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Diese Kammermusik ist dreidimensional!

Nathanael Carré geht seinen eigenen Weg, wenn er seine Lieblingstücke für das Ensemble Nuanz neu arrangiert

Der Flötist Nathanael Carré holt unverbrauchtes, seltenes Repertoire aus der Versenkung und taucht scheinbar bekanntes in leuchtende Farben eines virtuosen Neuarrangements. So hat er aus den Klavierparts der Kompositionen von Gabriel Fauré, Jean Francaix, Jacques Ibert, aber auch selten gespielten Stücken von Georges Hüe, Paul Taffanel, André Jolivet oder Francois Borne etwas neues gemacht, nämlich kunstvoll differenzierte Orchestrierungen für das hellhörig aufspielende, von ihm im Jahr 2015 gegründete Ensemble Nuanz. Vereint sind hier die beiden Geiger Evgeny Popov und Alexander Jussow, Jan Melichar und Robin Porta an den Violen, der Cellist Jan Pas sowie Stefan Koch-Roos am Kontrabass.

Carrés profunden Erfahrungen als Orchestermusiker und Dirigent ist zu verdanken, dass er die einstigen Klavierparts in wirkungsvolle orchestrale Dimensionen hinein ausgeweitet hat. Alleinstellungsmerkmale finden, Klischeevorstellungen konterkarieren: Das ist die Devise des jungen Franzosen, der gerne mal das Spezialistentum von Wettbewerbsjurys fröhlich ignoriert und sich stattdessen über Crowdfunding-Kampagnen des Publikumserfolges und über seine Unabhängigkeit versichert. Auch über eine aufgeklärte künstlerische Haltung sprach er mit Stefan Pieper.

Herr Carré, Sie haben gerade ein sehr ungewöhnliches Video veröffentlicht. Sie öffnen Ihren Flötenkoffer und entnehmen ihm Farbe und Pinsel, beginnen zu malen. Welche Farben wollen Sie mit dem Repertoire dieser CD kreieren?

Das Ziel war, zu zeigen, dass die Palette französischer Musik viel breiter als Debussy und Ravel ist. Hier gibt es doch so viele Klischees, die dringend überwunden werden müssen. Ich musste sogar die Erfahrung machen, dass selbst manche Wettbewerbsjury von Klischees dominiert ist: Als ich dort mal die Sonate von Poulenc spielte, wurde mein Spiel abqualifiziert, der dritte Satz höre sich „unschön“ und wie Straßenmusik an. Aber genau darum geht es doch hier! Nicht alles, was aus Frankreich kommt, klingt wie Daphne oder Syrinx. Viele Menschen glauben, französische Musik ist wie Chanel Nr 5. Georges Hüe kennt doch auch kaum jemand, aber es ist eine berückende Musik. Oder betrachten wir André Jolivets „Fantaisie Caprice“ – dieses Stück baut auf einer modalen Skala auf, die von der balinesischen und afrikanischen Musik dominiert ist.

Sämtliche Stücke der neuen CD sind im Original bzw. ihrer Ursprungsversion für Soloflöte und Klavier geschrieben. Was für neue Aspekte wollen Sie aus den Kompositionen heraus holen, wenn Sie sie einem Streichensemble auf den Leib geschrieben haben?

Ich wollte den Rahmen ausweiten. Sechs Streichinstrumente erzeugen viel mehr Dynamik. Entsprechend entfaltet sich das Stimmengeflecht der Kompositionen noch weiter. Außerdem wird das Gefüge reicher, weil auf einmal sechs Menschen ihre ganze Sichtweise in die Sache einbringen.  Alles wird transparenter und damit einfacher, die Musik als Ganzes zu verstehen. Die Linien werden weiter ausdifferenziert. Jeder kann musikalisch seine Phrase gestalten und ein größeres Ganzes kreieren, wo jede Stimme ihre Kraft hat. Mein Dank gilt nicht zuletzt meiner Frau, die mich zur Verwirklichung der Idee dieses französische Repertoire neu zu arrangieren ermutigt hat!

Herr Carré, kann es sein, dass Sie in der schnöden Konnotation des Klavierparts als Begleitung eine Diskriminierung sehen?

Musik wird erst lebendig, wenn man aus einer rigiden Rolle heraustritt. Wenn ich verantwortungsvoll musiziere, dann fokussiere ich mich ja auch nicht auf meine eigene Solostimme, sondern konzentriere mich vor allem auf meinen Gegenpart. Schon meine Mutter, bei der ich die ersten musikalischen Gehversuche machte, hat mich immer aufgefordert, bei Lernen eines Stückes auf den Klavierpart zu hören. Wer dieses Prinzip wirklich ernst nimmt, kann viel tiefer in die Musik eintauchen. Umso mehr wird das Ganze erfahrbar und es gelingt, den Sinn des Komponisten weiterleben und sprechen zu lassen.

Also ist Musizieren für Sie vor allem eine Kunst des Zuhörens?

Ich möchte mit meiner Energie und Persönlichkeit alles entfalten, was in der Musik enthalten ist. Musizieren hat immer etwas mit höchster Aufmerksamkeit zu tun und ist ein Spiel mit der Energie der anderen Musikern und des Publikums. So kann jedes Konzert einzigartig werden. Durch diese Symbiose können tiefe Emotionen erreicht werden.

Wie wird Ihr eigenes Spiel durch die erweiterte Besetzung beeinflusst? Was ist anders, als wenn Sie mit einem Klavier zusammen musizieren?

Diese Neuarrangements sind eine sehr komplexe Kammermusik geworden. Jede Stimme ist anders. Es gibt keine Wiederholungen. Ebenso muss ich kräftiger spielen, wenn ich sechs Instrumenten gegenüber stehe. Außerdem muss ich dirigieren phasenweise. So etwas braucht im Konzert deutlich mehr Energie. Meine Aufmerksamkeit ist überall gefordert. Diese Kammermusik ist dreidimensional.

Der Klassikmarkt ist übersättigt mit viel Standard-Repertoire, das sich wiederholt. Wenn Sie hier etwas neues anbieten, ist es schwer, sich damit öffentlich durchzusetzen?

Ich habe mich immer sehr frei gefühlt und es geht mir einfach nur darum, etwas Gutes und Interessantes anzubieten. Es muss nicht unbedingt bekannt sein dafür. Für meine Debüt-CD habe ich zum Glück ein Label gefunden, dass sehr offen für ungewöhnliche, zugleich hochqualitative Projekte ist. Das Publikum war bisher sehr begeistert. Warum soll ich etwas aufnehmen, was schon viele andere aufgenommen haben? Wenn es um Standardrepertoire geht, kaufen die Leute doch von vornherein die Einspielung mit dem prominenteren Namen. Da konzentriere ich mich lieber auf eigene Projekte, die mir Spaß machen und finde meine eigene Richtung. Nur so kann ich eine echte künstlerische Persönlichkeit entwickeln. Dieses Projekt liegt mir auch besonders am Herzen, und ich wollte davon eine Spur in der Musikwelt hinterlassen.

Es wird ja überall getönt, dass die CD tot ist. Warum produzieren Sie und alle Ihre Kollegen weiterhin so viele CDs?

Allein, weil es ohne CD schwer ist, Konzerte zu bekommen. Man muss einfach eine CD machen! Sie ist und bleibt ein Türöffner.

Welche Rolle haben Wettbewerbe für Ihre Karriere gespielt?

Als Student hatte ich den Wunsch, internationale Wettbewerbe zu machen. Sie werden als einfache Autobahn zum Erfolg angesehen. Wer einen Wettbewerb gewinnt, bekommt ein paar Konzerte und kann oft kostenlos eine CD aufnehmen. Ich selbst bin aber kein Wettbewerbstyp – mein Profil deckte oft nicht die Vorlieben der ganzen Jury ab. Deswegen musste ich einen anderen Weg finden: So habe ich eine Stelle im Orchester bekommen und mich weiter als Künstler entwickelt. Das hat meine Kreativität und Unabhängigkeit gestärkt.

Sie gehen aktuell einen sehr modernen Weg, um sich über Crowdfunding ein Feedback über den eigenen Publikumserfolg einzuholen. Wie kam es dazu?

Das hatte erstmal rein praktische Gründe. Für dieses Projekt brauchte ich eine finanzielle Unterstützung. Es ist auch eine interessante Möglichkeit, das Interesse an meinem Projekt zu prüfen – obwohl ich schon sehr sicher über den Wert meiner Arbeit war. Aber ich bin sehr dankbar, dass mich so viele Leute übers Netz und darüber hinaus privat unterstützt haben.

Das Grundprinzip ist ja einfach: Es geht darum, Menschen zu überzeugen. Keine Spezialisten-Jury, sondern ein Publikum.

Ich habe mich immer um eine gute Vernetzung mit vielen Menschen bemüht. Und gerade, weil ein  Crowdfunding viel Netzöffentlichkeit herstellt, ist es ein guter Weg, an mehr junges Publikum heran zu kommen. Das Prinzip einer solchen Präsentation ist es, ein konkretes „Produkt“ anzubieten und dafür Begeisterung zu wecken. Natürlich ist es wichtig, mit künstlerischer Qualität zu begeistern und nicht mit kommerzielle Methoden.

Was muss ein gutes Produkt ausmachen?

Wir leben in einer Zeit, in der neue Erfahrungen wichtig sind. In jeder Werbung werden diese „neuen Erfahrungen“ ja auch versprochen. Man muss aber zugleich etwas hervor bringen, was qualitativ hervorragend ist. Das ist dringend nötig, um der klassischen Musik ein neues Publikum zu bringen. Ich begegne immer wieder Menschen, die keinen speziellen Bezug zur Musik haben, aber doch sehr neugierig sind. Es geht darum, auch den Nicht-Spezialisten etwas zu bieten, was deren Erwartungen übertrifft.

Welche persönlichen Ideale verbergen sich dahinter?

Es gibt in unserer Gesellschaft viele menschliche und geistige Einsamkeit. Die Musik, live erlebt, hat die Kapazität, Menschen zu sammeln und in eine andere Sphäre zu bringen. Eine Sphäre, die weit von Materialismus und menschlichen Sorgen entfernt ist. Jeder Mensch hat das tiefe Bedürfnis, etwas mit anderen Menschen zu erleben und teilzunehmen. 

Was ist Ihr Zukunftsplan?

Die Arbeit mit größeren Kammerensembles, aber auch Orchestern fasziniert mich sehr. Deswegen  studiere ich aktuell auch das Dirigieren. Vor allem möchte ich jetzt mit meinem Ensemble Nuanz und diesem Programm und später mit anderem Repertoire möglichst viele Konzerte spielen. Ich wünsche mir, dass ein breites Publikum diese wunderbare Musik erleben kann!

CD:  Palette; Nathanae Carré, Ensebmle Nuanz – ARS Produktion 2019

Interview geführt von Stefan Pieper, September 2019

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Bunt schimmernde Miniaturen

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 282; EAN: 4 260052 382820

Für Flöte und Streichsextett arrangierte Nathanael Carré französische Werke, die ursprünglich für Flöte und Klavier besetzt sind. Darunter sind die Fantaisie op. 79 von Gabriel Fauré, Georges Hües Fantaisie, Paul Taffanaels Andantino & Allegretto grazioso, Fantaisie-Caprice von André Jolivet, ein Divertimento von Jean Françaix, Eugène Bozzas Aria, die ursprünglich für Saxophon komponiert wurde und in einer Klarinettenfassung Bekanntheit erlangte, die Suite de trois Morceaux op. 116 Benjamin Godards, eine Aria von Jacques Ibert, François Bornes Fantaisie brillante sur Carmen und Danse pour une déesse aus der Feder von Reynaldo Hahn. Begleitet wird Carré dabei vom Ensemble Nuanz bestehend aus Evgeny Popov, Alexander Jussow, Jan Melichar, Robin Porta, Jan Pas und Stefan Koch-Roos.

Mit seinem Titel „Palette“ suggeriert der Flötist Nathanael Carré einerseits die ungeheuere Stilpalette im Frankreich des 20. Jahrhundert, die er in seiner CD-Aufnahme präsentiert, zum anderen die Palette an Klangfarben, die er den begleitenden Klavierstimmen durch Auffächerung in eine Streichsextettfassung verleiht. Das vielseitige Programm dieser Aufnahme lädt zum Entdecken ein. Neben einigen allseits bekannten Kompositionen wie Faurés Fantaisie und dem Divertimento von Françaix finden wir auch Namen, die selten auf Programmen zu hören sind. So beispielsweise den heute höchstens als Opernkomponist in Erinnerung gebliebene Georges Hüe, der ursprünglich als Architekt arbeitete, bis Gounod sein musikalisches Talent entdeckte, oder Benjamin Godard, der trotz seines frühen Todes eine Vielzahl groß- wie kleinformatiger, stets aber fein ausgearbeiteter Werke in romantischem Gestus komponierte. Das Ausdrucksspektrum von „Palette“ reicht von den Klängen des frühen Flötenvirtuosen Paul Taffanael, der als unerreichter Meister der von Theobald Böhm erst frisch revolutionierten Flöte galt, bis zu den freitonalen Klängen Jolivets. Das einzig lange Werk der CD ist Bornes Fantaisie brillante sur Carmen, zugleich das einzig bekannte Werk des Komponisten; mit Abenteuerlust und Frische greift es die Themen der Oper auf und verwandelt sie in wahnwitzige Capricen und erhebt sie teils in ganz neue Klangsphären.

Bei seinen Arrangements intendierte Carré, nicht bloß eine Klavierstimme gleichwertig umzusetzen, sondern den Klang durch die Möglichkeiten der Streichinstrumente aufzufasern und neue Facetten aus dem Part herauszuholen. Entsprechend nennt er als wichtigstes Auswahlkriterium, dass die Klavierstimme nicht dezidiert auf das Klavier abgestimmt ist oder sich auf Harfenklänge bezieht, sondern vom Komponisten orchestral angelegt erscheint. In der Streicherfassung kommen vor allem die ausgeklügelten Akkorde mehr zum Tragen und allgemein entsteht mehr Plastizität, als sie am Klavier möglich wäre. Im Gegensatz zum Klavier verklingen die Harmonien der Streicher nicht, was der Flöte eine solidere Basis verleiht, sich zu entfalten. Besonders bei Hüe, Jolivet und Godard, aber auch bei Borne und Bozza präsentieren sich die Arrangements als große Bereicherung, um die Stücke auf eine neue Weise kennenzulernen.

Carré erweist sich als aufmerksamer und flexibler Flötist, der minutiös auf die Klanglichkeit seines Instruments achtet und einen weichen, aber doch direkten Ton erzielt. In den Virtuositäten von Bornes Carmen-Fantasie erreicht er genug Prägnanz, um jeden Ton einzeln zum Vorschein zu bringen; bei Bozza und Ibert hingegen schwebt er schwerelos über der Streicherbegleitung und zelebriert den Flötenklang in zarter Umnebelung. Das Ensemble Nuanz hält die Akkorde der Klavierstimme kompakt zusammen und präsentiert sich als einheitlicher Klangkörper, der aus dem gleichen Atem heraus musiziert. Durch abgestimmte Kontrapunktik entsteht die bereits angesprochene Plastizität des Gesamteindrucks, ohne dass dabei die Stimmen zu sehr auseinanderdriften würden.

[Oliver Fraenzke, September 2019]

Bedrohliches und Humoreskes

Fagottkonzerte von Jolivet, Tomasi, Françaix und Villa-Lobos
Matthias Rácz (Fagott)
Stuttgarter Kammerorchester, Johannes Klumpp

Jean Françaix: Concerto pour basson et 13 archets (1979)
Henri Tomasi: Concerto pour basson et archets avec harpe (1961)
André Jolivet: Concerto pour basson, archets, harpe et piano (1954)
Heitor Villa-Lobos: Ciranda de sete notas für Fagott und Streicher (1933)
Jean Françaix: Divertissement pour basson et archets (1942)

Ars Produktion ARS 38174 (EAN: 4260052381748)

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Vier Französische Konzerte für Fagott und kleine Besetzung – teils nur Streicher, teils ergänzt durch Harfe (Tomasi) oder Harfe und Klavier (Jolivet) – hat Matthias Rácz mit dem Stuttgarter Kammerorchester unter Johannes Klumpp eingespielt, zuzüglich Villa-Lobos’ ‚Miranda de sete notas’ von 1933. Rácz beherrscht sein Instrument in seltener Vollendung, er ist ein wirklicher Erzähler auf dem Fagott, und auch das Virtuose ist bei ihm in besten Händen. Das Fagottkonzert ist – nach prominenten Vorläufern wie Mozart oder Weber – eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts (in der romantischen Epoche hatten die Bläser als Solisten mit Orchesterbegleitung allgemein einen schwachen Stand, wenn man von Webers Klarinettenkonzerten einmal absieht; da ist man schon froh über ein Oboenkonzert von Klughardt, ein Flötenkonzert von Reinecke, das erste Hornkonzert von Richard Strauss). Die Anordnung vorliegenden Programms ist etwas seltsam, indem das mit Abstand unbedeutendste, trivialste Werk am Anfang steht: das Konzert von Jean Françaix von 1979, also auch das am spätesten entstandene. Es ist deshalb etwas peinlich, weil zwar erlesenste technische Fertigkeit von allen Beteiligten gefordert wird, jedoch der Gehalt und die expressive Spannweite nicht über das Niveau von Charlie Chaplin oder Zirkusmusik hinausgeht. Die Ecksätze sind ungefähr so anspruchsvoll wie ‚Mein Hut, der hat drei Ecken’, und so etwas hat schon Darius Milhaud (etwa in ‚Le Bœuf sur le toît’) schon viel besser und origineller gemacht. Einzig der langsame Satz hat eine andere Substanz, doch wird er hier schlicht zu zügig genommen (mit zusätzlichen  Beschleunigungen zwischendurch, die der Komponist nicht vorsah), und irgendwie wissen hier alle Beteiligten nicht so recht, was sie außer Andacht in diese Musik ‚hineininterpretieren’ sollen… Natürlich wusste Françaix genau, was er tat, und hat seine Aufgabe technisch in jeder Hinsicht makellos gelöst, solange wir nicht darauf achten, ob die größere Form irgendwie bezwingend sei. Um wieviel besser ist sein frühes Divertissement von 1942, ursprünglich mit Bläserquintettbegleitung komponiert und damals verloren gegangen, später von Graham Waterhouse rekonstruiert – mit dieser launigen, kurzweiligen Musik klingt die CD so amüsant wie feinsinnig ironisch aus. Man hört: Françaix war ein Mann der kleinen Formen, die beherrschte er vollendet, ob man seine meist absichtlich belanglose Musik mag oder nicht, und für ein Konzert von gut 23 Minuten Länge (in vier Sätzen) reichte die Spannung einfach nicht aus, jedoch sehr wohl für ein gleichfalls viersätziges Divertimento von neun Minuten Dauer. Den Musikern hat jedenfalls beides eine Menge Spaß gemacht, was man auch auf Schritt und Tritt hört, und der untadelige Solist hat seinen durchweg großen Auftritt.
Alles andere hat weit mehr Substanz. Villa-Lobos ist noch zu akademisch europäisch verstanden, da ist vor allem mehr schwereloser Groove drin. Doch muss man in allen Stücken bemerken, wie sehr das Orchester unter Klumpp rhythmisch „auf Zack“ ist. In diesem Werk dominiert das Fagott unangetastet und darf unentwegt singen. Insgesamt eine Freude, das zu hören.
Eine für mich großartige Entdeckung ist das 1961 entstandene Konzert des korsisch-stämmigen Henri Tomasi (1901-71), der vor dem Krieg einige Jahre das französische Radio-Kolonialorchester in Vietnam leitete und später das Orchestre National de France. Heute ist er vor allem durch sein Trompetenkonzert und die Flötenkonzerte bekannt. Er schrieb aber unzählige weitere Konzerte, eigentlich nur das Cello hat er nicht bedacht. Sein Fagottkonzert besticht mit einer unergründlichen Mischung aus Bedrohlichem und Humoreskem, das niemals in jene Gefilde der Belanglosigkeit abgleitet, vor welchen französische Musik gelegentlich nicht sicher ist. Auch die Orchestration ist von erlesenster Finesse, und durch alles führt ein energetischer roter Faden, der die Spannung nicht abreißen lässt. Solist und Orchester meistern die virtuose Faktur mit bemerkenswert präziser Leichtigkeit. In dieser Musik kommen unterschiedlichste Einflüsse zusammen, bis hin zu niemals plakativ zur Schau gestellten Exotismen, und dabei klingt sie stets distinguiert südfranzösisch. Und: sie kreiert einen imaginären ‚Film noir’. Man könnte an Truffauts ‚Geheimnis der falschen Braut’ oder ‚Die Braut trug schwarz’ denken – an jeder Ecke lauert eine unheimlich verführerische und gefährliche Deneuve oder Moreau… Danach dürfte es kaum jemanden geben, der nicht gerne mehr von Tomasi hören möchte.
Die Krone gebührt freilich immer noch André Jolivet für sein grandioses Konzert von 1954. Nur ein Klavier tritt zu Streichern und Harfe hinzu, und was für eine wilde Farbigkeit, was für eine magische Alchimie! Das zweisätzige Werk ist zurecht ein Klassiker geworden, und Matthias Rácz darf nun zu den feinsten Musikern seines Fachs gezählt werden. Es ist aber auch (wie Tomasi übrigens in nicht geringerem Maße) herrlich dankbar für sein Instrument geschrieben. Jolivet schafft es sogar, eine ‚Fuge’ frenetisch obsessiv klingen zu lassen, sozusagen eine Transzendenz des Akademischen mit einer fast schon rohen Schroffheit, einer archaisierenden Auslegung moderner Klangmittel herzustellen. Und er lotet das ganze Spektrum von mystischer Introspektion bis zu frenetischer Überdrehtheit aus. Jazz und Orient begegnen sich hier in einem Geist, der die Abgründe liebt und doch stets eine französische Rationalität auf der Hinterhand hat, die bei aller systematisch betriebenen Enthemmung nicht den Klischees von Pathos, Sentimentalität oder prätensiös neutönerischem Bruitismus aufsitzt. Großartig – wie vieles von Jolivet, das heute fast kein Mensch kennt (man denke nur an seine drei Symphonien, das Klavierkonzert, die Cellokonzerte). Und wieder glänzen alle Beteiligten mit Geistesgegenwart und Präzision. Natürlich gibt es auch Fehlleistungen wie das pompös vierschrötige Ritardando am Ende des ersten Satzes, das überhaupt nicht passt, sondern im letzten Moment den resoluten Charakter sabotiert. Gemessen an dem, was wir kennen, ist es insgesamt jedoch auf sehr hohem Niveau. Das gilt auch für die durchsichtige und ausgewogene Aufnahmetechnik und den Bookletessay, den sich Daniel Knaack und der Dirigent in simuliertem Zwiegespräch teilen.
[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, März 2016]