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Das Pathos winkt

Chandos, CHSA 5214; EAN: 0 95115 52142 7

Vorliegende CD beinhaltet Orchestermusik von Gerald Finzi, die in den 50er-Jahren komponiert oder revidiert wurde. Das Programm beginnt mit dem Cellokonzert op. 40 a-Moll, führt über die Eclogue op. 10 F-Dur für Klavier und Streichorchester und die Nocturne op. 7 cis-Moll (New Year Music) zur Grand Fantasia and Toccata op. 38 d-Moll für Klavier und Orchester. Sir Andrew Davis leitet das BBC Symphony Orchestra, das Cellosolo spielt Paul Watkins und Louis Lortie übernimmt die Rolle des Klaviersolisten.

Die Uraufführung des Cellokonzerts war das Letzte, was Gerald Finzi hörte; tags darauf verstarb er im Alter von 55 Jahren an den Folgen der Hodgkinschen Krankheit, einem Tumor der Lymphknoten. Finzis Musik wirkt nicht zeitgemäß, viel eher zieht er seine Einflüsse aus der Musik des 19. Jahrhunderts, Elgar und Parry sind unüberhörbare Anknüpfungspunkte. Ausgedehnte Flächigkeit prägt die musikalische Landschaft Finzis, lange Zeit ruht er sich auf einmal gefundenen Ideen aus, genießt jede Pastorale und hält auch gespannte Momente bis zum Anschlag aus. Seine sentimentalen Melodien berühren durchaus, die melancholischen Elemente verfehlen ihre Wirkung keinesfalls und auch manch kuriose Effekte verzücken – und doch schafft es die Musik nur selten, die Spannung aufrechtzuerhalten und den Hörer bis zum Schlusston hin zu tragen, ohne dass er auf dem Weg dorthin abhanden kommt. Das Pathos winkt, doch wirklich passieren tut wenig. Es fehlt an Abwechslung, an Kontrasten oder zumindest an unerwarteten Details, welche die Aufmerksamkeit auf sich ziehen; die Aussage verschwimmt durch Überlänge, nur Bruchstücke bleiben in der Erinnerung zurück.

Vom Cellokonzert kann der Mittelsatz durch sein inspiriertes Thema und die innige Melancholie bezaubern, die sich später kraftvoll entlädt. Auch die Thematik des Kopfsatzes ist stark, doch verliert sie sich schnell in Formlosigkeit; ähnlich das Finale, in welchem der Solist seinem Instrument abenteuerliche Effekte entlockt, was aber auch das einzige ist, das von diesem Satz hängenbleibt. Durchgehende Zartheit erleben wir in Eclogue für Klavier und Orchester, welches durch die Darbietung zu dem am meisten nachwirkenden Stück dieser CD avanciert. Die Nocturne (New Year Music) ertönt überraschend düster und weltfern für den zumeist freudigen Anlass. Grand Fantasia and Toccata begehrt deutlicher auf als die anderen Stücke, hier wagt Finzi auch einmal Unvorhergesehenes. Besonderen Wert legt der Komponist hier auf das Zusammenspiel der Partner, welches sich gerade auch auf die Dynamik auswirkt und wodurch manch ein hexensabbatartiger Effekt zutage tritt.

Das Orchester agiert äußerst vertraut mit der Musik, hält die Atmosphäre und schafft einen dichten Klang, der den jeweiligen Stimmungen entspricht. Sir Andrew Davis bringt die Solisten und das Orchester zum Einklang, überbrückt die klangliche Distanz der ungleichen Partner. Es gibt nur wenige Passagen, in denen Dirigent und Orchester sich wirklich beweisen müssen, also wo die Musik nicht für sich alleine wirkt, sondern geschickte Darbietungskunst erfordert: doch diese meistern die Musiker elegant. Paul Watkins erweist sich als aufmerksamer und gewandter Solocellist, der sowohl in den pastoralen Stellen als auch in den aufbrausend vorwärtstreibenden die Kontrolle behält und den Klang kultiviert. Der Pianist Louis Lortie überzeugt in Eclogue durch überaus feinen Klang und inniges Gefühl; unterminiert den Eindruck jedoch durch trockenes und uninspiriertes Spiel in der Grand Fantasia and Toccata. Das Staccato wird zur Manier, die Läufe und Akkorde prasseln zusammenhangslos auf den Hörer nieder – schade, denn wir hören auch, dass er könnte, wenn er wollte.

[Oliver Fraenzke, März 2019]

Die Weiten des Meeres

Hyperion, CDA68245; EAN: 0 34571 28245


Martyn Brabbins leitet die Aufnahme der „A Sea Symphony“ von Ralph Vaughan Williams sowie dessen kurzes Chorwerk „Darest thou now, O soul“. Es spielt das BBC Symphony Orchestra und der BBC Symphony Chorus, die Soli singen Elizabeth Llewellyn und Marcus Farnsworth
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Mit diesem Erstlingswerk auf dem Gebiet der Symphonik beweist Ralph Vaughan Williams höchste Ambitionen. Sechs Jahre dauerte der Prozess des Komponierens und heraus kam eine knapp 70-minütige Symphonie für volles Orchester mit großem Chor, die schon vieles seiner späteren Klangwelt erkennen lässt. Wie auch in den acht später komponierten Symphonien erleben wir ein Feuerwerk an Effekten und orchestralen Finessen, die auf überbordende Wirkung ausgelegt wurden; Vaughan Williams wusste genau, wie man einen Orchesterapparat mächtig und vielschichtig einsetzt. Es war das Scherzo der „A Sea Symphony“, das mich vor einigen Jahren auf die Musik des Engländers aufmerksam machte: Mich faszinierte der klangmalerische Stil, der die Wellen und den Wind so naturgetreu nachzustellen vermag und – zumindest in diesem Satz – in eine nachvollziehbare Form bringt.


Voll und effektgeladen trumpft auch das BBC Symphony Orchestra und der BBC Symphony Chorus unter Leitung von Martyn Brabbins auf. Der Dirigent stimmt Chor und Orchester dynamisch aufeinander ab und schafft einen homogenen Klang zwischen Stimme und Instrument. Vor allem im Kopfsatz schafft Brabbins ausgewogene Kontraste und formale Zusammengehörigkeit, was bei Vaughan Williams‘ ausladenden Sätzen stets eine besondere Herausforderung darstellt; im Finale mag dies nicht ganz funktionieren: die Musik fließt recht ereignislos voran, ohne das Ohr des Hörers wirklich fesseln zu können. Der zweite Satz, „On the beach at night alone“ besticht durch den zarten Wechsel zwischen Solo und Chor und zutiefst empfundenes Gefühl von allen Beteiligten. Wild und wuchtig, aber nicht ungezügelt, nimmt Brabbins das Scherzo, „The waves“, wodurch die Naturgewalten umso wirkungsvoller hervorbrechen.


Die Verbindung zu „Darest thou now, O soul“ herrscht durch den Textbezug, dieses Werk und die Symphonie basieren beide auf Texten von Walt Whitman aus Leaves of Grass. Anders als die Sea Symphony verzichtet das über 15 Jahre später komponierte „Darest thou now, O soul“ vollständig auf Effekt oder dynamischen Aufbau, sondern zeichnet ein Stimmungsgemälde voller Wärme und Einfachheit. Brabbins nimmt dieses Stück gelassen, würdevoll und beinahe sakral.


[Oliver Fraenzke, Dezember 2018]

Beispiellose Komplexität

NMC; LC 03128; EAN: 5 023363023122

Zum 75. Geburtstag des britischen Komponisten Brian Ferneyhough erschien auf NMC eine CD mit sehr gemischtem Programm. Von der „Missa Brevis“ (a cappella) über das Ensemblestück „Liber Scintillarum“ (Sextett) bis zu den beiden kaum jemals aufgeführten Riesenbesetzungen von „La Terre est un Homme“ und „Plötzlichkeit“ umfasst es fast ein halbes Jahrhundert hochkomplexer Musik – in exemplarischen Darbietungen.

   

Brian Ferneyhough steht als einer der wenigen Komponisten seiner Generation nach wie vor zu hyperkomplexen Strukturen in der Nachfolge des Serialismus der 1950er Jahre. Dabei ist seine Musik allerdings in ihrer klanglichen Ausprägung derart mannigfaltig, dass das dann längst nicht so dogmatisch wirkt, wie es bei näherer Betrachtung vielleicht doch – kompositionstechnisch – tatsächlich ist. Beispielhaft demonstriert wird seine New Complexity im Orchesterwerk La Terre est un Homme von 1976-79 (der Titel bezieht sich auf ein Gemälde von Roberto Matta aus dem Jahre 1942). Der unvorbereitete Hörer mag dieses simultane, brutale Hereinprasseln so vieler Eindrücke als Zumutung empfinden; es liegt Ferneyhough sicher fern, einfach nur provozieren zu wollen – die Uraufführung war allerdings ein Skandal. Die Dichte, innerhalb der jeder der 88 Spieler individuell Höchstschwierigkeiten zu bewältigen hat, mag zunächst wirklich verstören, erschlägt einen fast, wird nach mehrmaligem Hören jedoch transparenter. Auch Plötzlichkeit (2006) bewegt sich allein rhythmisch gleichzeitig auf bis zu 20 verschiedenen Schichten, ist jedoch durch das durchgehend ruhigere Tempo leichter fasslich. Die dauernden Perspektivwechsel bleiben interessant; der Gesang der drei Damensoli wirkt gegen Schluss hypnotisierend. Am schwierigsten vielleicht das neueste Stück Liber Scintillarum (2012), das vom Freiburger ensemble recherche unglaublich präzise dargeboten wird, aber durch seine bewusste Fragmentierung zerrissener wirkt, als man zu Beginn erwarten würde. Dass man sich in der Missa Brevis (1966-69, ohne Credo) auf festem Boden wähnt, täuscht. In diesem ausdrücklich nicht für den liturgischen Gebrauch bestimmten Werk entzieht sich das Individuum – in der musikalisch dringlichen Ausprägung der Einzelstimmen – ebenso einer wohligen Einbettung in ein Gesamt-Klangbild oder eine Theologie; für mich so etwas wie ein Gegenentwurf zur späten a cappella Messe Paul Hindemiths. Diese höchst individualistische Sichtweise muss man mögen – in jedem Fall liefern die 12 Solisten des dreigeteilten EXAUDI-Ensembles hier eine Glanzleistung ab. Und das gilt erst recht für das BBC Symphony Orchestra unter Martyn Brabbins, der die gewaltigen Klangmassen überzeugend zu bändigen weiß – unterstützt von einer exzellenten Tontechnik. Alles in allem harter Tobak, aber wirklich perfekt präsentiert: Ich kann mich dem Faszinosum dieser etwas chaotischen, aber immer hochvirtuosen Musik nicht mehr entziehen.

[Martin Blaumeiser, August 2018]

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Gelungene Zusammenstellung gewichtiger Werke

Colin Matthews: Violinkonzert, Cellokonzert Nr. 2, Cortège
BBC Symphony Orchestra, Royal Concertgebouw Orchestra, Riccardo Chailly, Oliver Knussen, Rumon Gamba, Anssi Kartunen (Violoncello), Leila Josefowicz (Violine)

Label: NMC Recordings (Vertrieb: note1), 2016; Art.-Nr.: NMC D227 / EAN: 5023363022729

Colin Matthews ist in Großbritannien schon seit den 1980er-Jahren eine zentrale Gestalt des Musiklebens. In Deutschland ist er vor allem durch seine „Fortsetzung“ von Gustav Holsts „Die Planeten“ bekannt, die er musikalisch um „Pluto“ bereicherte – …dessen astronomische Degradierung zum Zwergplaneten seit den 2000er-Jahren allerdings auch dazu führte, dass Matthews‘ Musik-Pluto heute wieder seltener im Zusammenhang mit Holsts berühmter Planeten-Suite zu finden ist, als noch in den 1990ern, als fast jede damalige Neueinspielung auch Matthews‘ „Pluto“ als Bonustrack anbot.

In Großbritannien ist Matthews nicht nur als Komponist sehr bekannt (er studierte u.a. bei Nicholas Maw und Benjamin Britten), sondern auch als Produzent von Tonaufnahmen. Neben seiner Tätigkeit für namhafte Labels wie Deutsche Grammophon, Warner, BMG, Metronome, Elektra und einige andere hat er auch sein eigenes Label NMC Recordings gegründet, das vor allem britische Komponisten der jüngsten Moderne vorstellt. Dabei folgt das Label einem interessanten Geschäftsmodell, denn neben dem üblichen freien Verkauf über den stationären und den Online-Handel kann man die CDs von NMC auch preisreduziert abonnieren. Dass es sich beim Booklet stets um Digitaldruck handelt und bei der CD meist um eine in Manufacturing on Demand-Technik hergestellte Kleinstauflage verwundert nicht weiter, denn immerhin geht es hier um Musik, die oft erst wenige Jahre auf dem Buckel hat und um Komponisten, die selbst im Heimatland noch nicht viele Hörer kennen.

Nun hat sich Colin Matthews bei seinem eigenen Label einmal selbst etwas gegönnt: Sein Violinkonzert (entstanden 2007-2009), seine häufig aufgeführte Komposition „Cortège“ (1989) und sein zweites Cellokonzert (1994-1996) sind Thema des neuen Albums, das mit hervorragenden Interpreten aufwarten kann.

Das Violinkonzert etwa wird von der Widmungsträgerin Leila Josefowicz mit dem BBC Symphony Orchestra unter Leitung Oliver Knussens gespielt. „Cortège“ erklingt gar durch das Royal Concertgebouw Orkest unter Riccardo Chailly. Und das Mstislaw Rostropowitsch gewidmete Cellokonzert gibt Anssi Karttunen zusammen mit dem BBC Symphony Orchestra unter Rumon Gamba. Die allesamt in vorzüglicher Klangqualität aufgezeichneten Einspielungen wurden teils live, teils als Studioproduktionen eingefangen. Wie üblich bei solchen Konstellationen hört man Unterschiede zwischen den einzelnen Aufnahmesessions, was aber nicht weiter ins Gewicht fällt. Insgesamt ist der klangliche Eindruck den jeweiligen Umständen entsprechend erfreulich gut.

Colin Matthews pflegt einen freitonalen Stil mit manchen grundtonbezogenen Elementen und Einflüssen aus der Dodekaphonie. Seine Art der Komposition kann man einerseits durchaus konservativ nennen, sprüht andererseits aber auch vor unkonventionellen Ideen. Auch ungeübte Hörer der Neuen Musik finden sich mit dem Gedanken wieder: „Damit kann ich etwas anfangen“, und damit hat Colin Matthews sich und seiner Musik über die Jahre ein breites Publikum erobern können. Matthews‘ Musik erinnert nicht selten an die seines verstorbenen Kollegen Peter Maxwell-Davies, ist aber (nach meinem Empfinden) meistens besser komponiert, vor allem auch in Anbetracht der Orchestrierung. Auch Thomas Adès könnte man als Vergleich heranziehen, doch Matthews hat im Vergleich zu Adès keine Minimal Music-Einflüsse, sondern erinnert eher an den Expressionismus der 1920er-Jahre, vor allem an Paul Hindemith oder in seinen Flächen auch an das Werk György Ligetis.

Kurz gesagt: Das ist Musik, die man sich gut und mit Vergnügen anhören kann. Matthews ist keiner der ganz Großen unserer Zeit, aber er ist eine wertvolle Stimme der Neuen Musik auf der britischen Insel mit eigenem Ansatz und einer Gabe, auch solche Publikumsschichten für sich einzunehmen, die sonst nicht viel mit der aktuellsten Musikmoderne am Hut haben. Immerhin: Das ist mehr, als man von den meisten deutschen Komponisten unserer Zeit behaupten kann.

Das Violinkonzert ist ein leidenschaftliches Werk, in dem Solistin Leila Josefowicz fast durchgängig im Einsatz ist. Sie liefert eine Glanzleistung ab und beeindruckt durch ihre Energie und ihren schönen Ton, den sie niemals den großen technischen Herausforderungen, die das Konzert an sie stellt, opfern muss. Das BBC Symphony Orchestra ist ein guter Partner, wirkt aber hier und da leicht „unterprobt“, was sich insbesondere in fransigen Streichern äußert.

Der Klangbolide „Cortège“ ist hier durch Riccardo Chaillys Dirigat zu hören, der damals Chefdirigent des Concertgebouw Orkest Amsterdam war. Entgegen einiger Informationen, die man im Internet findet, handelt es sich bei dieser Aufnahme aus dem Jahr 1998 nicht um die Uraufführung, die bereits zehn Jahre früher durch Bernard Haitink erledigt worden war. Mit seinen wuchtigen Klangclustern und Blechbläser-Crescendi erinnert „Cortège“ an Matthews‘ „Pluto“ und zeigt einen Komponisten, der sich 1988 in einer Art Post-Serialismus-Phase befand. Das Stück ist in jeder Hinsicht beeindruckend und wirkt durch seine gewaltigen Klangmassen fast körperlich spürbar, vor allem dann, wenn man es mit einem der Orchesterperformance entsprechenden Lautstärkepegel hört. Das muss ein Erlebnis gewesen sein, damals im akustisch bekannt grandiosen Concertgebouw mit diesem Top-Orchester (hörbar ein Qualitätssprung zum Sinfonieorchester der BBC!).

Das Cellokonzert beginnt direkt mit dem Auftritt des Solisten und entfaltet gleich einen ganz hinreißenden Charme, der mich wirklich begeistert. Die für Matthews typischen Flächen irisieren in faszinierenden, geradezu Villa-Lobos‘schen Klangfarben und steigern sich immer wieder zu dramatischen, packenden Höhepunkten. Die ebenfalls für Matthews typischen tiefen Blechbläser pusten bemerkenswerte Attacken in den Konzertsaal. Solist Anssi Kartunen geht in dieser Musik voll auf, obwohl dieses schwierige Konzert dem Solisten keine dankbare Bühne zum vordergründigen Brillieren bietet. Immer wieder wird die Solostimme in den Gesamtklang integriert, aus/in dem sie wellenartig auf- und wieder absteigt. Knifflige Doppelgriffe klingen fahl und schmucklos, sind aber höchstwahrscheinlich enorm komplexe Aufgaben für den ausführenden Interpreten. Dieses Stück ist das am meisten beeindruckende auf dieser insgesamt sehr hörenswerten CD, und ich halte es auch für eines der besonders schönen Beispiele dafür, wie ein modernes Cellokonzert heute klingen und aufgebaut sein kann, ohne abgeschmackte Muster zu bedienen und dabei trotzdem vertraut zu wirken.

[Grete Catus, Dezember 2016]

 

Eine Violine für alle Zeiten

Antonio Vivaldi (1678-1741): Concertos op. 8 Nr. 1-4  „Le quattro stagioni“ 1725; Roxanna Panufnik (*1968): Four World Seasons 2007-2011
BBC Symphony Orchestra; Graham Bradshaw, Tibetian Singing Bowl; Bradley Creswick, Leader; David Wright, Harpsichord; TASMIN LITTLE, Violin & Conductor

Chandos, CHSA 5175; EAN: 0 95115 51752 9

„Oh, je! Schon wieder eine CD mit Vivaldis Jahreszeiten“, seufzt der befangene Rezensent, allerdings gekoppelt mit einer Komposition von Roxanna Panufnik, der 1968 geborenen Tochter des polnisch-englischen Komponisten Andrzej Panufnik (1914-91), das ist natürlich etwas anderes, oder? Und in der Tat, dies ist nicht die x-te Runterspielung des Violinvirtuosen-Stücks par excellence, da hat sich die Geigerin – und Dirigentin – Tasmin Little eine ganze Menge Gedanken gemacht, die sie im sehr gut produzierten Booklet auch ausführlich zum Besten gibt.

Und herausgekommen ist: Eine Neueinspielung, die einen sofort mitnimmt, die überzeugt und begeistert. Natürlich ist das alles bekannt bis in die…. eben nicht! Denn das ist ja ein Verdienst der CD, dass sie es ermöglicht, verschiedenste Aufnahmen miteinander zu vergleichen und sich die subjektiv ansprechendste auszuwählen. Und diese neue gehört auf jeden Fall in die Kategorie „Lieblings-Aufnahmen“.

Das liegt sicher am Beitrag des Cembalisten David Wright, der seinen Part eben auch dazu verwendet, eigene Ideen in die sonst so langweilige Partie zu bringen.

Ein wenig anders sieht es allerdings beim zweiten Stück der CD aus: bei der Komposition „Four World Seasons“ von Roxanna Panufnik. Die Idee, verschiedene Jahreszeiten und ihr musikalisches Korrelat vier verschiedenen Ländern zuzuordnen, ist sehr schlüssig. Die Reihenfolge der Jahreszeiten folgt eben nicht der üblichen, auch von Vivaldi verwendeten, sondern beginnt im Herbst und in Albanien. Der erste Satz – „Autumn in Albania“ ist ihrem Vater gewidmet, der, wie sie schreibt: „… geboren, geliebt und gestorben im Herbst“. Er verwendet als Grundlage zwei albanische Melodien, einen Tanz und ein Liebeslied, und ergibt eine Komposition, die Orchester und Solistin wunderbar realisieren.

Dann die Winterzeit – es wird eine alte tibetanische Melodie auf zweifache Weise herangezogen, einmal in einer kunstvollen, dann in einer Nomaden-Version. Als Grundklang wird eine tibetische Klangschale verwendet. Das Stück fasziniert und nimmt gefangen.

Die beiden weiteren Stücke „Spring in Japan“ und  „Indian Summer“ sind zwar durchaus spannende Kompositionen, die mich persönlich allerdings nur teilweise begeistern, denn die Strukturen sind – verglichen mit den beiden ersten Stücken – zu zerfahren oder „beliebig“, was vielleicht aber auch an den tonalen Vorlieben des Rezensenten liegen mag.

Im Ganzen offeriert diese CD ein Hörerlebnis, das neue Wege zu scheinbar altbekannten Stücken und zu Unbekanntem öffnet.

[Ulrich Hermann, Oktober 2016]

Zwei erstaunliche Symphonien eines Filmkomponisten

Naxos, LC 05537, 8.571371; EAN: 7 47313 13717 6

Der gebürtige Rumäne Francis Chagrin war ab 1936 in Großbritannien vor allem als Filmkomponist aktiv, hinterließ aber für das Konzertrepertoire u.a. die beiden hier als CD-Ersteinspielung vorliegenden Symphonien. Mit dem BBC Symphony Orchestra unter Martyn Brabbins kann Naxos mit einem Spitzenensemble aufwarten, das den Werken in jeder Hinsicht gerecht wird.

Der vor allem durch ein sehr umfangreiches Schaffen für Film und Fernsehen – etwa zur seinerzeit in England sehr populären Nazi-Widerstands-Komödie The Colditz Story (1955) – bekannte Komponist Francis Chagrin entstammte einer wohlhabenden jüdischen Familie aus Bukarest, wo er 1905 als Alexander Paucker geboren wurde. Nach einem Ingenieurstudium in Zürich und erster musikalischer Ausbildung am dortigen Konservatorium ging er ab 1933 nach Paris, wo er u.a. von Paul Dukas und Nadia Boulanger unterrichtet wurde. Schon hier verdiente er sein Geld als Barpianist und mit kleineren Aufträgen für den Film. Nach einer missglückten Ehe und dem Zerwürfnis mit seiner Familie (Enterbung) nahm er den neuen französischen Namen an. Ab 1936 übersiedelte er schließlich nach England, wo er bei Matyas Seiber studierte und den Rest seines Lebens wirkte. Er arbeitete in verschiedenen Positionen für die BBC und setzte sich als Mitgründer der Society for the Promotion of New Music (SPNM) für die Aufführung zeitgenössischer Musik ein.

Man darf davon ausgehen, dass für einen überwiegend mit mehr oder weniger kommerzieller Musik befassten Komponisten das Schreiben von Symphonien sicher so etwas wie die Kür darstellt. Das mag wohl erklären, dass sich die Entstehung von Chagrins Symphonie Nr. 1 über den langen Zeitraum von 1946-1959 hinzog (nochmals revidiert 1965). Das tut der erstaunlichen Einheit des Werkes allerdings keinen Abbruch. Formal entspricht die erste – wie auch die zweite – Symphonie dem traditionellen viersätzigen Schema, wie man es seit der Wiener Klassik gewohnt ist. Besonderes Merkmal in der Symphonie Nr. 1 ist jedoch, dass alle Sätze in der Mitte durch einen, auch im Tempo stark kontrastierenden Teil gebrochen werden So bricht etwa in den 2. Satz, Largo, ein kurzes Allegro ein. Harmonisch ist schon in diesem Werk interessant, dass trotz unzweifelhafter Tonalität – als Haupttonart lässt sich doch so etwas wie G-Dur ausmachen – gleichzeitig eine hyperchromatische Hüllkurve für das Klangbild angestrebt wird, die alle zwölf Töne möglichst präsent hält. Dies geschieht sogleich in der Largo-Einleitung des Kopfsatzes, wo ein Zwölftonakkord aufgebaut wird, bevor das Allegro-Thema erscheint. Dieses ist einheitsstiftend für die gesamte Symphonie, deren Themen sich nicht nur rhythmisch in Partikeln darauf beziehen lassen. Auch lässt sich das Werk als Bogenform deuten: So taucht zum Ende des Finalsatzes erneut das Material der oben beschriebenen Einleitung auf, und der Zwölftonakkord wird dann in dessen Coda analog schrittweise abgebaut.

Ähnlich einheitsstiftende Elemente harmonischer wie texturaler Natur finden sich noch stärker in der Symphonie Nr. 2 (1965-71). So verwendet Chagrin hier eine Reihe von Sechstonakkorden, die paarweise alle 12 chromatischen Halbtöne enthalten, aber immer auch derart auseinandergepflückt werden, dass klare Dur- bzw. Mollakkorde bzw. übermäßige Dreiklänge hörbar werden. Dies erklingt dann für den Hörer – auch dank Chagrins wirklich phänomenaler Instrumentationskunst – in der Regel als gut nachvollziehbare Bitonalität, die sich aber kaum reibt oder unangenehm aufdrängt, sondern quasi perspektivisch auffächert. Besonders gelungen erscheint dies in den fast monumentalen choralartigen Passagen im IV. Satz Andante.

Was bleibt nun bei diesen Werken wirklich hängen? Chagrin hat unzweifelhaft die Fähigkeit, Kontraste gut heraus zu arbeiten und damit dem Verlauf eines Symphoniesatzes dramatisches Gewicht zu verleihen. Bei der Verarbeitung der Themen überzeugt vor allem rhythmisches und kontrapunktisches Raffinement. Die erste Symphonie ist dennoch etwas akademisch dem Neoklassizismus verpflichtet – was bei einem Schüler Nadia Boulangers allerdings nicht verwundert; man vergleiche etwa die frühe Symphonie Elliott Carters. Im Scherzo (III. Satz. Presto scherzando) finden wir dauernde Taktwechsel, die möglicherweise durch rumänische Volksmusik inspiriert sind, allerdings auch als Antwort auf Boris Blachers Idee der variablen Metren interpretiert werden könnten. Gleiches findet sich z.B. auch im Scherzo (II. Satz) von Hans Werner Henzes 2. Sinfonie (1949). Schwächer ist allerdings bereits die Themenbildung an sich. Hier ist Chagrin wenig individuell; das Streben nach Chromatik verhindert melodische Einfälle, die wiedererkennbaren Charakter haben. Tatsächlich erinnert etwa das prägnante Trompetenmotiv (nach Buchstabe B) im Kopfsatz der Symphonie Nr. 1 sofort an das Hauptmotiv von William Waltons 1. Symphonie b-moll (1932-35) – oder ist das gar als Hommage gedacht? So erweisen sich überhaupt die Ecksätze beider Symphonien trotz des darin gezeigten handwerklichen Könnens als zwar spannend, aber durchaus nichts Neues oder etwas, das durch eine wirklich persönliche Handschrift aufmerken lässt. Stärker sind die Mittelsätze: Die langsamen Sätze bauen Atmosphäre auf und die melodischen Einfälle entwickeln Eigenleben – und hier bleibt Chagrin seiner nie verlorenen Affinität zur französischen Musik treu. Die Scherzi beider Symphonien überzeugen durch unwiderstehlichen Rhythmus und Schwung. Trotz der Einwände: Mit den Symphonien anderer Filmkomponisten – für die britische Musik seien da natürlich vor allem William Alwyn und Malcolm Arnold genannt – kann Chagrin locker mithalten.

Beide Symphonien erscheinen bei Naxos als Ersteinspielung auf CD. Für die Symphonie Nr. 2 existiert bei der BBC eine alte Aufnahme des Bournemouth Symphony Orchestra unter Leitung des Komponisten, die aber nie auf Tonträgern erschien. Hier zeigt sich das BBC Symphony Orchestra unter Martyn Brabbins natürlich klar überlegen. Brabbins hat sich ja mittlerweile in mehr als hundert Einspielungen um britisches Randrepertoire besonders verdient gemacht. Klanglich wie interpretatorisch lässt diese Aufnahme vom November 2014 keine Wünsche offen. Die Schönheiten von Chagrins Orchestrierungskunst kommen ebenso zur Geltung wie die lyrischen Momente in den langsamen Sätzen und die Dramatik der Ecksätze mit all ihren Brüchen. Die Aufnahmetechnik sorgt für extreme Durchsichtigkeit und die erforderliche Dynamik ist stets vorhanden – leider heute auch bei Digitalaufnahmen keine Selbstverständlichkeit mehr. Überhaupt zeigt sich beim BBC Symphony Orchestra einmal mehr, wie gut nach wie vor unter der Obhut eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks ein Spitzenorchester auf Weltklasseniveau reifen und dieses auch halten kann; hier gilt dies ganz besonders im Vergleich mit den anderen „großen“ Londoner Orchestern. Diese Aufnahme ist für die Freunde von Symphonik jenseits des Mainstreams schon fast ein Muss!

[Martin Blaumeiser, August 2016]