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Mehr Martynow, mehr Blüthner … !

Ludwig van Beethoven/Franz Liszt: Sinfonie Nr. 9 Klaviertranskription
Yury Martynow (historischer Blüther-Flügel ca. 1867)
Beatriz Oleaga, Alt
CD 70‘52 Min., 9/2015
©& ALPHA Classics/Outhere Music 2015
ALPHA  227
EAN  3  760014  192272

Kürzlich habe ich auf einem Flohmarkt die (in mehrfacher Hinsicht) etwas angestaubte, in Thomas Manns Geleitwort zur deutschen Übersetzung enthusiastisch als Künstler-Roman begrüßte Biographie  „Joseph Haydn, His Art, Times, and Glory“ des (damals dann schon amerikanischen) Journalisten Heinrich Eduard Jacob aus dem Jahr 1950 für 20 Cent erstanden. Manchmal ist die Art, wie damals über Musik geschrieben wurde, heute allenfalls noch als Skurrilität betrachtet zu ertragen. Doch werden wir nicht überheblich! Was halten Sie von der folgenden Passage aus diesem Buch?

„War man mit einem Klavier allein und hatte keine Erinnerung mehr an die Möglichkeiten anderer Instrumente: welche Klangwunder standen da auf! Eine homophone Figur auf dem Klavier wirkte unerreicht in ihrer Einmaligkeit und Betontheit, ihrer überredenden Gewalt. Und die Harmonik: wo gab es noch solche harmonischen Wirkungen bei einem anderen Instrument? Einer Terz auf dem Klavier, einer Quarte kam keine sonst gleich. Nach einer Viertelstunde Klavierspiel hat sich die Alleinherrschaft des Klaviers so völlig etabliert, dass sein Klang absolut geworden ist und jeder andere daneben abfällt. Die Flöte wirkt hart, nasal und kalt, die Geige quäkt und scheint sentimental. Aber wer würde überhaupt noch Stimmen hören wollen? Das Klavier schafft ja die vollkommene Illusion des Orchesters. Dieses Instrument, das zu keinem andern eine Verwandtschaftsbeziehung hat, ist unbegreiflicherweise fähig, alle anderen zu ersetzen. Jawohl, man macht ‚Klavierauszüge‘, und die meisten sind gelungen. Zeichnungen nach Gemälden sind schlecht. Ein Klavierauszug ist nichts anderes als eine Zeichnung nach einem Orchestergemälde – und trotzdem ist er meistens gut, er drängt zusammen, er macht klar. Er fängt die Gedanken der Meister ein, die sonst wie Wolken, nicht immer fassbar, durch den Orchesterhimmel schwimmen, und bannt sie fest, macht sie unvergesslich.“

Ein Klavierauszug meistens gut? Vollkommene Illusion des Orchesters? Zu Liszts Zeiten waren ja Klavierbearbeitungen das, was jetzt der Plattenschrank ist – die Grundlage für Konzert im Wohnzimmer. Wozu dann heute solch ein altmodisches Surrogat? Ein originelles Geschenk für Leute, „die schon Alles haben“? Ein Ersatz für eine Aufführung von Beethovens Neunter ist Yury Martynovs CD wahrlich nicht – kann sie nicht und will sie nicht sein. Sie ist etwas ganz Anderes. Dazu unbedingt lesenswert ist, was Arrangeur Franz Liszt selbst dazu sagt, zu finden als weitläufiges Zitat im sehr schönen und informativen Booklet der vorliegenden Produktion. Und was erst Martynov daraus macht! Da möchte man denen glauben, die mit unwiderlegbaren Gründen sagen, dass Beethovens ureigenes Instrument das Klavier war, so genuin klaviermäßig klingt das Alles unter Martynovs Händen: ein Molto Vivace in kraftvollem Galopp mit einem rhythmischen Drive, der der Satzbezeichnung alle Ehre macht, ein hinreißend melancholisches Adagio molto cantabile, das sich anfühlt, als wäre es nie einem anderen Instrument zugedacht gewesen …

Aber was machen Liszt und Martynov aus dem berühmten, für eine Klavierbearbeitung mehr als problematischen Finale dieser Chor-Sinfonie, die damals nach Liszts eigenen Worten die meisten Musiker als „ein gar erschreckliches Schrecknis“ betrachteten? Dieser Klaviersatz, in dieser Einspielung, ist etwas völlig Neues geworden, etwas völlig Anderes als Beethovens Original, und, um es gleich – und ganz persönlich – zu gestehen: Ich höre den Satz in dieser Form sogar lieber als im Original. Jemandem, der mit einer – sit venia verbo – manchmal etwas schwülstigen Ästhetik des angehenden 19. Jahrhunderts (und ich gebe es zu: auch mit Faust Teil 2 habe ich meine Probleme) wenig anzufangen weiß, ist in der Tat dieses Instrumentalwerk „ersatzweise“ leichter zugänglich. Das hört sich dann eher an wie eine „Improvisation zur Europa-Hymne“.  Mal zögerlich suchend und verträumt, dann wieder schroff entschlossen werden wir hier – ganz „klavieristisch“ – von Martyrov durch eine wild zerklüftete Landschaft voll unerwarteter Schönheiten geführt. An manchen Stellen könnte man fast meinen, sich in einer Sturm-und-Drang-Fantasie Carl Philipp Emmanuel Bachs verirrt zu haben.

Somit hat nun auch Yury Martynov – nach Scherbakow, Biret, Katsaris und Leslie Howard – seinen Zyklus der Liszt-Bearbeitungen von Beethovens neun Sinfonien abgeschlossen. Ich besitze bereits die Aufnahmen von Scherbakow und Howard, möchte ihre Interpretationen aber hier nicht demonstrativ mit der Vorliegenden vergleichen. Ich liebe und schätze sie alle Drei. Den goldenen Apfel bekommt jedoch Martynov, vor allem auch wegen des wunderbar weichen und doch so farbig-obertonreichen Klangs des historischen Blüthner-Flügels, gespielt  in der für ihre Akustik weltberühmten Doopsgezinde Kerk von Haarlem (NL). Für mich sind (die leider so seltenen) Aufführungen auf Blüthner-Flügeln immer etwas ganz Besonderes, und ich kann uns allen nur wünschen: Mehr Martynow, mehr Blüthner … !

[Hans von Koch, März 2016]

– reupload aufgrund technischer Fehler-

Swinging Victoria

Tomás Luis de Victoria: alio modo
Musica Ficta
Raúl Mallavibarrena, Leitung und Schlagwerk
Sara Águeda, Harfe
Lore Agustí, Sopran
Gabriel Días, Contratenor
Beatriz Oleaga, Alt
Javier M. Carmena, Tenor
Íñigo Casali, Tenor
Simón Millán, Bass
CD 45 Min.,8/2015
©& Enchiriadis 2015
EN 2044
EAN  8  437012  545441

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Für uns Klosterschüler war es immer eine höchst eindrucksvolle, ja beinahe surreale Wahrnehmung, wenn wir am Bergwandertag unseren Präfekten, anstatt im gewohnten Mönchshabbit, auf einmal in Jeans und Pullover vor uns herlaufen sahen. Wie sehr doch die Kleidung die gesamte Ausstrahlung eines Menschen verändern kann! Ähnlich erging es mir mit der CD des Ensembles Musica ficta, wo der Leiter Raúl Mallavibarrena sich vorgenommen hat, „Victoria from a different perspective“ (deshalb der Titel „alio modo“) darzustellen.

Der überragende spanische Komponist und Jesuitenmönch Tomás Luis de Victoria (1548-1611) hielt sich die meiste Zeit seines aktiven Lebens in Rom als Nachfolger Palestrinas auf. Zurückgekehrt nach Spanien leitete er die Kapelle des kaiserlichen Klosters De las Descalzas de Santa Clara (der barfüßigen Nonnen) und war nebenbei der persönliche Kaplan der verwitweten Kaiserin Maria. Bis jetzt konnte ich mir Victorias Musik, der ausschließlich sakrale Werke komponiert hat, nur in der hallig-feierlichen Akustik eines Kirchenschiffes und „im Weihrauchnimbus“ vorstellen. Hier nun hören wir Victoria „da camera“, sozusagen unplugged, was natürlich nicht stimmt, weil jeder Sänger (ganz im Trend in einfacher Besetzung) sogar ein eigenes Mikrofon hat. Im Booklet-Text, Autor ist der Leiter des Ensembles selbst, erfahren wir, welch großen Eindruck Andrew Parrots Aufnahmen mit dem Taverner Consort auf den Neunzehnjährigen damals gemacht hatten: „The way of interpreting religious polyphony, closer in style to the madrigal, was new to me. It thrilled me. And then I thought:  […] Could vocal lines be rescued from choral anonymity, be given back their individuality, be stripped, albeit partially, oft that all-unifying blanket of cathedral reverberation? […] “ Das, was sich Raúl Mallavibarrena für die Produktion dieser Victoria-CD vorgenommen hat („I call them ‚motets with swing‘“), hat er auch verwirklicht. Der Gesang seiner Ensemble-Mitglieder klingt in der Tat eher profan, also durchaus voller Wärme und Emotionalität. Und dabei ist nicht beabsichtigt (und auch nicht nötig), es an Sauberkeit der Intonation mit den Reinheitsfetischisten aufzunehmen, derer es heute genug gibt (vielleicht mehr als zu Victorias Zeiten…). Aber es bleibt zumindest Geschmackssache, ob man Victoria in dieser Weise aufführen soll. Wem dies gefällt, dem gefallen Madrigale beispielsweise von Luca Marenzio vielleicht noch besser.

Das Beiheft ist (bis auf Mallavibarrenas subjektive Anmerkungen) leider sehr dürftig ausgefallen. Jemand, der heute noch (trotz der zahlreich im Netz angebotenen Streaming-Dienste) auf das haptische Vergnügen einer CD nicht verzichten will, der möchte vielleicht auch beim Hören in einem gemütlichen Sessel ein schönes Begleitheftchen dazu lesen (Spitzenreiter sind hier z. B. die cpo-Booklets), obwohl er auch im Netz genug Informationen finden könnte. So habe auch ich mir helfen können: Das spanische Ensemble Musica Ficta wurde 1992 von Raúl Mallavibarrena gegründet und ist nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen, 1988 gegründeten kolumbianischen Trio, das sich ebenfalls mit Alter Musik aus Spanien befasst. Über die Harfe, die Sara Águeda spielt, habe ich erfahren: Es ist eine Arpa de dos órdenes, eine Harfe des spanischen Barock, die mit gekreuzten Saiten bespannt ist. Übrigens sind für mich ihre drei eingestreuten Soli wahre Highlights dieser Produktion. Wer mehr von Sara Águeda hören will, dem empfehle ich die vorzügliche Einspielung Un viaje a Nápoles beim gleichen Label. Auch über Tomás Luis de Victoria erfährt man im Booklet so gut wie nichts, aber Mallavibarrena hat wohl eher an einen Hörer gedacht, der den Komponisten schon gut kennt, ihn aber jetzt einmal anders – „alio modo“ eben – hören möchte. Oder er hatte eine sehr junge Zielgruppe im Auge. Das wäre dann auch eine mögliche Erklärung für die Wahl des Bonustracks Gaudete Christus est natus. Dieses bekannte mittelalterliche (oder ist es wirklich siglo XVI, wie Mallavibarrena angibt?) Weihnachts-Carol, wiederum mit viel Swing dargeboten und mit einem fading out am Ende, sollte die CD vielleicht noch zusätzlich ein wenig aufpeppen. Wer auch etwas sehen will, der kann sich Benedicta sit Sancta Trinitas (mit Kommentar von Mallavibarrena) und das Weihnachts-Carol zudem auf YouTube ansehen. Es ist jedenfalls nicht zu leugnen, dass Musica Ficta hier eine sehr kurzweilige und schwungvolle Interpretation, einen Swinging Victoria kreiert haben. Als Einstieg zum Kennenlernen dieses (vielleicht neben Palestrina, Lasso und Byrd) letzten großen Renaissance-Komponisten ist sie eher nicht geeignet. Das ist aber wohl auch nicht beabsichtigt.

[Hans von Koch, Mai 2016]