten Aufbau weist die sechste Symphonie auf: sie besitzt einen ausgebreiteten Allegro-Kopfsatz mit verhältnismäßig langer Largo-Einleitung sowie Rückkehr in dieses Tempo und ein Larghetto als zweiten Satz, ohne ein schnelles oder tänzerisches Finale darauf folgen zu lassen.

Die bereits 1993 aufgenommene und dieses Jahr bei Capriccio, Encore veröffentlichte Aufnahme Sir Neville Marriners mit der Academy of St. Martin-in-the-Fields sticht durch gewohnt brillanten und lupenreinen Klang in hoher technischer Perfektion hervor. Die thematischen Keimzellen sind fein herausgearbeitet, und die Phrasierung derselben ist gewissermaßen reflektiert. Und doch gleitet die Musik immer wieder in Gleichförmigkeit ab, die weiterreichenden Entwicklung hat der Dirigent nicht im Auge, und so plätschert die Musik über längere Strecken richtungslos vor sich hin. Dies liegt nicht zuletzt an dem gleichförmigen Non-Legato, welches die Entstehung einer gesanglichen Linie durchkreuzt, aber auch an der dynamischen Gleichförmigkeit im fortwährenden Mezzo-Bereich. Da können auch manche Tricks in der Instrumentierung – wie beispielsweise, die Flöte in den Wiederholungen Solo spielen zu lassen, ohne die mächtigere Violingruppe – wenig darüber hinwegtäuschen. Zu wünschen wäre, die raffinierte Harmonisierung mancher Sätze noch deutlicher heraushören zu können, plötzlichen Umschwung ins Moll auch als solchen bewusst wahrzunehmen, und die versteckten Details in vollem Licht erstrahlen zu sehen. Bei aller Makellosigkeit und Brillanz sind doch die Manierismen und mechanischen Routinen augenfällig, weshalb aktive Mitverfolgung auf lange Zeit ziemlich ermüdet.

[Oliver Fraenzke, Februar 2017]

Lieder zweier Unbekannter

Cornelia Hübsch, Sopran
Charles Spencer, Klavier

Erich Wolfgang Korngold (1897-1957)
Unvergänglichkeit op. 27

Karl Goldmark (1830-1915)
12 Gesänge op. 18
4 Lieder op. 21
4 Lieder op. 34

Capriccio 3004
8 45221 03004 3

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Erich Wolfgang Korngold ist vor allem durch seine Oper „Die tote Stadt“ bekannt geworden. Als jüdischer Komponist musste er in die USA emigrieren und hatte dort große Erfolge als Komponist von Film-Musik. Seine Lieder op. 27 mit dem Titel „Unvergänglichkeit“ sind Teil eines Vokalœuvres, das neben den anderen Kompositionen durchaus seinen Raum einnimmt. Die Texte stammen von einer gewissen Eleonore van der Straten-Sternberg und sind für einen heutigen Hörer eher schwer erträglich, mögen aber damals durchaus zu Vertonungen angeregt haben.

Die Lieder von Karl Goldmark gehören einer anderen Zeit und natürlich auch einem anderen Stil an. Sie hören sich teilweise an wie in Schuberts Nachfolge, ohne sonderlich epigonal zu sein, und sind durchaus eine Bereicherung  des Liedrepertoires.

Allerdings haftet dieser CD – wie vielen anderen, wenn es um Gesang, speziell um Kunstlieder geht – ein erschreckendes Manko an: Man versteht von den gesungenen Texten kein Wort. Nun fehlen auch im beiliegenden „Booklet“, wenn man die beiden einliegenden Seiten überhaupt als solches bezeichnen möchte, sowohl etwas Biographisches über die beiden Tondichter als auch die vertonten Texte. Ein Nachteil, dem die beiden Musiker, Cornelia Hübsch, Sopran und ihr Begleiter am Klavier, Charles Spencer – er wenigstens kein Unbekannter –, zum Opfer fallen, denn das sollte bei einem heutigen vernünftigen CD-Label doch eine Selbstverständlichkeit sein, dass das Booklet über die wichtigsten Inhalte Auskunft gibt.

So bleibt wieder einmal zu beklagen, dass der heutige Gesangsunterricht eben nur Wert zu legen scheint auf die Stimme und ihre Größe bzw. auf das Timbre, dass aber Textgehalt und Wortverständlichkeit völlig zu kurz kommen, was bei dieser CD doppelt ins Gewicht fällt. (Wie gut, dass man wenigstens im Internet die Texte teilweise nachlesen kann, denn in Goldmarks Fall kommen sie wenigstens bei op. 21 vom schottischen Dichter Robert Burns [1759-1796], immerhin!)

Dabei hat doch Hans Gál (1890-1987) in seinem Buch „Franz Schubert oder die Melodie“ so wunderbar beschrieben, was einen wirklich guten Liedvortrag ausmacht: „…und man hat das Recht, bei der Erwägung einer solchen Frage an den vornehmsten Typ eines Interpreten, eines Hörers und an die vollkommenste Wortdeutlichkeit zu denken – , so wird für ihn eine Meistervertonung eines Gedichts von höchster Vollendung ein Erlebnis sein wie kein anderes.“ (S. 86)

Davon ist nun bei dieser CD – wie bei vielen anderen auch, wenn es um den heutigen Liedgesang geht – nicht einmal die Andeutung eines Anscheins zu vernehmen.

[Ulrich Herman Mai 2016]

Verschiedenste Einflüsse, wie aus einem Guss

Karl Weigl
Klavierkonzert für die linke Hand Es-Dur, Violinkonzert D-Dur

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Capriccio CD C 5232
ISBN: 845221052328

„Ich habe Karl Weigl immer als einen der besten Komponisten der alten Generation betrachtet; einer derer, die die glanzvolle Wiener Tradition weiterführen. Er bewahrt zweifellos die alte Haltung jenes musikalischen Geistes, welcher einen der besten Teile der Wiener Kultur darstellt.“ So urteilte kein Geringerer als Arnold Schönberg über diesen Komponisten, der sich nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 gezwungen sah, in Amerika neu zu beginnen. Doch sollten die Worte seines berühmten Kollegen Weigl nicht davor bewahren, ähnlich wie sein einstiger Lehrmeister Alexander von Zemlinsky, sein Leben und Werk 1949 im New Yorker Umfeld stillschweigender Ignoranz zu beschließen.

In Wien ein geschätzter Komponist und Lehrer, dessen Werke im Repertoire so berühmter Namen wie Furtwängler und Szell zu finden waren, blieb Musik des 1881 in Wien geborenen Weigl trotz prägender Freundschaft zum mehr als sechs Jahre älteren Schönberg der Spätromantik verhaftet. Das mag ein Grund dafür gewesen sein, warum der im 1. Weltkrieg am rechten Arm amputierte Pianist Paul Wittgenstein ihn 1924 damit beauftragte, ein Klavierkonzert für ihn zu schreiben. Zu einer Uraufführung kam es jedoch nicht. Während die von Wittgenstein ebenfalls abgelehnten Auftragskompositionen für die linke Hand von Ravel und Prokofjew früher oder später ihren Weg ins Standardrepertoire der Pianisten nahmen, verschwand Weigls Konzert (wie auch dasjenige Hindemiths, das erst Leon Fleisher 2004 in Berlin erstmals zu Gehör brachte) ungehört und wurde 2002 von dem Pianisten Florian Krumpöck uraufgeführt. Seiner Interpretation ist es zu verdanken, dass dieses Werk in seiner Konzeption des sinfonischen Klavierkonzertes auf dieser Ersteinspielung von 2013 plastischen Ausdruck findet. Im Gegensatz zu Ravel und Prokofjew begreift Weigl das Klavier nicht als Widerpart des Orchesters, sondern als Teil des sinfonischen Organismus. Er versucht gar nicht erst, die Einsamkeit der linken Hand hinter einer scheinbaren Vielstimmigkeit zu maskieren, sondern legt sie vor allem im zweiten Satz in einer entrückten Arie über den orchestralen Klangkörper. Krumböck, dessen Virtuosität und Gestaltungskraft niemals zum Selbstzweck verkommt, weiß die cantablen Linien empfindsam nachzuzeichnen und die Vielschichtigkeit des Konzertes, das in seinem Aufbau und dem heroischen Gestus Beethovens fünftem Klavierkonzert durchaus nachempfunden ist, gekonnt herauszuarbeiten.

Auch das 1928 entstandene Violinkonzert D-Dur ist nicht nur in der Tonart von Beethoven inspiriert. Das Orchestervorspiel zu Beginn scheint in seiner Länge eher einem klassischen Vorbild zu entspringen. Umso mehr überrascht der ganz im spätromantischen Tenor eines Max Bruch gehaltene Einsatz der Violine. David Frühwirth stürzt sich hier beherzt ins philharmonische Getümmel und beherrscht die Szenerie von der ersten Note an. Ist der solistische Part im Klavierkonzert noch mehr in den sinfonischen Satz integriert, so steht die Violine hier dem Orchester im Dialog gegenüber. Frühwirths wunderbar durchphrasiertes Spiel vermag, sich deklamatorisch gegen die vielen Register der großen Besetzung zu behaupten. Im zweiten Satz besticht sein biegsamer, gesanglicher Ton, der den großen Bogen nie verliert. So wirkt das Miteinander verschiedenster Einflüsse, die die epischen Klangflächen eines Mahler ebenso wie die instrumentale Vielfarbigkeit eines Strauss beheimaten, stets aus einem Guss.

Die Norddeutsche Philharmonie Rostock hätte im Violinkonzert Frühwirth unter Krumpöck, ebenso wie im Klavierkonzert Krumpöck unter Manfred Hermann Lehner, als sinfonisches Gegenüber in der Gestaltung mehr zur Seite stehen können. Bleibt zu hoffen, dass diese beiden im Ganzen gelungenen Darbietungen der Solisten zukünftig dem Hörer Augen und Ohren für die Musik Karl Weigls öffnen.

[Raphael Buber, Mai 2016]