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Die Musik Ludwig van Beethovens

Gegenüber dem Wiener Konzerthaus steht auf dem Beethovenplatz das Beethoven-Denkmal. Noch Mitte der 1970er Jahre waren dort Passanten zu beobachten, die im Vorübergehen kurz Halt machten, den Hut zum Gruß zogen und sich vor dem Denkmal verneigten. In den eisfreien Monaten fanden an lauen Abenden auf dem dem Konzerthaus benachbarten Gelände des Wiener Eislaufvereins gelegentlich Boxkämpfe statt, die sich bei den Konzertbesuchern großer Beliebtheit erfreuten, so dass es nicht einfach war, in der Konzertpause einen Platz am Fenster zu ergattern.

Gestern war der 200. Geburtstag der 9. Symphonie von Beethoven. Nirgendwo auf der Welt gibt es ein Nichtverstehen, wenn man in gleich welcher Sprache „Die Neunte“ sagt; es ist dieses Werk so stark und so tief in das kulturelle Gedächtnis der Menschheit eingedrungen, dass es zur größten Legende der Musik werden konnte. Niemand auf der Welt kennt zumindest die Melodie des Finales nicht, niemand vergisst, wenn er oder sie dabei waren, und sei es an den Fernsehschirmen oder Rundfunkgeräten, wenn die Symphonie zu besonderen Momenten erklang, wie als die Berliner Philharmoniker und das jetzige Berliner Konzerthausorchester mit den entsprechenden Chören und Leonard Bernstein den Fall der Mauer in Berlin mit einer schönen Textänderung („Freiheit, schöner Götterfunken“) feierten, und nicht wenige werden sich auch an die ausgiebigen Möglichkeiten zum Missbrauch erinnern, Hitler und Stalin ließen sie sich gerne vorspielen. Man darf davon ausgehen, dass der Schlussakkord, wenn auch kaum wahrnehmbar, sensiblen Ohren dabei jeweils als Fragezeichen erklingen musste. Unter „politisch verdächtig“, wie Thomas Mann sein alter ego im Zauberberg warnen lässt, fällt sie trotzdem nicht, unsere Neunte, sie ist aber nicht aus sich heraus gegen Missbrauch gefeit, und daher immer wieder zu Recht Gegenstand skeptischer Betrachtung, der man es nachsehen möge, wenn sie über das Ziel hinausschießt und die Neunte per se als faschistisch beurteilt.

Sie ist also längst ein Menschheitssymbol, das über jeden Rahmen, den man ihr gibt, hinausweist, ein Werk, das alles verkörpert, was in der Musik im selben Maße groß und gefährdet ist. Diesen nicht auflösbaren Widerspruch hat der italienische Schriftsteller, Maler und Komponist Alberto Savinio (1891-1952) in diese Worte gefasst:

Auf dem A-a-a beruhten die Kantaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Diese helle Musik. Diese gebäudeartige Musik. Diese Musik, die aus Freitreppen, Säulen, Akroterien besteht. Diese Musik, die nichts aussagt. Nicht weil sie nichts zu sagen hätte, sondern weil sie ihren zivilisatorischen Verpflichtungen nachkommt. Die „zivilisierte“ Musik beginnt jenseits der Bedeutungen. Die Musik, die etwas aussagt, die tiefschürfende Musik, ist Barbarenmusik. Nur ein Barbar kann sich die extreme Taktlosigkeit erlauben, die Musik mit seinem Herzen, seinem Hirn, seiner Seele zu befrachten und das leichte, luftige, ungreifbare Gerüst der Musik zu zwingen, diese Last zu tragen. Dennoch ist es eine süße Verlockung, barbarisch zu sein! Und noch dazu einfacher, eindrucksvoller und gewinnbringender!

In diesem Sinne ist Die Neunte zivilisatorisch als Musik jenseits der Bedeutung, andererseits beruht ihre fragile Stellung darauf, dass sie eine Einladung zur außermusikalischen Interpretation, also unmittelbaren Überfrachtung, enthält. Damit läuft sie Gefahr, dass sie mit Bedeutungen überladen wird, die sie letztlich banalisieren. Doch ist sie stark, und so vergeht dieser eine Aspekt jeweils zeitgebunden, der zivilisatorische Aspekt gehört aber der Zeitlosigkeit und überlebt sicher auch die nächsten 200 Jahre.

Die weltweiten Feierlichkeiten waren also angebracht, so dass mutmaßlich jedes Orchester der Welt, gestern, oder zumindest in dieser Woche, die Neunte aufgeführt hat.

Auf dem TV-Kanal Arte hatte man sich dafür etwas Besonderes einfallen lassen, eine im Ganzen sympathisch gelungene Idee, ein europäischer Abend, nämlich jeden der vier Sätze aus einem anderen Konzertsaal Europas zu senden, jeweils zwischen den Sätzen übergeleitet durch Barbara Rett vom ORF und Christian Merlin von Radio France: kurz genug, um nicht zu stören und für das breite Publikum ausreichend informativ. Das Ganze kontrastierte dazu hübsch mit dem parallel stattfindenden Halbfinale der Champions League zwischen Paris und Dortmund.

Der erste Satz erklang aus dem Leipziger Gewandhaus, wo das Gewandhausorchester unter seinem Chefdirigenten Andris Nelsons zu erleben war. Es war bedrückend, mit ansehen zu müssen, wie Nelsons mit bemühter Mimik ein paar dynamische Äußerlichkeiten forcierend das Orchester zu einer irritierenden Stumpfheit im Klang und nur zu glanzlosem musikalischen Ausdruck brachte.

Sicher, das Orchester spielte hervorragend, und zeigte seine technische Klasse und musikalische Routine, aber ist das wirklich alles, was die Leipziger als eines der führenden und traditionsreichsten europäischen Orchester bereit sind, für eine Neunte zu diesem Anlass aufzubieten? Spielen wir bei Beethoven denn nicht immer in jedem Moment um unser Leben und unsere Würde als Menschen, Prometheus und Zeus in einem?

Das ist es doch, was Beethoven von uns verlangt, nie lässt er uns los, nie gönnt er uns eine Verschnaufpause von der Freiheit, und nichts ist so fordernd für Ausführende, wie seine Musik. Es existiert das obige Photo aus dem 2. Weltkrieg, wo ein einzelner Geiger im Kreis von in den Krieg ziehenden sowjetischen Soldaten musiziert. Die seelische Intensität des Spiels und des Hörens sind fast mit den Händen zu greifen. Der Titel, den der Photograph dem Bild gegeben hat: „Die Musik Ludwig van Beethovens“. Aber das?

Das zu spielen, was in der Partitur steht, reicht nun einmal nicht. Der erste Satz ist doch ein Stück Musik wie es dramatischer kaum sein kann, mit seiner gnadenlosen Stringenz und Unerbittlichkeit, selten in eine Helligkeit führend, und mit einer Reprise des ersten Themas, die so gar nichts von Rückkehr, dafür mehr etwas von Apokalypse hat. Wo ist das alles geblieben? Nichts davon ist entstanden, der einzige Lichtblick war das parallel in Paris von Mats Hummels geköpfte 1:0, das, während in Leipzig nichts geschah, im Liveticker aufblinkte.

Es geht nicht darum, dass hier eine Interpretation, bzw. die Absicht zu einer gewissen Art der Darstellung danebengegangen ist, nein, rein gar nichts ist passiert, als wenn es um nichts ginge, trist war es, kein Wille vorhanden, sich mit der Wucht von Beethovens Musik zu verbinden.

Die Gründe dafür sind der Spekulation überlassen, aber vielleicht hat den Dirigenten Andris Nelsons bereits das Schicksal ereilt, das den jungen Dirigenten und Dirigentinnen, die jetzt schon Stars der Szene sind oder bald zu solchen werden, erfahrungsgemäß in den meisten Fällen bevorsteht: dass früh überspannt einfach keine Entwicklung stattfand oder stattfindet; zu jung und zu viel in wichtigen Positionen zu dirigieren, von Pult zu Pult hetzend, mindestens zwei internationalen Klangkörpern als Chef vorzustehen, und von der Karriere und der Musik, die nicht mit sich spaßen und am Ende doch nicht alles mit sich machen lässt, zerrieben zu werden. Musik ist aber eine zu ernste Sache, und es ist erschütternd, einen einst inspirierenden Dirigenten so matt sehen zu müssen.

1:0 für Beethoven, der Ball rollte am Torwart vorbei ins Netz.

Viele besorgte und wohlmeinende Musikliebhaber und Musikliebhaberinnen sorgen sich auch um die Zukunft von Jungstar Klaus Mäkelä, der so vielen Orchestern verpflichtet ist, dass es müßig ist, sie hier aufzuzählen. Ihm und dem Orchestre de Paris fiel der zweite Satz der Neunten zu. Der Beginn des Satzes stand unter großem juvenilem Druck zur Rasanz, zu dem vor allem junge Dirigenten sich verpflichtet fühlen, und wie es auch dem Image entspricht, das das Publikum erwarten mag. Energie bedeutet aber auch in Form rasanter Bewegung noch nicht musikalische Kraft, und so hat das Orchestre de Paris für die ersten vier Takte den cartoonesken Klang einer alten Langspielplatte, die auf der 45er-Geschwindigkeit abgespielt wird. Dieser zugegebenermaßen boshafte Eindruck verflüchtigte sich schnell auf hervorragende Weise hinweggefegt durch das unglaublich präsente, artikulierte und perfekt funktionierende Orchestre de Paris, als es dem Beginn sofort die aufgesetzte Schärfe nimmt und den kontrapunktisch verzwickten Satz geistig äußerst präzise und beweglich in die Hand, und damit in einer für Orchester in solchen Momenten typischen Dynamik dem Dirigenten unmerklich aus der Hand, nimmt.

Es ist eine erstaunliche, hochprofessionelle Orchesterleistung, die der Dirigent aber nicht wahrzunehmen schien, seine fast einfältige Gestik ist der Sache Beethovens und des Orchesters nicht dienlich; er eilt frisch und talentiert ins Nirgendwo, und dem Orchester ist es zu verdanken, dass am Ende keine Karikatur herauskommt, sondern der Neunten ihre Würde nicht genommen wird.

Mäkelä, der absolute Jungstar der Abteilung für Popkultur der klassischen Musik, wird sicherlich bald vom nächsten Jungstar verdrängt, und er beginnt bereits, sich selber zu kopieren. Frei nach dem jüngst verstorbenen César Luis Menotti zählt aber im Fußball, so auch in der Musik, nur der Augenblick, und an diesem scheitern alle, die das Risiko der Zerbechlichkeit der eigenen Freiheit im Zusammenspiel der Kräfte nicht eingehen. Bei allem Talent ist, sei es durch zu viel Arbeit oder mangels künstlerischen Eigenbedarfs, schon jetzt das Ausbleiben einer weitergehenden musikalische Entwicklung bei Klaus Mäkelä absehbar.

Er ist auch nicht der erste Dirigent, der schon so früh in der Karriere einen Mangel an künstlerischer Perspektive zeigt; ein Schicksal, vor dem man jeden und jede nur warnen kann, über der Glattheit und dem Strahlen des Erfolges nicht zu vergessen, worum es eigentlich geht. Künstlerische Stagnation kann nicht lange über die Leere und eigentliche Bedeutungslosigkeit des ersten, genialisch-talentbasierten Schwungs der Karriere hinwegtäuschen. Das ist vielleicht alles nur mit einer tiefen Ratlosigkeit des Musikbetriebs zu erklären, für den die Position des Orchesterchefs, bzw. der Orchesterchefin, keine vorwiegend künstlerische, sondern mehr repräsentative Bedeutung hat. Damit rutscht die Hauptarbeit zu den Orchestern, die dabei auf ganz andere Weise über sich hinauswachsen, als dies ursprünglich gedacht war, nämlich trotz, nicht wegen eines Dirigenten, bzw. einer Dirigentin.

2:0 für Beethoven durch ein scharf geschossenes Eigentor.

Nur Narren interessieren sich für Geburtsdaten, sagte, um noch etwas bei den Fussballweisheiten zu verweilen, einst Otto Rehagel. Den Beweis trat im dritten Satz der musikalisch gereifte Riccardo Chailly am Pult des Orchesters der Mailänder Scala an. Langgediente Orchestermusiker und Orchestermusikerinnen kennt man mit der für Laien oft seltsam anmutenden Bemerkung: wenn jemand die Arme hebt, wissen wir schon, wie es klingt. Dieses in seiner besonderen Schönheit eigenartige Phänomen war bei Riccardo Chailly zu bestaunen. Mit dem Heben der Arme war die Musik vorbereitet, die im Begriff war zu erklingen, und man wusste, was kommen und wie schön es sein würde.

Der dritte Satz wird als die eigentliche Herzkammer der Neunten geschätzt, und die von Chailly sorgsam geführte cantabilità des Orchesters war der ideale Boden, auf dem dieser Satz seine Noblesse entfalten konnte. Die natürliche Selbstverständlichkeit des Dirigats stellte die vorhergehenden Darbietungen nicht nur in den Schatten, sondern ließ sie vergessen. Beim Forte-Höhepunkt gegen Ende des Satzes war mit leichtem Schmunzeln eine Italianità, eine opernhafte Gestik und Ahnung der Fidelio-Trompete wahrzunehmen, was angesichts der schönen Tradition des Hauses nicht nur verzeihlich sondern herzlich angemessen war.

Anschlusstreffer nach einem eleganten Freistoß, nur noch 2:1 für Beethoven.

Für den vierten Satz wurde in das Wiener Konzerthaus umgeschaltet. Hätte es niemand angesagt, so hätte es trotzdem jeder bemerkt, als schon kurz nach dem Beginn, an der ersten lyrisch geeigneten Stelle, in einer typisch österreichischen Kameraeinstellung, wie sie die Welt vom Neujahrskonzert kennt, ein goldfarbenes Ornament im Saal in Großaufnahme gezeigt wurde, aus dem zu den Musikerinnen und Musiker der Wiener Symphoniker übergeblendet wurde.

Den vierten Satz gaben also die Wiener Symphoniker unter Petr Popelka, ihrem designierten Chefdirigenten, der für die erkrankte Joana Mallwitz eingesprungen war, ergänzt durch die Wiener Singakademie (Einstudierung: Heinz Ferlesch), sowie das Solistenquartett Rachel Willis-Sørensen, Sopran, Tanja Ariane Baumgartner, Alt, Andreas Schager, Tenor, und Christof Fischesser, Bass.

Der Satz startete furios, ein vital-musikantischer Popelka dirigierte das atemverschlagende Presto auf drei und nahm ihm so den klassischen Charakter und Sinn im Widerspurch zu den Anweisungen der Partitur, was die Aufführung sofort mit einer übermotiverten und wilden Zugriffslosigkeit bezahlte, die die Vordergründigkeit dieses Ansatzes bloßstellte. Wann setzt sich endlich die Erkenntnis durch, dass auch die dramatischste Musik Beethovens kein Theaterdonner ist?

So gestartet, sangen die Celli schön und ausdrucksvoll das Recitativo, das aber eigentlich auch den Bässen gehört. Nun kann man im Fernsehen natürlich nicht sagen, ob die Tonregie hier die Mikrofone falsch eingestellt hat, oder die klangliche Disposition auf der Bühne verantwortlich ist, aber schade ist es schon, wenn hier nicht die stärkste aller Oktaven im Orchester als Ganzes erklingt. Ganz entschieden wird hier vom Dirigenten viel gewollt und Energie eingesetzt; Gestaltungswille wollte präsentiert werden, aber musikalische Kraft erschien abermals nicht. Das große Freuden-Thema, als es endlich an der Reihe war, erklang zwar wie vorgeschrieben in kaum hörbarem pianissimo, das aber als lokaler Effekt verpuffte, da es am cantabile und damit der folgenden Kontinuität des dynamischen Aufbaus fehlte. Das sind ärgerliche Details; die Wiener Symphoniker sind aber, wenn sie einmal wollen, ein prachtvolles, herrlich klingendes Orchester, das nun die musikalische Initiative übernahm und den Ruf der Musikstadt rettete.

Die Solisten, zur besseren Sichtbarkeit auf einem Balkon über dem Chor platziert, verdienen auch Erwähnung, alles war ordentlich gesungen, ebenfalls mit einer gewissen, vor allem mimischen, Übermotivation, und so gehorchte auch dieser Teil der Aufführung keinen rein musikalischen Kriterien. Der Chor sang brav, war aber zu technisch eingestellt, als dass er musikalisch hätte überzeugen und klingen können, zudem waren Intonationsprobleme, wie sie hier einfach nicht vorkommen dürfen, unüberhörbar, und die oft ungesanglich abgehackte Diktion diente keiner auf die Musik anwendbaren Deutlichkeit – sei’s drum, es war alles wunderbar, schwungvoll, vital, schön, hingerissen, und leider ein wenig bedeutungslos. Der unwiderstehliche Schluss ließ rauschend-jubelnden Beifall aufbranden.

Lehrreich war das Konzert: Nelsons, Mäkelä und Popelka zeigten dem Publikum jeder auf seine Weise, was es bedeutet, der Oberfläche der Musik auf den Leim zu gehen und sie als eine Abfolge von Effekten misszuverstehen. Chailly hingegen ließ seinen Teil als einen Bezug zwischen Momenten entstehen, das zu einem Ganzen führt. Das höchste Lob aber gilt den Orchestern, die sich dem Klein-Klein souervän überlegen zeigten, jene zusätzliche Anstrengung, die den Mailändern erspart blieb.

Endstand: 3:1 für Beethoven, und in summa 2:0 für Dortmund.

Dem Sender Arte ist mit diesem Konzert für eine erhellende Erinnerung an etwas ebenfalls Fragiles zu danken, das, als geistiges Phänomen („Europa ist ein großer Gegenstand, viel größer als seine Kriege,“ schrieb Heinrich Mann) ebenso wie die Neunte nur im Augenblick seiner immer neuen Entstehung existiert. Dazu mit weiteren Worten Alberto Savinio:

Der Begriff Europa kann nicht mit geographischen Grenzen umschrieben werden. Er überschreitet (sie) und dehnt sich überallhin aus, wo sich die europäische Lebenssituation wiederholt, das heißt die Möglichkeit einer geistigen Einheit mehrerer durch gleiche kulturelle und moralische Ideen verbundener Völker.“

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Anm.: Die Zitate sind dem Band „Mein privates Lexikon“ von Alberto Savinio, erschienen in der Anderen Bibliothek, Eichborn Verlag Frankfurt (2005), entnommen. Für das verwendete Photo kann vorläufig weder der Photograph noch das Copyright genannt werden. Hierfür wird um Nachsicht gebeten.

[Jacques W. Gebest, 8. Mai 2024]

Barbiturat Bruckner

Deutsche Grammophon 2018, 479 7577; EAN: 028947975779

Anton Bruckner: Sinfonie No. 4 Es-Dur, Richard Wagner: Vorspiel zu „Lohengrin“: Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons (Leitung)

Die Einspielung wirft gleißendes Licht auf die großen Unterschiede zwischen beiden Herren Bruckner und Wagner als Schreiber von Tönen.

So zwingend Wagners mit dem Klang gedachte Konzepte wie von selbst sich verwirklichen, legte der Oberösterreicher Spuren eines „so-könnte-es-werden“. Die Architektur, bzw. deren skizzenhafte Erahnung, bedarf einiger Empathie für die Ausgestaltung der großen Lücken und eines grundsätzlichen Reflektierens über Chancen ihrer Dramaturgie und ihres möglichen Scheiterns.

Kurz und um:

Wagners Musik zu verhunzen, indem man sie mit einem hervorragenden Orchester nur austaktiert: kaum möglich. Denn diese „Kapellmeister“-Musik – also von Grund auf von den praktischen Möglichkeiten des Ensembles gedacht (und weit darüber hinaus ideell) – erzwingt das Drama.

Bruckner rammt Pfeiler in einen vagen Untergrund – weit auseinander –, verlangt, dazwischen Seile und Sinn zu spannen. Brücken und Bögen zu bauen, wo nackte Noten stehen. Da muss viel geschehen, dass die kleinen Tropfen der Anfangstakte einen sinnhaften Weg zur Mündung des finalen Es-Dur Akkordes erleben.

Hieße Bruckner mit Vornamen „Baldrian“ – hätte er die Fragmente seiner Welt unter dem Einfluss wahrnehmungsverzögernder Substanzen erfunden –, dann wäre diese Aufnahme exemplarisch. Allerdings tauchen an der These Zweifel auf: gelang es in vergangenen Zeiten, Ausführenden von Philadelphia und Berlin bis München, uns Späteren Aufführungszeugnisse zu hinterlassen, die noch heute staunen – ob deren Spannungsgeladenheit – und… sprachlos machen.

Nelsons arbeitet sich Takt für Takt vor: vertrauend auf das ihm folgende, fabelhafte Orchester. Buchstabiert auf’s Kleinste und entlang notierter Zeichen richtig. Und es ereignet sich: nichts….

Kürzer und ümmer:

die Frage – weshalb noch eine Dokumentation so oft eingespielter Musik, wo nichts weiter vor sich geht als spannungsfrei aufgereihte Noten?

Aber wie das Orchester spielt! Sensible Streicher stützen das nie verdeckende oder dicke Blech. Herausgehoben die Holzbläser, deren silbrig-schimmernder Klang in Wagners Werk stimmig mit allen Musizierenden Schwanenritterwunderwelt wahr werden lässt!

[Stefan Reik, Juli 2018]

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