Die Musik Ludwig van Beethovens

Gegenüber dem Wiener Konzerthaus steht auf dem Beethovenplatz das Beethoven-Denkmal. Noch Mitte der 1970er Jahre waren dort Passanten zu beobachten, die im Vorübergehen kurz Halt machten, den Hut zum Gruß zogen und sich vor dem Denkmal verneigten. In den eisfreien Monaten fanden an lauen Abenden auf dem dem Konzerthaus benachbarten Gelände des Wiener Eislaufvereins gelegentlich Boxkämpfe statt, die sich bei den Konzertbesuchern großer Beliebtheit erfreuten, so dass es nicht einfach war, in der Konzertpause einen Platz am Fenster zu ergattern.

Gestern war der 200. Geburtstag der 9. Symphonie von Beethoven. Nirgendwo auf der Welt gibt es ein Nichtverstehen, wenn man in gleich welcher Sprache „Die Neunte“ sagt; es ist dieses Werk so stark und so tief in das kulturelle Gedächtnis der Menschheit eingedrungen, dass es zur größten Legende der Musik werden konnte. Niemand auf der Welt kennt zumindest die Melodie des Finales nicht, niemand vergisst, wenn er oder sie dabei waren, und sei es an den Fernsehschirmen oder Rundfunkgeräten, wenn die Symphonie zu besonderen Momenten erklang, wie als die Berliner Philharmoniker und das jetzige Berliner Konzerthausorchester mit den entsprechenden Chören und Leonard Bernstein den Fall der Mauer in Berlin mit einer schönen Textänderung („Freiheit, schöner Götterfunken“) feierten, und nicht wenige werden sich auch an die ausgiebigen Möglichkeiten zum Missbrauch erinnern, Hitler und Stalin ließen sie sich gerne vorspielen. Man darf davon ausgehen, dass der Schlussakkord, wenn auch kaum wahrnehmbar, sensiblen Ohren dabei jeweils als Fragezeichen erklingen musste. Unter „politisch verdächtig“, wie Thomas Mann sein alter ego im Zauberberg warnen lässt, fällt sie trotzdem nicht, unsere Neunte, sie ist aber nicht aus sich heraus gegen Missbrauch gefeit, und daher immer wieder zu Recht Gegenstand skeptischer Betrachtung, der man es nachsehen möge, wenn sie über das Ziel hinausschießt und die Neunte per se als faschistisch beurteilt.

Sie ist also längst ein Menschheitssymbol, das über jeden Rahmen, den man ihr gibt, hinausweist, ein Werk, das alles verkörpert, was in der Musik im selben Maße groß und gefährdet ist. Diesen nicht auflösbaren Widerspruch hat der italienische Schriftsteller, Maler und Komponist Alberto Savinio (1891-1952) in diese Worte gefasst:

Auf dem A-a-a beruhten die Kantaten des 17. und 18. Jahrhunderts. Diese helle Musik. Diese gebäudeartige Musik. Diese Musik, die aus Freitreppen, Säulen, Akroterien besteht. Diese Musik, die nichts aussagt. Nicht weil sie nichts zu sagen hätte, sondern weil sie ihren zivilisatorischen Verpflichtungen nachkommt. Die „zivilisierte“ Musik beginnt jenseits der Bedeutungen. Die Musik, die etwas aussagt, die tiefschürfende Musik, ist Barbarenmusik. Nur ein Barbar kann sich die extreme Taktlosigkeit erlauben, die Musik mit seinem Herzen, seinem Hirn, seiner Seele zu befrachten und das leichte, luftige, ungreifbare Gerüst der Musik zu zwingen, diese Last zu tragen. Dennoch ist es eine süße Verlockung, barbarisch zu sein! Und noch dazu einfacher, eindrucksvoller und gewinnbringender!

In diesem Sinne ist Die Neunte zivilisatorisch als Musik jenseits der Bedeutung, andererseits beruht ihre fragile Stellung darauf, dass sie eine Einladung zur außermusikalischen Interpretation, also unmittelbaren Überfrachtung, enthält. Damit läuft sie Gefahr, dass sie mit Bedeutungen überladen wird, die sie letztlich banalisieren. Doch ist sie stark, und so vergeht dieser eine Aspekt jeweils zeitgebunden, der zivilisatorische Aspekt gehört aber der Zeitlosigkeit und überlebt sicher auch die nächsten 200 Jahre.

Die weltweiten Feierlichkeiten waren also angebracht, so dass mutmaßlich jedes Orchester der Welt, gestern, oder zumindest in dieser Woche, die Neunte aufgeführt hat.

Auf dem TV-Kanal Arte hatte man sich dafür etwas Besonderes einfallen lassen, eine im Ganzen sympathisch gelungene Idee, ein europäischer Abend, nämlich jeden der vier Sätze aus einem anderen Konzertsaal Europas zu senden, jeweils zwischen den Sätzen übergeleitet durch Barbara Rett vom ORF und Christian Merlin von Radio France: kurz genug, um nicht zu stören und für das breite Publikum ausreichend informativ. Das Ganze kontrastierte dazu hübsch mit dem parallel stattfindenden Halbfinale der Champions League zwischen Paris und Dortmund.

Der erste Satz erklang aus dem Leipziger Gewandhaus, wo das Gewandhausorchester unter seinem Chefdirigenten Andris Nelsons zu erleben war. Es war bedrückend, mit ansehen zu müssen, wie Nelsons mit bemühter Mimik ein paar dynamische Äußerlichkeiten forcierend das Orchester zu einer irritierenden Stumpfheit im Klang und nur zu glanzlosem musikalischen Ausdruck brachte.

Sicher, das Orchester spielte hervorragend, und zeigte seine technische Klasse und musikalische Routine, aber ist das wirklich alles, was die Leipziger als eines der führenden und traditionsreichsten europäischen Orchester bereit sind, für eine Neunte zu diesem Anlass aufzubieten? Spielen wir bei Beethoven denn nicht immer in jedem Moment um unser Leben und unsere Würde als Menschen, Prometheus und Zeus in einem?

Das ist es doch, was Beethoven von uns verlangt, nie lässt er uns los, nie gönnt er uns eine Verschnaufpause von der Freiheit, und nichts ist so fordernd für Ausführende, wie seine Musik. Es existiert das obige Photo aus dem 2. Weltkrieg, wo ein einzelner Geiger im Kreis von in den Krieg ziehenden sowjetischen Soldaten musiziert. Die seelische Intensität des Spiels und des Hörens sind fast mit den Händen zu greifen. Der Titel, den der Photograph dem Bild gegeben hat: „Die Musik Ludwig van Beethovens“. Aber das?

Das zu spielen, was in der Partitur steht, reicht nun einmal nicht. Der erste Satz ist doch ein Stück Musik wie es dramatischer kaum sein kann, mit seiner gnadenlosen Stringenz und Unerbittlichkeit, selten in eine Helligkeit führend, und mit einer Reprise des ersten Themas, die so gar nichts von Rückkehr, dafür mehr etwas von Apokalypse hat. Wo ist das alles geblieben? Nichts davon ist entstanden, der einzige Lichtblick war das parallel in Paris von Mats Hummels geköpfte 1:0, das, während in Leipzig nichts geschah, im Liveticker aufblinkte.

Es geht nicht darum, dass hier eine Interpretation, bzw. die Absicht zu einer gewissen Art der Darstellung danebengegangen ist, nein, rein gar nichts ist passiert, als wenn es um nichts ginge, trist war es, kein Wille vorhanden, sich mit der Wucht von Beethovens Musik zu verbinden.

Die Gründe dafür sind der Spekulation überlassen, aber vielleicht hat den Dirigenten Andris Nelsons bereits das Schicksal ereilt, das den jungen Dirigenten und Dirigentinnen, die jetzt schon Stars der Szene sind oder bald zu solchen werden, erfahrungsgemäß in den meisten Fällen bevorsteht: dass früh überspannt einfach keine Entwicklung stattfand oder stattfindet; zu jung und zu viel in wichtigen Positionen zu dirigieren, von Pult zu Pult hetzend, mindestens zwei internationalen Klangkörpern als Chef vorzustehen, und von der Karriere und der Musik, die nicht mit sich spaßen und am Ende doch nicht alles mit sich machen lässt, zerrieben zu werden. Musik ist aber eine zu ernste Sache, und es ist erschütternd, einen einst inspirierenden Dirigenten so matt sehen zu müssen.

1:0 für Beethoven, der Ball rollte am Torwart vorbei ins Netz.

Viele besorgte und wohlmeinende Musikliebhaber und Musikliebhaberinnen sorgen sich auch um die Zukunft von Jungstar Klaus Mäkelä, der so vielen Orchestern verpflichtet ist, dass es müßig ist, sie hier aufzuzählen. Ihm und dem Orchestre de Paris fiel der zweite Satz der Neunten zu. Der Beginn des Satzes stand unter großem juvenilem Druck zur Rasanz, zu dem vor allem junge Dirigenten sich verpflichtet fühlen, und wie es auch dem Image entspricht, das das Publikum erwarten mag. Energie bedeutet aber auch in Form rasanter Bewegung noch nicht musikalische Kraft, und so hat das Orchestre de Paris für die ersten vier Takte den cartoonesken Klang einer alten Langspielplatte, die auf der 45er-Geschwindigkeit abgespielt wird. Dieser zugegebenermaßen boshafte Eindruck verflüchtigte sich schnell auf hervorragende Weise hinweggefegt durch das unglaublich präsente, artikulierte und perfekt funktionierende Orchestre de Paris, als es dem Beginn sofort die aufgesetzte Schärfe nimmt und den kontrapunktisch verzwickten Satz geistig äußerst präzise und beweglich in die Hand, und damit in einer für Orchester in solchen Momenten typischen Dynamik dem Dirigenten unmerklich aus der Hand, nimmt.

Es ist eine erstaunliche, hochprofessionelle Orchesterleistung, die der Dirigent aber nicht wahrzunehmen schien, seine fast einfältige Gestik ist der Sache Beethovens und des Orchesters nicht dienlich; er eilt frisch und talentiert ins Nirgendwo, und dem Orchester ist es zu verdanken, dass am Ende keine Karikatur herauskommt, sondern der Neunten ihre Würde nicht genommen wird.

Mäkelä, der absolute Jungstar der Abteilung für Popkultur der klassischen Musik, wird sicherlich bald vom nächsten Jungstar verdrängt, und er beginnt bereits, sich selber zu kopieren. Frei nach dem jüngst verstorbenen César Luis Menotti zählt aber im Fußball, so auch in der Musik, nur der Augenblick, und an diesem scheitern alle, die das Risiko der Zerbechlichkeit der eigenen Freiheit im Zusammenspiel der Kräfte nicht eingehen. Bei allem Talent ist, sei es durch zu viel Arbeit oder mangels künstlerischen Eigenbedarfs, schon jetzt das Ausbleiben einer weitergehenden musikalische Entwicklung bei Klaus Mäkelä absehbar.

Er ist auch nicht der erste Dirigent, der schon so früh in der Karriere einen Mangel an künstlerischer Perspektive zeigt; ein Schicksal, vor dem man jeden und jede nur warnen kann, über der Glattheit und dem Strahlen des Erfolges nicht zu vergessen, worum es eigentlich geht. Künstlerische Stagnation kann nicht lange über die Leere und eigentliche Bedeutungslosigkeit des ersten, genialisch-talentbasierten Schwungs der Karriere hinwegtäuschen. Das ist vielleicht alles nur mit einer tiefen Ratlosigkeit des Musikbetriebs zu erklären, für den die Position des Orchesterchefs, bzw. der Orchesterchefin, keine vorwiegend künstlerische, sondern mehr repräsentative Bedeutung hat. Damit rutscht die Hauptarbeit zu den Orchestern, die dabei auf ganz andere Weise über sich hinauswachsen, als dies ursprünglich gedacht war, nämlich trotz, nicht wegen eines Dirigenten, bzw. einer Dirigentin.

2:0 für Beethoven durch ein scharf geschossenes Eigentor.

Nur Narren interessieren sich für Geburtsdaten, sagte, um noch etwas bei den Fussballweisheiten zu verweilen, einst Otto Rehagel. Den Beweis trat im dritten Satz der musikalisch gereifte Riccardo Chailly am Pult des Orchesters der Mailänder Scala an. Langgediente Orchestermusiker und Orchestermusikerinnen kennt man mit der für Laien oft seltsam anmutenden Bemerkung: wenn jemand die Arme hebt, wissen wir schon, wie es klingt. Dieses in seiner besonderen Schönheit eigenartige Phänomen war bei Riccardo Chailly zu bestaunen. Mit dem Heben der Arme war die Musik vorbereitet, die im Begriff war zu erklingen, und man wusste, was kommen und wie schön es sein würde.

Der dritte Satz wird als die eigentliche Herzkammer der Neunten geschätzt, und die von Chailly sorgsam geführte cantabilità des Orchesters war der ideale Boden, auf dem dieser Satz seine Noblesse entfalten konnte. Die natürliche Selbstverständlichkeit des Dirigats stellte die vorhergehenden Darbietungen nicht nur in den Schatten, sondern ließ sie vergessen. Beim Forte-Höhepunkt gegen Ende des Satzes war mit leichtem Schmunzeln eine Italianità, eine opernhafte Gestik und Ahnung der Fidelio-Trompete wahrzunehmen, was angesichts der schönen Tradition des Hauses nicht nur verzeihlich sondern herzlich angemessen war.

Anschlusstreffer nach einem eleganten Freistoß, nur noch 2:1 für Beethoven.

Für den vierten Satz wurde in das Wiener Konzerthaus umgeschaltet. Hätte es niemand angesagt, so hätte es trotzdem jeder bemerkt, als schon kurz nach dem Beginn, an der ersten lyrisch geeigneten Stelle, in einer typisch österreichischen Kameraeinstellung, wie sie die Welt vom Neujahrskonzert kennt, ein goldfarbenes Ornament im Saal in Großaufnahme gezeigt wurde, aus dem zu den Musikerinnen und Musiker der Wiener Symphoniker übergeblendet wurde.

Den vierten Satz gaben also die Wiener Symphoniker unter Petr Popelka, ihrem designierten Chefdirigenten, der für die erkrankte Joana Mallwitz eingesprungen war, ergänzt durch die Wiener Singakademie (Einstudierung: Heinz Ferlesch), sowie das Solistenquartett Rachel Willis-Sørensen, Sopran, Tanja Ariane Baumgartner, Alt, Andreas Schager, Tenor, und Christof Fischesser, Bass.

Der Satz startete furios, ein vital-musikantischer Popelka dirigierte das atemverschlagende Presto auf drei und nahm ihm so den klassischen Charakter und Sinn im Widerspurch zu den Anweisungen der Partitur, was die Aufführung sofort mit einer übermotiverten und wilden Zugriffslosigkeit bezahlte, die die Vordergründigkeit dieses Ansatzes bloßstellte. Wann setzt sich endlich die Erkenntnis durch, dass auch die dramatischste Musik Beethovens kein Theaterdonner ist?

So gestartet, sangen die Celli schön und ausdrucksvoll das Recitativo, das aber eigentlich auch den Bässen gehört. Nun kann man im Fernsehen natürlich nicht sagen, ob die Tonregie hier die Mikrofone falsch eingestellt hat, oder die klangliche Disposition auf der Bühne verantwortlich ist, aber schade ist es schon, wenn hier nicht die stärkste aller Oktaven im Orchester als Ganzes erklingt. Ganz entschieden wird hier vom Dirigenten viel gewollt und Energie eingesetzt; Gestaltungswille wollte präsentiert werden, aber musikalische Kraft erschien abermals nicht. Das große Freuden-Thema, als es endlich an der Reihe war, erklang zwar wie vorgeschrieben in kaum hörbarem pianissimo, das aber als lokaler Effekt verpuffte, da es am cantabile und damit der folgenden Kontinuität des dynamischen Aufbaus fehlte. Das sind ärgerliche Details; die Wiener Symphoniker sind aber, wenn sie einmal wollen, ein prachtvolles, herrlich klingendes Orchester, das nun die musikalische Initiative übernahm und den Ruf der Musikstadt rettete.

Die Solisten, zur besseren Sichtbarkeit auf einem Balkon über dem Chor platziert, verdienen auch Erwähnung, alles war ordentlich gesungen, ebenfalls mit einer gewissen, vor allem mimischen, Übermotivation, und so gehorchte auch dieser Teil der Aufführung keinen rein musikalischen Kriterien. Der Chor sang brav, war aber zu technisch eingestellt, als dass er musikalisch hätte überzeugen und klingen können, zudem waren Intonationsprobleme, wie sie hier einfach nicht vorkommen dürfen, unüberhörbar, und die oft ungesanglich abgehackte Diktion diente keiner auf die Musik anwendbaren Deutlichkeit – sei’s drum, es war alles wunderbar, schwungvoll, vital, schön, hingerissen, und leider ein wenig bedeutungslos. Der unwiderstehliche Schluss ließ rauschend-jubelnden Beifall aufbranden.

Lehrreich war das Konzert: Nelsons, Mäkelä und Popelka zeigten dem Publikum jeder auf seine Weise, was es bedeutet, der Oberfläche der Musik auf den Leim zu gehen und sie als eine Abfolge von Effekten misszuverstehen. Chailly hingegen ließ seinen Teil als einen Bezug zwischen Momenten entstehen, das zu einem Ganzen führt. Das höchste Lob aber gilt den Orchestern, die sich dem Klein-Klein souervän überlegen zeigten, jene zusätzliche Anstrengung, die den Mailändern erspart blieb.

Endstand: 3:1 für Beethoven, und in summa 2:0 für Dortmund.

Dem Sender Arte ist mit diesem Konzert für eine erhellende Erinnerung an etwas ebenfalls Fragiles zu danken, das, als geistiges Phänomen („Europa ist ein großer Gegenstand, viel größer als seine Kriege,“ schrieb Heinrich Mann) ebenso wie die Neunte nur im Augenblick seiner immer neuen Entstehung existiert. Dazu mit weiteren Worten Alberto Savinio:

Der Begriff Europa kann nicht mit geographischen Grenzen umschrieben werden. Er überschreitet (sie) und dehnt sich überallhin aus, wo sich die europäische Lebenssituation wiederholt, das heißt die Möglichkeit einer geistigen Einheit mehrerer durch gleiche kulturelle und moralische Ideen verbundener Völker.“

____

Anm.: Die Zitate sind dem Band „Mein privates Lexikon“ von Alberto Savinio, erschienen in der Anderen Bibliothek, Eichborn Verlag Frankfurt (2005), entnommen. Für das verwendete Photo kann vorläufig weder der Photograph noch das Copyright genannt werden. Hierfür wird um Nachsicht gebeten.

[Jacques W. Gebest, 8. Mai 2024]

Orchestermusik von Max Baumann und Felix Draeseke in Kronach

Anlässlich des 25. Todestages von Max Baumann veranstaltet die Kronacher Kulturförderung e. V. am 17. Mai 2024 um 19:30 im Kreiskulturraum Kronach ein Konzert zu Ehren des 1917 in Kronach geborenen Komponisten.

Die Hofer Symphoniker präsentieren unter der Leitung von Manuel Grund ein Programm, das neben Baumann einen weiteren Komponisten aus dem fränkischen Kulturraum in den Fokus rückt: Felix Draeseke. Von Richard Wagner entscheidend geprägt, gegen Ende seines Lebens in Opposition zu Richard Strauss geraten, war Draeseke eine herausragende Figur der sogenannten Neudeutschen Schule. Sein erst lange nach seinem Tod uraufgeführtes Symphonisches Andante für Violoncello und Orchester, entstanden an einem biographischen und künstlerischen Wendepunkt in Draesekes Leben und vermutlich ein autobiographisches Dokument, wird hier vom Vorspiel zu Wagners Lohengrin und der frühen Violoncello-Romanze des damals noch ganz im Fahrwasser der Klassiker segelnden Strauss umrahmt. Als Solist in den Werken von Draeseke und Strauss wird Jörg Ulrich Krah zu hören sein.

Max Baumann, Schüler Boris Blachers und seit 1946 als Musikpädagoge in Berlin tätig, wurde vor allem durch seine geistliche Musik bekannt, hinterließ allerdings ein Gesamtwerk, das von vokalen und instrumentalen Miniaturen bis zu Oratorien und Opern unterschiedlichste Gattungen umfasst. Seine Symphonie Nr. 1 op. 14 gehört zu seinen wichtigsten frühen Arbeiten und ist zugleich sein erstes größeres Orchesterwerk. Mit ihr auf dem Programm des Abends steht als Uraufführung ein Werk, dessen Autor und Titel noch nicht bekannt gegeben wurden: die Preisträger-Komposition des Max-Baumann-Kompositionswettbewerbs, welche als Variationen über ein Thema aus Baumanns Drei Radierungen op. 58 zu gestalten war.

[Norbert Florian Schuck, Mai 2024]

Hinweisung zur Transparenz: Der Autor obenstehender Zeilen ist Erster Vorsitzender der Internationalen Draeseke-Gesellschaft, welche das erwähnte Konzert finanziell unterstützt.

Kraft bis zur Grenze der Hörbarkeit

An einem kühlen Abend, dem wahrscheinlich letzten Rückfall des diesjährigen Winters, strebten vereinzelte Menschen mit eiligen Schritten durch dunkle Gassen, die Hände in den Seitentaschen der Mäntel, den Kopf eingezogen zwischen Kragen und Schultern. Das gemeinsame Ziel war ein etwas versteckt liegender Saal am Rande des 1. Wiener Bezirks; ein repräsentatives Haus, ein Palais aus der Gründerzeit, von derem einst selbstverständlichen Stolz kündend. In diesem Palais ein Saal, holzgetäfelt, anheimelnd, auch heute noch geschmacklich zu ertragen, findet eine vergangene Zeit peu à peu ihre neue Gegenwart.

Die vergangene Zeit ist die von Stefan Zweig besungene „Welt von gestern“, eingängig geschriebene Pflichtlektüre für alle, die verstehen wollen, warum in Wien manche Pflastersteine noch heute singen können, und des Buches Raunen von einem aufgelassenen Konzertsaal, dem legendären Bösendorfer-Saal in der Herrengasse, wo sich heute das einst erste Hochhaus Wiens befindet, damals, vorher, lang dahin, einer der Klavier- und Kammermusiktempel der Welt. Das letzte Konzert in jenem Saal wurde einst vom Rosé-Quartett gespielt, dessen Primarius der Schwager von Gustav Mahler war, und dessen Tochter Alma Rosé, nur um sich die letzte Schrecklichkeit des Vergehens jener Welt einmal mehr in Erinnerung zu rufen, in Auschwitz um ihr Leben gebracht wurde, wo sie – einer der absoluten Gipfel des Zynismus – das Mädchenorchester zu leiten hatte, das zumindest den Musikerinnen in einigen Fällen, wie Anita Lasker-Wallfisch und Esther Bejarano, das Überleben ermöglichte.

Die nun langsam entstehende Gegenwart ist der in seiner zweiten Saison befindliche Bösendorfer-Zyklus im Haus der Ingenieure in der Eschenbachgasse; und dieses Unterfangen der Klavierfabrik Bösendorfer ist aus vielen Gründen ein Glücksfall.

Die damalige Schleifung des alten Bösendorfer-Saales koinzidierte mit dem Bau und der Eröffnung des Wiener Konzerthauses, das ein Monopol zweier Konzerthäuser festigte, die zwar zu den akustisch immer noch feinsten, und natürlich überhaupt bedeutendsten, berühmtesten und schönsten (Wiens, und damit) der Welt gehören, nicht umsonst größter lokaler Stolz und Sehnsuchtsort der großen weiten Musikwelt, jedoch auch das in Wien immer schon jenseits des Starkults umtriebige und herzenskünstlerische Musikleben zu annullieren die Tendenz hatte. Anders gesagt: außerhalb der beiden großen Häuser und ihrer Konzertreihen fand und findet sich kaum ein Platz für die zahlreichen wunderbaren Künstlerinnen und Künstler, die es überall gibt, und den Bedarf der Menschen nach Musik, der von der Öffentlichkeit ausreichend wahrgenommen wird, und in dem das Publikum die Möglichkeit hat, zum Fachpublikum zu reifen, das sein Gehör an der Musik schult und nicht die Augen am neuesten angesagten Stern am wetterwendischen Musikhimmel.

Die große Wahrnehmung fehlt dem Bösendorfer-Zyklus sicher noch, wobei die Idee eines Geheimtipps durchaus ihren bleibenden Reiz hat, doch nimmt er in einer Stadt, in der nichts so hoch geschätzt wird wie Tradition, mit historischem Recht seine eigene Geschichte wieder auf, berichtet und bezeugt von Stefan Zweig („…Als die letzten Takte Beethovens verklangen, vom Rosé-Quartett herrlicher als jemals gespielt, verließ keiner seinen Platz… Man verlöschte die Lichter, um uns zu verjagen. Keiner der vier- oder fünfhundet Fanatiker wich von seinem Platz. Eine halbe Stunde, eine Stunde blieben wir, als ob wir es erzwingen könnten, durch unsere Gegenwart, dass der alte geheiligte Raum gerettet würde.“) und öffnet einen neuen Raum, eine neue Möglichkeit, außerhalb der Wiener Traditionshäuser Klavier- und Kammermusik auf höchstem Niveau zu hören. Bevor sich diese Zeilen also der Protagonistin des Abends zuwenden, sei also nachdrücklich und mit deutlicher Empfehlung auf die Existenz dieser Konzertreihe, die es schafft, als Projekt aus der Vergangenheit heraus Gegenwart zu schaffen, hingewiesen.

Nun zum Konzert selber, ein Klavierabend der Pianistin Martina Filjak, die, aus Kroatien stammend in Wien studierte und 2009 in Cleveland einen der wichtigsten Klavierwettbewerbe überhaupt in mehreren Kategorien gewann. Die Vita im Programmheft gab dem Publikum bereits die vorauseilende Möglichkeit zur Einschätzung ihrer Qualitäten, indem hier, einer allgemeinen Unsitte folgend, der Beschreibung der Karriere vorschusslorbeerend die Wertung durch in diversen Rezensionen gesammelte ausgesuchte Adjektive vorangestellt wurde. Dieser Salbe hätte es gar nicht bedurft, denn vom ersten Moment an zeigte Martina Filjak, aus welchem Holz sie geschnitzt ist: eine hochmusikalische und absolute Beherrscherin ihres Instruments, und künstlerisch und stilistisch in der Lage, einen großen Bogen vom Barock in die Gegenwart treffsicher zu spannen.

Beim Wort Barock müssen wir gleich innehalten. Händel und Bach auf einem modernen Flügel: ja geht denn das? – Ja, es geht, denn zuerst ist diese Musik, Händel’s Suite Nr. 7 in g-moll und die Chromatische Fantasie und Fuge in d-moll von Bach, zwar nicht für einen modernen Flügel geschrieben worden, und Originalklang-Anhänger mögen sich auch lieber aus Prinzip abwenden, als sich einer nicht neuen Erkenntnis zu öffnen: es ist in dieser Musik etwas Allgemeingültiges, etwas wie ein Tongebäude, ein Tonsatz, dessen Struktur und Bewegung per se überinstrumental ist, und eben auch auf einem modernen Instrument verwirklicht werden kann. Musik wird nicht vom Klang gemacht, sondern vom Menschen, und ein musikalischer Geist kann, wie hier Martina Filjak, diese Musik darstellen.

Der Pianistin gelang das sehr gut, ihre Fähigkeit zur gesanglichen Stimmführung im piano und in langsamen Sätzen ist außergewöhnlich, lässt ständig neu aufhorchen und machte besonders die Suite von Händel zu einem hellhörigen Erlebnis. Bach’s Fantasie erlag ein wenig, wie vorher schon die großgestigen Momente bei Händel, einer gewissen déformation professionelle, einer Art von großgestigem Pianismus, der dem letzten Gelingen des Ganzen etwas den Atem nahm; die Künstlerin ließ sich von diesem Momentum zu Ungunsten des sonst so gefassten Klangs mitreißen, was auch der Komplexität der Fuge nicht zugute kam, im Ganzen aber doch überstrahlt von der intimen Gesanglichkeit ihres Spiels.

Nach der Pause folgte der „Faschingsschwank aus Wien“ von Robert Schumann. Die Musik von Schumann ist technisch immens herausfordernd und der musikalische Zugang zu ihr manchmal sperrig, doch straft er jene in Wien Ansässigen Lügen, die immer noch dem Wahn erlegen sind, dass die größte Musik ausschließlich in Wien entstanden sei (ja, es gibt sie noch, diese Ansässigen, und wir verstehen uns untereinander ganz wunderbar). Das Werk und seine Aufführung bildete den künstlerischen Höhepunkt des Abends. Martina Filjak war hier ganz und gar in ihrem Element. Das Werk fordert pianistisch alles, ist ungeheuer komplex und kann nur mit entsprechendem Zugriff, großer Kraft und bei gleichzeitiger pianistischer Sensibilität, einer wirklichen Fähigkeit zur Gesanglichkeit bewältigt werden. Über alle diese Qualitäten verfügt die Pianistin auf höchstem Niveau, und das Publikum hörte und staunte.

Nach diesem Werk flachte die Kurve insofern ab, als sich die folgenden Werke von Skrjabin und Liszt beim besten Willen künstlerisch nicht auf der Schumann’schen Höhe befinden. Martina Filjak erläuterte die Entstehung des „Präludium und Nocturne“ von Skrjabin, einem Werk, das der Jüngling (op. 9) unter dem Eindruck des angstvollen Schreckens über eine Sehnenscheidenentzündung der rechten Hand für Klavier linke Hand komponierte. Ein etwas sentimentales, hörbar zum Selbstmitleid neigendes Werk, das im Werden jedoch zu einigem Schwung und starker Eindringlichkeit wächst, wiederum von der Pianistin linker Hand mit einem solchen Können zum Leben erweckt, dass das Staunen über sie das Mitleid für das Selbstmitleid des Komponisten bei weitem überlagerte. Liszt’s „Réminscences de Lucia Lammermoor“ sind dann ein virtuoses, salonhaftes Gewerke, das als wiederum souverän-phantastisch gespielte Zugabe durchging, jedoch seine beim Komponisten so oft zu ertragende Leere nicht verheimlichen konnte. Abermals reifte die Erkenntnis, dass Schumann eben doch der bessere Liszt ist.

Ein kleines Wunder folgte mit der Zugabe, denn Martina Filjak, ausdrücklich dankbar für das Format der Konzertreihe, den schönen und akustisch sehr angenehmen Saal, den hervorragenden Bösendorfer-Flügel (das darf erwähnt werden, obwohl der Rezensent dafür kein Geld von Bösendorfer erhält), der die klanglichen Facetten, zu denen die Pianistin bei diesem vielfältigen Repertoire fähig war, ermöglichte, sowie das im Hören gebannte geneigte Publikum, das von der Pianistin im Handumdrehen zum Fachpublikum gemacht wurde, gab und schenkte uns Arvo Pärt’s „Für Alina“. Der Pianistin abermals erstaunliche Fähigkeit zum gesanglichen Spiel, zum Klingenlassen an der Grenze zur Hörbarkeit, siegte im leisesten pianissimo über den parallel wahrnehmbaren Lärm eines zufällig auf der Straße vor dem Saal haltenden Autos, aus dessen Boxen Bässe sinnlos wummerten, die es jedoch, wie damals das abgedrehte Licht, nicht schafften, diese Gegenwart zu stören.

[Jacques W. Gebest, April 2024]

Glockenblumenblüh’n auf dem Bluthügel: Torben Maiwald spielt Solowerke auf der Campanula im Goetheanum.

Torben Maiwald

Seit 22 Jahren lebe ich in der Schweiz, doch nach Dornach hatte es mich noch nicht verschlagen. War der Respekt zu groß? Ja, dort befindet sich das (2.) Goetheanum (das erste war ja noch zu Lebzeiten Rudolf Steiners abgefackelt worden, und die Legende besagt, dass er am Tag nach dem verheerenden Brand in der Silvesternacht 1922/23 den Entschluss zum Wiederaufbau – nunmehr aus Stein statt aus Holz, weniger wunderschön und weniger vulnerabel zugleich – gefasst habe), also die Gralsburg der Anthroposophie. Aber zugleich ist dieser herrliche Ort ein ganz schrecklicher, und stolzer: Auf dem Bluthügel, auf welchem das Goetheanum thront, fand 1499 die entscheidende Abwehrschlacht der Eidgenossen gegen den Schwäbischen Bund statt. Der Hügel war durchtränkt mit dem Blut von tausenden Kämpfern, und die Unabhängigkeit der Schweiz nahm ihren unaufhaltsamen Lauf.

Ich komme also in der Abenddämmerung mit der Tram vom Basler Hauptbahnhof an der Endstation Dornach an und frage einen älteren Herrn, wo’s zum Goetheanum geht. Er sagt, dass der schnellste Weg nicht so ganz leicht zu finden ist, und begleitet mich ein gutes Stück bergauf, um mir dann die restliche Fußroute zu weisen, mit dem Hinweis, dass ich jetzt auf den Pfad gelangen werde, der vor wenigen Jahren von ‚Bluthügelweg‘ in Hügelweg umbenannt wurde. Verbale Entschärfung allerorten, auch in der Schweiz, sozusagen als Ausgleich für die verbale Aufrüstung seit der Covid-Gleichschaltung…

Campanula

Zum Goetheanum komme ich erstmals wegen eines besonderen Konzerts. Der deutsche Komponist, Cellist, Pianist, Musikphänomenologe und Philosoph Torben Maiwald, Jahrgang 1978, spielt 525 Jahre nach dem großen Gemetzel auf dem Bluthügel einen Soloabend auf der Campanula. Nein, das ist keine Glocke, die heroisch vom einstigen Schwerterklingeln widerhallt, sondern eine Glockenblume, aber eine große, hölzerne der besonderen Art: ein 5-saitiges Cello mit ganz vielen Resonanzsaiten und einem zusätzlichen turmartigen Schneckenaufbau mit 17 weiteren, ausschließlich die obertönige Höhe erweiternden Resonanz-Saitchen. Es klingt, als würde man ein Cello auf der geschlossenen Wendeltreppe unter der Kanzel einer Kathedrale spielen – wie mit einem kleinen nahen und einem großen fernen Nachhall, mit einer ganz kleinen – eingebildeten – Spur von Echogefühl. Und es ist mutmaßlich einigermaßen heikler zu spielen als ein normales Cello. Das Ganze ist sensationell, aber mehr in Richtung Stille als in Richtung offenkundiger Pracht – was auch, wahrscheinlich vor allem, am Spiel Torben Maiwalds liegt, dessen Auftritt jeglicher Show und Veräußerung entbehrt, ebenso wie jeglicher Trockenheit und Beweislastigkeit. Er musiziert in aller Schlichtheit – in dem Sinne, wie Bach und seine Zeitgenossen das Wort verstanden haben, also mit Klarheit, Verfeinerung und Tiefgang, und mit von nichts zu viel oder zu wenig, der ideale Mittelpfad zwischen Primitivität und Verkünstelung, den kaum einer sicher zu gehen weiß, weil der Narzissmus, den wir alle kennen in uns selbst, in jedem Moment der Todfeind dieser inneren Balance ist. Zwischen Scylla und Carybdis also schifft uns Steuermann Maiwald hindurch, mit so besonnener wie feinnerviger Navigation, und zwischendurch bedaure ich eigentlich nur ein wenig, dass kein Ton Bach erklingt.

Campanula, Detailansicht

Der gesamte Abend ist anthroposophischer Musik gewidmet, und das ist – in Kürze – hochinteressant: Jan Stuten (1890–1948), der Hofkomponist Rudolf Steiners (also symbolisch ein bisschen das, was Thomas de Hartmann für George Iwanowitsch Gurdjieff war), mit echt freigeistiger, in ihrer Schlichtheit weite, manchmal unendlich anmutende Räume durchschreitender Musik (3 Trauermusik-Miniaturen) von durchgeistigter Schönheit in freier Tonalität; Hermann Picht (1905–33), ganz jung verstorben und in seiner Sprache dem Zwölftonspieler Josef Matthias Hauer nah, mit drei kleinen Soloviolin-Stücken von anmutiger Bizarrerie; Christa von Heydebrand (1915–71) mit Bratsche-Solowerken: einem Purgatorio in 4 Miniaturen und einem Abendrot, alles von idiosynkratischer Eigenwilligkeit, unbeirrbar über Stock und Stein geschrieben und gerade in der schroffen Abweisung jeglicher Politur fesselnd; und schließlich der Professionellste im Bunde mit dem einzigen Originalwerk für Cello an diesem Abend (alle anderen Stücke hat Maiwald selbst auf sein Instrument übertragen): Leopold van der Pals (1884–1966), mittlerweile als Orchester- und Kammermusikkomponist auf Tonträger dank einer Serie bei cpo auch ein bekannter Name unter den Unbekannten, mit seiner dreisätzigen Sonate für Cello solo op. 64 von 1925, also zwei Jahre nach der Brandstiftung vor Ort und im Todesjahr seines Meisters Rudolf Steiner komponiert – dieses Werk schließt nicht nur sehr wirkungssicher, es ist wohlproportioniert durchkomponiert, mit klarem Formbewusstsein, wenn auch nicht ganz frei von ein paar Routine-Sequenzierungen. Ein so wunderbares wie eigentümliches und abenteuerliches Programm. Die Darbietungen sind ganz wunderbar und weisen nach innen. Man geht erfüllt nach Hause, ohne Rausch, aber erhellt und sozusagen lichtdurchflutet. Überflüssig zu sagen, dass Maiwald sein Instrument in allen Tonlagen meisterlich beherrscht und der „interpretatorische Dämon“, den einst Celibidache so treffend bei Heinrich Schiff und Kollegen lokalisierte, hier nicht mal die Chance erhielt, hinter dem Griffbrett hervorzulugen, geschweige denn zuzuschlagen. So darf, soll und muss es sein. Musik, die dazu noch passen würde? Johann Sebastian Bach, John Foulds, Heinrich Kaminski, Martin Scherber – ja, und auch Gurdjieff, Pärt, und Maiwald selbst…

[Lena-Salome Bachrich, April 2024]

Perchtoldsdorf erkundet die musikalische Welt von Franz Schmidt

Das Franz Schmidt-Sinfonieorchester spielte am 14. April 2024 in der Pfarrkirche St. Augustin in Perchtoldsdorf unter der Leitung von Anthony Jenner ein Franz Schmidt gewidmetes Programm mit Werken verschiedener Besetzungen. An der Franz-Schmidt-Orgel der Pfarrkirche und am originalen Flügel des Komponisten war Stefan Donner zu hören.

St. Augustin, Perchtoldsdorf

Das musikalische Österreich hat 2024 einige Gründe zu festlichen Jubiläumsveranstaltungen, denn ins laufende Jahr fallen die runden Gedenktage gleich mehrerer herausragender österreichischer Komponisten. Am meisten präsent ist dabei Anton Bruckner, dessen Geburtstag sich im September zum 200. Male jähren wird. (Siehe dazu auch unseren Bericht über die Bruckner-Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek.) Nicht lange danach steht der 150. Geburtstag Arnold Schönbergs an, und im November der 50. Todestag von Egon Wellesz.

Ein nicht minder wichtiges Jubiläum ist der 150. Geburtstag Franz Schmidts am 22. Dezember 2024. Der im heutigen Bratislava geborene Komponist der Notre Dame und des Buchs mit sieben Siegeln lebte von 1888 bis 1926 in Wien, danach in der südwestlich angrenzenden Marktgemeinde Perchtoldsdorf, wo er 1939 gestorben ist. Was das diesjährige Gedenken an den Meister betrifft, so hat der Vorort die Hauptstadt in den Schatten gestellt: Seit Ende Februar wird in Perchtoldsdorf mit einer Konzertreihe an Schmidt erinnert, die sich bis zur Feier seines Geburtstags im Dezember auf insgesamt zwölf Veranstaltungen erstrecken wird. Durchgeführt werden sie von der Perchtoldsdorfer Franz-Schmidt-Musikschule, die nicht nur durch ihren Namen und die Pflege seiner Werke an den Komponisten erinnert, sondern auch durch ihre Innenausstattung: In den Direktionsräumen steht normalerweise neben originalen Möbelstücken aus Schmidts letzter Wohnung, darunter Schränken, in welchen Partituren, Bücher und andere Gegenstände aus seinem persönlichen Besitz verwahrt werden, auch der Bösendorfer-Flügel, auf dem der Meister daheim zu Musizieren pflegte. Wer jedoch am 14. April 2024 die Musikschule betrat, fand das Klavier nicht an seiner üblichen Stelle: Man hatte es in die nahegelegene Pfarrkirche St. Augustin gebracht. In dieser Kirche, die sich burgenartig über den Marktplatz der Gemeinde erhebt, ereignete sich am Abend desselben Tages das zweite Konzert des Perchtoldsdorfer Schmidt-Zyklus.

Unter dem Motto Die musikalische Welt von Franz Schmidt präsentierte das Franz Schmidt-Sinfonieorchester unter Leitung des Regenschori der Pfarrkirche, Anthony Jenner, gemeinsam mit dem Organisten und Pianisten Stefan Donner ein Programm, das Schmidts künstlerische Vielseitigkeit verdeutlichte. Das Konzert begann mit einer Hommage des Komponisten an seine ungarischen Wurzeln, den Variationen über ein Husarenlied. Gespielt wurde nicht das komplette Orchesterwerk, sondern eine Kurzfassung, in welcher, gewiss aus Rücksicht auf das zu einem großen Teil aus Musikschülern und Laienmusikern bestehende Orchester, die ausgedehnte langsame Einleitung des Werkes und einige der Variationen fortgelassen wurden. Weiter ging es mit dem großen Orgelkomponisten, von dem Stefan Donner auf der Franz-Schmidt-Orgel der Pfarrkirche zwei Stücke zu Gehör brachte: die Toccata C-Dur und das G-Dur-Präludium aus den Vier kleinen Präludien und Fugen. Der Organist wählte deutlich kontrastierende Registrierungen für die charakterlich sehr verschiedenen Stücke. Klang die Toccata hell, strahlend und durchdringend, so war das ruhige Präludium in dezente, warme Klangfarben gehüllt. Loben muss man Donners Tempogestaltung in der Toccata. Er spielte sehr gebunden und wählte ein relativ gemessenes Zeitmaß, das es ihm ermöglichte, die harmonischen Ereignisse, die sich in der gleichmäßig strömenden Sechzehntelbewegung des Stückes verbergen, adäquat zur Geltung zu bringen. Eine großartige Aufführung!

In der Mitte des Programms stand ein heiteres Gelegenheitswerk, mit dem Schmidt all jenen einen Haken schlägt, die ihn allein auf den tiefgründigen Harmoniker, strengen Kontrapunktiker und schwerblütigen Introvertierten festnageln wollen: Vermutlich in den späten 1900er Jahren während eines Ferienaufenthalts für das Familienensemble seines Freundes Alexander Wunderer entstanden, zeigt die Tullnerbacher Blasmusik den Künstler von einer unbeschwerten, volkstümlichen Seite. Grundlage dieses kleinen dreisätzigen Werkes sind österreichische Heimatmelodien. Schmidt hat aus ihnen ein Lied, einen Ländler und einen Marsch zusammengestellt und effektvoll für Bläser und Schlagzeug gesetzt.

Wolfgang Amadé Mozarts Rondo für Klavier und Orchester A-Dur KV 386 war der Grund für die Überführung des Schmidtschen Bösendorfer-Flügels in die St. Augustinskirche. Diese lange Zeit nur in fragmentarischer Gestalt bekannte Komposition Mozarts wurde 1936 von Alfred Einstein rekonstruiert und herausgegeben. Franz Schmidt war der Pianist, der das Werk am 12. Februar 1936 gemeinsam mit den Wiener Symphonikern unter Oswald Kabasta erstmals wieder an die Öffentlichkeit brachte. Die Aufführung wurde von Radio Wien mitgeschnitten und bis nach Amerika übertragen. In Perchtoldsdorf kam es also auf Schmidts eigenem Bösendorfer zu Gehör, gespielt von Stefan Donner, der allerdings an der Orgel mehr in seinem Element zu sein scheint als am Klavier.

Zum Beschluss war Donner wieder an der Orgel zu hören, als er gemeinsam mit dem Orchester Schmidts gewaltige, halbstündige Chaconne cis-Moll aufführte. Das Werk liegt vom Komponisten selbst in zwei Fassungen vor: als Orgelstück und als nach d-Moll transponiertes Orchesterwerk. Dirigent Anthony Jenner hatte anlässlich des Konzerts beide Versionen miteinander kombiniert, wobei er die lange, durch vier Kirchentöne wandernde Variationenreihe sehr geschickt auf die zwei Klangkörper verteilte (die ursprüngliche Tonart cis-Moll wurde beibehalten). Einige Variationen spielt nur die Orgel, andere nur das Orchester. Manche werden von beiden vorgetragen. Was die Leistung des Orchesters in diesem Werk wie in den Husarenlied-Variationen betrifft, so will ich die Probleme, die sich bei der Bewältigung der ungemein schwierigen Aufgaben einstellten, gar nicht schwer ins Gewicht fallen lassen. Ja, es zeigten sich immer wieder einmal Intonationsschwächen, und ja, in der Chaconne verunglückte eine der Variationen zu einer undurchsichtigen, dunklen Klangwolke. Aber im Großen und Ganzen schlugen sich die Orchestermusiker mehr als wacker und begeisterten durch die Disziplin und den Enthusiasmus, mit denen sie zu Werke gingen! Anthony Jenner muss man als einen wahren Meister der Orchesterarbeit bezeichnen, anders ist ein solches Resultat nicht zu erklären. Jenner, ein in der Zeichengebung sparsamer und präziser Dirigent, bei dem jede Bewegung ihre Ursache hat, hetzte seine Spieler nie, sondern setzte auf sorgfältige Artikulation und auf spannungsvolle Ausgestaltung der melodischen Bögen. Die einzelnen Orchestergruppen interagierten gut aufeinander eingespielt, und alle schienen eine klare Vorstellung von der Bedeutung ihrer Stimmen zu haben. Ja, in der einfach gehaltenen Tullnerbacher Blasmusik, die den Ausführenden keine solchen Hürden in den Weg legt wie die polyphonen, chromatischen Orchesterwerke, stimmte uneingeschränkt alles, sodass die Aufführung dieses Werkes als die herausragende Ensembledarbietung des Abends erschien. Dennoch gebührt den Mitgliedern des Orchesters für den Mut, sich an die Variationen und die Chaconne zu wagen, und für das allen Schwächen zum Trotz letztlich gelungene Ergebnis ein vielleicht noch größerer Respekt.

Auf jeden Fall war dieses Konzert ein Triumph für das musikalische Perchtoldsdorf! Auf die weiteren Veranstaltungen der Marktgemeinde zum Franz-Schmidt-Jubiläum kann man jedenfalls gespannt sein. Namentlich den Wienern sei empfohlen, im Auge zu behalten, was sich im Nachbarort in Sachen Schmidt tut.

[Norbert Florian Schuck, April 2024]

Patrick Hahn mit Zemlinsky beim Münchner Rundfunkorchester

Nur einen Tag nach Arnold Schönbergs „Gurre-Liedern“ besuchte unser Rezensent im Münchner Prinzregententheater das Sonntagskonzert des Münchner Rundfunkorchesters vom 21. April 2024 unter Patrick Hahn. Auf dem Programm standen zwei Kompositionen Alexander Zemlinskys: Die Sinfonietta op. 23 sowie die fabelhafte „Lyrische Symphonie“ op. 18, in der Johanni van Oostrum und Milan Siljanov die beiden Gesangspartien gestalteten.

Münchner Rundfunkorchester, Patrick Hahn, Johanni van Oostrum, Milan Siljanov
© BR/Markus Konvalin

Wenn man unmittelbar nach den Jubiläumskonzerten zum 75-jährigen Bestehens des BRSO als zweiter Klangkörper des Bayerischen Rundfunks nicht nur gratulieren, sondern ein Zeichen für die Leistungsfähigkeit des kleineren Münchner Rundfunkorchesters setzen wollte, war es vielleicht nicht unbedingt die klügste Idee, sein Sonntagskonzert ausschließlich dem Wiener Komponisten Alexander Zemlinsky (1871–1942) zu widmen. Nur eingefleischte Fans – der Rezensent gehört freilich dazu – gerade dieser musikalischen Stilepoche werden die Gelegenheit ergriffen haben, quasi im Tagesabstand zwei so hochbedeutende, dazu äußerst selten gespielte Werke wie Arnold Schönbergs „Gurre-Lieder“ und Zemlinskys „Lyrische Symphonie“ anhören zu wollen. So war das Prinzregententheater an diesem Sonntagabend kaum zu zwei Dritteln gefüllt. Widmete die alte MGG (Musik in Geschichte und Gegenwart) von 1968 dem Lehrer Schönbergs noch weniger als eine Textspalte und wurde Zemlinskys Musik bis zu Beginn der 1980er Jahre so gut wie nicht gespielt, sind dessen ausgezeichnete Opern und Streichquartette, vor allem jedoch seine offenkundig an Mahlers Lied von der Erde anknüpfende Lyrische Symphonie, in der sieben Gedichte des bengalischen Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore vertont werden, mittlerweile sicher im Repertoire verankert und auch auf Tonträgern gut zugänglich.

Patrick Hahn, der sympathische Erste Gastdirigent des Rundfunkorchesters, beginnt den Abend mit der dreisätzigen Sinfonietta von 1934, in der Zemlinsky von seiner Verwurzelung in der Spätromantik längst abgerückt ist – und selbst die Roaring Twenties allenfalls noch als Nachklang wirken. Das Stück ist heterogen, hochartifiziell, schwankt zwischen brillantem Humor, virtuosem Aberwitz und durchaus depressiven Vorahnungen. Hahn dirigiert dies alles kraftvoll und souverän – die linke Hand könnte dabei noch mehr gestalten als nur Dynamik und Einsätze zu verwalten. Das Orchester hat sichtbar Spaß an dieser diffizilen Musik, klingt gerade in den knackigen Tuttis des Kopfsatzes prächtig, bleibt in dessen komplexer Polyphonie und den eher kammermusikalischen Phrasen gleichermaßen durchsichtig. In der düsteren Ballade des zweiten Satzes werden die grundierenden Ostinati flexibel aufgefasst, die gut geführte Dynamik führt zu einem Höhepunkt ohne Pathos mit ebenso organischem Abbau. Die hervorragende Leistung der Holzbläser (Klarinettensolo!) ist besonders hervorzuheben. Das Finale beginnt fein, wird im Forte dann leicht lärmend, gegen Schluss regelrecht wild, ohne seinen Humor zu verlieren und wird dabei von Hahn umsichtig kontrolliert: eine beachtliche Leistung des Orchesters.

Noch vor der Pause wird dann von Moderatorin Anna Greiter mit dem Dirigenten und live demonstrierten Klangbeispielen die Lyrische Symphonie – die heuer ihren 100. Geburtstag feiert – vor allem wohl für die zugeschalteten Rundfunkhörer erklärt. Natürlich soll hier eben nicht in erster Linie ein Fachpublikum angesprochen werden, jedoch gerät das Vorhaben durch unsagbar dümmliche Fragen fast zur Farce. Nein – in dem Stück geht es nie um plumpe Erotik, vielmehr um geschlechterspezifische Stereotypen und die darin begründeten Schwierigkeiten von Beziehungen überhaupt. Und wenn die musikgeschichtliche Nachwirkung von Zemlinskys Stück – von Alban Bergs Lyrischer Suite bis etwa zu Michael Gielens Un Vieux Souvenir – komplett unterschlagen wird, ist das schon traurig. Der Programmhefttext von Wolfgang Stähr hingegen ist völlig adäquat.

Das Rundfunkorchester hatte bei der Vorbereitung doppeltes Pech mit gleich zwei Absagen für die Sopranpartie hintereinander (Marlis Petersen bzw. Vera-Lotte Boecker), so dass die Südafrikanerin Johanni van Oostrum äußerst kurzfristig eingesprungen sein muss. Sie singt stimmlich schön und gestaltet differenziert – die Stimme ist aber leider selbst für diese in den Streichern klar unterdimensionierte Besetzung zu klein. Zemlinsky hat kongenial aus den 85 unzusammenhängenden Gedichten aus Tagores Band Der Gärtner zwar keinen wirklichen „Plot“ exzerpiert. Aber die ausgewählten Texte zeichnen teleologisch, dabei kreisförmig eine Beziehungsentwicklung nach: von der Sehnsucht des Mannes und der mädchenhaften Schwärmerei für den „Märchenprinzen“ über Eroberung, gegenseitiges Unverständnis in Ekstase, Loslassen bzw. Verlassen bis hin zum erneuten Alleinsein. Beim Sopran hat der Komponist dies viel deutlicher in die Gesangsstimme integriert als beim Bariton. Der extremen Spannweite von jugendlichem Überschwang im 2. Gesang bis zur Eiseskälte mit nicht mehr tonalen Intervallgängen im 6. Gesang wird van Oostrum noch nicht wirklich gerecht, erwischt manchmal auch nicht alle Töne korrekt. Perfekt hat dies nach Meinung des Rezensenten bisher vielleicht nur Julia Varady in der Aufnahme mit ihrem Gatten Dietrich Fischer-Dieskau hinbekommen. Bei Milan Siljanov spürt man dagegen sofort, dass er sich eingehend mit Text und Musik auseinandergesetzt hat: Textverständlichkeit, Diktion, Emotion – alles wirklich überzeugend. Seine auffallend einnehmende Stimme kommt ohne Mühe über das Orchester und seine Darbietung erfasst die Vielschichtigkeit der Partie gut, vermeidet dabei bewusst Übertreibungen, gerade im 3. Lied, und überlässt dies dem Orchester.

Das Münchner Rundfunkorchester stellt die enorme Farbigkeit – hier übertrifft der erfahrene Zemlinsky sogar die „Gurre-Lieder“ seines Schülers Schönberg – ganz hervorragend zur Schau. Die vielen Effekte – namentlich Glissandi – in allen Instrumentengruppen wirken daher eher schmerzlich, emotional überwältigt oder einfach als tonmalerische Natur-Mimesis: grandios z. B. die Stelle im 4. Gesang bei „der Wind seufzt durch die Blätter“. Den großen symphonischen Zusammenhang kann Patrick Hahn allerdings nicht überall herstellen. Bei den echten Höhepunkten bzw. Zwischenspielen, wo Zemlinsky dann tatsächlich mal ein dreifaches Forte bemüht, fehlen hier schlicht mindestens ein Dutzend Streicher. Ebenso gibt es Stellen, wo das Holz zugedeckt wird oder sogar die Hörner [Ziffer 104] nicht mehr durchkommen, was dann eher der Platzierung auf der Bühne des Prinzregententheaters geschuldet ist. Die Ausgestaltung sämtlicher Solostellen – vorzüglich das Violinsolo im 4. Satz – braucht sich keinesfalls hinter dem BRSO zu verstecken. Bei der Wahl der Tempi fällt auf, dass Hahn im ersten Satz schon ab dem Baritoneinsatz ein wenig zu zäh agiert und das Stück noch größere Flexibilität verdienen würde. Der gesamte 6. Gesang gerät viel zu langsam und die ein wenig unsichere Sopranistin bräuchte da bessere Führung durch den Dirigenten. So zerfällt hier jegliche Spannung. Insgesamt zweifellos ein mutiger und durchaus gelungener Abend, zu dem man dem Rundfunkorchester gratulieren darf. Das Publikum im Saal reagierte auf diesen Vorstoß in offensichtliches Neuland gar enthusiastisch.

[Martin Blaumeiser, 22. April 2024]

Helmut Hofmanns Abschiedskonzert mit Schuberts „Winterreise“

Mit Helmut Hofmann hat sich ein in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerter Musiker vom Konzertpodium verabschiedet. Ein würdigerer Beschluss seiner Pianistenlaufbahn als jene Aufführung der Winterreise im Saal der Musikschule von St. Andrä-Wördern, die Hofmann gemeinsam mit dem Bariton Günter Haumer am 13. April 2024 ins Werk setzte, ließe sich schwerlich denken, kam doch mit Franz Schubert derjenige Komponist zu Wort, dessen Schaffen seit einem Vierteljahrhundert im Zentrum der musikwissenschaftlichen Arbeit Hofmanns steht.

Der 1934 geborene Helmut Hofmann ist ein Mann mit vielen Talenten und Interessen. An der Wiener Musikakademie von einer Reihe bedeutender Lehrer – darunter Alfred Uhl, Otto Schulhof, Erwin Ratz und Josef Mertin – umfassend ausgebildet, entschied er sich nicht für die Musik als Brotberuf, sondern wurde Jurist und arbeitete im Bankenwesen. Auch war er lange Jahre als Sportfunktionär in der Wiener Leichtathletik tätig. Als Pianist gab er Konzerte in seiner österreichischen Heimat, außerdem in Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und Italien. 2001 erschien sein Buch Franz Schubert: Das Zeitmaß in seinem Klavierwerk in der Edition Text+Kritik als Band 114 der Reihe Musik-Konzepte.

Wer sich in St. Andrä-Wördern – einige Kilometer donauaufwärts von Wien – eingefunden hatte, konnte sich nicht nur davon überzeugen, wie tief Hofmann in Schuberts Liedschaffen eingedrungen ist, sondern auch, mit welchem Feingefühl er die Rolle des Begleiters ausfüllt. Günter Hauners kraftvolle, lyrische Baritonstimme stand durchweg im Zentrum des Geschehens. Nie hatte man das Gefühl, der Pianist nehme sich gegenüber seinem Sänger mehr als eine begleitende Funktion heraus. Hofmann versteht es, präsent zu bleiben, ohne zu forcieren. Er bildet immer „nur“ den Hintergrund für den Gesang, aber in diesem Hintergrund ist, ohne sich aufzudrängen, alles da, was zu hören sein muss. Wie schön bewahrheitet sich in dieser Wiedergabe Donald Toveys auf Schubert gemünztes Wort, dass ein guter Kontrapunktiker einer ist, der gute Bässe schreibt! Die Dialoge des Klaviers mit der Singstimme kommen ebenso trefflich zur Geltung wie die Dialoge innerhalb des Klaviersatzes. Auch wie Hofmann den Anschlag variiert, muß man loben. So gelingen ihm nicht nur starke Kontraste wie im Frühlingstraum oder zwischen den beiden vorletzten Liedern Mut (sehr hart) und Die Nebensonnen (sanft, aber völlig unsentimental), sondern auch Darstellungen seltsamer Mischzustände, wie sie der Dichter Wilhelm Müller durch die Gegenüberstellung flüssigen und gefrorenen Wassers andeutet. In Gefrorene Tränen und Auf dem Flusse meint man tatsächlich, inneren Erstarrungsprozessen zuzuhören. Die Musik klingt hier kantig, widerspenstig, und verliert doch nicht einen Rest von Leichtigkeit, der sie weiter fließen lässt.

Feinsinnig und mit echter Hingabe führen Haumer und Hofmann durch die Abgründe dieses düstersten Werkes der Liedliteratur. Nach Verklingen der letzten Töne des Leiermanns verriet ein Moment der Stille deutlich die Ergriffenheit der Zuhörer, bevor sie den Künstlern ihren verdienten Applaus zu Teil werden ließen.

Wenn Helmut Hofmann sich nun vom Konzertpodium zurückzieht, so wünscht man ihm umso mehr ein gutes Vorankommen bei seinen wissenschaftlichen Forschungen. Eine groß angelegte Studie über die Interpretation der Schubertschen Instrumentalmusik, Frucht 20-jähriger Arbeit, steht, wie man dem Programmheft des Liederabends entnimmt, kurz vor ihrer Vollendung.

[Norbert Florian Schuck, April 2024]

Das BRSO feiert sein 75-jähriges Bestehen mit Schönbergs „Gurre-Liedern“

Mit einem Galakonzert feierte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am 19. April in der Münchner Isarphilharmonie sein 75-jähriges Bestehen. Wie schon zum 60. Jubiläum 2009 spielte man zu diesem Anlass Arnold Schönbergs (18741951) „Gurre-Lieder“, diesmal freilich unter Leitung von Sir Simon Rattle. Zum immensen Aufgebot im Orchester gesellten sich dazu noch der Chor des Bayerischen Rundfunks, der MDR-Rundfunkchor sowie sechs Solisten – insgesamt ca. 280 Mitwirkende. Unser Rezensent besuchte die zweite Aufführung – nun ein „normales“ Abo-Konzert – am 20. April.

Applaus für die Mitwirkenden der Aufführung vom 19. April 2024 © BR Astrid Ackermann

„Wie sich die Bilder gleichen“, stellt man zunächst verwundert fest, weil das BRSO anlässlich seines 75. Geburtstags dasselbe Stück ausgewählt hat wie bereits zum 60. Jubiläum – damals unter der Leitung von Mariss Jansons in der Gasteig-Philharmonie. Doch erstens rechtfertigt dies der anstehende 150. Geburtstag des Komponisten Arnold Schönberg am 13. September – dieses Jahr häufen sich die runden Klassik-Events, da ist Bruckner nur einer von vielen. Und natürlich benötigt der immense Aufwand für dessen Gurre-Lieder eigentlich immer einen besonderen Aufhänger, um überhaupt eine Aufführung zu realisieren. Diese Besprechung soll auch keinen direkten Vergleich von Jansons‘ und Sir Simon Rattles Darbietungen liefern, obwohl sich ihre Auffassungen von dieser gewaltigen Kantate nicht unerheblich unterscheiden.

Nicht nur die Bühne – die für das gigantische Orchesteraufgebot mit beispielsweise 8 Flöten, 7 Klarinetten, 10 Hörnern usw. sogar vorne noch einen „Anbau“ erfordert – ist an diesem Abend rappelvoll, sondern ebenso der Zuschauerraum: Beide Vorstellungen waren seit Wochen restlos ausverkauft. Und das Münchner Abo-Publikum muss man für sein Vertrauen loben, sich 110 Minuten reinen Schönberg anzutun, der hier über weite Strecken entgegen sicher mancher Befürchtungen unerfahrenerer Hörer noch ganz wie Wagner oder Richard Strauss klingt. Der Aufwand, in jeder Instrumentenfamilie quasi über den kompletten Tonumfang und entsprechendes Klangvolumen zu verfügen, dient im ersten Teil dazu, den üblichen spätromantischen Mischklängen – Musterbeispiel etwa Brahms – sehr reine Klänge selbst bei komplexeren Akkorden entgegenzusetzen. Durch das dichte, polyphone Stimmengeflecht entstehen so einerseits unglaublich neuartige Klangflächen, andererseits enorm individuelle Mischungen, wie man sie 1900 – da begann Schönberg bereits mit der Instrumentation – noch nicht mal von R. Strauss gehört hatte.

Gerade bei den Naturstimmungen evozierenden Klangflächen gleich zu Beginn agiert Rattle an diesem Abend ein wenig tranig, was rhythmischer Klarheit nicht unbedingt förderlich, vielleicht jedoch bewusst so gewollt ist. Dem Rezensenten schien die Aufnahme vom Vortag, die gleich nach dem zweiten Konzert im BR-Fernsehen zu sehen war, im gesamten Ersten Teil der Kantate spürbar flüssiger. Möglicherweise kann der Dirigent durch die ruhigeren Tempi dadurch den Sängern – an zwei aufeinander folgenden Tagen sind solche Partien eine echte tour de force – stellenweise helfen, ihre Stimmen ein wenig zu schonen. So bleibt jedoch ein wichtiger Aspekt dieser Musik, der schon in Alban Bergs umfänglicher Analyse zur Sprache kommt, auf der Strecke. Zwar gelingt es Rattle über das ganze Stück, die leitmotivische Bedeutung der zahlreichen Themen adäquat mit dem nötigen Wiedererkennungswert zu gestalten; dass es sich aber bei den neun Wechselgesängen zwischen Waldemar (Simon O’Neill) und Tove (Dorothea Röschmann) formal um echte Lieder handelt, geht schon dadurch etwas verloren, weil Rattle die spezifische Charakteristik der einzelnen Melodien nicht genug herausarbeitet und zu rasch im allgemeinen Stimmengewirr untergehen lässt. Dass Schönberg die jeweiligen Hauptmelodien in den Zwischenspielen zudem – in der Informatik würde man das Morphing nennen – ineinander verwandelt, bleibt unklar. Das wird im – freilich eindeutig symphonischeren – Lied der Waldtaube (Jamie Barton) dann zum Glück viel besser.

Röschmanns Stimme kann die naturverbundene Jugendlichkeit Toves berührend herüberbringen, kommt jedoch nur in der Höhe wirklich übers Orchester. Ihre empathische Ausdrucksstärke ist dafür Weltklasse. O’Neill artikuliert klangschön und stilvoll, in tieferer Lage wirkt er ein wenig knödelig. Seine Darstellung der sich ständig wandelnden psychischen Befindlichkeiten Waldemars überzeugt gleichermaßen. Gegen das Orchester hat er allerdings – wie wohl alle Heldentenöre, die sich an diese Partie herangewagt haben – oft keine Chance. Er teilt sich seine Kraft gut ein und vermag gerade im zweiten („Herrgott, weißt du, was du tatest [?]“) und dritten Teil („Du strenger Richter droben“) das Publikum zu Recht zu begeistern – und: Höhe hat der Mann! Barton verfügt über eine untadelige Diktion und Wärme. Auch ihre Stimme erscheint im HP8 bei dieser Mezzo-Paraderolle etwas dünn, wird erst ab „Den Sarg sah ich auf des Königs Schultern“ glaubwürdig unheimlich, gerät später („Wollt ein Mönch…“) zu brustig. Das ginge sicher in anderen Sälen besser.

Bei diesem Riesenwerk wird einmal mehr deutlich, dass der HP8 zwar eine ordentliche Interimslösung ist, jedoch seine Schwächen nicht wegzudiskutieren sind. Simon Rattle wird auch an den lauten Stellen niemals knallig, jedoch haben wichtige Höhepunkte – namentlich der im Orchester prägnant dargestellte Todesstoß für Tove [Ziffer 95] – zu wenig Durchschlagskraft, einzig der Akustik geschuldet. Und die Eisenketten während des Männerchors von Waldemars Mannen sind kaum zu hören.

Nach der Pause kommen dann zusätzlich der Chor des Bayerischen Rundfunks und der MDR-Rundfunkchor auf die Bühne – gut 70 Herren und ca. 40 Damen; letztere werden nur im Schlusschor benötigt. Einstudiert von Peter Dijkstra liefern insbesondere die Herrenchöre – in der brutalen „Zombie“-Szene „Gegrüßt, o König“ sind sie dreigeteilt, also zwölfstimmig (!) – wahre Glanzleistungen ab. Besonderes Lob gilt der wunderbaren, intonatorisch perfekten Realisierung des intrikat schweren Chores „Der Hahn erhebt den Kopf zur Kraht“. Die Damen setzen dem Ganzen später die Krone auf.

Der Bauer von Josef Wagner ist mir anfangs zu unbeteiligt, dann ab dem lyrischeren Abschnitt „Ich schlage drei heilige Kreuze“ beseelter. Wirklich den Vogel ab („Ein seltsamer Vogel ist so’n Aal“) schießt bei den Solisten der Charaktertenor Peter Hoare. Wie so mancher Fachkollege mit einem speziellen Timbre begünstigt, braucht er bei der scherzomäßigen Arie des Klaus-Narr nicht gegen das Orchester zu kämpfen, das den hierbei kurz aufblitzenden Strauss’schen Humor ebenfalls besonders zu mögen scheint – herrlich. Im letzten Abschnitt – hier merkt man, dass sich Schönbergs Orchestersprache und sein harmonisches Verständnis in den zehn Jahren bis zur endgültigen Fertigstellung der Gurre-Lieder spürbar gewandelt hat – benötigt man einen Sprecher mit beinahe prophetischer Überzeugungskraft: Die hat der fabelhafte Thomas Quasthoff bei Des Sommerwindes wilde Jagd zweifellos. Absolut faszinierend, wie er – nicht ganz ohne Ironie, aber die gegen Schluss arg blumige Sprache komplett ernstnehmend – das vorherige symbolistische Drama in ein selbstverständliches Naturereignis umzumünzen versteht, wo die Sonne für stetige Erneuerung sorgt. Rattle und sein Orchester blühen in der zweiten Hälfte nun völlig auf: Die gewaltigen Chorszenen genau wie der viel kammermusikalischer geprägte Schlussteil gelingen überaus differenziert und anrührend, werden so den hohen Ansprüchen von Publikum und Musikern gleichermaßen gerecht – grandioser Beifall und schließlich Standing Ovations.

[Martin Blaumeiser, 21. April 2024]

Beglückender Abend des BRSO unter François-Xavier Roth bei der musica viva

Antoine Tamestit und François-Xavier Roth © Severin Vogl

Im Konzert der musica viva am 12. April 2024 im Münchner Herkulessaal spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter François-Xavier Roth die Uraufführung des Bratschenkonzerts von Francesco Filidei (Solist: Antoine Tamestit), „Cloudline“ der US-Amerikanerin Elizabeth Ogonek sowie Iannis Xenakis‘ unglaublich herausforderndes Werk „Aïs“ – mit dem Bariton Georg Nigl und dem Schlagzeuger Dirk Rothbrust. Zu Ehren des kürzlich verstorbenen Komponisten und Dirigenten Peter Eötvös hatte man dessen Stück „Sirens’ Song“ zusätzlich aufs Programm gesetzt.

Im März 2024 haben wir innerhalb von nur elf Tagen gleich drei echte Weltstars der Neuen Musik verloren: Aribert Reimann, Maurizio Pollini, und am 24. 3. den Ungarn Peter Eötvös (Jahrgang 1944). Der war als Komponist bereits 1980 mit einem Kammermusikwerk bei der musica viva vertreten, hat dann ab 1989 regelmäßig das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks für dieses Format geleitet und dabei Musiker wie Publikum stets begeistert. 2019 war ein komplettes Programm Eötvös‘ eigener Musik gewidmet (wir berichteten). Grund genug, nach einer empathischen Würdigung durch Winrich Hopp und einer Schweigeminute eines seiner letzten Orchesterwerke – Sirens‘ Song von 2020 – erklingen zu lassen.

Schon hier spürt man, dass François-Xavier Roth und das BRSO einen großen Abend haben. Tatsächlich ist das Stück für mittelgroßes Orchester, in dem der Komponist versucht „hörbar zu machen, was Odysseus niemals zu Gehör bekommen hat“ (Eötvös) rhythmisch relativ simpel gestrickt. Harmonisch bilden zunächst Quint- und Tritonus-Schichten die Basis für liebreizende, zugleich ungreifbare Glissandi und wunderbare Bläser-Klangmischungen. Später kommen – von den Bässen ausgehend – Quartschichtungen hinzu; da wird’s schon gefährlicher – und die Bläser mutieren zu „Killervögeln mit Frauenköpfen“. Die Streicher ziehen die Zuhörer jedoch nach und nach in den Abgrund – fast unmerklich, ohne dass es laut würde. In einer kurzen Coda – quasi Dur – bleibt nur das sonnendurchflutete, ruhige Meer: hübsche, völlig nachvollziehbare Musik, die mit ihrer Schönheit auch das Publikum betört.

Francesco Filidei (*1973), der gerade an einer Oper nach Umberto Ecos Der Name der Rose arbeitet, hat die drei Sätze seines gut halbstündigen Konzerts für Viola und Orchester so ziemlich mit allen technisch-klanglichen Möglichkeiten gespickt, die sich für das – verglichen mit der Violine – solistisch immer noch etwas unterbelichtete Instrument anbieten. Der lange erste Satz Die Gärten von Vilnius ist eine Umarbeitung von Filideis gleichnamigem Cellokonzert. Hierbei bezieht sich der Komponist ausdrücklich beispielsweise auf die Tradition von Ottorino Respighis Tondichtungen. Die Verbindung von struktureller Klarheit – hier u. a. symmetrische bzw. „kreisförmige“, fraktale Motivbildungen – und beeindruckender Instrumentationskunst, etwa der konsequenten Auffächerung von Geräuschen über das totale Klangspektrum, sind wie immer bei ihm völlig faszinierend; ebenso, wie er die Solo-Viola dramaturgisch einsetzt. Der Mittelsatz ist rein humoristisch, sozusagen ein einziger, comic-artig vertonter Bratschenwitz. Antoine Tamestit muss hier auf „metronomische“ Vorgaben der Schlagzeuger Skalen, Flageolets usw. „üben“ – was natürlich schiefläuft. Die halbszenische Solistenpose wird dadurch völlig dekonstruiert: zur Posse. Dasselbe geschieht mit dem Material im Orchester, deutlich erkennbar etwa der C-Dur-Schlussfuge von Verdis Falstaff entnommen; die Einleitungstakte dazu werden – mittendrin – gar wörtlich zitiert. Aberwitzig ironisch erinnert dieses gut getimte Intermezzo den Rezensenten an den Mittelsatz TSIAJ („This Scherzo Is A Joke“) von Charles Ives‘ Klaviertrio. Das melancholische Finale – gegen Schluss erklingen nochmals Fragmente aus den Sätzen zuvor – bietet schließlich Tamestit die Gelegenheit, auf seiner Stradivari zu singen. Hinreißend, wie sich diese erfüllte Präsenz seiner Persönlichkeit auf den fast ausverkauften Herkulessaal überträgt: großer Beifall für ein musikalisch vielschichtiges Konzert.

Obwohl viel kürzer, kann Cloudline (2021) der jungen Amerikanerin Elizabeth Ogonek (*1989) – wie Filidei persönlich anwesend – Publikum wie Rezensent fast noch mehr begeistern. Selten hat man ein derartig natürliches, offenkundiges Gespür erlebt, für Orchester zu schreiben. Einerseits ausgehend von Wolken als Naturphänomen, andererseits dem Wunsch – und für die Uraufführung in der gigantischen Londoner Royal Albert Hall absolute Notwendigkeit –, mikrotonale Multiphonics der Klarinetten für einen größeren Klangkörper regelrecht zu instrumentieren, überzeugt dieses Werk auf ganzer Linie – bis ins Detail sensibelst austariert und im wohlklingenden Ergebnis einfach staunenswert.

Im krassen Gegensatz zu solcher Ästhetik steht Iannis Xenakis‘Aïs“ (= Hades), ein Auftragswerk für die musica viva von 1980 (UA 1981). Diese Auseinandersetzung mit dem Tod verlangt neben dem üblichen Riesenorchester einen Solo-Schlagzeuger – vor dem Orchester platziert und ganz vortrefflich: Dirk Rothbrust. Hauptprotagonist ist allerdings der Bariton, mit einer Partie, die – wie eigentlich das gesamte Stück – eine bewusste Zumutung darstellt. Über weite Strecken in höchster Lage der Kopfstimme, später in unglaublich schnellen Wechseln zwischen extrem tiefer – nur da hat man eine Chance, Textfragmente zu verstehen – und wiederum exponierter Falsettlage, muss sich der Solist sichtbar nicht nur gesangstechnisch, sondern ebenso emotional total verausgaben. Georg Nigl gelingt das einmal mehr überragend. Ob singend, schreiend oder deklamierend: Nigls Gestaltung geht an die Nieren, und er ist wohl der erste Sänger, der hier nicht wie ein unfreiwilliger Kastrat klingt, sondern von Beginn an dunkelste Ernsthaftigkeit zu transportieren vermag. Die leichte, leider suboptimale, da durch die benutzten Monitore zu sehr in die Breite gezogene Verstärkung, ist eher ein notwendiges Übel. Vor solch einem Künstler, der ja mit gleicher Energie einen Eisenstein (Fledermaus) gibt, kann man sich nur verneigen.

Das BRSO, von jeher mit einem verblüffend guten Zugang zur kompakten Musik Xenakis‘, legt diesmal wieder eine echte Glanzleistung hin. Man spürt förmlich die Begeisterung für diese alles andere als leichte Kost. Und Roth leitet das gesamte Konzert – auch er dirigiert ohne Taktstock – handwerklich präzise, hat zudem die unglaubliche Vielfalt verschiedenster Klänge mit klarer Vorstellung verinnerlicht und sie in den Proben seinen Musikern offensichtlich kongenial sehr nahegebracht. Trotz aller Herausforderungen wirkt er auf dem Podium völlig entspannt. In allen vier Werken zeigt das BRSO sich in Bestform, ist wirklich zu 100% souverän bei der Sache. Der Saal belohnt Solisten, Dirigent und Orchester schließlich mit Bravos und ungewohnt langanhaltendem Applaus. Wie gesagt: ein ganz besonderer Abend.

[Martin Blaumeiser, 13. April 2024]

Henzes „Floß der Medusa“ mit Cornelius Meister geht unter die Haut

Capriccio C5482; EAN: 8 4522105482 7

Capriccio hat eine weitere Aufführung von Hans Werner Henzes (1926-2012) Oratorium „Das Floß der Medusa“ veröffentlicht – diesmal live. Unter der Leitung von Cornelius Meister spielen und singen das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, der Arnold Schoenberg Chor sowie die Wiener Sängerknaben. Die Solisten sind: Sarah Wegener (La Mort), Dietrich Henschel (Jean-Charles) und Sven-Erich Bechtolf (Sprecher/Charon).

Nachdem es um Henzes Oratorium Das Floß der Medusa, dessen geplante Uraufführung Ende 1968 durch einen Polizeieinsatz vereitelt wurde und so den vielleicht größten Konzertskandal der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte verursachte, lange still war, sorgte wohl die Flüchtlingskrise im Mittelmeer in den letzten Jahren für eine gewisse Renaissance dieses echten Meisterwerks – bis hin zu szenischen Realisationen (Amsterdam, Berlin). Ende 2019 hatte SWR Classic eine Aufnahme aus der Elbphilharmonie (vom 15.–17. 11. 2017) mit dem kürzlich verstorbenen Dirigenten Peter Eötvös herausgebracht – siehe unsere Kritik mit ein paar näheren Infos zum Werk. Nun gibt es eine weitere – nur zwei Wochen ältere (!) – Einspielung, diesmal live aus dem Wiener Konzerthaus. Capriccio hätte mit dieser Veröffentlichung allerdings nicht sechs Jahre warten müssen: Die Aufführung mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Leitung von Cornelius Meister liegt auf demselben Niveau wie die des SWR Symphonieorchesters. Das fordert geradezu zum direkten Vergleich heraus. Die Erstaufnahme auf Deutsche Grammophon – der Mitschnitt der Generalprobe von 1968, dirigiert vom Komponisten – fällt nach Meinung des Rezensenten eigentlich in allen Belangen schwächer aus, bleibt als historisch ganz ungewöhnliches Dokument aber weiterhin interessant.

Die Akustik der Elbphilharmonie – sicher nicht jedermanns Sache – kommt Eötvös‘ Streben vor allem nach Durchsichtigkeit dieses riesig besetzten Oratoriums gut entgegen, was aufnahmetechnisch entsprechend eingefangen wurde. Das Wiener Konzerthaus hat bei etwas mehr Hall – wohl nicht zuletzt deswegen braucht Cornelius Meister auch ca. 4½ Minuten länger – gleichzeitig mehr Wärme. Dies kommt gerade den Chören der Lebenden zugute – die anfangs nur von Bläsern begleitet werden. Später wechseln sie ja – bis auf die dann solistisch agierenden 14 Überlebenden – ins von den Streichern dominierte Reich der Toten. Eine erstaunliche Transparenz wird jedoch gleichfalls in Wien erreicht. Die Dynamik über alles scheint dabei hier größer.

Meister zielt ganz bewusst auf Drama – das gelingt über weite Strecken. Die Bemerkung Christoph Bechers im ansonsten ordentlichen Booklet zum unmittelbaren Schluss des Werks, dass Meister sich hier dafür entschied, die ursprüngliche Version sogar zu verstärken, ist allerdings schlicht falsch: Tatsächlich lässt der Dirigent – ebenso wie Eötvös – nach Charons abschließenden Worten „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück[…], fiebernd, sie umzustürzen“ im Orchester Henzes Revision von 1990 spielen, wo der Schlagzeug-Rhythmus des „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“-Protestrufs melodisch eindringlich umwölkt wird, letzteren zusätzlich noch vom Chor verbatim skandieren. Das steht so in keiner Partitur, sondern reflektiert anscheinend nur die Situation, dass Henze sich seinerzeit als Reaktion auf die gar nicht erst begonnene Uraufführung zusammen mit einigen Studenten auf dem Podium eben dazu hinreißen ließ. Musikalisch widersprüchlich: Die ursprüngliche Fassung enthält zwar nur besagten, reinen Schlagzeug-Rhythmus, wirkt jedoch insbesondere durch die – auch nicht notierte – Beschleunigung in Henzes eigener Einspielung brandgefährlich, wohingegen die revidierte Fassung fast als visionäre Apotheose aufgefasst werden könnte. Beides zugleich ist eher Murks.

Waren schon die Leistungen der Chöre in der SWR-Aufnahme grandios, legen in der Wiener Aufführung der Arnold Schoenberg Chor – unter der erprobten Einstudierung Erwin Ortners – und die Wiener Sängerknaben noch eins drauf. Präzision und Ausdrucksstärke gehen hier derart Hand in Hand, dass man nur andächtig staunen kann. Die Qualitäten der Orchester lassen sich hingegen nicht gegeneinander ausspielen, beide Male absolut überzeugend. Meister wagt es allerdings, viele Details ganz unverfroren naturalistisch zu verstehen: Oft hört man bei seiner Darbietung etwa wirklich Klänge, die unmittelbar das Meer assoziieren usw. Also auch hier noch Hans Werner Henze auf den Spuren Richard Strauss‘? Diesen Vergleich hat der Komponist bekanntlich verabscheut…

Ungeachtet, wie die Rolle des Sprechers/Charons (Sven-Eric Bechtolf) live eingepegelt gewesen sein mag: In der Aufnahme gerät sie mir jedenfalls künstlich viel zu sehr in den Vordergrund. Bechtolf ist abgesehen davon o. k., kommt aber nicht wirklich an Peter Stein heran. Sarah Wegener als La Mort singt stimmlich ausgezeichnet, erscheint allerdings emotional blasser als Camilla Nylund. Dafür begeistert Dietrich Henschel in allen Belangen: Wärme, ergreifende Textausdeutung und intonatorische Treffsicherheit machen ihn zum bisher besten Jean-Charles auf Tonträgern. Dagegen wirkt Peter Schöne über Strecken fast zu artifiziell.

Muss man also eine der 2017er Aufnahmen klar vorziehen? Nein – aber Konkurrenz belebt nun hoffentlich auch für Henzes aufrüttelndes Oratorium das Geschäft. Mehr Dramatik, leichter Vorsprung für die Wiener Chöre und ein herausragender Dietrich Henschel bei Meister; mehr Analytik, stellenweise knackigere Tempi und ein beeindruckender Peter Stein bei Eötvös. Unter die Haut geht das in beiden Fällen und macht Cornelius Meisters Einspielung zumindest zu einer hochwertigen Alternative und unbedingt empfehlenswert.

Vergleichsaufnahmen: Camilla Nylund, Peter Schöne, Peter Stein, SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor, Freiburger Domsingknaben, SWR Symphonieorchester, Peter Eötvös (SWR Classic SWR19082CD, 2017); Edda Moser, Dietrich Fischer-Dieskau, Charles Regnier, RIAS-Kammerchor, Chor & Orchester des NDR, Hans Werner Henze (Deutsche Grammophon 449 871-2, 1968)

[Martin Blaumeiser, 7. April 2024]

Faust singt Mezzosopran -Louise Bertins Oper „Fausto“ ist eine Entdeckung

Bru Zane, BZ 1054; EAN: 8 055776 01014 4

Im letzten Jahr brachte das Forschungsteam Palazzetto Bru Zane die Anthologie „Compositrices“ heraus – Werke von 21 französischen Komponistinnen umfasst die editorische Großtat, sie ist nichts weniger als ein Streifzug durch die feminine Musikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Glücklicherweise verfolgen die Spürnasen um Alexandre Dratwicki dieses Projekt weiter und sind dabei auf Louise Bertin gestoßen. Deren Biographie, wenn auch teilweise nur auf Spekulationen beruhend, ist in mancher Hinsicht ungewöhnlich. Bertin, 1805 geboren, wuchs in einer bürgerlichen Familie auf. Die Eltern – der Vater, Inhaber der angesehenen Zeitung „Journal des débats“, die Mutter, eine begabte Pianistin – förderten die künstlerischen Ambitionen der malenden, dichtenden und musizierenden Tochter. Die Autodidaktin, die wegen einer Kinderlähmung auf Krücken angewiesen war, entschied sich fürs Komponieren und nahm Unterricht bei den Lehrkoryphäen François-Joseph Fétis und Anton Reicha. Bei letzterem lernte sie Berlioz kennen, mit dem sie sich anfreundete und der ihr als Zeichen der Wertschätzung den Gesangszyklus Les nuits d’été widmete.

In einer Zeit, als Frauen in der Regel Werke für den Hausgebrauch oder kleine Besetzungen kreierten, wagte sich Bertin an größere Formate und komponierte immerhin vier Opern. Die letzte jedoch – La Esmeralda nach Victor Hugo – führte 1837 zum frühen Ende ihrer Karriere, bedingt durch Vorwürfe, Berlioz habe ihr bei der Partitur geholfen und die Aufführung sei nur durch familiäre Beziehungen zu Stande gekommen. Infolgedessen mied sie bis zu ihrem Tod 1877 die Öffentlichkeit, publizierte allerdings noch Gedichte.

Gute Kritiken bekam Louise Bertin hingegen für ihren 1831 im Pariser Théâtre-Italien in Starbesetzung uraufgeführten Fausto. Trotzdem wurde er nach drei Vorstellungen abgesetzt und verstummte: bis ihn der Palazzetto Bru Zane 2023 gleich im Dreierpaket wiedererweckte, bei einem Konzert in Paris mit paralleler CD-Einspielung der Urfassung und anschließend szenisch im Aalto-Theater in Essen.

Fausto ist die erste Opernadaption des Goethe-Schauspiels und dass sie von einer Frau komponiert wurde, die auch das französische, für die Gepflogenheiten des Théâtre-Italien ins Italienische übersetzte Libretto verfasste, macht sie zu einer musikgeschichtlichen Besonderheit. Orchestrale Dramatik, romantisches Gefühl und Buffo-Elemente – deswegen die Gattungsbezeichnung „Semiseria“ – sind kennzeichnend für Bertins Vertonung. Einflüsse bedeutender Vorbilder, etwa von Mozart, Weber und Rossini, verbinden sich mit stilistischer Individualität, wie die Wahl eines Mezzosoprans für die Titelpartie (die Premiere sang allerdings ein Tenor), dem weitgehenden Verzicht auf zeittypische Bravour und dem eigenwilligen Finale: keine pompöse Apotheose, sondern nur ein Tam-Tam-Schlag, dann Stille. Der Dirigent Christophe Rousset, der die Rezitative selbst am Klavier begleitet, überträgt seine Begeisterung und Versiertheit in historischer Aufführungspraxis auf die Originalklangformation Les Talens Lyrique und ein erlesenes Ensemble. Karine Deshayes und Karina Gauvin singen Faust und Margarita mit viel Empfindung und Belcantokultur. In den terzenseligen Duetten harmonieren ihre Stimmen aufs Schönste, nur unterscheiden sie sich vom Timbre her kaum. Den Mephisto gibt Ante Jerkunica mit tiefschwarzem, wendigem Bass. Zu einem Kabinettstück gerät seine Szene über die Vielfalt weiblicher Schönheiten, die an Leporellos Registerarie in Don Giovanni erinnert. Einen spektakulären Auftritt legt Nico Darmanin als Valentin hin. In der einzigen explizit virtuosen Rolle brennt der Tenor ein Koloraturenfeuerwerk ab und brilliert mit schneidigen Spitzentönen. Eine dicke Empfehlung also für diesen auch in den Nebenrollen treffend besetzten Fausto, der – wie beim Palazzetto üblich – in einem informativen und schön illustrierten CD-Buch präsentiert wird.

[Karin Coper, April 2024]

Oh Augenblick!

Aldilà Records, ARCD 017; EAN: 9 003643 980174

Mit der Symphonia Momentum hat der Dirigent Christoph Schlüren die CD Quintessence vorgelegt, auf der fünfstimmig angelegte Werke versammelt sind, so die Streichersymphonie Nr. 13 von Felix Mendelssohn Bartholdy, die für Streichorchester eingerichteten Bitten aus Über die Schwelle von Reinhard Schwarz-Schilling, bearbeitet von Lucian Beschiu, sowie das Hauptwerk dieser CD, das Streichquintett von Anton Bruckner, für Streichorchester eingerichtet von Christoph Schlüren.

Der ausgiebige, der CD beigegebenen und vom Dirigenten verfassten Text informiert über alle Aspekte der Werke in einer Tiefe, die weit über das gängige hinausgeht; dies verdient besondere Erwähnung, weil wir zunächst lesen, und später hören, wie umfassend die Einsicht von Christoph Schlüren in die Werke, die Gattung des Streichquintetts sowie die Problematik der Bearbeitungen von Kammermusikwerken für Streichorchester ist.

Der größte Eingriff findet da meist durch die Hinzufügung einer Oktave unterhalb des Cellos durch den Kontrabass statt. Die dadurch entstehende Bassoktave erzeugt durch die veränderte Obertonreihe einen neuen Klangreichtum für die oberen Stimmen, der sorgfältig behandelt werden will. Dies ist auf dieser Aufnahme durchweg gut gelungen, auch wenn die untere Oktave manchmal nicht als Klangeinheit, sondern als zwei parallele Klänge erscheint, was dem Gesamtklang hier und da etwas Wärme, also möglichen Reichtum, nimmt. Ansonsten wurden die Stimmen in ihren üblichen Proportionen zueinander hervorragend besetzt. Letztlich ist dieses Detail jedoch nicht entscheidend für die Beurteilung dieser Aufnahme, da der Klang, wie er eigentlich war, im Nachhinein ohnehin nur unzureichend beurteilt werden kann – eine Aufnahme ist und bleibt eben eine Art Photographie eines musikalischen Ereignisses, das einmal stattgefunden hat.

Wenden wir uns also den wirklich wesentlichen Dingen zu, für die im Booklet mit einem Zitat von Werner Oehlmann zum Werk „Bitten“ anlässlich dessen Uraufführung im Jahr 1975 folgende Worte zu lesen sind:

Unsere Musik ist säkularisiert, sie beschäftigt sich mit den Realitäten der Erde, den Leiden der Menschheit, den Fragen der Gesellschaft, mit der Not, Angst und Hässlichkeit des Lebens, dem der Tod ein Ende setzt. Hier klingt ein anderer Ton… Diese Musik leistet, was die eigenste … Aufgabe der Musik ist: sie verbürgt die Wirklichkeit der Transzendenz.

Wenn man die vorliegende Aufnahme im Ganzen mit wenigen Worten charakterisieren möchte, so durch diese. Denn zum Gelingen der Wiedergabe von Musik gehört nach der spezifischen Qualität einer Komposition die entsprechende Ausführung, nenne man sie adaequat, kongenial oder finde man noch eine andere Bezeichnung, es tut nichts zur Sache: diese Aufnahme leistet die Verwirklichung der zu Gehör gebrachten Partituren.

Sie tut dies, gleichwohl, hier und da auf eigenwillige Weise. Der klar strukturierte Kontrapunkt bei Mendelssohn lässt wohl etwas Wärme vermissen, jedoch in keinem Augenblick die Klarheit der Stimmführung, und die Artikulation der Einleitung bedient sich in der Tongebung etwas zu sehr an der Manier der Alte-Musik-Praxis. Die Akustik des Raumes tut ihr Übriges, es durchweht die gesamte Aufnahme eine Kühle, die diese Ästhetik stärker hervortreten lässt als notwendig, da sie die bestechende Eigentlichkeit der Darbietung stellenweise in den Hintergrund treten lässt, obwohl diese eine geistige Präsenz besitzt, wie man sie sich nur wünschen kann.

Das berückend schöne und innerliche Werk Bitten aus Über die Schwelle ist eigentlich ein Chorsatz, eine Motette, deren Tonsatz hier ohne den Text wirken muss, was auch vortrefflich gelingt – oder besser gesagt: zutiefst gelingt angesichts der inneren Ruhe und Tiefe dieses einzigartig-eigentümlichen Werkes und seiner Ausführung. Schwarz-Schilling ist aus dem Kaminski-Kreis der durch innere Schönheit seines Werkes hervorstechende Komponist und ein weiteres der unzähligen beklagenswerten Beispiele für eine musikalische Epoche, die durch die kulturelle Weltkatastrophe der Nazi-Zeit und des 2. Weltkrieges nicht zu ihrer vollen Blüte und Entfaltung kommen konnte.

(Dem Dirigenten Christoph Schlüren ist hier, das sei nebenbei angemerkt, vieles an Wiederentdeckung und Erhellung zu verdanken, er gräbt tief und schaufelt mit viel Elan die jungen Vergessensschichten über Kompositionen hinweg, über die die eiligen Zeiten hinweggestürmt sind; wie dies im Übrigen auch Intendanzen und Dirigenten der institutionalisierten Orchester machen sollten. Es ist zweifellos ein ungeheures Manko im Konzertbetrieb, denn das Publikum unbekannte Werke auf diesem Niveau entdecken zu lassen wäre eine ernstzunehmende Alternative zur fortschreitenden Popularisierung des ewigen Kanons der Symphonik und seiner Protagonistinnen und Protagonisten).

Das Herz dieser Aufnahme ist nun das monumentale Streichquintett von Anton Bruckner. Vorweggenommen, gelingt diese Darstellung des Werkes im Ganzen auf schönste Weise, so dass sich die symphonische Dimension des Werkes entfaltet. Christoph Schlüren wählt im sehr gelungenen ersten Satz ein ruhiges Tempo wie vorgegeben, klanglich transparent und im Ausdruck innig, der Augenblick so schön wie der musikalische ruhig dahinfließende Fluss, und auch wenn er ein eingezeichnetes „Langsam“ einmal übergeht, und auch einmal eine Pausenfermate etwas zu lange hält, ein späteres „Langsamer“ nicht ganz organisch entstehen lässt, ist die Entwicklung des inneren Dramas der Musik konsistent und lässt die Form des Satzes entstehen, getragen von der Schönheit des Augenblicks und von einer nahezu perfekt intonierenden Symphonia Momentum.

Was im ersten Satz noch gut funktioniert, erweist sich im zweiten Satz, dem Scherzo, als nicht so förderlich. Von Bruckner mit „Schnell“ überschrieben, wählt Schlüren ein sehr gemächliches Ländler-Tempo, das an sich seinen Charme hat und hier und da ein wenig Dvorak’sche Farben aufscheinen lässt, die man dort eigentlich nicht vermutet hätte. Der Kontrast zum zweiten Gedanken des Satzes, „quasi Andante“ überschrieben, fällt dadurch weniger stark aus, als dies möglich und wünschenswert wäre – auch in der 5. Symphonie von Bruckner gibt es einen solchen formbildenden Tempokontrast im Scherzo; erscheint er jedoch so zart aus wie bei dieser Aufnahme, bleibt die Musik abermals mehr dem schönen Augenblick verhaftet, anstatt eine symphonische Perspektive, die alle vorgeschriebenen Tempoveränderungen berücksichtigt, in diesem Satz zu fördern. Scherzi dieser Art sind jedoch, wie auch gewisse Menuette von Haydn, durchaus elastisch und verschiedenen Tempoauffassungen zugänglich, wie eine berühmte Anekdote aus dessen Leben belegt, als er eine Gruppe von Wirtshausmusikern in der Frage eines Menuett-Tempos mit den Worten beruhigte: „Wenn man danach tanzen kann, ist es auch gut“. Aber nochmals: die gewählte Tempodisposition steht zwar der Geschlossenheit der Gesamterscheinung des Satzes im Wege, nicht aber der augenblicksverhafteten Schönheit des Musizierens, und das ist auch etwas.

Ist das Streichquintett von Bruckner das Herz dieser Veröffentlichung, so ist das Adagio das Herz des Quintetts. Nicht umsonst ist dieser Satz, der die Kammermusik auf wirklich symphonische Dimensionen hebt, schon immer der gewesen, der aus dem Verbund der anderen Sätze gelöst wurde und als Streichorchesterstück für sich alleine stehen kann.

Was wir von langsamen Sätzen der Symphonien von Bruckner lieben, ist auch in diesem Satz vorhanden. Diese Liebe ist dem Dirigat von Christoph Schlüren anzumerken, sein Sinn für Breite im Tempo, der Wille zu zelebrierter Langsamkeit entfaltet sich hier auf das Schönste, die Geduld, die es braucht, die einzelnen Phrasen und musikalischen Gedanken sich entwickeln zu lassen, ist vorbildhaft, da hier das langsame Tempo sehr natürlich schreitet. Ein wenig ist aber auch hier der Wunsch Vater des Gedankens, als am Beginn der Wille zum langsamen Tempo per se obsiegt über das Wunder, das entstünde, wenn das Tempo am Beginn nur eine Spur fließender wäre. Man möge den Rezensenten des Beckmessertums zeihen, aber es muss darauf hingewiesen werden, dass es keinen musikalischen Grund außer dem der nur zu verständlichen Verliebtheit in die möglichst breite Langsamkeit an sich gibt, das erste Thema bei seinem ersten Erscheinen in einem sehr langsamen Tempo zu spielen und bei der Rückkehr des Themas (könträr zur Angabe „früheres Zeitmaß“) deutlich fließender. Hier gibt es eine fehlende Konsistenz, deren Richtigstellung vielleicht eine Überraschung verbergen würde, nämlich die Einheit der musikalischen Bewegung des ganzen Satzes wie er von Bruckner als Ganzes geschaffen wurde.

Schlüren schafft allerdings das Kunststück, mittels abermals großer Schönheit und Konzentation im musikalischen Moment, und wie in allen anderen Sätzen mittels Klarheit der Stimmführung, über diese kaum merklich fehlende Kohärenz hinwegzuhelfen, wofür ihm ein Kompliment nicht verwehrt werden kann.

Welche leisen Unstimmigkeiten die vorherigen Sätze denn auch gehabt haben mögen, sind von solchen fast keine mehr im Finale zu finden. Die Verhältnisse der Themen und Stimmen zueinander, in Ausdruck und Klarheit, im Atem der Bewegung, im im höchsten Grade einfachen und direkten Musizieren der Stimmen miteinander, erscheinen wie sie kaum logischer und klarer denkbar sind. Warum aber am Ende einer offen bleibenden Phrase aus drei Vierteln Pause eine Kunstpause, ja eine Fermate machen? Es unterbricht den Fluss, der im Finale doch noch selbstverständlicher strömt als in den vorherigen Sätzen, wo man als Hörer ansonsten beglückt daran teilhaben kann, dass Orchester, Dirigent und Komponist in Meisterschaft zu einer vollkommenen Einheit gefunden haben.

Es wäre interessant, wenn ein dirigentischer Kopf vom Niveau von Christoph Schlüren auf diese ganz kleinen persönlichen Freiheiten verzichtete – ob das Ergebnis dann nicht noch schöner und noch richtiger wäre? Denn schön und richtig ist es, was wir auf dieser Aufnahme hören dürfen. Denn hier klingt ein anderer Ton.

[Jacques W. Gebest, April 2024]

Anmerkung der Redaktion: Hier geht es zur Besprechung des Konzerts, das auf der CD festgehalten wurde.

Ein Musizieren von edelster Art: Beth Levin spielt Mozart, Tiessen und Schubert in Wien

Am 22. März 2024 beendete Beth Levin mit einem Konzert im Bank Austria Salon des Alten Rathauses zu Wien ihre Mitteleuropa-Tournee, die sie am 12. des Monats nach Berlin und am 19. nach München geführt hatte (zum Berliner Konzert siehe den Bericht von Sara Blatt). Das Programm war in Wien dasselbe wie bei den Auftritten in Deutschland. Es begann mit Wolfgang Amadé Mozarts Sonate a-Moll KV 310 und endete mit Franz Schuberts Sonate G-Dur D 894. Ähnlich wie auf den Alben, die die Pianistin für Aldilà Records (Inward Voice, Hammerklavier live) und Navona Records (Personae, Bright Circle) eingespielt hat, kombinierte sie eine Repertoire-Erweiterung mit den beiden Klassikern. Allerdings handelte es sich dieses Mal – anders als bei den auf den genannten CDs zu hörenden Werken von Anders Eliasson und David Del Tredici – nicht um zeitgenössische Musik, sondern um ein lange verschollenes, erst vor kurzer Zeit wiederentdecktes Werk: Die Fünf Klavierstücke op. 21 von Heinz Tiessen entstanden 1915 und wurden im folgenden Jahr durch Tiessens Schüler Eduard Erdmann erstmals öffentlich gespielt. Was dann mit ihnen geschah, ist unklar. Wahrscheinlich verschwand das Manuskript durch unglückliche Umstände aus dem Gesichtskreis des Komponisten, sodass er annehmen musste, es sei verloren. Er vergab die Opuszahl 21 neu und wies sie dem Rondo G-Dur, der Orchesterfassung des Finales seines Amsel-Septetts op. 20, zu. Nur Die Amsel, das vierte Stück des ursprünglichen op. 21, tauchte noch einmal auf: 1923 erschien als Nr. 2 der Drei Klavierstücke op. 31 eine Neufassung, die sich so deutlich von der ursprünglichen Gestalt unterscheidet, dass man geneigt ist, eine Rekonstruktion aus dem Gedächtnis anzunehmen. Letztlich kamen die Klavierstücke op. 21 im Jahr 2019 wieder zum Vorschein. Der Sammler und Verleger Tobias Bröker hatte das Manuskript aus einem Nachlass erworben, es mit einem Notenschreibprogramm transkribiert und auf seiner Internet-Seite zum kostenlosen Herunterladen bereitgestellt.

Aufbauend auf der Harmonik des mittleren Richard Strauss und des frühen Arnold Schönberg fand Heinz Tiessen in den 1910er Jahren zu einem expressiven Kompositionsstil, der sich weitgehend abseits herkömmlicher Kadenzformeln bewegt, jedoch an der Tonalität als Zusammenhang stiftendem Grundgestaltungsmittel konsequent festhält. Die Klavierstücke op. 21 gehören zu den ersten Werken des Komponisten, in denen diese Ausdrucksweise zu voller Reife entwickelt erscheint. Hinter dem neutralen Titel verbirgt sich eine Satzfolge, deren einzelne Nummern durchaus als zusammengehörige Teile eines Ganzen erscheinen. Der erste Satz ist entsprechend als „Vorspiel“, der letzte als „Finale“ bezeichnet. Mit seinen wuchtigen Eingangs- und Schlussakkorden und den registerartigen Klangabstufungen wirkt das Vorspiel wie ein Orgelpräludium. Die an zweiter Stelle stehend Elegie und das ihr folgende Intermezzo sind bei langsamem Grundtempo von wellenartigen Bewegungen durchzogen. Die Harmonien flackern unruhig wie Mondlicht auf nächtlichem Meere. Anzunehmen, dass der gebürtige Königsberger Tiessen bei der Komposition dieser Stücke an die Ostsee dachte, erscheint nicht abwegig, da er in seiner kurz zuvor entstandenen Natur-Trilogie op. 18, einer dreisätzigen Tondichtung für Klavier, ganz ähnliche Stimmungen in Töne gefasst hat. Im vierten Stück, der bereits erwähnten Amsel, verarbeitet der Komponist originale Amselrufe zu einer schalkhaften, kapriziösen Musik, die sich deutlich von der Schwerblütigkeit der ersten drei Stücke abhebt. Das Finale ist der ausgedehnteste Satz des Werkes. Die Vortragsanweisung „Leidenschaftlich bewegt“ bedeutet nicht zwangsläufig „schnell“. Es ist kein agiles Finale nach Art klassischer Sonaten, sondern gleicht in seinem Duktus, wie auch im zweimaligen Wechsel emphatisch aufbrausender mit bedächtiger, ruhigerer Musik einer Rede in Tönen. Bekenntnishaft schließt sie im dreifachen Forte.

Eduard Erdmann hat einst das Klavier eine „unmögliche Maschine“ genannt, „zusammengesetzt aus Elfenbein, Holz, Filz, Draht und Stahl“, auf der „kein echtes Legato, kein Gesang“ möglich sei. Es gehört zu jenen Instrumenten, deren Klangerzeugung derjenigen der menschlichen Stimme am wenigsten verwandt ist. Mithin fordert es den Spieler durch seine Beschaffenheit dazu heraus, den Klang durch sein Spiel zu transzendieren, im wahrsten Sinne des Wortes „übersteigend“ zu musizieren. Die deklamatorische Melodik der Stücke Tiessens verlangt nach einen langem Atem, ihr orchestral anmutender Tonsatz nach einer feinen Abstufung der Tongebung. Um die Harmonik mit ihren alterierten Akkorden und abrupten Gegenüberstellungen entfernt verwandter Klänge adäquat darzustellen, braucht es einen wachen Sinn für tonale Beziehungen im Großen wie im Kleinen. Die Musik verlangt mithin nach Kantabilität, Farbigkeit und Spannung. Beth Levin ist definitiv die richtige Musikerin, den Stücken dazu zu verhelfen und ihnen neues Leben einzuhauchen.

Levins Spiel besitzt generell einen Zug ins Große, nicht nur hinsichtlich der tendenziell eher breiten Tempi, sondern auch im Bezug auf den Klangfarbenreichtum, den sie hervorzubringen in der Lage ist. Die „unmögliche Maschine“ verwandelt sich unter ihren Händen tatsächlich dergestalt, dass man von einem imaginären Orchester oder Chor sprechen möchte – und, mit Robert Schumann, von den Klavierstücken als „verschleierten Symphonien“. Es ist, als würde der mechanische Aspekt des Klavierspiels – das Ingangsetzen einer Hebel- und Hammerschlagapparatur durch das Drücken von Tasten – gänzlich aus dem Sinn geraten, als entstünde der Klang ganz direkt, wie aus einer menschlichen Kehle. Die Töne, die Beth Levin dem Klavier entlockt, haben die Präsenz scharf profilierter Charaktere, denen gegenüber man gar nicht anders kann als aufmerksam zu lauschen, gebannt von ihrer Persönlichkeit. So spielen heißt wahrlich auf dem Klavier singen!

Davon profitiert nicht nur das seit mehreren Generationen ungehörte Werk Tiessens. Auch Mozart und Schubert erklingen hier in einer Intensität, wie man sie selten zu hören bekommt. Mozarts a-Moll-Sonate entwickelt eine dämonische Energie sondergleichen, die alle Überlegungen, ob ein solches Spiel auch „historisch korrekt“ sei, gegenstandslos macht. Levin wirft die Frage, ob man sich in solch hemmende Gedanken begeben sollte oder nicht, gar nicht erst auf, sondern widmet sich hingebungsvoll der Darstellung der scharfen Kontraste, die das Stück durchziehen. Nicht weniger imponiert die tiefe Ruhe, aus der heraus sie Schuberts große G-Dur-Sonate sich entfalten lässt, um dann in der Durchführung des ersten Satzes ein zerklüftetes Hochgebirge aus Klängen zu errichten. Die abgründigen, tieftraurigen Seiten dieser Musik, verdeutlicht in abrupten Wechseln der harmonischen Richtung oder des Tongeschlechts, bringt sie trefflich zur Geltung, aber auch Schuberts musikantisches Element kommt nicht zu kurz. Im Finale der Sonate hört man gelegentlich die Gitarre durch, andere Abschnitte dieses Satzes klingen durch fein gegeneinander abgesetzte Außen- und Mittelstimmen wie Kammermusik.

Levins Tempi mögen verhältnismäßig langsam sein, aber es handelt sich nicht um Langsamkeit um der Langsamkeit willen, sondern um kluge Disposition: Die Pianistin will nach Möglichkeit alle klingenden Phänomene zur Geltung bringen und lässt sich folglich etwas mehr Zeit. Man merkt: Jeder einzelne Moment im Verlauf einer Komposition ist ihr wichtig, nichts soll unterbelichtet bleiben, alles genau so dargestellt werden, wie es seiner Funktion im Zusammenhang des Ganzen entspricht. Die Versenkung in die Feinheiten der Musik führt mitunter zu deutlich spürbaren Temposchwankungen. Aber auch diese wirken nicht willkürlich, sondern entstehen durch intensives Erleben der Harmonik während des Spiels. Levin musiziert mit einem Wagemut, der an Wilhelm Furtwängler erinnert – auch er ein Musiker, der sich vom Moment mitreißen lassen konnte und doch stets die Übersicht behielt. Wie im Falle des großen Dirigenten haben Beth Levins Beschleunigungen und Verlangsamungen immer ihre Grundlage in der musikalischen Struktur. Stets weiß die Pianistin, wohin sie will, welche Richtung die Musik nimmt. Alles folgt aufeinander in bezwingender Logik. Darum sind ihre breiten Tempi auch viel spannungsvoller als die rascheren mancher ihrer Kollegen. Zu ihrer Dynamik ist noch hinzuzufügen, dass sie laute Stellen wirklich liebt, denn diese klingen bei ihr nie grobschlächtig lärmend. Im Gegenteil wendet sie auf dieselben die gleiche Sorgfalt an wie auf die leisen, vernachlässigt auch bei höchster physischer Kraftentfaltung die Phrasierung nicht und lässt es selbst im härtesten Marcato nicht am Sinn für vokale Linearität fehlen. Gerade an solchen Stellen wird deutlich, dass wir es mit einem Musizieren von edelster Art zu tun haben.

Angesichts dieses Konzerts kann man nur hoffen, diese außergewöhnliche US-amerikanische Pianistin, eine der ganz großen Musikerinnen unserer Zeit, bald wieder einmal im deutschsprachigen Raum willkommen heißen zu können.

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Anmerkung (1. April 2024): Im Falle der Klavierstücke Tiessens spricht nichts dafür, dass der Komponist – wie der Herausgeber Tobias Bröker für möglich hält – das Opus zurückgezogen hätte. Tiessen hat selbst den unveröffentlichten Werken aus seiner Jugendzeit ihre Opuszahl belassen. Man kann also davon ausgehen, dass die Neubesetzung der Opuszahl 21 nicht aus freien Stücken, sondern aus einer Not heraus erfolgte: Nämlich, dass die Klavierstücke op. 21 für Tiessen unauffindbar waren und er nicht mehr damit rechnete, die im Werkverzeichnis klaffende Lücke durch den Fund des Manuskripts zu schließen. (N.F. Schuck)

„Der fromme Revolutionär“ in Wien – eine Ausstellung zum 200. Geburtstag Anton Bruckners

Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Josephsplatz. Über dem Eingang in der Mitte ist das Transparent zur Ausstellung „Der fromme Revolutionär“ zu erkennen.

Am 20. März 2024 eröffnete die Österreichische Nationalbibliothek in Wien ihre Ausstellung Der fromme Revolutionär über Leben und Werk Anton Bruckners.

„Ich vermache die Originalmauscripte meiner nachbezeichneten Compositionen: der Symphonien, bisher acht an der Zahl – die 9te wird, so Gott will, bald vollendet werden, – der 3 großen Messen, des Quintettes, des Tedeum’s, des 150. Psalm’s und des Chorwerkes Helgoland – der kais. und kön. Hofbibliothek in Wien und ersuche die k. u. k. Direction der genannten Stelle, für die Aufbewahrung dieser Manuscripte gütigst Sorge zu tragen.“

Mit diesen Worten hatte Anton Bruckner in seinem Testament noch selbst den Grundstock zu einer Sammlung gelegt, die heute weltweit den größten Bestand an Dokumenten zu Leben und Schaffen des Komponisten darstellt und somit für die Bruckner-Forschung unerlässlich ist. Ursprünglich nur als Aufbewahrungsort der Autographen seiner Hauptwerke vorgesehen, vergrößerte die Österreichische Nationalbibliothek während der über zwölf Jahrzehnte nach Bruckners Tod ihre Sammlung um viele weitere Bruckneriana. Im Laufe der Zeit fanden so neben weiteren Kompositionshandschriften auch Briefe, Aufzeichnungen und andere persönliche Papiere Bruckners, Photographien, Konzertprogramme und künstlerische Rezeptionsdokumente (wie die bekannten Karikaturen Otto Böhlers) den Weg in die Nationalbibliothek.

Anlässlich der 200. Wiederkehr von Bruckners Geburtstag im Jahr 2024 kann seit dem 21. März noch bis zum 25. Januar 2025 im Prunksaal des Bibliotheksgebäudes am Josephsplatz die von Thomas Leibnitz, Präsident der Internationalen Bruckner-Gesellschaft, und Andrea Harrandt, Herausgeberin der Briefe Bruckners, kuratierte Ausstellung Der fromme Revolutionär besichtigt werden, die einen repräsentativen Überblick über die Bruckner-Sammlung der Nationalbibliothek verschafft, aber auch Gegenstände aus anderen Wiener Sammlungen sowie aus Privatbesitz zeigt. Erstmals finden sich dabei sämtliche Manuskripte der Symphonien Bruckners gemeinsam der Öffentlichkeit präsentiert. Die Partituren sind an charakteristischen Stellen aufgeschlagen, an denen Bruckners Arbeitsprozess deutlich wird. So zeigen Aufzeichnungen am Rande einer Seite aus der Achten Symphonie, wie der Komponist sich selbst Rechenschaft über jede einzelne Stimmführung eines bestimmten Taktes ablegt. Man sieht die Spuren des Abrasierens verworfener Noten und die Überklebungen von Stellen, an denen keine weiteren Rasuren möglich waren. Das Adagio der Siebten Symphonie ist an jener berühmten Stelle aufgeschlagen, an welcher Bruckner auf Anraten Arthur Nikischs und der Brüder Schalk Stimmen für Becken, Triangel und Pauken einklebte, um den Höhepunkt des Satzes zu markieren. Die mit Bleistift nachträglich auf dem Papierstreifen angebrachte Notiz „gilt nicht“ hat die Philologen bis heute nicht losgelassen. Ihr Urheber konnte nie bestimmt werden. Ja, es sieht sogar danach aus, dass die beiden Wörter von zwei unterschiedlichen Schreibern stammen. Eine für Bruckners Entwicklung zum unabhängigen Künstler besonders wichtige Notenhandschrift wird in dieser Ausstellung zum ersten Mal überhaupt öffentlich gezeigt: das sogenannte Kitzler-Studienbuch, das den Unterricht in freier Komposition dokumentiert, den Bruckner von dem Linzer Theaterkapellmeister Otto Kitzler zwischen 1861 und 1863 erhielt. Es enthält u. a. die vollständige Partitur des Streichquartetts in c-Moll. Bei der Auflösung von Bruckners Wohnung in die Hände Joseph Schalks gelangt, befand es sich lange Zeit im Besitz von dessen Nachkommen und wurde 2013 von der Nationalbibliothek erworben.

Aber nicht nur die Partituren Bruckners sind sehenswert. Auch an interessanten Zeugnissen seines Lebens fehlt es nicht. So finden wir etwa seinen Taufschein, sein Ehrendoktordiplom und die Verleihungsurkunde des Franz-Joseph-Ordens, einen Taschenkalender mit Bruckners täglichen Gebetsnotizen, Bruckners Reisepass, ausgestellt anlässlich seiner Urlaubsreise in die Schweiz („Besondere Kennzeichen: an der linken Seite des Halses eine Narbe“), Blätter, die Bruckner am Grabe Richard Wagners in Bayreuth aufgelesen hat, ein Passphoto von 1880, das der Komponist anscheinend besonders schätzte, da er es nachweislich zahlreichen Briefen an von ihm verehrte junge Frauen beilegte, und einen Brief Bruckners an Hans von Wolzogen aus dem Jahre 1885, durch welchen die Forschung definitiv belegen konnte, dass die Uraufführung der Siebten Symphonie in Leipzig ein großer Erfolg gewesen ist.

Was die Hörbeispiele anbetrifft, haben die Veranstalter der Ausstellung eine vorzügliche Wahl getroffen und zu Rémy Ballots bei Gramola erschienenem Symphonien-Zyklus gegriffen, der im letzten Jahr durch die Aufnahme der annullierten d-Moll-Symphonie (fälschlich „Nullte“ genannt) im Rahmen der St. Florianer Bruckner-Tage (zur Rezension siehe hier) abgeschlossen wurde.

Thomas Leibnitz merkte anlässlich der Eröffnung an, dass das Motto der Ausstellung die Gegensätze in Bruckners Wesen betont: Bruckner sei beides, sowohl ein frommer Mann, als auch ein Revolutionär gewesen. War er von den Zeitgenossen vor allem als radikal moderner Künstler wahrgenommen worden, so habe das Bruckner-Bild in der Zeit seit seinem Tode sich mehrfach gewandelt, wobei der Fromme und der Revolutionär als Pole erkennbar blieben. Im frühen 20. Jahrhundert wurde Bruckner zu einer Gallionsfigur konservativer politischer Kräfte, in der Zeit des Nationalsozialismus als deutsches Originalgenie gepriesen, das frühe Nachkriegsösterreich sah in ihm vor allem einen katholischen Künstler, wohingegen in den 1970er Jahren die neurotischen Züge seiner Persönlichkeit betont wurden. Die Ausstellung Der fromme Revolutionär strebe nicht danach, so Leibnitz, die Reihe dieser Bruckner-Bilder um ein weiteres zu erweitern, sondern Bruckner in der Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit seiner Person auf Grundlage des heutigen Forschungsstandes vorzustellen.

Nach Mitteilung von Johanna Rachinger, Generaldirektorin der Nationalbibliothek, und Andrea Harrandt werden gemäß geltenden Regeln die Manuskripte nach der Ausstellungseröffnung noch drei Monate lang im Original zu sehen sei. Bei mehrbändigen Werken (wie den meisten Symphonie-Handschriften) werden die Bände ausgewechselt, ansonsten wird man sich mit Faksimiles behelfen.

Die feierliche Eröffnungsveranstaltung am Abend des 20. März 2024 bot den anwesenden Gästen Großartiges in Ton und Wort. Clemens Hellsberg, Primgeiger im Orchester der Wiener Staatsoper und ehemaliger Vorstand der Wiener Philharmoniker, hielt einen Vortrag, in welchem er, angelehnt an Klaus Heinrich Kohrs‘ Buch Anton Bruckner. Angst vor der Unermesslichkeit, den Komponisten als einen krisenhaften Künstler schilderte, hin- und hergerissen zwischen seinem beständigen Drang zur grenzüberschreitenden Ausformulierung des Unermesslichen in Tönen und dem immer stärker hervortretenden Gedanken an den Tod – Grundgegensätze seines Denkens, die in der Neunten Symphonie in schärfster Konfrontation aufeinandertreffen und, da das Werk unvollendet blieb, letztlich zu keiner Lösung finden. Hellsberg nutzte im Laufe seiner Rede die Gelegenheit, mit diversen Legenden über Bruckner aufzuräumen. So wies er ausdrücklich Hans von Bülows Bezeichnung Bruckners als „halb ein Gott, halb ein Trottel“, die im Original „Halbgenie + Halbtrottel“ lautet, zurück, indem er Bruckners vorzügliche Leistungen in seinem Bildungsgang als Lehrer betonte. Aber auch einer Verklärung der weniger sympathischen Eigenschaften Bruckners trat er entgegen, war der Komponist doch, wie seine Briefe zeigen, mitunter durchaus zu störrischem Verhalten und ungerechten Äußerungen fähig (etwa gegen das Stift St. Florian und die Stadt Linz). Als besonders wichtig darf die Aufklärung über ein häufig angeführtes, Bruckner aber fälschlicherweise zugeschriebenes Zitat bezeichnet werden: „Weil die gegenwärtige Weltlage geistig gesehen Schwäche ist, flüchte ich zur Stärke und schreibe kraftvolle Musik“, soll Bruckner einmal gesagt haben. Tatsächlich handelt es sich um eine Äußerung Adalbert Stifters, die dieser am 17. Dezember 1860 in einem Brief an Gustav Heckenast niederschrieb und die eigentlich lautet: „Weil die gegenwärtige Weltlage Schwäche ist, flüchte ich zur Stärke und dichte starke Menschen und dies stärkt mich selber.“ Ein Schriftsteller hat dieses Zitat später auf Bruckner umgedichtet, unachtsame Autoren griffen es auf und gaben es als originalen Bruckner wieder.

Bruckner kam an diesem Abend selbst zu Wort in Form des langsamen Satzes aus dem Streichquartett c-Moll und des Scherzos aus dem Streichquintett F-Dur, gespielt vom Ballot-Quintett (Rémy Ballot und Iris Ballot, Violinen, Stefanie Kropfreiter und Nataliia Kuleba, Bratschen, und Marta Sudraba-Gürtler, Violoncello). Hinsichtlich der Feinabstufungen in Dynamik und Tempo, der Interaktion der einzelnen Stimmen miteinander, der Phrasierung und der schlüssigen Darstellung des musikalischen Verlaufs leistete das Ensemble, welches beide Werke bereits in veritablen Referenzeinspielungen vorgelegt hat, Hervorragendes und trug dadurch wesentlich zum Gelingen des Abends bei.

[Norbert Florian Schuck, März 2024]

Feine und weise Mathematik der Töne – Andrea Vivanet spielt Jan Pieterszoon Sweelinck

Piano Classics, PCL10280; EAN: 5 029365 102803

Der italienische Pianist Andrea Vivanet hat eine in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Aufnahme von Werken für Tasteninstrumente von Jan Pieterszoon Sweelinck vorgelegt.

Die Flut der neu eingespielten CD’s nimmt nicht ab. Wozu dienen sie? Kommerziell sind sie längst bedeutungslos, auch Einnahmen aus diversen Streaming-Plattformen, deren Namen hier zu nennen sich aus Gründen des Respekts vor der Würde des Künstlertums vieler ernsthafter Musikerinnen und Musiker verbietet, sind ebenfalls marginal. Es wird wohl Geld damit verdient, aber dieses landet nicht bei den Ausübenden, deren Kunst auf diese Weise irgendwie hörbar gemacht wird.

Junge, alte, bekannte, unbekannte Künstlerinnen und Künstler, stehen einfach unter dem Druck, gehört zu werden, soll ihre Existenz kein Selbstzweck sein, mehr als l’art pour l’art (als wenn genau das nicht schon etwas wäre). Der oft aus gutem Grunde klarsichtig-nörgelnde Dirigent Sergiu Celibidache hat sehr richtig den zunehmenden Tod der Musik aufgrund der Kommerzialisierung durch die damals noch so genannte Plattenindustrie kommen sehen.

Lassen wir die technischen Aspekte außer Acht – dass keine Aufnahme so klingt wie ein Konzert in einem wirklichen Konzertsaal, weiß nun schon jedermann, und dass die Gewohnheit, den Klang aus dem Smartphone als normal zu akzeptieren, auch normal geworden ist. Die kommerzielle Aufnahmeindustrie ist noch machtvoll tätig, Aufnahmen sind aber kein Selbstzweck mehr, sondern auf einem gewissen Niveau ein Paketbaustein, um eine Karriere zu fördern oder zu bestätigen, z.B. wird ein Symphonien-Zyklus aufgenommen, um damit das Interesse an einer Tournee mit diesem Programm zu fördern, und umgekehrt.

Aufnahmen sind also irgendwie virtuell in dem Sinne, dass sie keine Tatsächlichkeiten, keinen Sinn als Dokumente haben, sondern Teil eines kommerziellen Zwecks sind. Das geht in Ordnung, denn das Geschäft muss laufen, daran gibt es rein gar nichts auszusetzen. Die klassische Musik ist auf diesem Niveau schon zu einer Popkultur geworden, was ganz in Ordnung geht, wenn man diese Popkultur nicht mit der Musik selber verwechselt. Sie, die Popkultur, ist nicht die Spitze eines Eisbergs, dessen größere Hälfte im Meer verborgen schwebt, sie ist mehr eine wolkenhafte Erscheinung, die sich von einer nie enden wollenden Kreativität von Komponistinnen und Komponisten und Musikerinnen und Musikern und von ihrem nie versiegenden schöpferischen Reichtum längst abgekoppelt hat.

Die viel beschworene Krise dieser Musik scheint daher auch eher eine Krise der Musikindustrie zu sein, als eine Krise der klassischen Musik und der in ihr lebenden und ausgeübten Kreativität selber. Eine Diskussion hierüber spielt an diesem Platz jedoch keine Rolle.

Denn es hat, und darauf läuft dieser kleine Text hinaus, die Flut der eigenspielten CD’s, oder „Alben“, noch einen anderen, gar nicht kommerziellen Effekt: die meist dem sogenannten breiten Publikum unbekannten Künstlerinnen und Künstler finden Unentdecktes, denken musikalisch-kuratorisch und werden im besten Fall mit ihrer vorangegangenen geistigen Beschäftigung mit den eingespielten Werken doch wahrgenommen – und gehört.

Und dann erscheint, trotz der erwähnten Kassandrarufe, in Einzelfällen eine Überraschung in Form einer positiven, ja zutiefst gute Seite der Aufnahmeflut: Sorgfalt ist am Werk, Respekt vor dem Werk, vor der humanen Dimension der künstlerischen Arbeit, womit Musik wieder im besten Sinne zum Selbstzweck, nämlich eine l’art pour la humanité wird. Aufnahmen werden dann nicht eingespielt, produziert, sondern als Ergebnis einer wirklichen Beschäftigung mit der Materie, von der sie handeln, tatsächlich v o r g e l e g t.

Einen solchen glückliche Fall haben wir hier mit der vom italienischen Pianisten Andrea Vivanet erschienenen Aufnahme von Werken für Tasteninstrumente von Jan Pieterszoon Sweelinck, der von 1562 bis 1621 lebte und Zeit seines Lebens Organist in der Oude Kerk in Amsterdam war. Die hier zu hörenden Werke wurden von Sweelinck selber nie veröffentlicht und überlebten die Zeitläufte nur durch glückliche Umstände, wie dem aufschlussreichen Booklet von Florian Schuck zu entnehmen ist.

Wer den Komponisten nicht kennt, hat hier eine wunderbare Gelegenheit, ihn kennenzulernen und dabei auch, im Vorbeigehen sozusagen, eine sympathische Freundschaft mit dem Kontrapunkt einzugehen und diesen als Klarheit, die zu Schönheit führt, zu erleben. Toccaten und Variationen legen Zeugnis ab dafür, wie aus einer geheimnisvollen, feinen und weisen Mathematik der Töne Musik wird.

Andrea Vivanet lässt uns in seiner Aufnahme hören, wie zeitlos Musik ist, die dieser seltsamen Mathematik entspringt, die ja keine Mathematik ist, sondern einfach nur vor lauter Klarheit unmöglich zu fassen und mit keinem Wort zu definieren. Schon die ersten erklingenden Töne zeigen uns die musikalische und instrumentale Beherrschung, die aus dem wirklichen Verständnis des Pianistischen und eines kontrapunktischen Tonsatzes entspringt. Vivanet verwirklicht auf das Schönste die Klarheit, Einfachheit und die natürliche Selbstverständlichkeit dieser feinen Partituren.

Eine bestimmte Form des Purismus mag gerne stirnrunzelnd bemängeln, dass der bemerkenswerte Pianist keine historischen Tasteninstrumente gewählt hat, um uns diese Musik näherzubringen, doch verhallt diese Beschwerde in einer anderen, ebenfalls strengen Form des Purismus, nämlich jener, die stirnglättend Wert darauf legt, dass ein Tonsatz wie vom Komponisten erdacht, gehört und niedergeschrieben, wieder in allen Parametern in der Aufführung neu entsteht.

Der moderne Flügel, den Andrea Vivanet hier wählt, scheint dabei für die feinen Sweelinck’schen Wahrheiten denn auch unter seinen Fingern gerade das perfekte Instrument zu sein.

[Jacques W. Gebest, März 2024]