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Wissenschaftlich-unverständlich

Analecta Musicologica. Klangkultur und musikalische Interpretation. Italienische Dirigenten im 20. Jahrhundert; Peter Niedermüller (Herausgeber), David Patmore, Gesa zur Nieden, Jürg Stenzl, Antonio Rostagno, Martin Elste, Hartmut Hein, Angela Ida De Benedictis, Vincenzina Ottomano

Um Interpretationsforschung italienische Dirigenten dreht es sich in „Analecta Musicologica. Klangkultur und musikalische Interpretation. Italienische Dirigenten im 20. Jahrhundert“. Herausgegeben wurde die Beitragssammlung von Peter Niedermüller in Folge eines Studientags in Rom; die Referate stammen von David Patmore, Gesa zur Nieden, Jürg Stenzl, Antonio Rostagno, Martin Elste, Hartmut Hein, Angela Ida De Benedictis und Vincenzina Ottomano.

Das Interesse steigt, nicht alleine den Notentext zu ergründen, sondern darüber hinaus auch die Realisation durch die Musiker; doch das Feld der Interpretationsforschung gehört zu den schwierigsten der Musikwissenschaft. Das Problem liegt auf der Hand: Die Geschmäcker und Vorstellungen von musikalischer Darbietung gehen auseinander, entsprechend kompliziert gestaltet es sich, möglichst objektive Maßstäbe zu finden. Wie nähert man sich also diesem Feld an? Die simpelste Lösung ist zugleich die unergiebigste und am häufigsten anzutreffende: Die Autoren erforschen konkret messbare Aspekte der musikalischen Darbietung wie Dauer von Stücken oder Abschnitten sowie Tempowechsel. Als Leser erfährt man hierbei nichts darüber, wie der Musiker an die Musik herangeht oder auf welche Details er Wert legt, kennt lediglich bezugslose Zeitangaben. Ebenso erweisen sich fixe Kategorisierungen als beliebte Vereinfachungen, um einen ausgereiften Personalstil auf weniger als drei Wörter zu reduzieren und eine Basis zum Vergleichen oder Konfrontieren unterschiedlicher Musiker zu schaffen. Als einziger Autor der vorliegenden Referatsammlung bemüht sich der Herausgeber Peter Niedermüller, über messbare Zahlen und Kategorien hinauszugehen und etwas auszusagen über Giuseppe Sinopoli und seine Mahler-Darbietung.

Wie sonst könnte man sich dem Feld der Interpretationsforschung annähern? Der Weg führt unumgänglich über das aktive und kritische Hören. Es gilt zu versuchen, eine Darbietung so genau wie möglich zu beschreiben, Details der Umsetzung herauszuarbeiten; um nur einige der möglichen Aspekte zu nennen: Dynamik, Artikulation, fomale Gestaltung, Bezug der einzelnen Instrumente zueinander. Natürlich wird dabei immer ein minimaler Bestandteil an Subjektivität hineinkommen, aber findet sich dieser nicht sogar bei den objektivsten Faktenauswertungen alleine durch die Art der Formulierung? Und auch diejenigen Musiker, die sich voll in den Dienst der Werke stellen, müssen in ihrer Darbietung subjektive Entscheidungen treffen – eben davon lebt die Musik und gibt uns einen Ausgangspunkt für Interpretationsforschung. Sich hinter trügerischer Objektivität zu verbergen, bringt keinen Gewinn bei der Untersuchung von persönlichen Darbietungen: Die Lösung liegt auf einem schmalen Grad zwischen den beiden Polen, dort, wo man vielleicht nicht unbedingt seine ureigene Ansicht vertritt, aber noch immer Mensch mit Wahrnehmung und Gefühl bleibt.

Dass die meisten Autoren dieses Buches nichts auszusagen haben, zeigt nicht nur das Herumreiten auf bedeutungsarmen Fakten, sondern auch das Verstecken hinter hochtrabenden Formulierungen und ellenlangen Schachtelsätzen. Der Leser wird bewusst geblendet durch unverständliche Schreibart: Würden die Autoren prägnant und nachvollziehbar schreiben, so würde man schnell erkennen, wie wenig Aussage in den Artikeln steckt. Doch eine Schlacht an unnötigen Fremd- und Fachwörtern verschleiert das Verständnis ebenso wie kaum entwirrbare Satzkonstrukte, Rückbezüge und überlange Fußnoten. Es klingt alles schön kompliziert und „wissenschaftlich“; aber ich will beim Lesen etwas über das Thema erfahren, und nicht bestaunen, wie wunderbar schwülstig die Autoren schreiben können.

Inhaltlich überzeugen konnte mich der Artikel „Cetra-Soria“ von Martin Elste über die Geschichte eines italienisch-amerikanischen Erfolgslabels, das zugleich eine wichtige Rolle für italienisches Opernrepertoire spielte. Auch aus Peter Niedermüllers Artikel über Sinopolis Mahler-Interpretation ließen sich interessante Aspekte entnehmen. Der einzige, der auch einmal die unbekannten Dirigenten behandelt, ist David Patmore über Coppola, Molajoli und Sabajno; die restlichen Artikel drehen sich hauptsächlich um Toscanini, darüber hinaus jeweils einer um Sinopoli und Abbado.

[Oliver Fraenzke, November 2018]

Neusprech-Lexikon der Frontberichterstatter

Jörn Peter Hiekel und Christian Utz (Herausgeber): Lexikon Neue Musik
Bärenreiter; ISBN 978-3-7618-2044-5

Zusammen mit dem Metzler-Verlag legt der Bärenreiter-Verlag in Kassel ein neues ‚Lexikon Neue Musik’ vor, das uns vor allem in Ästhetik- und Sprachregelung jener Kreise einführt, die sich nach wie vor als Avantgarde der Musikentwicklung begreifen. Die Enzyklopädie besticht mit großem Detailreichtum hinsichtlich des Mainstreams der Moderne, wie er sich in Mitteleuropa seit Dodekaphonie und Serialismus präsentiert. Was sich an der von hier aus als solche wahrgenommenen Peripherie abspielte und abspielt, wird nur sehr lückenhaft wiedergegeben und fällt vielfach unter den Tisch. So erstaunt es dann aber doch, dass im Indien-Artikel die bahnbrechenden Neuerungen von John Foulds unerwähnt bleiben (wahrscheinlich hat Bhagwati seinen Namen noch nie gehört), und dass in der Übersicht der nordischen Länder mit dem Isländer Jón Leifs einer der radikalsten Modernisten (zudem der bekannteste Komponist des Landes) keiner Erwähnung für würdig befunden wird. Das ist peinlich und zeigt wieder einmal, wie viel von der Qualifikation der einzelnen Autoren abhängt, und natürlich auch von deren Vorlieben. Es wird an entsprechender Stelle auch ignoriert, dass beispielsweise der Däne Per Nørgård ein entscheidender Vorläufer des Spektralismus war. Der Schwerpunkt liegt eindeutig bei den üblichen Verdächtigen mitteleuropäischer und US-amerikanischer Provenienz, mit einigermaßen hilfreicher Einbeziehung der russischen Avantgarde. Ganz unzureichend ist der Artikel über Pop und Rock, denn dort fehlen alle entscheidenden Schrittmacher des Fortschritts wie King Crimson, Henry Cow, Univers Zero, auch Van der Graaf Generator oder Soft Machine. Klar, die Autorin kennt sich einfach nicht genug aus.

Die umfangreichen Hauptartikel am Anfang des Buches, die dem alphabetischen Teil vorausgehen, beschäftigen sich mit: ‚Die Avantgarde der 1920er Jahre und ihre zentralen Diskussionen (Ulrich Mosch), ‚Ein Sonderweg? Aspekte der amerikanischen Musikgeschichte im 20. und 21. Jahrhundert (Wolfgang Rathert), ‚Auf der Suche nach einer befreiten Wahrnehmung. Neue Musik als Klangorganisation’ (Christian Utz), ‚Angekommen im Hier und Jetzt? Aspekte des Weltbezogenen in der Neuen Musik’ (Jörn Peter Hiekel), ‚Ästhetische Pragmatiken analoger und digitaler Musikgestaltung im 20. und 21. Jahrhundert’ (Elena Ungeheuer), ‚Raumkomposition und Grenzüberschreitungen zu anderen Kunstbereichen’ (Christa Brüstle), ‚Zwischenklänge, Teiltöne, Innenwelten: Mikrotonales und spektrales Komponieren’ (Lukas Haselböck), ‚Geistliche, spirituelle und religiöse Perspektiven in der Musik seit 1945’ (Jörn Peter Hiekel) und ‚Verflechtungen und Reflexionen. Transnationale Tendenzen neuer Musik seit 1945 (Christian Utz). Diese Artikel sind durchaus teils fundiert und interessant, zeigen aber auch zum Teil bereits auf, wie hier die Herausgeber ihre Idee vom Fortschritt als alleingültig verstehen. Christian Utz insbesondere hat sich auf eine ‚Argumentationsweise’ spezialisiert, die jede Kritik allgemeiner Art an diesem Fortschritt als Polemik abtut. Das ist natürlich sehr beschädigend für jegliche fruchtbare Selbstreflexion, und tatsächlich sind wir jetzt bei einem vom Begriff der ‚Postmoderne’ abgeleiteten Begriff der ‚Posttonalität’ angekommen. Das ist natürlich reine Willkür und besagt eigentlich gar nichts außer der Tatsache, dass man weder im umfassenden Sinn je verstanden hat, was Tonalität ist, noch, was Atonalität ist. Unglaublich klug und kompliziert wird hier argumentiert, ohne dass ein generelles Verständnis der musikalischen Grundlagen vorhanden wäre. Solche ‚Denker’ sind ebenso reaktionär wie die konservativen Theoretiker des 19. Jahrhunderts, die in der Selbstverständlichkeit der dur-moll-tonalen Welt als alleinseligmachender Grundlage befangen waren. Stattdessen herrscht heute eben die reine, auf keinem zusammenhängenden Erleben basierende Willkür und Orientierungslosigkeit, die alles interessant findet, was irgendwie einen Weg aus der Tradition heraus zu weisen scheint. Qualität wird so einfach behauptet wie ihr Gegenteil. Jedoch ist dieses Lexikon sehr nützlich und hilfreich für all jene, die mitreden wollen im aktuellen Diskurs innerhalb des geschlossenen Zirkels derjenigen, die sich als die an der Front der neuesten Musik stehend wähnen – also die Macher, Mitwirkenden, Profiteure und Mitläufer der Festivals und Konzertreihen ‚Neuer Musik’, die nur eines scheuen ‚wie der Teufel das Weihwasser’: erlebt und damit erlebbar zusammenhängendes Komponieren. Das Buch gibt wie kein anderes umfassenden Einblick in die intellektuellen ‚Fundamente’ der Echokammer einer ‚posttonalen’ Welt, die sich selbstherrlich um sich selbst dreht und nur dank massiver Subventionen weiterhin existiert. Wer verstehen will, wie die denken, sollte sich anhand dieser spröden Lektüre damit auseinandersetzen. Die Informationsfülle ist gigantisch, auch wenn sie weitgehend ideologisch programmiert und voll blinder Flecken ist. Diesmal übrigens kann Herr Utz, Frontberichterstatter aus dem heroischen Krieg für das innerlich Zusammenhangslose, in der Ästhetik der 1920er Jahre Steckengebliebene und Mitherausgeber dieser epochalen ‚Neusprech’-Enzyklopädie, zurecht von Polemik sprechen – die er allerdings wie so oft nicht faktisch, sondern lediglich ideologisch kontern könnte.

 

[Annabelle Leskov, Dezember 2016]

Impressionen aus einer verkehrten Welt – Guttenberg statt Strauss

Handbuch Dirigenten – 250 Porträts
Herausgegeben von Julian Caskel und Hartmut Hein
Autoren: die Herausgeber, Kai Köpp, Michael Stegemann, Christine Drexel, Annette Kreutziger-Herr, Andreas Domann, Andreas Eichhorn, Alberto Fassone, Alexander Gurdon, Dieter Gutknecht, David Witsch, Florian Kraemer, Gesa Finke, Hans-Joachim Hinrichsen, Michael Schwalb, Michael Werthmann, Peter Niedermüller, Tobias Pfleger
Bärenreiter/Metzler; ISBN: 9783476023926

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Ein Handbuch über Dirigenten in deutscher Sprache, das sich nicht nur der großen Namen annimmt, sondern ein breiteres beschreibendes Spektrum bietet, war lange überfällig, und insofern kann man dem Bärenreiter-Verlag nur danken, dies endlich umgesetzt zu haben. Ob man dafür die richtigen Herausgeber und Autoren gewonnen hat, ist allerdings mehrheitlich – gelinde gesagt – sehr in Frage zu stellen. Das beginnt schon mit dem – immer sehr problematischen – Thema der Auswahl, wo man es natürlich keinem Kenner recht machen kann. Jedoch wird hier die Grenze des Zumutbaren überschritten, man muss geradezu von gezielter Manipulation der Geschichte sprechen: Egal, was der eine oder andere über Richard Strauss denkt, dass er – wie auch immer bereits im Vorwort vollkommen unplausibel begründet – ausgesondert wurde, ist eine absolute Peinlichkeit: nicht nur einer der überragenden Dirigenten der Geschichte, sondern auch einer der stilprägendsten, ohne den Legenden wie Fritz Reiner, Clemens Krauss oder Karl Böhm undenkbar wären. Kaum weniger verstörend ist das Fehlen von Gustav Mahler, der für Kleiber, Klemperer und Bruno Walter das Maß der Dinge war – wenigstens sind Bülow, Hans Richter, Nikisch und Levi dabei als die Vertreter einer Epoche, die diskographisch nicht dokumentiert ist.

Was die jungen und jüngsten Kapellmeister betrifft, ist die Auswahl ohnehin noch von vielen wackligen Faktoren bestimmt, und natürlich nehmen Spezialisten der sogenannten ‚historischen Aufführungspraxis’ und Dirigentinnen hier, dem Trend entsprechend, mehr Raum ein als objektiv angemessen. Dann muss man sich allerdings umso mehr fragen, warum die großen Kammerorchesterleiter (außer Rudolf Barschai) ignoriert wurden: Edwin Fischer, Adolf Busch, Josef Vlach, Benjamin Britten, Sándor Végh usw. – das sind durchweg weit bedeutendere Musiker als die meisten Herrscher der großen Orchester.

Auf der anderen Seite werden diskographisch überpräsente Halbdilettanten wie Helmuth Rilling oder Enoch zu Guttenberg ausführlich und höchst bedeutsam vorgestellt. Man sieht, hier ist keine wirkliche herausgeberische Professionalität am Werke, sondern der Versuch, sich politisch korrekt an den Erwartungen der KlassikRadio-gewohnten Unbedarften zu orientieren. Das dürfte ein Fehlkalkül sein, denn ein solches Buch erwerben meist dann doch die, die ein echtes Interesse haben, und die sind nicht alle so ahnungslos, dass sie widerspruchslos kommerziellen und modischen Auswahlkriterien folgen wollen.

Das Niveau der einzelnen Artikel ist natürlich höchst unterschiedlich. Besondere Tiefstände werden in der Regel da erreicht, wo der betreffende Dirigent in irgendeiner Weise in Deutschland 1933-45 involviert war. Gewiss gab es bekennende Nationalsozialisten, sei es aus Karrierismus oder schlichter Feigheit, und Namen wie Karajan, Böhm oder Knappertsbusch liegen hier auf der Hand. Dass Clemens Krauss hier nach wie vor – nicht auf dem Erkenntnisstand der Zeit – als besonders belastet abgehandelt wird, ist zum Beispiel eine Unverschämtheit. Das geht so weit, dass über ihn als Musiker fast nichts Brauchbares dasteht. Wie einfach ist es, Herr Caskel, mit Halbwissen und verblendetem Missionsdrang ausgestattet einen Wehrlosen postum in die Tonne zu treten!

Vieles wird in diesem Kompendium auf den Kopf gestellt, Ideologie überwiegt Beobachtung, aber das ist symptomatisch für den debilen Gesamtzustand unserer hoffnungslos unterbezahlten deutschen Musikfeuilleton-Kreise, wo das Wort Intelligenz nostalgische Gefühle hervorruft. Und in den meisten Fällen hat – zumindest die englische – Wikipedia rein faktisch mehr zu bieten. Aber ich habe vergessen: Es geht ja um die subjektive Meinung selbsternannter Experten ohne konkreten musikalischen Hintergrund…

Man muss also ein intelligenter Leser sein – also einer, der sich ständig um die bewusste Unterscheidung zwischen Fakten und feuilletonistisch manipulierendem Kommentar bemüht –, um durch dieses Buch nicht nebenbei verblödet zu werden, während man sich informiert. Davon abgesehen ist es allerdings ein nützliches Nachschlagewerk, wie es in dieser Form, zu einem vernünftigen Preis, erstmals in deutscher Sprache vorgelegt wird. Wer Meinung und Tatsachen zu unterscheiden versteht, kann getrost Nutzen daraus ziehen.

[Annabelle Leskov, August 2016]