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Die Anfänge des russischen Klaviertrios

Naxos, 8.574112; EAN: 7 47313 41127 6

Als erste Folge einer CD-Reihe zur Geschichte des russischen Klaviertrios präsentiert Naxos zwei Klaviertrios von Alexander Aljabjew, das Trio Pathétique von Michail Glinka (in einer Bearbeitung für Klaviertrio) sowie Anton Rubinsteins Klaviertrio Nr. 2. Es spielt das Brahms-Trio mit Natalija Rubinstein, Klavier, Nikolai Satschenko, Violine und Kirill Rodin am Violoncello.

Mit der vorliegenden CD beginnt das Brahms-Trio bei Naxos einen Zyklus, der die Geschichte des russischen Klaviertrios vorstellen soll. Geplant sind zunächst fünf Folgen, die die Zeit des Russischen Reiches umfassen; ob danach auch die Sowjetzeit folgt, ist mir bislang nicht bekannt. Es handelt sich um keine Gesamteinspielung (dies wäre spätestens im Falle der zur Sowjetzeit entstandenen Werke wohl auch kaum mehr zu realisieren), aber das Projekt ist dennoch ambitioniert und wird gemäß Vorankündigung auch einige Ersteinspielungen umfassen.

Der erste russische Komponist, der Klaviertrios schrieb, war offenbar Alexander Aljabjew (bzw. Alyabiev; 1787–1851). Sein Lebensweg war turbulent: Sohn eines Gouverneurs, machte er im Rahmen des Kriegs gegen Napoleon Karriere beim Militär und blieb bis 1823 Mitglied der Armee. Zwei Jahre später war er in eine Schlägerei beim Kartenspiel verwickelt, bei der ein Mensch getötet wurde, wurde inhaftiert, zeitweise nach Sibirien verbannt und stand bis zu seinem Lebensende unter Polizeiaufsicht. Nach seinem Tod blieb er zunächst vorwiegend als Komponist von Romanzen (insbesondere der „Nachtigall“) in Erinnerung, bevor Anfang der 1950er Jahre eine Reihe seiner Werke im Druck erschien, sicherlich motiviert dadurch, dass er einer der ersten Komponisten war, die in ihren Werken russische Volkslieder verwendeten.

Heute ist Aljabjew zwar sicherlich kein besonders prominenter Komponist, aber eine gewisse Beachtung findet seine Musik doch immer wieder. Er ist (wegen seines Liedschaffens) als „russischer Schubert“ bezeichnet worden, auch auf den Einfluss Beethovens wird gerne hingewiesen. Das ist zwar nicht falsch, aber treffender ist wohl, Aljabjew im Kontext seiner Zeitgenossen zu betrachten, die sich zwischen Wiener Klassik (gerade Mozart) und Frühromantik bewegten, manchmal an der Grenze zu gehobener Salonmusik. Der virtuose, passagenreiche Klaviersatz seiner Trios legt einen Vergleich mit seinem Lehrer John Field oder auch Johann Nepomuk Hummel nahe. Einen besonders ausgeprägten eigenen Tonfall wird man bei Aljabjew eher nicht entdecken, aber doch Musik, die mit den Strömungen ihrer Zeit vertraut ist und sich gekonnt in diesem Fahrwasser bewegt. So gab es in Russland also bereits vor Glinka einen fähigen Komponisten. Aljabjew freilich eine Vorreiterrolle in der Geschichte der russischen Musik zuzusprechen oder ihn gar als „heimlichen“ Vater der russischen Musik zu betrachten, halte ich für zu viel des Guten, denn selbst wenn er gelegentlich russisches Liedgut verwendet, ist doch der Weg zu Glinkas Opern noch weit.

Von Aljabjews beiden Klaviertrios ist das erste unvollendet, ein elegantes, beschwingtes, stellenweise vielleicht etwas weitschweifiges Sonatenallegro in Es-Dur, das um 1815 entstand und von seinem Herausgeber Boris Dobrochotow zur Aufführung eingerichtet wurde. Vollendet ist dagegen das zweite Trio in a-moll, das die CD auf 1834 datiert, womöglich aber schon früher entstand, vermutlich in den frühen 1820er Jahren. Ein Werk in den klassischen drei Sätzen mit einem kurzen, schwärmerischen Adagio-Mittelsatz und einem Finalrondo mit einem Hauptthema, bei dem es sich gut um ein Volkslied handeln könnte.

Auch der bereits angesprochene Michail Glinka (1804–1857) ist auf dieser CD vertreten, und zwar mit seinem Trio Pathétique in d-moll, eigentlich ein Werk für Klavier, Klarinette und Fagott, das der tschechische Geiger Jan Hřímalý für Klaviertrio eingerichtet hat. Es handelt sich dabei um ein noch recht frühes Werk aus dem Jahre 1832 in vier kurzen, ineinander übergehenden Sätzen, wobei das Finale den Kopfsatz wieder aufgreift. Die Titulierung „Pathétique“ spiegelt sich in der zwar gelegentlich aufgelockerten, aber tendenziell doch dunklen, leidenschaftlichen Grundstimmung wieder. Einen nationalrussischen Tonfall wird man in dieser Musik (noch) vergebens suchen, stattdessen verströmt das Trio mitunter deutlich stärkeren Beethoven’schen Impetus als Aljabjews Trios, zum Beispiel in den wuchtigen Unisono-Eingangstakten. Vielleicht noch prägender ist der Einfluss italienischer Oper (nicht umsonst entstand das Trio während eines längeren Italienaufenthalts), was der Musik einen effektvollen, im besten Sinne theatralischen Anstrich verleiht, etwa in arienhaften Solopassagen, dem zuweilen orchestral anmutenden Klavierpart und einer gekonnten dramatischen Kulmination am Schluss. Dabei ist das Finale insgesamt wohl der schwächste Satz, wirkt die Wiederaufnahme des Kopfsatzes doch arg gedrängt und verknappt. Insgesamt ist dieses Trio jedoch ein beachtliches Werk, und auch das Arrangement für die herkömmliche Klaviertrio-Besetzung funktioniert tadellos.

Das letzte Werk auf dieser CD stammt von Anton Rubinstein (1829–1894), der sich insbesondere als Klaviervirtuose und Organisator (er war u.a. erster Direktor des St. Petersburger Konservatoriums) einen Namen machte. Als Komponist steht Rubinstein im Schatten Tschaikowskis und der Gruppe der Fünf, und tatsächlich stehen in seinem Schaffen Quantität und Qualität nicht immer im besten Verhältnis. Das betrifft nicht nur den recht großen Umfang seines Œuvres, sondern auch manche Werke selbst, die zum Teil deutliche Längen aufweisen und nicht immer gleich inspiriert sind. Deshalb sollte man aber nicht den Komponisten Rubinstein in toto abschreiben, denn selbstverständlich kann auch ein wechselhaftes Schaffen Lohnenswertes bieten.

Von seinen fünf Klaviertrios hat das Brahms-Trio das zweite ausgewählt, ein Werk aus dem Jahre 1851 (Rubinstein komponierte bereits in jungen Jahren sehr ausgiebig). Diese Wahl erscheint gelungen, denn zum einen passt dieses Trio in seiner passionierten Art gut zu Glinkas Trio Pathétique (und im weiteren Sinne auch zu Aljabjews a-moll-Trio), und zum anderen zeigt es den Komponisten von seiner besten Seite. Zu jener Zeit orientierte sich Rubinstein vor allem an der deutschen Romantik, insbesondere Mendelssohn, und diese Einflüsse sind auch hier unverkennbar. Dabei gelingt ihm ein atmosphärisch dichtes, leidenschaftliches Werk, das auch melodisch einiges zu bieten hat – man beachte den wiegenden Beginn in Violine und Cello oder das zweite Thema des Kopfsatzes. Wie man es von einem Pianisten erwarten würde, ist das Klavierpart des Trios prachtvoll und virtuos, ohne dass deshalb aber die Streichinstrumente an den Rand gedrängt würden. Im Vergleich zu der ungefähr zeitgleich entstandenen Ersten Sinfonie ist das Trio das erheblich interessantere Werk – vielleicht ein Indiz dafür, dass im Falle Rubinstein besonders die Kammermusik Beachtung verdient.

Die Interpretationen des Brahms-Trios sind insgesamt ordentlich, aber mit Einschränkungen, die je nach Werk unterschiedlich ins Gewicht fallen. Generell fällt auf, dass sich das Trio bei der Interpretation gewisse Freiheiten erlaubt, etwa was Dynamik, Tempogestaltung und manchmal auch Kleinigkeiten im Notentext selbst erlaubt. Aljabjews a-moll-Trio interpretiert das Brahms-Trio dezidiert verhalten-melancholisch, auch leise (im Wortsinn). Besonders augenfällig ist dies natürlich, wenn in den Ecksätzen die Schlussakkorde dynamisch zurückgenommen werden, aber auch sonst wird so manches Forte eher zum Piano umgedeutet. Im A-Dur-Couplet des Finalrondos beginnt das Klavier eine Oktave höher als notiert, was der Musik einen zart-delikaten Anstrich verleiht. Freilich wirkt eine solche Darbietung tendenziell kontrastarm, was durch die Wahl der Grundtempi (in den Ecksätzen eher langsam, im Adagio eher schnell) verstärkt wird. Bis zu einem gewissen Grad ist dies Geschmackssache; einen deutlich anderen Ansatz bietet z.B. die Aufnahme mit Emil Gilels am Klavier von 1952, die temperamentvoller, manchmal vielleicht etwas zu forciert erscheint. Insgesamt ist die Auslegung des Brahms-Trios aber stimmig und verleiht der Musik Charakter, mehr als in der „korrekteren“, aber etwas blassen Einspielung des Borodin-Trios auf Chandos. Erste Wahl für beide Trios bleibt für mich indes die Aufnahme des Beethoven-Trios Bonn bei CAvi: im Vergleich zum Brahms-Trio musizieren die Bonner noch etwas flexibler, beredsamer und beseelter, was auch dem Es-Dur-Fragment sehr gut bekommt.

Ähnlich verhält es sich mit der Einspielung von Rubinsteins Trio Nr. 2, wobei in diesem Fall offenbar nur eine Vergleichseinspielung im Rahmen der Gesamteinspielung von Rubinsteins Trios durch das Edlian Trio existiert (Metronome). Mir liegt diese Aufnahme nicht vor, aber so weit ich informiert bin, wurden dort zahlreiche Kürzungen vorgenommen, die sich anscheinend auf rund fünf Minuten Musik summieren. Nun gibt es sicherlich Werke von Rubinstein, denen gewisse Straffungen nicht unbedingt schlecht bekämen. Das gilt aber nicht für dieses Klaviertrio, das mit 30 Minuten ohnehin nicht außergewöhnlich umfangreich ist. Insofern bietet das Brahms-Trio sogar die einzige Möglichkeit, das Werk in Gänze kennenzulernen (wobei die Expositionswiederholungen wie in allen Werken auf dieser CD ausgelassen werden), und dies in einer insgesamt überzeugenden Interpretation. Erneut fällt allerdings insbesondere auf, dass das Trio dazu neigt, Forte-Passagen deutlich abzuschwächen. Dies erscheint teilweise durchaus sinnig, aber spätestens im Finale, das in mancher Hinsicht einen Kulminationspunkt darstellt (mit kurzer Reminiszenz an den langsamen Satz kurz vor Schluss, Letzterer anders als in den übrigen drei Sätzen in Moll) geht auf diese Weise doch einiges an Dramatik und Verve verloren. Ein besonders extremes Beispiel ist die Passage von 3:13 bis 3:33, in der eigentlich durchgängig Forte vorgeschrieben ist und die Akkorde in den Streichern gestrichen (und nicht etwa gezupft) werden sollten.

Solche Abweichungen vom Notentext kommen in der Einspielung von Glinkas Trio Pathétique nicht vor (sieht man einmal von einer leichten Rhythmusänderung bzw. Synkopierung im zweiten Thema das Kopfsatzes ab), aber ein Blick in die Partitur zeigt, dass (zu) viele Details in Dynamik und Artikulation übergangen werden. So sollte sich beispielsweise die Dynamikspanne in der Violine im ersten Satz zwischen 3:30 und 4:20 vom Pianissimo bis zum Forte erstrecken, was in der vorliegenden Einspielung höchstens ansatzweise realisiert wird. Hier liefert das Borodin-Trio auf Chandos eine sorgfältiger ausgearbeitete und in der Konsequenz spannungsreichere Darbietung.

Die Aufnahmetechnik ist gut, aber das Cello steht teilweise etwas zu sehr im Vordergrund (z.T. Streichgeräusche an den lauteren Stellen). Das Beiheft ist eher knapp, aber informativ. Insgesamt ein interessantes Projekt mit alles zusammen ordentlichen bis guten, aber nicht herausragenden Interpretationen einschließlich der besagten Eigenarten.

[Holger Sambale, Januar 2021]