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Boris Giltburgs formidabler Rachmaninow

Naxos, 8.574528, EAN: 7 47313 45287 3

Mit den Klavierkonzerten Nr. 1 und 4 und der Rhapsodie über ein Thema von Paganini vervollständigt der russischen Pianist Boris Giltburg seine Einspielungen der Werke für Klavier und Orchester von Sergej Rachmaninow. Begleitet wird er von den Brüsseler Philharmonikern unter der Leitung von Vassily Sinaisky.

Boris Giltburg kann mittlerweile getrost als eines der Aushängeschilder des Labels Naxos gelten, und neben – natürlich – Beethoven liegt ein besonderer Schwerpunkt seines Interesses auf der Musik Rachmaninows. Mit der vorliegenden Neuerscheinung (des vergangenen Jubiläumsjahres 2023) komplettiert er seine Einspielung von Rachmaninows Werken für Klavier und Orchester, wobei im Vergleich zu den bereits vor Jahren erschienenen mittleren Konzerten Orchester und Dirigent gewechselt haben und ihm nunmehr mit Vassily Sinaisky ein veritabler Altmeister der russischen Dirigentenschule zur Seite steht.

Im Fokus stehen diesmal also die im Vergleich zu den Konzerten Nr. 2 und 3 sicherlich ein gutes Stück unpopuläreren Klavierkonzerte Rachmaninows, was natürlich sehr stark in Relation zu betrachten ist – immerhin sind auch diese Werke um ein Vielfaches besser in Einspielungen dokumentiert als unzählige andere Konzerte weniger prominenter Komponisten. Die Gründe dafür liegen sicherlich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil in einem Rachmaninow-Bild, das wesentlich auf den romantischen Schmelz seiner mittleren Schaffensperiode ausgerichtet ist, von dem beide Werke unzweifelhaft weniger enthalten. Dass sie aber aus anderen Gründen ihre ganz eigenen Reize haben und in vielerlei Hinsicht nicht weniger lohnenswert sind, steht auf einem anderen Blatt.

So kann man natürlich im Klavierkonzert Nr. 1 fis-moll op. 1, entstanden 1890/91 und 1917 grundlegend revidiert, noch relativ direkt allerlei Einflüsse ausmachen wie Tschaikowski (gleich in der Eingangsfanfare oder im lyrischen Mittelsatz) oder die nationalrussische Schule, und damit, dass der Beginn etwas an Schumanns Klavierkonzert erinnert, ist Rachmaninow bekanntlich nicht allein (in der Tat orientiert sich die Urfassung deutlich an Griegs Konzert). Bei alledem handelt es sich aber – erst recht in der Revision – um ein durch und durch lohnenswertes, selbstständiges und inspiriertes Werk, dessen finaler Wirbel (in der revidierten Fassung) übrigens nicht als Apotheose einer „großen Melodie“ konzipiert ist, sondern stellenweise fast etwas Robust-Tänzerisches an sich hat.

Schumann ist bis zu einem gewissen Grade auch der Referenzpunkt für die Momente des Innehaltens, des zart-poetischen Zögerns, die für den ersten Satz des Konzerts (neben der gleich auf den ersten Blick auffallenden großen Geste) charakteristisch sind, und es sind gerade diese Stellen, an denen die Qualitäten von Giltburgs Spiel ganz besonders zur Geltung kommen. Giltburg ist ja jemand, dessen Spiel sich durch ausgesprochene Kultiviertheit, sehr sorgfältige Artikulation, feine Lyrik und beseelte Emotionalität auszeichnet, ein Meister des Rubatos und der wohldurchdachten, wunderbar austarierten Übergänge. Davon zeugt in exemplarischer Weise auch der erste Einsatz des Klaviers im zweiten Satz, dessen Atmosphärik des Suchens, des zarten Sich-Vortastens Giltburg perfekt zu realisieren versteht. Ähnliches gilt für das kapriziöse Hauptthema des Finales.

Selbst in den forciertesten Passagen, so etwa in der großen Kadenz im ersten Satz, lässt sich Giltburg Raum für Differenzierungen, setzt niemals nur auf Klangfülle. So lobenswert dies grundsätzlich ist: hier und da wäre es sicher möglich, die Grandezza, das Pathos, das diese Musik zweifelsohne besitzt, bedingungsloser auszuspielen. Insgesamt aber ist dies von Seiten Giltburgs eine ausgesprochen hochklassige Einspielung.

Das Album beschließt Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 4 g-moll op. 40, 1926 fertiggestellt, hier aber (wie zumeist) in der revidierten Fassung aus dem Jahre 1941 eingespielt. Die Rezeption dieses Werks ist von Anfang an kompliziert gewesen, inklusive verheerender Kritiken der amerikanischen Presse nach seiner Uraufführung. Was dieses Werk auszeichnet, ist seine herbe, distanzierte Lyrik, oft auch Nervosität, eine gewisse Lakonie, die stellenweise geradezu brüsk anmuten kann. Rachmaninow rezipiert hier diverse Einflüsse der Musik jüngerer Kollegen; darauf, dass manche Passagen auch durch Jazz inspiriert sind, wird gerne hingewiesen (und dieser Punkt manchmal vielleicht etwas überstrapaziert), aber manche Aspekte der im Vergleich zu früheren Werken deutlich aufgerauten Orchestrierung weisen auch zum Beispiel auf Prokofjew hin.

Nichtsdestoweniger findet man aber auch in diesem Werk die für Rachmaninow typischen Kantilenen, nur dass sie nun isolierter wirken, Episode bleiben, in Frage gestellt werden. So bleibt selbst die Apotheose gegen Ende des Finales nicht ohne Zwischentöne, und der Schluss ist sicher kein uneingeschränkter Triumph, sondern besitzt auch eine gewisse trockene, nüchterne, vielleicht ein Stück weit groteske Note. Wenn man so will, ist dies ein Rachmaninow in einer neuen, fremden Umgebung, und begreift man das Konzert auf diese Weise, erscheint es umso faszinierender und das Brodeln mal unter, mal über der Oberfläche, das gerade in den Ecksätzen stets präsent ist, umso aufregender – ein Werk, das seinen Geschwistern tatsächlich in keiner Weise nachsteht.

Giltburg legt erneut eine exzellente, fein differenzierte, eher zurückgenommene, zur Introspektion neigende Lesart dieser Musik vor, die nicht nur lokal stattfindet, sondern die großen Linien und die Dramaturgie des Werks nachvollzieht. Sein Spiel ist von einer großen Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit geprägt, nichts klingt gewollt oder inszeniert. Im dritten Satz wählt er ein eher verhaltenes, obwohl nicht explizit langsames Tempo, zu beobachten schon gleich zu Beginn, den er wiederum mit einem gewissen Zögern begreift; hier wäre stellenweise (speziell im Orchester) mehr Schärfe und mehr Dynamik möglich, obwohl die für diese Musik so charakteristische Ambivalenz sehr gut eingefangen wird.

Mit den Brüsseler Philharmonikern und Sinaisky hat Giltburg sehr kompetente Mitstreiter an seiner Seite, sodass sich auch der Orchesterpart auf hohem Niveau bewegt – allerdings mit einer Einschränkung: es muss wohl an der Tontechnik liegen, dass das Orchester an manchen Stellen schlicht nicht präsent genug ist. Dies betrifft Dialoge mit dem Klavier oder thematische Einwürfe wie etwa die Melodielinie in den Bratschen bei Ziffer 30 im 2. Satz des Konzerts Nr. 1, den Seufzer im Horn kurz vor Ende dieses Satzes (bei Ziffer 37) oder die Celli beim 2. Thema im 1. Satz des Konzerts Nr. 4, aber auch farbliche Nuancen wie die trillerartigen Horngesten wiederum in diesem Satz (kurz nach Ziffer 22). Generell sind es besonders die tiefen Lagen, die stärker vernehmbar sein müssten, so etwa die gelegentlichen Tubasoli im Konzert Nr. 4, die nun einmal ihren Teil zu der ganz speziellen Aura dieses Werks beitragen.

Zwischen den beiden Werken steht – minutiös in Tracks aufgeteilt – die 1934 entstandene Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43, die noch charakteristischer für Rachmaninows Spätstil ist als das (ein wenig als Werk des Übergangs zu begreifende) Vierte Klavierkonzert, aber aufgrund ihrer effektvollen Dramatik (inklusive reichlicher Verwendung des „Dies irae“), ihrer größeren Extravertiertheit und auch des schwelgerischen Melos gerade der Variation Nr. 18 (das aber tatsächlich durch Umkehrung direkt aus Paganinis Capricenthema entsteht) deutlich größere Popularität genießt.

Giltburg bleibt sich auch hier treu und lotet gerade auch die Variationen, in denen die Musik innehält, wie etwa noch relativ zu Beginn die Variation Nr. 6, mit der ihm eigenen Kunst des pianistischen „Sinnierens“ aus. Wenigstens am Anfang erscheint das Orchester hier präsenter, obwohl manche Passagen mehr Differenzierung, mehr orchestrale Schärfe vertragen könnten – man beachte etwa das letzte „Dies irae“ kurz vor dem (dann doch wieder mit trockener Geste etwas relativiertem) A-Dur-Triumph, das eher breit als packend gerät. Insgesamt eine Lesart, der das Besessene, das diesem Werk innewohnt, etwas abgeht, allerdings auf hohem Niveau und teilweise wohl auch bewusst, zumal Giltburg selbst dem Werk insbesondere auch eine unterhaltsame, vielleicht sogar humorvolle Note zuspricht.

Es ist zwar zu bedauern, dass Naxos mittlerweile offenbar weitgehend dazu übergegangen ist, lediglich englische Begleittexte anzubieten; inhaltlich aber ist der Text, den Boris Giltburg für diese Produktion selbst verfasst hat, vorzüglich: eine sehr sorgfältige, detaillierte, umfassend informierende, von großer Begeisterung für diese Musik getragene und durchaus persönlich gehaltene Einführung in diese Werke. So fällt das Fazit insgesamt ausgesprochen positiv aus: Giltburg hat hier eine Einspielung vorgelegt, an die man sehr hohe Maßstäbe anlegen kann.

[Holger Sambale, März 2024]