Label: Lyrita
Art.-Nr.: REAM1125
EAN: 5020926112521
Anthony Milner war einer jener Komponisten, die erst nach dem erstaunlichen Aufblühen der britischen Musik an der Schwelle zum 20. Jahrhundert überhaupt zur Welt kamen: 1925 geboren, 2002 verstorben gehört er zu einer Generation britischer Komponisten, jünger als Britten und Tippett, die leider nur wenig Beachtung gefunden hat.
In Fragen eines Generationenbegriffs kann man Milner am ehesten mit Robert Simpson vergleichen, der nur vier Jahre vor Milner geboren wurde aber schon 1997 starb. Musikalisch hinkt dieser Vergleich aber, denn während Simpson erkennbar den Bruch mit der Tradition suchte und eine qualitativ hochstehende aber doch recht eigenwillige freitonale Musik komponierte, wirkt Milner auf den ersten Höreindruck wie ein versöhnendes, verbindendes Glied zwischen den Komponistengenerationen. Und so hört man in seiner Musik sowohl Einflüsse der Altmeister wie etwa Vaughan Williams als auch (am deutlichsten) Einflüsse jener glücklosen mittleren Generation britischer Komponisten wie etwa Wordsworth oder Finzi als auch erkennbar Einflüsse der ersten bekennenden britischen Modernen wie Michael Tippett oder Benjamin Britten.
Auf vorliegender CD sind zwei Kompositionen Anthony Milners in Einspielungen der BBC vertreten: „The Song of Akhenaten“ (Milners Opus 5 aus dem Jahr 1954) sowie „The Water and the Fire“ von 1961. Die Aufnahmen sind klanglich erfreulich gut, dies auch in Anbetracht der Tatsache, dass es sich hier um Privatmitschnitte des Lyrita-Gründers Richard Itter handelt. Die BBC sah in diesen Mitschnitten keinen Wert mehr und vernichtete in einer groß angelegten Lösch- und Wegwerfaktion die Masterbänder.
Auch die interpretatorische Qualität ist erstklassig! Immerhin handelt es sich hier um bemerkenswert groß besetzte Werke mit gleich zwei zwei Chören (BBC Northern Singers, Manchester Grammar School Boys Choir), Kirchenorgel, großen Sinfonieorchestern (BBC Northern Symphony Orchestra/BBC Training Orchestra) und drei Gesangssolisten (Hazel Holt, John Elwes und Stephen Roberts). Offenbar handelt es sich hier auch um BBC Studiomitschnitte, nicht um Liveaufnahmen, was es noch unverständlicher macht, warum diese faszinierenden, hochqualitativen Tondokumente von der BBC aussortiert wurden. Hatte man hier doch einen beachtlichen Aufwand investiert, um diese Mitschnitte zu produzieren.
Die beiden hier eingespielten Stücke, die man am Ehesten als Oratorien vermitteln könnte und die mal an Tippetts „A Child in Time“ mal an Brittens „War Requiem“ denken lassen und doch so ganz anders sind und eine ganz andere „Klangfarbe“ transportieren, sind hochrangige Beispiele für britische Kompositionskunst. Anthony Milner präsentiert sich als Komponist auf der Höhe seiner Zeit aber auch als musikalischer Querkopf. Seine akademischen Verbindungen zu Hochschulen in den USA scheint man zudem an mehreren auffällig „amerikanisch“ klingenden Passagen heraushören zu können.
In der Tat kann zunächst der Eindruck von Kuriositäten der Musikgeschichte entstehen, wenn man dieses Album hört. Ist die musikalische Sprache Milners doch so enorm bunt und farbenreich, und dies zumal in einer wahren Flut von Ideen, die nicht immer auf den ersten Blick geordnet wirken. Bei mehrmaligem Hören beeindruckt jedoch dieser individuelle Fingerabdruck umso mehr und man erkennt eine bemerkenswerte werkimmanente Musikarchitektur.
Beide Stücke auf diesem Album wurden dirigiert von Meredith Davies, der bei diesen Aufnahmen aus den Jahren 1973 und 1977 zeigt, dass er auch bei Werken dieser gigantischen Besetzungsgröße eine sehr feine, geradezu vorbildliche Orchesterbalance herzustellen verstand. Zwar würde man sich manche Phrasierung flüssiger, flexibler wünschen, aber sind dies auch wirklich anspruchsvolle Partituren, deren schiere Bewältigung, geschweige denn Ausgestaltung, manchem gestandenen Dirigenten Angst hätte bereiten können.
Absolut begeisternd sind in „The Song of Akhenaten“ die dunkel timbrierte Stimme von Sopranistin Janet Price, die jederzeit Herrin der Lage zu sein und sich in dieser stimmlich fordernden Musik ganz zuhause zu fühlen scheint sowie die erstaunliche Klasse des „BBC Training Orchestra“, dessen Name ich zum Anlasse nehme anzunehmen, dass es sich um ein Orchester mit Nachwuchsmusikern gehandelt haben muss. Die Aufnahme von „The Water and the Fire“ kann zwar ebenfalls mit namhaften Solistinnen und Solisten aufwarten, nur erreichen diese zu keiner Zeit die hervorragende Klasse von Janet Price.
Kurz und gut: Wieder einmal macht Lyrita kulinarische Raritäten des britischen Musiklebens in bemerkenswert guten Aufnahmen verfügbar, die durchaus Referenz- und Archivcharakter haben. Diese Musik soll und muss wieder gehört werden. Anthony Milner war ein hoch interessanter Komponist, und zumindest mich hat diese CD sehr neugierig gemacht, was noch von diesem Musikschöpfer überliefert ist.
[Grete Catus, März 2016]