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Die Spannung genießend

Aldilà Records, ARCD 009 (Gramola CD 98009); EAN: 9 003643 980099

Auf der vorliegenden Doppel-CD widmen sich Christoph Schlüren und die Salzburg Chamber Soloists der Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Auf der ersten CD erklingen die Contrapuncti eins bis elf in der durch den Erstdruck definierten Abfolge sowie der unvollendet gebliebene Contrapunctus Nr. 14, der an der Stelle abbricht, wo Carl Philipp Emanuel Bach schrieb: „Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben“. An Stelle einer Vollendung tritt das letzte Werk aus der Feder Bachs: der Choral „Vor deinen Thron tret‘ ich hiermit“. Die zweite CD birgt zunächst die beiden vierstimmigen Spiegelfugen, die als Contrapunctus zwölf zusammengefasst wurden, und dann drei Vollendungen der unvollendeten Quadrupelfuge (Contrapunctus 14), nämlich je eine von Karl Hermann Pillney, Donald Francis Tovey und Kalevi Aho. Dazwischen erklingen als kontrastierende Überleitungen die Orgelfuge g-Moll op. 60/3 von Schumann (arr. Dan Turcanu) und die „Studie über B-A-C-H“, das letzte Werk Reinhard Schwarz-Schillings.

Um kaum ein Werk der Musikgeschichte kreisen so viele Mythen wie um die Kunst der Fuge von Johann Sebastian Bach. Nicht nur, dass es das früheste Werk war, das unvollendet und ohne den Versuch einer Schlussfindung abgedruckt wurde, auch die mystifizierenden, nicht zutreffenden Zeilen seines Sohns Carl Philipp Emanuel trugen dazu bei, der Musik transzendentale Bedeutung zu verleihen: „Über dieser Fuge, wo der Name BACH im Contrasubject angebracht worden, ist der Verfasser gestorben“. Die fehlende Instrumentierungsbezeichnung gibt ebenso Rätsel auf: Handelt es sich um ein Werk für ein Tasteninstrument (wie die ebenfalls nicht bezeichneten „Fiori Musicali“ von Frescobaldi, die Bach intensiv studiert hat) oder doch für Streicher oder ein anderes homogen zusammenklingendes Ensemble? Fakt ist, dass diese Musik den Menschen zeitlos bewegt, berührt oder gar aufrüttelt. So schrieb beispielsweise Glenn Gould, „dass sich darin Momente finden, die für mich alles andere übertreffen, was Bach geschrieben hat. Mir fällt wirklich keine andere Musik ein, die mich tiefer bewegt hätte als diese letzte Fuge.“ So verwundert all das Überhöhen, Vergeistigen nicht, ebenso nicht die bis heute ungebrochene Tradition der wüstesten Theorien und Gedankengänge – dafür auch nicht die mittlerweile dutzendfachen Versuche einer Vollendung der letzten Fuge. Begonnen hat dies bereits kurz nach der Wiederentdeckung der Kunst der Fuge durch Wolfgang Graeser, dem es vor seinem frühen Suizid mit nur 22 Jahren gelang, eine umfassende Renaissance des Werks in die Wege zu leiten. Die ersten Ergänzungen als Quadrupelfuge (zuvor wurde sie, schon seit Johann Mattheson, mehrfach als Tripelfuge behandelt und zu einem Ende geführt) schrieben Hugo Riemann, der durch die Ungelenkheit seiner Arbeit stark in die Kritik rückte, Ferruccio Busoni, der sie in eine chromatische Fantasie wandelte, und schließlich 1931 Donald Francis Tovey, der die erste brauchbare und zugleich nahe am Stil Bachs orientierte Vollendung schuf, die bis heute gelten darf – sie wurde auf dieser CD eingespielt, durch Dan Turcanu eingerichtet mit subtiler Hinzunahme des Kontrabasses. 1937 folgte Karl Hermann Pillney, ein Schüler Regers und wahres Stil-Chamäleon, der mit tiefer Sympathie – bei Bedarf aber auch mit subtilem Witz – nicht nur in die Welt Bachs eintauchte, sondern gar ganze Variationswerke mit unterschiedlichen Stilimitaten füllte. Manche seiner Bearbeitungen können von einem Original nicht unterschieden werden, in der Vollendung dieser Quadrupelfuge allerdings greift er mehr als Tovey auf zeitgenössische Techniken der Reger-Schule und der Liszt-Tradition zurück. Doch stellt er sie anders als Busoni vollkommen in den Dienst der Fuge und unterstreicht damit bloß die enorme Dichte des Werks, die er noch weiter zu steigern vermag hin zu einem expansiven Höhepunkt. Nun macht Christoph Schlüren einen Sprung in die Gegenwart und fügt noch die Vollendung des finnischen Meisters Kalevi Aho hinzu, die Schlürens Aussage nach alle vorherigen seit Pillney überbiete. Zunächst mag die Streicherfassung verwundern, da die Stimmen stellenweise zunächst in den ersten Geigen, beim Finale im ganzen Orchester oktavweise gedoppelt werden (durch divisi der einzelnen Stimmen). Beim genaueren Hinhören erkennt man schnell die Intention: Aho schrieb seine Vollendung für eine Wiedergabe auf der Orgel, wo Oktavierungen durch Registermixturen üblich sind. Und indem es Christoph Schlüren gelingt, sein Streichorchester klanglich in eine gewaltige mehrstimmige Orgel zu verwandeln, geht der Kern und die Sinnhaftigkeit der Komplettierung auch in diese Fassung über.

Zwischen den Vollendungen erklingen Schumanns Orgelfuge über B-A-C-H, für Streichorchester gesetzt vom bereits erwähnten Rumänen Dan Turcanu, selbst übrigens ein vielseitig talentierter, tief erspürender Komponist. (Bislang schenkte er vor allem der Violine und dem Klavier substanzgeladene Werke, schrieb nun aber erste Orchesterwerke, die noch auf eine Aufführung warten. Einen Namen machte sich Turcanu besonders als Arrangeur, so bearbeitet er beispielsweise das gesamte Wohltemperierte Klavier für Geige solo.) Das zweite Interludium bildet Reinhard Schwarz-Schillings „Studie über B-A-C-H“, die bei Aldilà Records bereits in der Klavierversion erschien, eingespielt von Hugo Schuler: Die Studie ist Schwarz-Schillings letztes Werk, das in knapper Form diese berühmte Namensformel in die Gegenwart katapultiert und in einem modernen Stil kontrapunktisch durchführt: ein wahres Kleinod eines zu entdeckenden Großmeisters.

Auf dieser CD treffen zwei Künstler aufeinander, die ich zutiefst schätze und verehre: Der Dirigent Christoph Schlüren, einer der wenigen Schüler Celibidaches, der seine Lehren verstanden hat und sie klanglich umzusetzen weiß – als Lehrer und Mentor trieb er seine Schüler zu unerreichten Höchstleitungen, die Referenz bilden: so bei unter anderem Ottavia Maria Maceratini, Rebekka Hartmann, Hugo Schuler und Lucas Brunnert; nun hören wir ihn selbst am Pult. Und Lavard Skou Larsen, der brasilianische Nonchalance mit europäischer Präzision eint und als Violinvirtuose wie als Dirigent (ausgebildet u.a. bei Sándor Végh) tiefgreifende, erlebte wie auch reflektierte Darbietungen schafft – oftmals gemeinsam mit den hier zu hörenden Salzburg Chamber Soloists, eine kleine Formation erstklassiger Musiker, die jeder für sich als Orchestersolisten in Erscheinung treten können.

Beim klanglichen Resultat dieses Zusammentreffens bleiben keine Wünsche offen. Wer natürlich eine opulent überwältigende und romantisierend aufwühlende Darbietung erwartet, wird freilich enttäuscht, doch geht es bei Bach nicht um das. Asketisch stellen sich Christoph Schlüren und die Salzburg Chamber Soloists in den Dienst von Bach und setzen diese Musik auf die innigst nur vorstellbare Weise um. Mit klarem, offenem Klang begegnen die Musiker der Kunst der Fuge, formen aus dem stets gleichen Kern jeweils vollkommen andere Existenzen. Dies geschieht vollständig ohne Effekt oder aufbegehrende Geste. Christoph Schlüren ist ein Meister der innermusikalischen Spannungsverhältnisse: wie kein anderer kann er die spannungsträchtige Dichte in Bachs Musik aufrechterhalten, sofern die Musik es verlangt, und modelliert so eine klare Kontur des Verlaufs dieser Musik, die harmonisch wie melodisch nachvollziehbar wird. Die Stimmen entstehen in ihrer Eigenständigkeit plastisch vor uns und setzen sich so stimmig wie lückenlos zusammen. Stellenweise wirken lediglich die hohen Streicher etwas dissoziiert vom restlichen Geschehen, wobei dies auch einfach an der Aufnahme liegen könnte. Die Musik selbst wird der Impetus für das gesamte Spiel, sie läuft scheinbar von selbst, ohne äußeren Anstoß zu benötigen oder irgendwo zu stocken. Hier wird der Ausspruch des schwedischen Komponisten Anders Eliasson fühlbar, Bachs Musik sei im ständigen und unaufhaltsamen Fluss, wie H2O: Harmonie, Melodie und Rhythmus.

[Oliver Fraenzke, Juni 2020]

[Rezensionen im Vergleich] Eine Ode an die Kontrapunktik

Aldilà Records, ARCD 007; EAN: 9 003643 980075

hugoschuler

Hugo Schuler spielt auf zwei CDs Werke mit Ausgangspunkt bei den Goldbergvariationen Bachs. Wir hören Johann Jacob Frobergers Toccata in G FbWV 103, Bachs Präludien und Fugen b-Moll BWV 867 (WTK I), es-Moll BWV 853 (WTK I) und gis-Moll BWV 887 (WTK II), Preludio cantando e Fuga, die Klavier-Sonate und Studie über BACH von Reinhard Schwarz-Schilling sowie den dritten Teil des Klavierbuchs von Heinrich Kaminski, bestehend aus Präludium & Fuge f-Moll und Präludium & Sarabande d-Moll.

Dass die kleinsten die größten sein können, beweist kaum ein Label deutlicher als Aldilà Records. Vorliegende CD ist erst das sechste veröffentlichte Album des Unternehmens und nicht weniger eine meisterliche Leistung als die vorherigen. Aldilà setzt auf Qualität statt Quantität, und das wird deutlich. Die ersten beiden Veröffentlichungen sind Klavieraufnahmen der italienischen Pianistin Ottavia Maria Maceratini, ein gemischtes Programm von Scarlatti bis Foulds und Tiessen sowie eines, das sich um Robert Schumann dreht, darauf folgte eine historische Doppel-CD mit Sergio Fiorentino, aufwändig neu remastered. Die bislang einzige Orchester-Aufnahme mit Werken von Schwarz-Schilling, Mozart, Hamel, Eliasson, Pärt und Beethoven stammt von Christoph Schlüren und Symphonia Momentum, danach führte Beth Levin uns wieder zurück zur Klaviermusik, spielte Schumann, Schubert und Eliasson. Noch nicht erschienen ist die bereits Ende 2014 aufgenommene und lang ersehnte Solo-CD des Violinisten Lucas Brunnert, den ich vor über vier Jahren als einen der talentiertesten aufstrebenden Musiker seines Instruments kennenlernen durfte.

Nun folgt eine weitere Veröffentlichung, die den gewaltigen Maßstäben des Labels mehr als nur gerecht wird. Hugo Schuler spielt Werke von Froberger, Bach, Kaminski und Schwarz-Schilling. Über Froberger und noch mehr über die epochalen Meisterwerke Bachs ist mehr als genug geschrieben worden, weitgehend unbekannt ruhen Kaminski und Schwarz-Schilling jedoch noch in der Versenkung: Zwei ausgezeichnete Musiker und Individualisten des 20. Jahrhunderts, welche die Brücke zwischen traditionell und fortschrittlich schlagen und jahrhundertelange westliche Musiktradition in ihrem Schaffen mit dem Hier und Jetzt einen konnten. Heinrich Kaminskis Stil ist dicht und kontrapunktisch, aber nicht weniger expressiv und zutiefst menschlich. Seine Bewunderung galt der Stilistik der Barockzeit, allem voran Bach, aber auch dem Weiterleben der großformalen kontrapunktischen Meisterschaft bei Beethoven und Bruckner. Auf unerhörte Weise griff Kaminski alte Stilformen auf und integrierte sie in den Kontext einer expressionistischen Realität. Die ergreifende Wirkung dieser Musik hat eine immense Ausstrahlung. und so scharte Kaminski einen großen Anhängerkreis um sich und war auch im Dritten Reich ein geduldeter, nicht als „Neutöner“ abgestempelter Künstler – wo er jedoch zuerst als Halb-, dann als Vierteljude eingestuft wurde und sich zurückziehen musste. Der bekannteste Schüler Kaminskis ist Carl Orff, noch bedeutender dürften jedoch wohl Heinz Schubert und Reinhard Schwarz-Schilling gewesen sein. Schubert starb in den letzten Kriegswochen, ohne nur ein Klaviermusikwerk geschrieben zu haben, Schwarz-Schilling lebte mit seiner jüdischen Frau, welche gefälschte Papiere erhielt, glücklicherweise unbehelligt weiter und verstarb erst 1985. Auch für Schwarz-Schilling war Bach zentraler Referenzpunkt, ihm widmete er noch sein allerletztes Werk, die Studie über BACH. Wie auch Kaminski bereicherte er die seines Erachtens noch lange nicht ausgeschöpfte Tonalität weiterhin durch kühne Dissonanzen und extreme Registrierungen, blieb jedoch innerhalb ihrer wahrnehmbaren und unmittelbar mitverfolgbaren Grenzen. So schuf er abstrakte und eigenwillige, zeitgleich aber auch verständliche und nachvollziehbare Werke. Weder Kaminski noch Schwarz-Schilling komponierten viel Musik für das Klavier, alle hier zu hörenden Stücke sind kommerzielle Ersteinspielungen.

Charakteristisch ist das Spiel Hugo Schulers in erster Linie durch seinen ausgeprägten Sinn für Mehrstimmigkeit. Bis hin zu fünf Stimmen verlangt Bach in seinem Wohltemperierten Klavier, und tatsächlich werden all diese als eigenständige Individuen wahrnehmbar. Schuler gibt den Stimmen bestimmte Eigenheiten, so als spielte er sie auf unterschiedlichen Klaviaturen wie bei einem zeitgenössischen Cembalo. Jedes Detail ist minutiös durchdacht, von der fein zwischen Legato, Non-Legato über flötenhaftes Detachée hin zu klingendem Staccato changierenden Artikulation bis zum bewussten Gebrauch der Pedale. Besonders das linke Pedal sorgt bei manchen der Goldbergvariationen sowie im es-Moll-Präludium für hinreißende Magie. Hugo Schulers Darbietung ist äußerst persönlich, überträgt sich auch auf den Hörer, verleugnet aber nicht weniger die Zeit der Komposition, verfällt nie in Romantizismus. Der Gesamtkontext steht im Fokus des Pianisten, er betrachtet die Stücke als großen Bogen, unter welchem jede Phrase ein sinnvolles Glied innerhalb der Fortschreitung von der ersten zur letzten Note ist. Und so hält er die Spannung sogar über die 80-minütigen Goldbergvariationen (in denen er einige wenige Wiederholungen bewusst ausließ, um die Gesamtform noch bezwingender zu gestalten). Die tonal fordernden Werke Kaminskis und Schwarz-Schillings verwirklicht er ebenso zielsicher und reflektiert in innerer Ruhe und orchestral in der mehrstimmigen Ausführung, dass oft kaum zu glauben ist, dass hier nur ein einziges Klavier erklingt. Den Ohren ganz besonders schmeichelnd kommt der sanfte und voluminöse Klang des Fazioli-Flügels hinzu, der wie maßgeschneidert ist für die musikalischen Ansprüche Hugo Schulers.

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

Folgende Termine:
03. Februar 2018: Freies Musikzentrum München

[Rezensionen im Vergleich] Bach, Vorläufer und Nachfolger

HUGO SCHULER, Piano: Johann Jakob Froberger (1616-1667), Johann Sebastian Bach (1685-1750), Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985), Heinrich Kaminski (1886-1946)

Aldila Records ARCD 007; EAN: 9 003643 980075

hugoschuler

Nachfolger und Vorläufer von Johann Sebastian Bach neben dem eigentlichen Hauptwerk, den Goldberg-Variationen, sind auf dieser Doppel-CD versammelt. Natürlich hatte Bach Vorläufer, einer davon, der große Klavierkomponist Johann Jakob Froberger (1616-67), ist mit seiner Toccata in G FbWV 103 vertreten, ein famoser Einstieg in die Welt der Polyphonie, die ihren Reiz und ihre Potenz ja bis heute unvermindert bewahrt hat. Dann kommt Bach selbst zum ersten Mal zu Wort mit dem Präludium und der Fuge in b-moll BWV 867 aus dem Wohltemperierten Klavier I. Sofort wird der Tonfall der Musik vertrauter, wie bei den anderen Bach’schen Kompositionen auf der ersten CD auch. Denn an dritter Stelle stehen zwei Kompositionen des „Nachfolgers“ Reinhard Schwarz-Schilling (1904-85), der wie selbstverständlich und unüberhörbar an den alten Meister anknüpft. Sein Preludio cantando e fuga und seine ‚Studie über B-A-C-H’ von 1985 – eines seiner letzten und zugleich tiefsten Werke –  verbinden die Bach’sche Polyphonie mit der Klangsprache des 20. Jahrhunderts, wie die Stücke von Schwarz-Schillings Lehrmeister Heinrich Kamiski (1886-1946) ebenso. Beide sind Großmeister sich weit entfaltender Polyphonie im 20. Jahrhundert, und hier mit insgesamt drei Ersteinspielungen vertreten. Natürlich ist der tonale Raum inzwischen bis fast ins „Übertonale“ ausgeweitet, die strengen Formen der auch aus der Renaissance- und Barockzeit entlehnten Tänze und Strukturen zusammen mit der intensivsten Polyphonie geben den Stücken die selbe bezwingende Klanglichkeit wie in den Kompositionen des alten Meisters. Allerdings gehört natürlich dazu: die Fähigkeit und die Möglichkeit, über die Hugo Schuler auf dem Fazioli-Flügel verfügt, all diese Musik fast wie bei einer Erstaufführung erlebbar zu machen.  Sein sehr erhellender Kommentar im ausführlichen Booklet über Struktur und Werden dieser Doppel-CD ist bemerkenswert. Dass ein Pianist so genau über diese Musik und den Zugang dazu Auskunft gibt, ist selten und nicht das kleinste Verdienst dieser Neuerscheinung.

Zu den „Goldberg-Variationen“, die eben nicht auf einem „normalen“ Steinway oder Bösendorfer, sondern auf einem dafür sicher besonders gut geeigneten Fazioli-Flügel erklingen, möchte ich nur sagen: So innig, so ungeheuer musikalisch, so souverän habe ich diesen „Gold-Zyklus“ noch nie auf CD gehört, nein, ohnehin nicht von Martin Stadtfeld auf seiner damals so hochgepriesenen Sony-CD, nein, auch nicht von Glenn Gould, dessen Einspielung sicher auf ihre Art Referenz-Charakter hat und behalten wird, aber so, wie Hugo Schuler diesen Kosmos sich entfalten lässt, mit welcher Ruhe und inneren Gelassenheit sich Thema und Variationen entfalten, wie sowohl Melodik als auch Klang und Struktur hör- und erlebbar werden, das ist einfach nur staunenswert.

Bei seinem Debütkonzert vor einigen Jahren in Deutschland, das ich erleben durfte, fiel mir damals schon auf, wie unprätentiös und hingebungsvoll, ohne irgendwelche falsche Allüre dieser junge argentinische Pianist diese 80 Minuten in einem riesengroßen Bogen nicht nur bewältigte, sondern in aller Klarheit und Emphase gestaltete. Auch auf dieser CD ist davon soviel eingefangen, wie vielleicht überhaut möglich ist, und natürlich freue ich mich schon heute auf Hugo Schulers nächstes Konzert, wo ich diesen wunderbaren Musiker wieder einmal live und leibhaftig hören und erleben darf.

Ulrich Hermann, Januar 2018

Folgende Termine:
03. Februar 2018: Freies Musikzentrum München

Beth Levins „Gesamtkunstwerk“

Aldilà Records ARCD 005; EAN: 9 003643 980051

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Ein scheinbar unkombinierbares Programm, vereint zu einem unzertrennbar wirkenden Ganzen ist auf dem ersten europäischen Album von Beth Levin zu hören. Inward Voice heißt die CD der amerikanischen Pianistin, die Schumanns Kreisleriana, Anders Eliassons Versione per pianoforte und Franz Peter Schuberts späte Sonate c-Moll D 958 zu kombinieren vermag.

Lange Zeit in größter Bescheidenheit dem internationalem Star-Rummel fern geblieben, tritt die Amerikanerin Beth Levin endlich ans Licht mit ihrer ersten CD-Veröffentlichung außerhalb der USA und bietet in dieser direkt ein atemberaubendes Programm dar. Jedes dieser Werke mit grundverschiedenem Gestus ist für sich schon eine technische und interpretatorische Herausforderung besonderer Güte, doch Beth Levin geht noch ein Stück weiter: Sie lässt die Werke in einem einzigen durchgehenden Bogen verlaufen, so fließt Schumann ohne merklichen Bruch in die eigenwillige, 135 Jahre später komponierte Versione des schwedischen Neuerers Anders Eliasson über, welche wiederum von Schubert so aufgefangen und zurück in klassische Sphären geworfen wird, als wäre es exakt so komponiert. Somit schafft die Pianistin ein wahres Gesamtkunstwerk, verbunden durch die zum Hörer durchdringende Zuwendung zu jedem Stück und zu jeder Note.

Das Cover macht fast den Eindruck, als handle es sich bei Inward Voice um eine etwas klein geratene Schallplatte mit seinem stilllebenhaften Schattenabbild eines Baumes und dem kleinen eingerahmten Schriftzug mit dem Inhalt der CD. Dies, malerisch anzuschauen und unmittelbar an alte Vinyltonträger erinnernd, trägt – ebenso wie die von Gil Reavill verfassten Gedichte zu den einzelnen Programmpunkten – zu einer einheitlichen Gesamterscheinung bei, zu jener überwältigend konzipierten Programmdramaturgie, die die Amerikanerin kunstvoll ersonnen hat. Nicht zuletzt Teil dieser Erscheinung ist ihr Spiel, welches sich nämlich komplett von der Masse heutiger Gepflogenheiten abhebt; sie erreicht eher die musikalischen Qualitäten der großen Musiker der frühen zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mittlerweile gebräuchliche Hörgewohnheiten und standardisierte Auffassungen lassen Beth Levin vollkommen kalt, sie folgt einem ganz eigenen Weg. Allgemein ist ihr Spiel äußerst feinfühlig und frei von jeder Gehetztheit, alles behält eine innere Ruhe; gerade in den sehr bewegten und lebhaften Stellen der Kreisleriana sowie dem meist zur Hetzjagd ausufernden Finale der Schubertsonate beweist sie unglaubliche Kontrolle und schafft damit absolute Referenz. Ebenso spektakulär ist das technische Vermögen der Pianistin, handelt es sich doch um eine ungeschnittene Liveaufnahme im Studio und dennoch lässt sich fast an keiner Stelle einmal eine punktuelle Unsauberkeit herausfiltern – auch bei genauer Kenntnis des Notentexts.

Beth Levin weiß genau, was sie will. Ersichtlich wird dies alleine schon durch die Tatsache, dass die Kreisleriana in dieser Einspielung ein einziger Track ist und nicht in die acht Stücke zersplittert wurde. Endlich wird man derart gezwungen, dieses Einheitswerk wirklich als Einheit zu hören! Auch innerhalb des Werkes ist exakt bedacht, welche Wiederholungen gespielt werden sollen und welche nicht, ebenso bei Schubert. Nicht vergessen sollten auch Beth Levins Notizen zur Kreisleriana im allgemein sehr lesenswerten und interessant illustrierten Booklet bleiben, die persönliche Assoziationen zu Schumanns Op. 16 und Tipps für Pianisten beinhalten. In keinem der Stücke scheute die Pianistin davor zurück, kleine dynamische Akzentuierungen vorzunehmen, um die energetische Linie herauszubringen anstatt stur zum Beispiel ein auf die Auflösung deplatziertes Sforzato übermäßig herausknallen zu lassen. Gerade bei Eliassons Versione per pianoforte, einem von nur fünf Klavierwerken des im vorletzten Jahr verstorbenen Meisters (welches im Übrigen hier als Ersteinspielung vorliegt), nutzte sie detailliert leichte dynamische Abweichungen, um die Lautstärke in ein dem Spannungsbogen entsprechendes Verhältnis einzugliedern. Dafür sind die dynamischen Unterschiede durchgehend umso beträchtlicher, in einer vollkommen ungewohnt geradezu orchestrale Kontraste schaffenden Weise. Alle rhythmischen Komplikationen meistert Beth Levin dabei spielerisch, egal ob ständige Taktwechsel oder abstruseste Positionierung kürzester Notenwerte, nichts bringt sie von einem gleichmäßigen Pulsieren ab, so dass auch die zwei Monate vor seinem Tod komponierte Sonate c-Moll Franz Schuberts mit ihren sprunghaften Wechseln von triolischem zu duolischem Denken keine Schwierigkeit, jedoch umso spannenderes Geschehen darstellt.

So bleibt nur, gespannt zu warten auf die hoffentlich bald nachfolgende nächste Einspielung von Beth Levin, für alle, die nach diesem großen Wurf sicherlich Lust auf mehr bekommen. Mit nur einem Tag Aufnahmezeit hat sie bewiesen, dass auch ohne Willkür und unreflektierte Eingriffe in den Notentext sowie ohne erkünstelte Manierismen, allerdings mit in seiner unwillkürlichen Wucht absolut fesselndem Rubato, das scheint, als könne es gar nicht anders sein, ein gänzlich eigener Stil geschaffen werden kann.

[Oliver Fraenzke, September 2015]