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GINASTERA und das Eldorado der Musik

Volker Tarnow – GINASTERA und das Eldorado der Musik

Boosey & Hawkes, Berlin 2017; ISBN 978-3-7931-4164-8

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Vor circa einem halben Jahr bekam ich Nicolas Slonimskys Autobiographie „Perfect Pitch“ in die Hände und las sie mit allergrößtem Vergnügen. Ich kannte vorher weder den Autor noch die Rolle, die er in der Musik des 20. Jahrhunderts spielte. Sein „zweites Bein“ als Verfasser verschiedenster lexikographischer Bücher bescherte mir kurze Zeit später sein „Music of Latin Amerika“. Es öffnete mir die Augen für die ungeheure Fülle mir bis auf Villa-Lobos und wenige andere unbekannter Musiker und ihrer Musik. Diese Tatsache teile ich vermutlich mit den meisten anderen Europäern.

Und da kam im April 2017 das Buch über den größten argentinischen Komponisten Alberto Ginastera. Von dem hatte ich bei einem Konzert hier in München von Hugo Schuler, dem jungen argentinischen Pianisten, die „Danzas Argentinas“ gehört. Der Name Ginastera war mir als Gitarrist durchaus geläufig, aber von seiner Musik hatte ich eben bislang wenig bis gar nichts gehört.

Welche Rolle Alberto Ginastera in der argentinischen und allgemein in der amerikanischen Musik spielte und spielt, das ist das große Thema in Volker Tarnows neuem Buch. Wie auch seine beiden anderen Bücher über „“Das romantische Schweden“ und über „Jean Sibelius“ liest es sich hervorragend.

Nimmt man es in die Hand, so wundert man sich zu allererst einmal über das Gewicht. Man ist bei heutigen Büchern selten überrascht, was das Papier angeht, aber bei Volker Tarnows neuem Buch hat der Verlag (Ginasteras Exklusivverlag Boosey & Hawkes) weder am Papier noch an der Aufmachung gespart. Hin und wieder denkt man, man hätte zwei Seiten umgeblättert, bis einem aufgeht, dass es wirklich so ein exquisites Papier ist. Das gelbe Lesebändchen als Orientierungsgeber gehört natürlich auch dazu.

Neben den „Äußerlichkeiten“ überzeugt das Buch aber vor allem durch seinen Inhalt, durch die Bilder und Fotografien, durch Lebenslauf, Werkverzeichnis und Anmerkungen. Bei allem ausgebreiteten Wissen über Leben, Werk, Werdegang und die einzelnen Kompositionen liest es sich flüssig und ist durchaus unverkennbar mit dem Tarnow’schen Humor gewürzt, der mir auch in seinen anderen beiden Büchern schon so gut gefallen hat. Natürlich kennt sich der Autor nicht nur in musikalischen Dingen hervorragend aus, er lässt vor uns den ganzen Reichtum der südamerikanischen Musikkultur entstehen, angefangen mit der präkolumbianischen über die peruanische bis zur aktuellen argentinischen. Ginasteras Leben wird im Zusammenhang mit der politischen Situation in Buenos Aires und dem ganzen Land geschildert, seine Aufs und Abs als Musiker, auch als Leiter der verschiedensten musikalischen Institutionen, seine Auslands-Aufenthalte und die Freundschaften mit den verschiedensten Musikern vor allem in den USA, später dann auch in Europa, wo er in Genf mit seiner zweiten Frau – der Cellistin Aurora Nátola – lebte.

All das wird mit leichten Ton geschildert, dazwischen natürlich die Beschreibung seiner einzelnen Kompositionen, seien sie für Orchester, seien sie kammermusikalisch, seien sie für die Bühne oder für den Film. Bei einem Lebenswerk von „nur“ 60 Opera ist die Verschiedenheit der Kompositionen doch erstaunlich, auch drei gewaltige Opern sind dabei, und das Werkverzeichnis listet sie natürlich alle chronologisch auf. Die Verbindung – mal mehr, mal weniger – zur ursprünglichen indianisch oder invasorisch gauchoesk gefärbten indigenen Musik und ihren Instrumenten wird ausführlich dargestellt, auch die Verbindung zu seinen Kollegen in Brasilien oder Mexiko, in Peru oder Kolumbien.
Und Tarnow räumt mit einem Vorurteil auf, welches die Musikwissenschaft lange immer wieder aufs Neue tradierte: Auch die Inkas kannten weit mehr als die in der Forschung aufgedeckte Pentatonik primitivster Art. Wobei wir natürlich leider ob der oftmals schlechten Quellenlage originale Inka-Musik nur in geringem Maß erkunden können. Zu barbarisch haben die Eroberer in Süd- und Mittelamerika gehaust und gewütet. Was heute an „Volksmusik“ aus den Andenregionen und von anderswoher zu uns kommt, ist weitestgehend bloßer Kommerz wie die nervenden Bläsergruppen vor den Kaufhäusern.

Was dieses neue Buch so spannend macht, ist die Tatsache, dass es einen Komponisten umfassend sichtbar und erlebbar macht in seinem ganzen Lebensumfeld und seinem Werdegang. Die nächste Stufe wird also sein, dass ich die Musik dieses bedeutendsten argentinischen Komponisten neben dem viel einfacheren Astor Piazzolla suchen und hören werde. Denn Volker Tarnows Buch hat das geschafft, was ein Buch über ein staunenswertes „Phänomen“ – einen bisher ziemlich unbekannten Musiker namens Alberto Ginastera – so lebendig werden lässt, dass das Anhören seiner Musik der zwangsläufig nächste Schritt sein muss.

[Ulrich Hermann, Mai 2017]

Der klingende Schutzschild

EAN: 9 783793 140825

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„Musik aus einer anderen Welt“ oder, wie die hier vorliegende überarbeitete Ausgabe heißt, „Musik in Auschwitz“, ist ein autobiographischer Bericht des Komponisten und Violinisten Simon Laks über seine Zeit im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Herausgegeben von Frank Harders-Wuthenow und Elisabeth Hufnagel erschien er bei Boosey & Hawkes, Harders-Wuthenow verfasste zudem ein Künstlerportrait, welches ebenso wie ein Bericht von André Laks über seinen Vater der Ausgabe beigefügt ist.

Beizeiten fällt einem einmal ein Gegenstand in die Hände, der schon längere Zeit im Regal stand und bereits aus der aktiven Wahrnehmung verschwunden war. Doch beim Betrachten zieht er einen erneut in seinen Bann und es überkommt einen, sich auf der Stelle wieder all seinem Zauber zu widmen. Genau so erging es mir mit „Musik in Auschwitz“ von Simon Laks, welches ich Anfang 2015 in Berlin erhielt und mit großer Begeisterung regelrecht verschlang. Nun entdeckte ich dieses Buch wieder und konnte nicht anders, als es erneut ‚in einem Atemzug’ durchzulesen, mich in diese Welt zu vertiefen und das großartige musikalische Schaffen Laks‘ noch intensiver zu studieren, auf dass es seine Einzigartigkeit für mich entfesseln kann.

Der Bericht von Simon Laks über seine Zeit im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau von 1942 bis 1945 setzt sich durch eine Sache ganz klar vom Gros der Zeugnisse von Überlebenden ab: Er verzichtet so konsequent wie irgend möglich auf alle detaillierten Beschreibungen des Schreckens und Terrors im Lager, von Gewalt, Folter, Unterdrückung und Mord. Sein Hauptanliegen: Die Musikszene im Konzentrationslager zu beschreiben, seine Erlebnisse im Bezirksorchester mitzuteilen und allgemein eine reflektierte, nicht aus dem Trauma heraus völlig subjektiv entstandene Schilderung des Lagerlebens zu geben. Drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben (obwohl er der Hauptautor ist, stand er damals noch zusammen mit René Coudy als Verfasser da) und dreißig Jahre später überarbeitet, konnte Laks mit der Revision seine Gedanken sammeln und heilende, für Autor und Publikum guttuende Distanz zu den Schreckenserlebnissen gewinnen, um so ein objektiveres und detaillierteres Bild zu vermitteln – ein Bild, das der Leser versteht, da es in Worten und Vorstellungen niedergeschrieben ist, die ihm vertraut sind, obgleich er diese unvorstellbaren Zustände nicht miterlebt hat. So ist der Leser nicht paralysierter Zuhörer eines traumatisch verstörten Schreckensberichts, sondern wird aus seinen individuellen Erfahrungen heraus in diese „andere Welt“ hinein geworfen und kann mit dem autobiographischen Erzähler mitfühlen, sich in ihn hineinversetzen und es selbst miterleben. Das macht Simon Laks‘ Buch zu einem der am unmittelbarsten wirkenden und auch verständlich-informativsten Bücher über das Leben im Konzentrationslager. Nicht nur über das Grauen erfährt man, sondern auch über die sich langsam aufbauende Gesellschaftsordnung in Birkenau, über Handelssysteme und die Wege und Möglichkeiten, innerhalb des Lagers zur Prominenz aufzusteigen. Auch Einzelschicksale einiger Leidensgenossen werden beleuchtet, doch nur um das Bild zu vervollständigen, denn schließlich war jedes Einzelschicksal in Auschwitz zugleich Kollektivschicksal.

Zentral für das Schicksal von Simon Laks ist die Musik. Der Komponist und Violinist erörtert, wie er zum Lagerorchester kam und dort zeitweise sogar zum Dirigenten avancierte, wie dadurch die Musik ihn am Leben erhielt. „Die Geige, die ich halte, ist mein Schutzschild geworden“, so heißt es bereits auf der Titelseite der deutschen Ausgabe; dieser Satz ist Programm. Durch seinen gefragten Posten als professioneller Musiker, Notenschreiber, Violinist und Dirigent nämlich konnte sich Laks schnell Kontakte aufbauen zur Lagerprominenz und gehörte schon bald dazu – sprich, er konnte sich ausreichend Lebensmittel und andere für die Verhältnisse des Lagers unermesslich wertvolle Gegenstände beschaffen. So weiß Laks auch, skurrile Geschichten zu erzählen über besondere Vorlieben einiger Prominenter und SS-Männer, über besondere Musikideale und -vorstellungen. Doch vor allem der Alltag wird detailliert geschildert, die Funktion der Musik für die Gefangenen und für SS-Leute, die von Ermutigung zu Unterhaltung bis hin zur absoluten moralischen Abgründigkeit reichte.

Die Ausgabe bei Boosey & Hawkes bietet darüber hinaus alles, was man sich nur über so einen noch immer viel zu unbekannten Komponisten wünschen kann: Ein Verzeichnis aller Kompositionen Laks‘, die Diskographie und eine Portrait-CD liegen ebenso bei wie zwei absolute Schätze an Essays über Laks. Frank Harders-Wuthenow, zweifelsohne einer der feinfühligsten Musikverständigen in Deutschland und unter anderem mit seiner CD-Reihe „Poland Abroad“ ein beispielloser Vorreiter und Verbreiter der polnischen Musik in Deutschland, verfasst ein äußerst informatives und in prägnanter Kürze umfassendes Portrait über Simon Laks, außerdem erzählt André Laks, Sohn des Komponisten und derjenige, der für die internationale Verbreitung des Buchs Sorge trug, über die lange Geschichte hinter der Entstehung und Veröffentlichung des Buches.

Seit 2014 ist diese 1979 überarbeitete Fassung nun schon in deutscher Übersetzung von Mirka und Karlheinz Machel bei Boosey & Hawkes zu erwerben, doch noch immer ist das Echo darauf allzu gering angesichts des hohen Werts der Publikation. So sei knappe zwei Jahre später dieses Buch und die Musik von Simon Laks wenigstens hier ausdrücklich empfohlen. Egal ob Musiker oder nicht, jeder Leser wird von den sensitiven Schilderungen Simon Laks‘ gefesselt und mitgeschleift durch diese Welt und am Schluss leidet man gar mit ihm, als er einige Zeit nach seiner Befreiung mit echter Empörung sieht, dass die Waffenfabrik gesprengt wird, an deren Aufbau er die letzten Monate seiner Gefangenschaft mitarbeiten musste – war es doch schließlich auch „seine“ Fabrik.

[Oliver Fraenzke, Mai 2016]