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Orchestermusik vom „spanischen Mozart“

Chandos, CHAN 20077; EAN: 0 95115 20772 7

Juanjo Mena leitet das BBC Philharmonic mit Orchesterwerken von Juan Crisóstomo de Arriaga. Wir hören die Ouvertüre zu „Los esclavos felices“ (Die glücklichen Sklaven), die Ouvertüre D-Dur op. 20 und die Symphonie à grand orchestre d-Moll sowie die zwei von der Sopranistin Berit Norbakken Solset unterstützten Werke: Die Kantate Herminie und die Arie aus der Oper Médée ‚Hyman! Viens dissiper une vaine frayeur‘.

Wir können nur erahnen, welch großartige Musik uns Juan Crisóstomo de Arriaga noch hinterlassen hätte, wäre er nicht wenige Tage vor seinem zwanzigsten Geburtstag an einem Lungenleiden gestorben. Sein früher Tod und die dennoch ausgesprochen reife Musik des Komponisten haben ihm später den Beinamen „spanischer Mozart“ verliehen; nach seiner ersten Wiederentdeckung durch seinen Großneffen Emiliano de Arriaga rankten sich regelrecht Mythen um Leben und Schaffen des Wunderkindes. Belegt ist heute, dass er nach ersten Versuchen als Geiger und Komponist nach Paris zog, um sich gründlich ausbilden zu lassen. Dort studierte er bei Fétis und später bei Baillot, wurde allem Anschein nach aber auch maßgeblich von Luigi Cherubini unterstützt, wodurch er die Musik Beethovens kennenlernte, was ihn zu seinen drei Streichquartetten anregte.

Das früheste Werk dieser CD ist die Ouvertüre in D-Dur, auf deren Titelseite der damals 15-jährige Arriaga sogar vermerkte, dass er sie ohne das Wissen um Harmonielehre komponierte, die anderen Werke schrieb oder revidierte er in Paris. Herminie sollte das letzte fertiggestellte Werk des Komponisten werden.

Juanjo Mena beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Schaffen des ‚spanischen Mozarts‘, so wirkte er beispielsweise an der 2006 von Christophe Rousset veröffentlichten kritischen Edition des Gesamtwerks von Arriaga mit. Hier erleben wir ihn als einfühlsamen und präsenten Dirigenten erster Güte. Aufmerksam tastet er sich in Arriagas Klangwelt hinein und holt genau das aus den Partituren heraus, was sich auch in ihnen befindet. Er verzichtet auf jede Art der Zurschaustellung oder willkürlichen Interpretation zugunsten einer lebendigen und damals wie heute aktuellen Darstellung der Musik. Das BBC Philharmonic hält er als Einheit zusammen und meißelt selbst die subtil-unauffälligen Nebenstimmen zum Gesamtbild passend aus dem Orchester heraus: Sie gehen weder unter, noch stören sie die Hauptstimme; sie fügen sich ein und bereichern das Geschehen. Besondere Aufmerksamkeit verdient der Sopranistin Berit Norbakken Solset, die durch ihre weiche Stimme und den anschmiegsamen Tonfall ideal zu der farbenreichen wie ausdrucksstarken Musik Arriagas passt. In Herminie präsentiert sie unprätentiös und leichtfüßig die Flexibilität ihrer Stimme, von samtig bis durchschlagend kräftig, jedoch immer kontrolliert und auf das Orchester angepasst.

[Oliver Fraenzke, April 2019]

Rückkehr zur Gunst des Publikums

Chan 10982; EAN: 0 95115 19822 3

John Storgårds dirigiert das BBC Philharmonic Orchestra mit Orchesterwerken von George Antheil. Zu hören sind die Symphonien Nr. 3 „American“ und Nr. 6 „After Delacroix“ sowie Archipelago, der Hot-Time Dance und die Filmmusik Spectre of the Rose.

Während sich andere Komponisten seiner Generation immer neueren Experimenten und stilistischen Extremitäten hingaben, kehrte George Antheil zurück zur weitgehend tonalen Musik und somit auch zur Gunst des Publikums. Als Enfant Terrible machte er in jungen Jahren von sich sprechen und legte bisweilen sogar einen Revolver auf den Flügel, um während seiner futuristischen Klaviersonaten nicht gestört zu werden. Doch als er Europa verließ und wieder in der Heimat, den USA, lebte, trieb es ihn dazu, sich der Entwicklung eines eigenen, amerikanischen Stils zu verschreiben, der nicht zuletzt auch die Massen ansprechen solle. Die Symphonik erschien ihm als prädestinierte Ausdrucksform für solch ein Vorhaben und Antheil widmete sich Jahrelang intensiv dezidiert der Symphonik, schrieb und verwarf zahlreiche Skizzen.

Wie für die meisten amerikanischen Komponisten etablierte sich in Antheils Musik der Jazz als unentbehrliches Element. Bernstein erklärte in einem seiner „Young People‘s Concerts“ die Entwicklung der amerikanischen Musik und stellt anschaulich dar, wie die Elemente des Jazz immer weiter Fuß fassten in den „klassisch“-amerikanischen Stil. Die American Symphony von  Antheil lässt eben dies spüren: Synkopische Rhythmen und jazzige Harmonien verleihen ihr erst den „amerikanischen“ Flair, den Antheil zum Ausdruck bringen will. Archipelago lebt ebenfalls von Jazzrhythmen, zieht jedoch eine ganz andere Art der Instrumentation mit ein, die sich auf Antheils Zeit in Frankreich zurückführen lässt. Der Hot-Time Dance entfernt sich erstaunlich weit vom Jazz, obgleich gerade dieses Stück den Stil bereits im Titel trägt – viel mehr tönt freudige und unbekümmerte Zirkusmusik durch. Auf Frankreich bezieht sich auch Spectre of the Rose zurück, genauer gesagt auf die Harmonik und Instrumentation von Maurice Ravel. Die Musik gibt sich schlicht und beinahe naiv, versprüht dennoch einen Funken außergewöhnlicher Ideen. Das einzige Werk auf dieser CD, das überhaupt keine hörbaren Jazzelemente beinhaltet, ist die an Schostakowitsch gemahnende sechste Symphonie „after Delacroix“, das üppigste und weitschweifendste dieser Werke. Antheil geriet oft in die Kritik für seinen wieder-tonalen, gefälligen Stil und für die effekthascherische Orchestration. Das beiliegende, ausführlich informierende Booklet von Mervyn Cooke zitiert Rezensionen über die sechste Symphonie, welche sie „hohl und Hollywoodartig“ nannten und ihr vorwarfen, sie habe „die leere Vehemenz einer Wahlkampfrede“. Wenngleich das Pathos in Antheils Orchestermusik durchaus dazu einläd, sie nicht ganz ernst zu nehmen, darf doch nicht der Ideen- und Farbenreichtum in dieser Musik vernachlässigt werden, der packende Drive und die eingängige Melodie, welche mit kecken Rhythmen unterlegt wird.

Storgårds holt eine beachtenswerte Vielfalt an orchestralen Farben aus dieser Musik heraus. Er gibt sich nicht der Versuchung hin, in den opulenten Passagen die Kontrolle über den Klang abzugeben, sondern behält die Zügel durchgehend in den Händen. Zeitgleich gelingt es ihm und dem Orchester, die Musik vollkommen mühelos und zwanglos darzustellen, die Spielfreude hörbar zu machen. Die BBC Philharmonic sind souverän aufeinander eingestimmt und präsentieren einen ausgewogenen, durchhörbaren Sound, welcher der jazzbeeinflussten Musik ebenso gerecht wird wie der etwas abstrakteren in der sechsten Symphonie.

[Oliver Fraenzke, März 2019]

Sehr französische Indienträume

Chandos; LC 7038; EAN: 0 9511519572 7

Albert Roussel: Évocations;  BBC Philharmonic, CBSO Chorus, Yan Pascal Tortelier (Leitung), Kathryn Rudge (Mezzosopran), Alessandro Fisher (Tenor), François Le Roux (Bariton)

Yan Pascal Tortelier hat sich auf CHANDOS Albert Roussels großem Indienpanorama «Évocations», der vielgespielten Suite F-Dur und der symphonischen Dichtung «Pour une fête de printemps» angenommen. Leider gelingt nicht alles auf überzeugendem Niveau.  

Neben Nikolai Rimski-Korsakow ist Albert Roussel wohl der einzige bekanntere Komponist, der eine Zeit lang zur See gefahren ist, sicherlich ein Grund für beider Liebe zu exotischen Sujets. Wenn heute Roussel vor allem noch für seine 3. und 4. Symphonie – klare Zeugnisse des Neoklassizismus der frühen 1930er Jahre – gerühmt wird, so gab es bis kurz nach dem Ersten Weltkrieg eine bedeutende Phase, die man impressionistisch nennen muss, auch wenn Roussel das Erbe der Spätromantik längst nicht so konsequent abgelegt hat wie Debussy oder Ravel. Roussel unternahm mit seiner Gattin auch lange nach seiner Militärzeit eine ausgedehnte Hochzeitseise nach Indien und Fernost. Die zwei beeindruckendsten Zeugnisse davon sind Évocations (1910-11) und später seine Opéra-ballet Padmâvatî (1913-1918).

Évocations zeichnet in drei Sätzen ein geheimnisvolles, raffiniert instrumentiertes Bild Indiens; im letzten Satz treten zum Orchester noch drei Gesangssolisten und Chor hinzu. Michel Plasson hat 1986 eine überragende Aufnahme dieses in Vergessenheit geratenen Dreiviertelstünders hingelegt (EMI), an der sich Yan Pascal Tortelier leider messen lassen muss. Die düsteren Schatten des ersten Satzes und die zart changierenden Rosatöne des zweiten (La Ville rose, ein Porträt Jaipurs) gelingen Tortelier gleichermaßen, wenn auch etwas unflexibler bei den Tempi als Plasson. Die Aufnahmetechnik ist bei Chandos etwas direkter und luftiger. Aber was ist dann im dritten Satz mit Chor und Solisten los? Der Chor des City of Birmingham Symphony Orchestra produziert ein gähnend langweiliges Gesäusel, zudem von der Aufnahme zu sehr in den Hintergrund gepresst, ohne jede Präsenz. Aber es kommt noch ärger: Hatte Plasson drei Weltklasse-Solisten (Nicolai Gedda, Nathalie Stutzmann und José van Dam) zur Verfügung, die ihrem Namen alle Ehre machten, können weder Kathryn Rudge noch Alessandro Fisher irgendwelche Akzente setzen – und auch hier sorgt die Technik für eine unidentifizierbare Positionierung. Ehemals Abbados Pelléas, zeigt sich François Le Roux leider nicht einmal mehr als Schatten seiner selbst: Die Stimme ist völlig brüchig, wackelig, detoniert; das könnte man gerade noch als Sprechen, aber nicht mehr als Singen bezeichnen – eine echte Zumutung, die den über 22-minütigen Satz komplett abschießt.

Tadellos dagegen die bereits neoklassizistische Suite F-Dur und die symphonische Dichtung Pour une fête de printemps, die ursprünglich als Scherzo der 2. Symphonie geplant war und mit hübscher Polymodalität (Roussel) überrascht. Hier gelingen Tortelier, der sich ja u.a. bereits als erstklassiger Dutilleux-Dirigent auf Chandos präsentiert hat, differenzierte, rundum erfreuliche Darbietungen. Trotz des Repertoirewerts fällt es mir wegen des absolut verunglückten Finalsatzes der Évocations schwer, diese CD zu empfehlen.

[Martin Blaumeiser, August 2018]

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Casellas Aufbruch in die Musikmoderne: Von Noseda fast zu schön dirigiert

CHANDOS/note 1
Katalog-Nr.: CHAN10880
EAN: 095115188026

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Schon lange verfolge ich die äußerst spannenden Reihen mit Einspielungen der klassischen italienischen Musikmoderne bei den Labels Chandos und Naxos. Beide Labels haben sich ihre Meriten redlich verdient. Während bei Naxos solide gemachte Einspielungen in großer Vielfalt vorliegen, scheint sich Chandos eher die Rosinen aus dem Kuchen zu picken.

Als übergreifendes Motto könnte man ausloben: Bei Chandos regiert perfekter, polierter Schönklang ohne die Ecken und Kanten dieser Musik zu überbetonen, bei Naxos gibt es ruppig-solides Orchesterabenteuer mit ausdrücklicher Betonung der modernistisch/futuristischen Aspekte dieser Musik.

Daraus geht schon hervor, dass beide Konzeptionen nicht restlos überzeugen können. Klar, denn weder Gianandrea Noseda (mit dem in allen Gruppen vorzüglich besetzten BBC Philharmonic) wird hier Casella ganz gerecht noch das inzwischen tragischerweise liquidierte Orchestra Sinfonica di Roma unter der Leitung Francesco La Vecchias. Beide Parteien bieten keine wirklich ausgewogene, sondern eher eine tendenziöse Interpretation.

Nun muss man aber froh sein, dass es überhaupt Einspielungen dieser Musik gibt, denn bis vor wenigen Jahren waren Casellas Sinfonien das vielleicht bedauerlichste aller Desiderate am CD-Markt. Dabei sei darauf hingewiesen, dass jedenfalls bei Casellas sinfonischem Erstling eine durchaus breite Hörergruppe zu gewinnen sein müsste, denn die Musik kommt einerseits den Anhängern der Fraktionen Strauss, Mahler, Bruckner und Wagner entgegen und bietet andererseits denjenigen, die sich für den aufkeimenden Expressionismus interessieren, zahlreiche Ansatzpunkte und durchaus auch einige Überraschungen. Mich persönlich erinnern Casellas Sinfonien (und dabei vor allem die hier zu hörende Erste) immer wieder an die Gattungsbeiträge George Enescus, vor allem auch im Hinblick auf den gewaltigen Orchesterapparat, der hier zum Einsatz kommt.

Und was in dieser Musik alles drin steckt! Hier haucht der Jugendstil gerade noch seinen Lebensodem aus und wird live vor den Ohren des Publikums überrollt von der Dampfwalze der Moderne. Und auch, wenn man Zeitgeschichte und Musikgeschichte nicht ohne Weiteres verquicken soll, ist es doch auch aufschlussreich darüber nachzudenken, dass diese Musik „am Vorabend“ des Ersten Weltkriegs in den Jahren 1912-13 geschrieben wurde.

Gianandrea Noseda erreicht mit dem BBC Philharmonic einen sahnig-saftigen Schönklang, den weder die Berliner Philharmoniker besser hinbekommen hätten noch Mariss Jansons beim Concertgebouw Orkest. Das Niveau des BBC Philharmonic ist bei dieser Einspielung wahrlich bestechend. Ob es, wie gesagt, der richtige Weg ist, um der Musik Casellas wirklich nahezukommen, sei dahingestellt. Ich persönlich finde diesen Sound sehr reizvoll. Auch, weil er einem die Annäherung an diese schwierig zu rezipierenden Werke fraglos erleichtert.

Die weiteren Stücke auf diesem Album sind die wuchtige Elegia eroica Op. 29 von 1916, eine Musik mit fahl-gespenstischen Marschrhythmen und voller Anklänge an eine fatale Zeit. Dieses Werk ist mit seiner erschütternden Aura ganz atemberaubend. Etwas weniger tragend, nichtsdestotrotz schön anzuhören und in ihrer frappierenden „Wunderhorn“-Klangwelt sicherlich am nächsten am Kollegen Mahler angesiedelt, sind die Sinfonischen Fragmente aus „Le Couvent sur l’eau“, Überraschungsauftritt von Sopranistin Gillian Keith inklusive.

Kurz und gut: Dies ist eine gelungene, wichtige, mitreißende und auch sehr schöne CD mit ganz hervorragender sinfonischer Musik, die häufiger gespielt und gehört werden sollte. Aber diese Aufnahme ist ebensowenig wie die der Kollegen vom Naxos-Label als objektiv zu bezeichnen, wenn man sich exemplarisch mit Casellas sinfonischem Schaffen beschäftigen möchte. Eine Referenzaufnahme der ersten Sinfonie gibt es derzeit schlichtweg nicht am Markt, und diese Einspielung von Gianandrea Noseda ändert diesen bedauerlichen Zustand nicht wirklich.

[Grete Catus, Februar 2016]