Als Co-Produktion mit Deutschlandfunk Kultur haben die Geigerin Tianwa Yang und der Pianist Nicholas Rimmer in Berlin die vier Violinsonaten des US-amerikanischen Komponisten George Antheil (1900‒1959) für Naxos eingespielt. Die Veröffentlichung kann in allen Belangen überzeugen.
George Antheil war in den 1920er Jahren in der klassischen Musikszene Europas tatsächlich das enfant terrible schlechthin, bezeichnete sich nicht erst in seiner gleichnamigen Autobiographie (1945) ausdrücklich als Bad Boy of Music. Insbesondere durch rhythmisch äußerst aggressive, über Strecken dabei mechanistisch unterkühlte Musik – allem voran sein Ballet mécanique (1926, rev. 1952) – wusste er stets gehörig zu provozieren. Die dann auch immer vorhandenen Jazz-Einsprengsel taten ein Übriges. Genoss der Komponist in Europa seine Skandale, war ein Konzert in der New Yorker Carnegie Hall 1927 ein einziges Debakel. Als er 1933 zurück in die USA ging, ab 1936 in Hollywood arbeitete – nicht nur für die Filmindustrie – wurde er zunehmend „braver“, so dass er fortan kaum noch als Avantgardist wahrgenommen wurde und seine frühen, für uns heute umso erfrischender wirkenden Glanzlichter lange in Vergessenheit gerieten. Eine echte Renaissance erlebt sein Werk erst wieder seit den späten 1970ern.
Antheils erste drei Violinsonaten entstanden 1923 und 1924, genau während seiner Experimente mit dem Ballet mécanique. Der Komponist war 1922 nach Europa gereist, traf in Berlin sein Idol Igor Strawinsky und folgte ihm 1923 nach Paris. In der viersätzigen ersten Violinsonate erkennt man in den Ecksätzen Strawinskys Einfluss sehr stark (Les Noces, Histoire du soldat). Aber gleichzeitig gibt es hier bereits in der Violinliteratur bislang unerhörte, bewusst bis an die Grenze der Erträglichkeit sich wiederholende Barbareien, clusterartig klingendes, extremes Kratzen zwischen Steg und Saitenhalter, härteste irreguläre Akzente usw. Jedwede Formerwartungen an klassische Sonaten werden enttäuscht. Andererseits ist das 24-minütige Werk voller Exotismen und schöner Details, die den Hörer ebenso umwerfen.
Die aus Peking stammende, mittlerweile mit Preisen gerade für ihre CD-Aufnahmen (Sarasate, Rihm, Brahms…) überhäufte Violinistin Tianwa Yang ist bereits lange in Deutschland tätig, seit 2018 Professorin in Würzburg. Mit ihrem britischen Klavierpartner Nicholas Rimmer gelingt ihr schon hier eine Darbietung, die alle bisherigen Einspielungen weit in den Schatten stellt. Während etwa Vera Beths und Reinbert de Leeuw einerseits die Bruitismen nicht bis an die Grenze ausloten, andererseits die Musik – sicherlich absichtsvoll – völlig ohne innere Anteilnahme wie eine Maschine abspulen, atmet und lebt bei Yang/Rimmer jeder Moment. Alles ist hier auch emotional nachvollziehbar und verständlich. Der Klang beider Musiker –wunderbar flexibel und farbig – lässt niemals kalt, trotz haarsträubender Präzision. Selbst die barbarischsten Stellen klingen natürlich: zum Beispiel wie der Schrei eines Esels. Und der Schluss des Finales, nicht nur von den Bewegungsmustern her an den Schluss des ersten Teils von Le Sacre du printemps gemahnend, wirkt in seiner Raserei geradezu hinreißend. Rimmers Geschmeidigkeit bei Läufen ist staunenswert – das ganze Stück kommt so absolut großartig herüber.
Genauso begeisternd spielen Yang und Rimmer die übrigen Sonaten. Die Jazz-Einflüsse der Sonaten Nr. 2 und 3 sind (aber)witzig, haben Swing und wirken keinesfalls als Fremdkörper wie bei Beths/de Leeuw. Die vierte Sonate von 1947-48 beweist, dass der dann vermeintlich zahme Antheil nichts an Ausdrucksstärke eingebüßt hat, alles andere als zahnlos oder gar ein Langweiler geworden ist. Erinnert der Kopfsatz – mit ein, zwei Beinahe-Zitaten – an die besten Momente von Kammermusik Prokofjews, erreicht die Passacaglia enormen Tiefgang. Das Toccata-Rondo ist ein wenig konventionell, dennoch ein brillanter Abschluss. Aufnahmetechnisch vermag die CD ebenfalls mit Transparenz und Dynamik völlig zu überzeugen. Die Veröffentlichung kann nicht hoch genug gelobt werden und gehört wirklich in jede Sammlung: ein echtes Kleinod für diese Besetzung.
Vergleichsaufnahme: Vera Beths, Reinbert de Leeuw (Auvidis Montaigne MO 782022, 1989)
Bekanntlich gehört Franz Schmidt zu denjenigen Komponisten, welchen im laufenden Jahr aufgrund eines runden Jubiläums verstärkte Aufmerksamkeit zuteil wird. Im Dezember jährt sich sein Geburtstag zum 150. Male, was sich diskographisch durchaus bemerkbar macht, lässt sich doch unter den CD-Veröffentlichungen der letzten Monate eine erhöhte Dichte an Schmidt gewidmeten Tonträgern feststellen. Zum Teil handelt es sich dabei um aktuelle Einspielungen, zum Teil um historische Aufnahmen, die zum ersten Mal auf CD erscheinen (unter diesen ist vor allem der bei Orfeo erschienene Mitschnitt der Oper Fredigundis aus dem Jahr 1979 bemerkenswert). Noch rechtzeitig vor Anbruch des Schmidt-Jahres 2024 erschien im vergangenen Dezember bei Accentus Music eine neue Gesamteinspielung seiner Symphonien, die erste dieser Art aus Großbritannien.
Der Dirigent Jonathan Berman gehört zu den besten Kennern von Franz Schmidts Leben und Schaffen. Seine Einspielungen der Symphonien mit dem BBC National Orchestra of Wales sind der bedeutendste, aber keineswegs der alleinige Bestandteil seines „Franz Schmidt Project“, das er vor einigen Jahren in Vorbereitung zum 150. Geburtstag des Komponisten ins Leben rief. Parallel zu den zwischen Januar 2020 und Oktober 2022 durchgeführten Aufnahmen hat Berman Interviews mit anderen Musikern über Schmidt geführt und begonnen, eine Schmidt-Diskographie zu erstellen (sie ist noch nicht abgeschlossen) – das Material findet sich auf seiner Internetseite The Franz Schmidt Project.
Was Bermans eigene Aufnahmen betrifft, so ist ihm und seinen walisischen Musikern – dies sei vorweggenommen – eine Leistung geglückt, die sich kein an der Symphonik Franz Schmidts interessierter Hörer entgehen lassen sollte.
Als Prüfstein zur Beurteilung dieser Gesamteinspielung habe ich zunächst den einzigen Satz einer Schmidt-Symphonie gewählt, der mir in vielen Aufnahmen zu lang vorkam, nämlich das Scherzo der Ersten Symphonie. Die Eckteile dieses Satzes erschienen mir nie problematisch, wohl aber der Mittelteil, der aus zwei separaten Stücken besteht, die ineinander übergehen. Das erste dieser Trios (cis-Moll) besteht im Grunde nur aus einem sich über die Intervalle des verminderten und übermäßigen Dreiklangs nach oben schraubenden achttaktigen Thema, das, berücksichtigt man die vorgeschriebenen Wiederholungen, insgesamt elfmal hintereinander zu hören ist, wenngleich auf verschiedenen Stufen. Das kann sehr gleichförmig wirken und seinen Schatten auf das unmittelbar folgende langsame Trio (Des-Dur) werfen, das dann wie eine Durststrecke erscheint. Aber muss dieser Eindruck sein? Berman lenkt im ersten Trio die Aufmerksamkeit auf die Gegenstimmen, macht deutlich, was sich alles um das Thema rankt, wie es bei jedem Durchlauf etwas anders kontrapunktiert und klanglich eingefärbt wird. So wird jedes Erscheinen des Themas zum Ereignis. Die Musik atmet gleichmäßig und holt alle acht Takte Luft. Nirgends klingt es, als trete das Geschehen auf der Stelle. Im Gegenteil hört man bei Berman, wie einfallsreich Schmidt mit diesem Trio das Passacaglia-Prinzip in einen Scherzo-Satz eingebaut hat. Nach dem elften Themendurchlauf legt sich diese Quasi-Passacaglia zur Ruhe und fließt in das langsame zweite Trio über. Berman gestaltet diesen Übergang unaufdringlich zwingend, der Beginn des Des-Dur-Trios erscheint als der natürliche Zielpunkt. Im Folgenden lässt der Dirigent stärkere Rubati zu, aber stets in schöner Übereinstimmung mit dem harmonischen Verlauf der Musik. Die Musik dehnt sich, entspannt sich – durchaus ein erwünschter Effekt nach dem so rigoros durchgeführten cis-Moll-Abschnitt –, aber sie verliert nicht die Orientierung und auch nicht den Fluss. Wenn dann der Hauptteil des Scherzos erneut ansetzt, klingt alles erholt und erfrischt – und es wird klar, welch originelle vierteilige Dramaturgie Schmidt, vom üblichen Scherzo-Schema abweichend, in diesem Satz verfolgt. Im Hauptteil selbst hält Berman die Musik geschickt zwischen ungeschlachter Ländlichkeit und eleganteren, sich ein wenig zierenden Klängen in der Schwebe. Nein, dieser Satz enthält keine Längen, sondern in jedem Takt großartige, spannende Musik!
Was für das Scherzo gilt, gilt für die ganze Symphonie. Das Werk erfährt durch Berman und die Walliser eine rundherum ausgewogene Wiedergabe, die allen Affekten gleichermaßen Rechnung trägt und durch alle Tempi hindurch die Spannung aufrecht erhält. Schmidts Erste ist ein glänzend instrumentiertes Werk, doch geht es Berman hörbar um mehr als um die Vorführung bloßer orchestraler Brillanz. Das Klangbild, das er mit seinem Orchester erzeugt, leuchtet von innen her, da es vom kontrapunktischen Tonsatz aus entwickelt ist. Schmidt ist ein essentiell polyphoner Komponist und seine Harmonik stets als Ergebnis des Zusammentreffens der Stimmen gedacht. Die Herausforderung, die er an die Ausführenden stellt, ist weniger spieltechnischer als geistiger Art (Paul Wittgenstein pflegte den Komponisten, bei denen er Klavierkonzerte in Auftrag gab, das Schmidtsche Es-Dur-Konzert als Musterbeispiel ausgewogener Instrumentation vorzulegen!) und besteht in erster Linie darin, die für Schmidt charakteristische exzessive Chromatik funktional zu erfassen und den linearen Spannungsauf- und abbau in den einzelnen Stimmen nachzuvollziehen. Jonathan Berman hat sich tief in die Feinheiten des Schmidtschen Tonsatzes versenkt und ein Gespür für die Darstellung des polyphonen Geflechts entwickelt, weswegen man in seiner Einspielung die Nebenstimmen auch in lautstarken Momenten deutlich durchklingen hört.
Mehr noch als der Ersten kommt dies der Zweiten Symphonie zu Gute. Bermans Aufführung dieses Werkes entwaffnet all jene vorlauten Kritiker, die in demselben ein überladenes Monstrum sehen wollen und dabei wahlweise von „k.u.k.“- oder „Jugendstil“-Bombast fabulieren. Ja, Schmidt macht in dem Stück, das allein schon im Hinblick auf seine Form zu den hervorragendsten Leitungen des Komponisten gerechnet werden muss, seine handwerkliche Meisterschaft durchaus demonstrativ geltend und schöpft bezüglich der Möglichkeiten, die ihm das große Orchester zur polyphonen Gestaltung bietet, aus dem Vollen, aber überladen klingt das alles doch nur, wenn der Dirigent keinen rechten Überblick über den Tonsatz hat. Man höre nun bei Berman den Schlusschoral des Finalsatzes: Da ist kein undifferenziertes Dröhnen und Rauschen. Das Choralthema führt eindeutig, wird aber nicht so überstark herausgestellt, dass alles Übrige zu einer diffusen Begleitung herabsinkt. Stattdessen wird hörbar, mit welch feinen Ornamenten Schmidt das Thema umrankt. Auch behandelt Berman das Tempo feinfühlig, lässt es an manchen Stellen geringfügig nachgeben, damit eine Nebenstimme deutlicher zu vernehmen ist, achtet aber sorgsam darauf, das Thema nicht zu zerdehnen und das Grundtempo zu halten. Diese Kunst des Rubatos beherrscht Berman auch im Leisen, wie sich beispielhaft in der Mitte der Durchführung des ersten Satzes, in der langsamen Variation vor Beginn des Scherzos im zweiten Satz sowie im Trio des Scherzos zeigt.
Besonders erfreut in dieser Gesamtaufnahme die Darbietung der Dritten Symphonie. Dieses Werk kann gerade deswegen als Schmidts schwierigste Symphonie gelten, weil sie sich verglichen mit ihren Geschwistern so unauffällig gibt. Zusammen mit dem zeitnah entstandenen Zweiten Streichquartett markiert sie in Schmidts Schaffen den Punkt der stärksten Abkehr vom „spätromatischen“ Idiom. Einer auf Äußerlichkeiten aufbauenden Interpretation entzieht sie sich auffällig. In der Ersten Symphonie kann ein Dirigent sich an Gesten jugendlicher Aufbruchsstimmung und an Naturlauten orientieren, aus der Zweiten kann er ein opulentes Fin-de-siècle-Feuerwerk machen, die Vierte gibt immer wieder die Möglichkeit zu nachdrücklicher Emotionalität. Die Dritte dagegen hat keine spektakuläre Außenseite. Wer will, der höre zu und nehme Teil an dieser sanft dahinströmenden, ungemein fein gestalteten Musik, aber man erwarte nicht, dass sie irgendwelche Anstalten macht, den Hörer zu überreden. Schmidts Dritte ist ein leidenschaftlich unrhetorisches Stück. Einem solchen Werk kommt man nur bei, wenn man sich auf die Introspektion der Musik einlässt und nicht nach Gelegenheiten zur Effekthascherei sucht, wo keine sind. Bermans intensives Nachvollziehen der zart gesponnenen melodischen Linienspiele mit ihrer ebenso kühnen wie unaufdringlichen Chromatik ist hier der einzig erfolgversprechende Ansatz. Und so blüht diese Musik auf wie selten zuvor.
Das BBC National Orchestra of Wales zeigt sich in jeder dieser Schmidt-Aufnahmen als ein bestens disponierter Klangkörper, der wie ein großes Kammerensemble agiert: Den Spielern ist die Bedeutung ihrer einzelnen Stimmen offenbar voll bewusst, und man hört einander genau zu. Anders wären die dezenten Rubati und das fein abgetönte polyphone Musizieren auch kaum möglich. Großartige Orchestersolisten stehen für das Trompetensolo am Beginn der Vierten Symphonie und das Cellosolo im langsamen Satz desselben Werkes zur Verfügung. Auch in dieser meistgespielten Symphonie Schmidts zwingt Berman der Musik nichts auf, sondern lässt sie aus der Ruhe und Einsamkeit des einleitenden Trompetenthemas heraus entstehen und durch die allmähliche polyphone Entfaltung wie von selbst immer tiefgründiger und inniger werden. Auch imponiert die Geschlossenheit der Aufführung. Der markerschütternde Aufschrei im Scherzo, der in weniger durchdachten Aufführungen recht plötzlich ertönt und wieder verklingt, wird hier als der Höhepunkt spürbar, auf den die ganze Entwicklung der drei miteinander verbundenen Sätze zuzusteuern scheint, und nach dem es für die Musik tatsächlich keinen anderen Ausweg gibt, als den Anfang des ersten Satzes zu rekapitulieren und mit dem Trompetenthema den Kreis zu schließen.
Als Zugabe erklingen noch die Orchesterstücke aus Schmidts erster Oper Notre Dame, denen Berman und seine Musiker keineswegs weniger Aufmerksamkeit schenken als den Symphonien und anhand deren so recht deutlich wird, dass Schmidt auch als Opernkomponist symphonisch denkt.
Die Edition bereitet nicht nur großes Hörvergnügen, sondern erfreut auch durch ein umfangreiches Beiheft, das neben den Werkeinführungen ein 15-seitiges Interview enthält, in welchem sich der Dirigent ausführlich zu seiner Beschäftigung mit Franz Schmidt äußert.
Drei Ersteinspielungen würdigen die fast vergessenen Komponisten Leo Blech und Hans Sommer
Leo Blech: „Alpenkönig und Menschenfeind“, 2 CD’s
Capriccio; Bestellnr.: C5478, EAN: 845221054780
Leo Blech: „Complete Orchestral Works“
Capriccio, Bestellnr.: C5481, EAN: 845221054810
Das Theater Aachen feiert im kommenden Jahr den 200. Geburtstag und arbeitet seine Vergangenheit schon im Vorfeld auf. Dafür stehen zwei Meldungen: 2023 wird die Büste von Herbert von Karajan wegen seiner Nähe zum nationalsozialistischen Regime aus dem Foyer entfernt. Ein Jahr früher erhält Leo Blech die Ehrenmitgliedschaft, die ihm 1937 aufgrund seiner jüdischen Herkunft entzogen wurde, posthum wieder zurück. Beide Dirigenten begannen von Aachen aus ihre Karriere. Doch während Karajan ohne Unterbrechung zum Pultstar mit Kultstatus aufstieg, wurde der 1871 in der Domstadt geborene Blech, der als Chefdirigent der Staatsoper seit 1913 im Berliner Musikleben eine führende Rolle spielte, 1937 zwangspensioniert. Nach Jahren im Exil kehrte er 1949 in gleicher Position an sein altes Haus zurück, doch nach seinem Tod 1958 wurde er vergessen. Erst 2015 erinnerte der Verlag Hentrich & Hentrich im Rahmen der Reihe Jüdische Miniaturen an den Musiker, der sich neben seiner Dirigententätigkeit auch als Opernkomponist hervortat. Zunächst in Aachen mit zwei tragischen Einaktern, dann in Dresden mit der volkstümlichen Idylle Das war ich!, mit der ihm der Durchbruch gelang. Deren Erfolg wurde 1903 noch übertroffen von der ebenda uraufgeführten Oper Alpenkönig und Menschenfeind nach Ferdinand Raimunds Wiener Zauberspiel. Sie steht in der Tradition der spätromantischen Märchenopern und der Nachfolge von Blechs Lehrer Engelbert Humperdinck. Die Handlung: der seine Familie tyrannisierende Rappelkopf wird von einem guten Geist mittels eines Zaubertricks – er nimmt die Identität des Griesgrams an, der wiederum in Gestalt des guten Onkels erleben muss, wie unerträglich er sich allen gegenüber verhält, – auf den rechten Weg geführt. Das Stück bietet musikalische Abwechslung: volkstümliche Melodien treffen auf Wagnerreminiszenzen, sinfonische Tonmalereien – etwa der Sonnenuntergang oder das Alpenglühen –, auf eine Genreszene mit Tanz und Blasmusik, und auch ein operettenhaftes Couplet ist dabei. Das Stadttheater Aachen hat Alpenkönig und Menschenfeind anlässlich von Leo Blechs 150. Geburtstag wieder zur Aufführung gebracht und in fast gleicher Besetzung auf CD verewigt. Das Ensemble bewegt sich sicher zwischen spielopernhafter Natürlichkeit und charaktervoller Gesangskultur. Genannt seien stellvertretend Sonja Gornik und Anne-Aurore Cochet, deren Stimmen sich im eröffnenden lyrischen Frauenduett homogen verbinden und die Baritone Ronan Collett und Hrólfur Saemundsson, die der zentralen Schwurszene zwischen Alpenkönig und Menschenfeind dramatische Konturen geben. Auf den Spuren seines historischen Vorgängers schwelgt GMD Christopher Ward mit dem Sinfonieorchester Aachen in den illustrativen Naturschilderungen, zaubert Stimmungen und subtile Klangfarben. Ergänzt wird die Gesamtaufnahme durch eine CD mit Blechs kompletten Orchesterwerken aus seiner Frühphase. Ward dirigiert die sinfonischen Dichtungen, die ihren Namen Waldwanderung, Trost in der Natur und Die Nonne alle Ehre machen, mit gleicher Kompetenz und Leidenschaft wie die Oper. Abgerundet wird diese Einspielung durch zwei Chöre, Sechs Kinderlieder und das Solo Wie ist doch die Erde so schön in der unerwartet konservativen Instrumentation von Bernd Alois Zimmermann.
Zu den deutschen Tonschöpfern, die lange von der Fachwelt vernachlässigt wurden, zählt auch Hans Sommer (1837–1922). Er begann seine berufliche Laufbahn als Mathematikprofessor und schuf seine erste Komposition als bereits anerkannter Wissenschaftler. Daneben engagierte er sich für die Rechte von Künstlern und trat als Mitbegründer GEMA für den Urheberschutz ein. Sommers Oeuvre umfasst vorwiegend Vokalmusik, darunter 10 Opern, von denen nur Rübezahl und der Sackpfeifer von Neiße in modernen Zeiten aufgeführt wurde. Zu seinen wichtigen Werken gehören Orchesterlieder, vergleichbar mit denen seines jüngeren Vorbilds Richard Strauss, der Sommer schätzte und förderte. Etliche von ihnen gibt es mittlerweile in verschiedenen Einspielungen. Das Label Pentatone aber hat eine Auswahl vorwiegend mit CD-Premieren veröffentlicht, die alle Schaffensperioden umfasst. Sie sind stilistisch in der Spätromantik verwurzelt und natürlich auch von Wagner beeinflusst. Ihre Qualitäten bringt ein kundiges, mit Liedgesang vertrautes Vokalquartett ans Licht. Der Tenor Mauro Peter trägt die Heine-Vertonung Nachts in der Kajüte mit Emphase vor, Innigkeit verströmt Sopranistin Mojca Erdmann in den volkstümlichen Weisen aus der Oper Lorelei. Vokale Variabilität und beste Diktion offenbaren der Mezzo Anke Vondung und der Bariton Benjamin Appl in den Stücken auf Goethe-Gedichte. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Leitung von Guillermo Carcia Calvo steuert die exquisite Instrumentalbegleitung bei. Die gelungene CD endet kammermusikalisch intim. Im Zyklus Hunold Singuf für Klarinettenquintett versieht Appl die ersten drei Strophenlieder mit vielen Nuancen, bevor alle zusammen das Trinkchanson Istud Vinum zum fröhlichen Rausschmiss anstimmen.
Die Schwartzsche Villa in Berlin-Steglitz bot am 12. Juli 2024 den Hintergrund für eine musikalisch-literarische Zusammenkunft besonderer Art. Zwei Namensvettern trafen hier aufeinander, deren Schicksale erstaunliche Parallelen aufweisen, und luden zu einer Reise in die Vergangenheit Mitteleuropas ein, insbesondere derjenigen ihrer Heimat Böhmen: der Komponist Hans Winterberg (1901–1991) und Wenzel Winterberg, die Titelfigur des 2019 erschienenen Romans Winterbergs letzte Reise von Jaroslav Rudiš. Von Hans Winterberg erklangen drei Kammermusikwerke, vorgetragen von den Mitgliedern des Adamello Quartetts – Clemens Linder und Byol Kang (Violinen), Susanne Linder (Viola), Adele Bitter (Violoncello) – und dem Pianisten Holger Groschopp. Dazwischen las Jaroslav Rudiš ausgewählte Kapitel aus seinem Roman.
Hans Winterberg galt nach seinem Tode lange Zeit als ein weitgehend vergessener sudetendeutscher Komponist. Von seinen Werken war nichts im Druck greifbar, auch gab es keine kommerziellen Einspielungen. Nur durch eine Anzahl von Mitschnitten im Archiv des Bayerischen Rundfunks konnte man sich einen Eindruck von Winterbergs Musik verschaffen. Der künstlerische Nachlass lagerte, für die Öffentlichkeit unzugänglich, im Sudetendeutschen Musikarchiv in Regensburg. Den Anstoß zur Entdeckung Winterbergs gab Peter Kreitmeir, der Enkel des Komponisten, der ohne Kontakt zu seinem Großvater aufgewachsen war und sich 2010 auf dessen Spuren begab. Die Nachforschungen gerieten zu einer Archäologie böhmischer Kulturgeschichte, denn nicht nur wurde deutlich, dass Hans Winterbergs kultureller Hintergrund deutlich vielgestaltiger war als zunächst angenommen, auch kam ein Lebenslauf zum Vorschein, in welchem die Umbrüche des 20. Jahrhunderts deutliche Einschnitte hinterlassen haben.
Will man Hans Winterberg einer Nationalität zuordnen (er selbst hielt davon nicht viel und nannte „Nationalität“ einen „verqueren, rückständigen Begriff“), so tut man wohl am besten daran, ihn einen Böhmen zu nennen. In dieser Bezeichnung finden sich seine deutschen, tschechischen und jüdischen Wurzeln gleichermaßen aufgehoben, denn Winterberg war einer jener Böhmen, die deutsch, tschechisch und jüdisch zugleich waren: Er war deutschsprachig, jüdischen Glaubens und fühlte sich als Tscheche. Hans Winterbergs Lebensweg begann im 53. Regierungsjahr des Kaisers Franz Joseph im zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gehörenden Prag und endete in der Bundesrepublik Deutschland kurz nach der Wiedervereinigung. Er erlebte zwei Weltkriege, die Gründung der Tschechoslowakei, ihre Zerschlagung durch die Nationalsozialisten und ihre Wiedererrichtung, den Holocaust, dem mehrere seiner Verwandten, darunter seine Mutter, zum Opfer fielen und dem er selbst nur knapp entkam, und die Vertreibung der Deutschböhmen nach 1945. Da er sich vor dem Krieg als Angehöriger der tschechischen Nationalität hatte registrieren lassen (er schrieb sich selbst damals bevorzugt „Hanuš Winterberg“), blieb ihm die Ausweisung aus seiner Heimat erspart, doch verließ er die Tschechoslowakei bereits 1947 in Richtung Bayern, wo er sich als Lektor beim Bayerischen Rundfunk und als Lehrer am Münchner Richard-Strauss-Konservatorium betätigte.
Von diesem Lebenslauf wusste der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš nichts, als er einen Roman entwarf, dessen Protagonist ebenfalls den Namen „Winterberg“ tragen sollte – nach einer Kleinstadt im Böhmerwald nahe der bayerischen Grenze, die heute auf Tschechisch „Vimperk“ heißt. Interessanterweise spielt sich Winterbergs letzte Reise im Jahr 2017 ab, im gleichen Jahr also, in welchem Peter Kreitmeir die alleinigen Nutzungsrechte am Schaffen seines Großvaters, des Komponisten Winterberg, zugesprochen erhielt, woraufhin er die Verbreitung der Musik in die Wege leiten konnte.
Wenzel Winterberg, die Titelfigur von Rudišs Roman, ist kein Komponist, sondern ein Berliner Straßenbahnfahrer im Ruhestand, der als Deutschböhme in Reichenberg (Liberec) zur Welt kam. Zu Beginn der Romanhandlung ist Winterberg bereits 99 Jahre alt. Da nach einem schweren Schlaganfall sein Tod erwartet wird, stellt seine Tochter den Altenpfleger Jan Kraus ein, der sich darauf spezialisiert hat, Todkranke bei ihrer „Überfahrt“, wie er es nennt, zu begleiten. Doch als Kraus beiläufig erwähnt, aus Winterberg, Vimperk, zu stammen, kommt Winterberg ins Leben zurück und fühlt sich bald gesund genug, zu einer Reise nach Tschechien aufzubrechen, wohin er nach seinem Militäreinsatz im Zweiten Weltkrieg nicht mehr zurückgekehrt war. Kraus, Sohn eines deutsch-tschechischen Elternpaars und als junger Mann nach traumatischen Erfahrungen und einem Aufenthalt im Gefängnis ausgewandert, begleitet ihn widerwillig, obwohl er sich vorgenommen hatte, nie wieder seine alte Heimat zu betreten. Ein großer Teil der Handlung spielt sich in Zügen und auf Bahnhöfen ab. Winterberg will die Stätten seiner Jugend sehen, aber auch Orte besuchen, an denen sich einschneidende Ereignisse der Geschichte abgespielt haben: „Die Schlacht bei Königgrätz geht durch mein Herz“, lautet der erste Satz des mitten in der Handlung beginnenden Romans. Letztlich soll die Reise bis nach Sarajewo führen, nicht nur der fatalen Ereignisse von 1914 wegen, sondern auch weil Winterberg von dort das letzte Lebenszeichen seiner Jugendliebe Lenka, die als Jüdin vor den Nazis hatte fliehen müssen, erhalten hat. Kraus spricht nicht viel, doch da er der Ich-Erzähler des Romans ist, erhält man Einblick in seine Gedanken. Aus seiner Perspektive erlebt man die „historischen Anfälle“ mit, die Winterberg regelmäßig während der Reise heimsuchen. Sie äußern sich in geradezu manischen Rezitationen aus dem Baedeker-Reiseführer für Österreich-Ungarn von 1913, den Winterberg als seine „Bibel“ stets mit sich führt, sowie in ausgiebigen Kommentaren zum dort Geschriebenen. Dabei verschwimmen die weltgeschichtlichen Begebenheiten mit Winterbergs Biographie und dem Alltagsleben der Vor- und Zwischenkriegszeit. Die Gegenwart wird immer wieder an der Geschichte gespiegelt, nicht nur im Hinblick darauf, welche Gebäude aus früherer Zeit noch vorhanden sind, sondern auch hinsichtlich der Lebensgewohnheiten der Menschen, dargestellt etwa in Exkursen über Wirtshäuser, böhmisches Bier und die länderübergreifende Küche der alten Doppelmonarchie. Die Eisenbahn ist als Lebensader der Zivilisation permanent präsent: Die beiden Hauptfiguren sind ständig mit dem Zug unterwegs und begeben sich dabei wiederholt auf Abschweifungen – etwa nach Vimperk; auch kommt Winterberg in seinen historischen Anfällen immer wieder auf die Eisenbahn zu sprechen und erzählt von interessanten Begebenheiten wie der Lokomotivflucht der Sachsen während des Deutschen Krieges 1866 nach Eger; ein unausgesprochenes Motiv für die Reise ist Winterbergs gescheitertes Lebensprojekt, die Geschichte Mitteleuropas in einer Modelleisenbahnanlage darzustellen.
Winterbergs letzte Reise ist literarische Archäologie. Nach und nach wird nicht nur die Vergangenheit freigelegt, es entsteht auch ein Bewusstsein für ihre einzelnen Schichten, die sich ineinander verschachtelt haben und nun, ausgegraben, in direkte Beziehung zueinander und zur Gegenwart treten. So werden die Grenzen von Raum und Zeit neu gezogen, Vergessenes und Verdrängtes kommt wieder zu Tage, das Individuum erlebt sich als Teil des großen Zusammenhangs, als mitwirkender Akteur wie als als machtloses Subjekt der Geschichte.
Vorgetragen wird das alles in einem Stil, den man durchaus musikalisch nennen kann. Sowohl Winterberg als auch Kraus haben ihre feststehenden Wendungen, die den Roman refrainartig durchziehen, wobei sich die Sprache gerade in Winterbergs Monologen zu einer Beharrlichkeit steigert, die in ihrer Intensität an Thomas Bernhard gemahnt. Die aufgestaute Spannung löst sich allerdings immer wieder in komischen Situationen, die sich aus der Verschiedenheit der beiden Hauptcharaktere und ihren Kommunikationsproblemen ergeben. Viele Stellen des im Grunde sehr ernsten Buches – einmal schimpft Winterberg demonstrativ auf den böhmischen Humor –, geraten dadurch zu humoristischen Kabinettstücken.
Jaroslav Rudiš, der den Roman original in deutscher Sprache verfasst hat, las insgesamt fünf Kapitel vor, die sich über den ganzen Verlauf des Buches verteilen. Die Lesungen alternierten mit drei Kammermusikwerken Hans Winterbergs: der Sudeten-Suite für Klaviertrio, der Sonate für Violoncello und Klavier und dem als „Symfonie [sic] für Streichquartett“ bezeichneten Streichquartett Nr. 1. Das letztere Werk gelangte dabei zu seiner Uraufführung. Zu Lebzeiten des Komponisten war keine öffentliche Darbietung zustande gekommen. Nach seinem Tode ging die letzte Seite des Manuskripts verloren, weswegen Toccata Classics in seiner 2023 erschienenen Einspielung der Streichquartette Winterbergs auf dieses Stück verzichten musste. Vor kurzem tauchte allerdings die verschollene Seite inmitten anderer Papiere wieder auf, sodass einer Aufführung der „Quartett-Symfonie“ nichts mehr im Wege stand.
Hans Winterbergs Musik harmonierte erstaunlich gut mit Rudišs Erzählung. Ebenso wie dort ist in den Werken des Komponisten ein nervöser Unterton zu spüren, der in dissonanten Umkreisungen der tonalen Zentren und dem häufigen Einsatz ostinater rhythmischer Formeln seinen Ausdruck findet. In den raschen Sätzen des Streichquartetts und der Cellosonate, insbesondere dem toccatenartigen Finale der letzteren, liegt auch die Assoziation mit einer Zugreise gar nicht so fern. Und wie der literarische Winterberg in die Geschichte Böhmens eintaucht, so erscheint der Komponist gleichen Familiennamens als ein fest in der tschechischen Musiktradition verwurzelter Künstler. Die Sudeten-Suite erscheint mit ihren romantischen Topoi als ein eher untypisches Werk im Schaffen Hans Winterbergs. Allerdings wird gerade an diesem Stück seine Verbindung mit der Musik des 19. Jahrhunderts, insbesondere Bedřich Smetana, deutlich. Fluktuierende Klangflächen scheinen auf das Waldesrauschen Aus Böhmens Hain und Flur zu verweisen und die im letzten Satz dargestellten Elbe-Quellen ähneln kaum zufällig den Quellen der Moldau. Dieses Rauschen, diese landschaftlichen Töne gehören wie die Liebe zu tänzerischen Rhythmen zum Grundrepertoire der musikalischen Ausdrucksweise Winterbergs, auch wenn sie in den meisten seiner Kompositionen dissonant geschärft auftreten und sich mitunter in urban-mechanische Klänge verwandeln. Aber auch, wenn er die böhmische Landschaft verlässt, verleugnet er seine Herkunft nicht, nur wechselt das Idiom vom slawischen Tanz zum modernen Tanz der 1920er Jahre, von den Fluren Tschechiens zu den impressionistischen Landschaften der damaligen französischen Musik. In jedem der drei Werke, die sämtlich vorzüglich wiedergegeben wurden, präsentierte sich der Komponist von einer etwas anderen Seite. Das Streichquartett ließe sich als expressionisch, die Cellosonate als klassizistisch mit deutlichen expressionistischen Untertönen charakterisieren, wohingegen die Trio-Suite an nationalromantische Vorbilder anknüpft. Insofern bot der Abend auch einen guten Überblick über die stilistische Vielseitigkeit Hans Winterbergs.
Die gut besuchte Veranstaltung fand beim Publikum sichtlich Anklang, und man kann wohl sagen, dass alle Zuhörer, ob sie nun ursprünglich wegen der musikalischen oder der literarischen Komponente des Abends den Weg in die Schwartzsche Villa eingeschlagen hatten, von dieser Spurensuche in der Geschichte Böhmens bereichert zurückgekommen sind.
Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise, 3. Auflage, München: btb Verlag, 2021, 544 Seiten. ISBN 978-3-442-71967-9
Beim Konzert der musica viva am 28. Juni 2024 im Münchner Herkulessaal präsentierte sich Jörg Widmann mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks einmal mehr in gleich dreifacher Funktion: als Klarinettist, Dirigent und natürlich als Komponist. Mal abgesehen von Wolfgang Amadeus Mozarts „Adagio für Glasharmonika“, KV 356/617a, mit dem Christa Schönfeldinger Widmanns Schlüsselerlebnis mit diesem Instrument in Erinnerung rief, gab es ausschließlich Widmann-Werke: „Armonica, „Drei Schattentänze“, „Danse macabre“ und das gewaltige Trompetenkonzert „Towards Paradise“ (Labyrinth VI) mit dem Solisten Håkan Hardenberger.
Im letzten Konzert der musica viva Saison am 28. 6. 2024 durfte sich der Münchner Jörg Widmann gleich dreifach in Szene setzen: als Komponist von vier eigenen Werken, mit einem Solostück für sein Instrument: die Klarinette, sowie als Dirigent des Abends – und konnte diesmal in allen Belangen überzeugen. Vor knapp sieben Jahren versuchte sich Widmann hier bereits in dieser Mehrfachfunktion – wir berichteten. Damals rief zumindest sein Dirigat Stirnrunzeln beim Rezensenten hervor. Seitdem hat Widmann ziemlich viel mit Orchestern gearbeitet, nicht nur an eigenen Stücken, mittlerweile auch als Erster Gastdirigent bei der NDR Radiophilharmonie (Hannover). Widmann ist am Pult sicht- und spürbar deutlich souveräner geworden: Er gibt nicht nur hochengagiert und klar alle wichtigen Impulse, sondern steuert den Klang insgesamt viel differenzierter als früher. Natürlich darf man von einem Komponisten erwarten, dass er seine eigene Musik wahrscheinlich besser kennen dürfte als die meisten Dirigierkollegen. Dennoch hat seine Ausstrahlung auf das BRSO heute einen unvergleichlich positiveren Effekt und unmittelbarere Wirkung als etwa in besagtem Konzert von 2017.
An diesem Abend gibt es vier Widmann-Stücke, allerdings keine Uraufführung. In Armonica (2006) versucht der Komponist, die fast jenseitigen klanglichen Sphären der Glasharmonika – diese steht nicht etwa als Soloinstrument ganz vorne, sondern weil dynamisch sonst chancenlos – mittels delikatester Orchestrierung quasi auf den gesamten Apparat zu erweitern. Dabei gelingen ausladende, organische Spannungsbögen mit nur einem absichtsvoll verstörenden „Abbruch“. Christa Schönfeldinger, mit den komplexen Anforderungen von Widmanns Partitur seit nunmehr über 60 Aufführungen bestens vertraut, beweist anschließend – als offizieller Programmpunkt bei der musica viva höchst ungewohnt – mit dem Standardwerk für die Glasharmonika, Wolfgang Amadeus Mozarts Adagio KV 356/617a, die wundervolle Zerbrechlichkeit und Klangschönheit ihres besonderen Instruments. Die Begegnung mit diesem Stück war für Widmann das anregende Schlüsselerlebnis für Armonica.
Wenn der Komponist ein Solo auf der Klarinette darbietet, ist dies immer hochspannend. Die eigenen Drei Schattentänze von 2013 beleuchten höchst kontrastierende Aspekte der Klangerzeugung: Im Echo-Tanz geht es um extreme Techniken des Überblasens, damit erzeugte Mehrstimmigkeit und Mikro-Tonalität. Die übrigen beiden benötigen elektro-akustische Unterstützung: Der (Under) Water Dance vermittelt die beabsichtigte Illusion mittels eines künstlichen Hallraums, der Danse africaine benutzt die Klarinette als imaginäres Schlagzeugensemble – mit Verstärkung. All dies stößt beim Publikum auf helle Begeisterung.
Der Danse macabre (2022) steht natürlich in der großen Tradition des Totentanzes, die nicht erst mit Saint-Saëns beginnt. Der Tod als einschmeichelnder, aber zugleich sarkastischer Werber für den letzten Weg alles Lebendigen, ist naturgemäß eine Steilvorlage für einen Instrumentationskünstler von Rang. Das verwendete Orchester ist noch nicht einmal überdimensioniert, enthält aber erwartungsgemäß Exoten wie Flexaton oder Waterphone – dessen Name verweist sowohl auf seinen wassergefüllten Korpus als auch den Erfinder Richard Waters, und das Instrument machte insbesondere in Filmmusiken des Horror-Genres Karriere. Für die Gattung ist Widmanns Beitrag mit 17 Minuten schon recht lang – mehr echte Tondichtung als nur netter Lärm wie z. B. Helmut Lachenmanns Marche fatale – und verwurstet verschiedene vertraute Tanzmodelle bis zur Groteske bzw. zum nackten Gerippe. Das hemmungslos tonale Hauptmotiv geht fast so ins Ohr wie Klaus Badelts Filmmusik zu Fluch der Karibik. Trotzdem ist das Publikum ob der leichten Zugänglichkeit des Werkes einigermaßen überrascht.
Das mit knapp 40 Minuten äußerst ausladende Konzert Towards Paradise für den nach wie vor phänomenal tonschön agierenden Trompeten-Weltstar Håkan Hardenberger gehört zur Gruppe der Labyrinth-Stücke, in denen Widmann immer auch seine momentane Befindlichkeit als Komponist reflektiert. 2021 prägte diese freilich die Corona-Situation, und so dreht sich der Weg ins Paradiesische nicht zuletzt um das Thema Einsamkeit, was durch den halbszenischen Gang des Solisten von außerhalb des Podiums durch die einzelnen Orchestergruppen, wo er mit unterschiedlichem Erfolg Anschluss sucht, bis zum Entschwinden in die „Katakomben“ des Herkulessaals am Ende überdeutlich wird. Anders als im 2002 für Sergei Nakariakov geschriebenen Konzertstück, das mit seinem Hochgeschwindigkeitswahnsinn Virtuosität ganz wörtlich ad absurdum führte, steht im Labyrinth VI Lyrik und Nachdenklichkeit im Vordergrund. Das Werk ist aber – trotz eindringlicher Choral-Andeutungen – keineswegs nur langsam.
Hardenberger nimmt vom ersten Augenblick die Zuhörer gefangen. Die exquisite Schönheit der Melodik seines riesigen Parts ist von geradezu erstaunlicher Einprägsamkeit, verlangt dafür eine unglaubliche Sicherheit in der Höhe, aber noch mehr Flexibilität im Ausdruck bei den großartigen Interaktionen mit einzelnen Teilen des Orchesters. In der Mitte gibt es zudem auch Jazz-Momente – die jedoch mit etwas zu wenig Synkopen nicht die Authentizität etwa von B. A. Zimmermanns Nobody knows de trouble I see erreichen. Die Innigkeit gerade an Stellen, wo die Trompete mit Dämpfern spielen muss, scheint bei Hardenberger unübertrefflich. Widmann ist hier meilenweit entfernt von der bis ins Extreme ausdifferenzierten Geräuschhaftigkeit seines Dritten Labyrinths, setzt auf Klangkombinationen, die stets aufhorchen lassen und emotional unterstützend wirken – so etwa Akkordeon oder gestrichene Crotales als schärfste Waffen im Diskant. Symbolisiert gegen Schluss Bachsche Kontrapunktik das Erreichen eines paradiesischen Zustands? Dunkles Blech und geheimnisvolles Schlagzeug stellen dies zumindest infrage, während Hardenberger als letztes Statement einsam ein dreigestrichenes Es verhaucht.
Selten einmütiger Applaus für eines der besten Werke Widmanns überhaupt, für ein in jeder Sekunde aufmerksam und empathisch mitgehendes BRSO und selbstverständlich die musikalische Glanzleistung des dann sehr glücklich wieder aus dem Off erscheinenden Solisten. Widmann wird zu Recht für die Erfüllung der hohen Erwartungen in allen drei Funktionen bejubelt – das soll ihm erst mal jemand nachmachen!
Der zweite Teil des Berichts von den Richard-Strauss-Tagen Garmisch-Partenkirchen (zum ersten Teil siehe hier) befasst sich mit folgenden Konzerten:
9. Juni: Oper (Richard Strauss: Ariadne auf Naxos, konzertante Aufführung), Department für Oper und Musiktheater der Universität Mozarteum Salzburg, Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker, Kai Röhrig
11. Juni: Kammerkonzert (Klaviertrios von Richard Strauss und Heinrich G. Noren), Phaeton Piano Trio
Nach dem Matinéekonzert konnte man, wieder im Festsaal Werdenfels, am Abend desselben Tages die Oper Ariadne auf Naxos in einer konzertanten Aufführung hören. Es handelte sich um eine Kooperation mit dem Department für Oper und Musiktheater der Universität Mozarteum Salzburg, das jährlich eine Auswahl vielversprechender Gesangsstudenten in speziellen Opernklassen auf die Bühnenlaufbahn vorbereitet. Entsprechend war ein großer Teil der Rollen mit jungen Leuten besetzt. Die Tenöre Konstantin Igl und Lucas Pellbäck sowie die Bässe Brett Pruunsild und Dominik Schumertl übernahmen dabei außer der Verkörperung der vier Komödianten noch die kleinen Partien, die nur zu Beginn des Vorspiels auftauchen. Als geschlossen auftretendes Quartettensemble sorgten sie im zweiten Teil mit frischem, kecken Vortrag für die nötige Auflockerung der statuarischen Opera-seria-Szenerie. Zerbinetta, die Frontfrau der Komödiantentruppe, fand in Yukari Fukui eine Darstellerin, der es auf ganz natürliche Weise gelang, sich den Charakter dieser verspielten, koketten, aber durchaus geistvollen Figur zu eigen zu machen. Julia Maria Eckes, Anastasia Fedorenko und Donata Meyer-Kranixfeld trugen als Nymphentrio mit zarten, ineinander verschlungenen Kantilenen wesentlich dazu bei, in der „Oper“ die angemessen entrückte Stimmung zu schaffen, zu welcher das unbekümmerte Trällern der Komödianten scharf kontrastieren konnte. Jesse Mashburn dominierte in der Hosenrolle des Komponisten den ersten Teil. Hinreißend gelang ihr die Darstellung dieses ebenso unerfahrenen wie idealistisch-verstiegenen jungen Menschen, der erleben muss, wie seine Traumgebilde hart in einer vom Geld beherrschten Realität aufschlagen (symbolisiert durch den nie auftretenden Hausherrn, der aus dem Hintergrund die Anweisungen gibt) und dadurch in emotionale Extreme gestürzt wird. Zweifellos ist der Komponist, der im zweiten Teil leider nicht mehr auftaucht, die interessanteste Figur des ganzen Stückes, da sich in seiner Partie Tragisches mit Komischem mischt und Strauss in seiner Vertonung beides sehr geschickt in der Schwebe hält. Den Trotz, die Verletzlichkeit und die Hoffnungen des Jünglings hat Jesse Mashburn trefflich zur Geltung gebracht. Bewährte, erfahrene Kräfte ergänzten die Schar der jungen Sängerinnen und Sänger: Juliane Banse exzellierte als energische, auf ihre Würde bedachte Primadonna und erfüllte die Kantilenen der Ariadne im zweiten Teil mit blühender Lyrik. Mit Christoph Strehl als Tenor in der Rolle des Bacchus stand ihr dazu ein ebenbürtiger Partner zur Seite. Bernd Valentin trug im Vorspiel als Lehrer des Komponisten, der zwischen dessen Idealismus und den Realitäten des Lebens zu vermitteln hat, wesentlich zur gelungenen Wirkung des turbulenten Geschehens bei.
Mit der Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker stand dem Gesangsensemble ein Kammerorchester zur Seite, das hinsichtlich der Motivation hinter der Pilsener Philharmonie nicht zurückstand. Dirigent Kai Röhrig, Leiter der Opernklasse des Salzburger Mozarteums, führte mit festen, aber nicht unflexiblen Tempi die Musiker und Sänger souverän durch den Abend und wusste die delikaten Klangeffekte Straussens zu pointieren.
Ariadne auf Naxos enthält einige der besten Einfälle des Opernkomponisten Richard Strauss und stellt gewiss einen Höhepunkt in dessen Zusammenarbeit mit Hugo von Hofmannsthal dar. Das Vorspiel ist schlichtweg eine geniale komische Oper für sich, die den Zuhörer durch ständige Umschwünge der Handlung in Atem hält – oft verbunden mit der Sprechrolle des Haushofmeisters (in der Garmischer Aufführung durch Franz Tscherne verkörpert), der durch die von ihm übermittelten Anweisungen des Hausherrn das Geschehen in immer neue Richtungen lenkt. Allerdings stellt sich diesem temporeichen ersten Teil im zweiten eine recht statische Szenerie entgegen, in welcher sich zwar auch immer wieder wunderbare musikalische Gedanken finden, die im Großen und Ganzen aber die Wirkung des Vorspiels konterkariert. Dass die im ersten Teil so wichtigen Figuren des Komponisten, des Musiklehrers und des Haushofmeisters im zweiten verschwunden bleiben, trägt bedeutend dazu bei, dass die „Oper“ hinter dem Vorspiel zurückbleibt. War dort alles Interaktion Aller mit Allen, so beschränkt sich der zweite Teil im Wesentlichen darauf, Ariadne (am Ende Ariadne und Bacchus) mit Zerbinetta und den Komödianten alternieren zu lassen. Allen Schönheiten zum Trotz, an denen der zweite Teil, wie gesagt, nicht spart, hinterlässt das Stück insgesamt einen im wörtlichen Sinne zwiespältigen Eindruck.
Das letzte Konzert der Richard-Strauss-Tage 2024 war der zu Anfang des ersten Teils dieses Berichts bereits erwähnte Kammermusikabend des Phaeton Piano Trios am 11. Juni, der im kleineren Richard-Strauss-Saal des Garmisch-Partenkirchener Kongresshauses stattfand. Erneut teilten sich Strauss und Heinrich G. Noren das Programm. Die dargebotenen Werke kontrastierten wesentlich stärker zueinander als das Kaleidoskop und das Heldenleben, was nicht zuletzt daran liegt, dass es sich bei den beiden Klaviertrios von Richard Strauss um Jugendwerke handelt, die der Komponist im Alter von 13 Jahren schrieb. Sie repräsentieren also nicht seinen den Kompositionsstil seiner Hauptwerke. Man sollte sich davon aber nicht dazu verführen lassen, von diesen Stücken geringschätzig zu reden oder sie als „jugendlich unreif“ abzutun. Es ist nichts Unreifes in ihnen. Im Gegenteil: Der Autor ist ein junger Meister, der sich durch das Studium klassischer Vorbilder zu bemerkenswertem Können herangebildet hat und dem alles gelingt, was er sich vornimmt. Diese Musik hat nichts Himmelstürmendes an sich, nichts deutet darauf hin, dass von derselben Hand nur ein Jahrzehnt später die Violinsonate op. 18 geschrieben werden wird, von Don Juan und Macbeth ganz zu schweigen. Wir müssen bedenken, dass wir uns mit dem jungen Strauss in einem München befinden, das erst nach und nach zur „Richard-Wagner-Stadt“ wird und in dem Franz Lachner noch unter den Lebenden weilt, jener langjährige bayerische Hofkapellmeister, der die Pflege der ihm teils noch persönlich bekannt gewordenen Wiener Klassiker dort fest etabliert und als Vorgesetzter von Franz Strauss, dem Vater Richards, auf den Geschmack der Strauss-Familie einen nicht geringen Einfluss genommen hat. Es ist kurzum eine verlängerte Wiener Klassik, die der 13-Jährige hier präsentiert. Und das tut er mit Geschmack und Feingefühl!
Bei der Wiedergabe der Strausschen Trios fiel auf, dass sich der Pianist Florian Uhlig gerade im ersten Trio auffällig zurückhielt. Während Friedemann Eichhorn, Violine, und Peter Hörr, Violoncello, von Anfang an als ebenbürtige Partner auftraten, verblieb Uhlig lange in einem wenig differenzierten Mezzopiano, aus dem er erst nach und nach herausfand. Nehmen wir zu seinen Gunsten an, dass er sich seine Kräfte für die zweite Hälfte des Konzerts aufsparte. Jedenfalls war er bei der Aufführung von Norens Klaviertrio op. 28 ganz präsent und stand hinter den Streichern nicht zurück. Dieses viersätzige Werk ist das genaue Gegenteil der Strauss-Trios: Es handelt sich um monumentale Bekenntnismusik eines reifen Meisters, der alle klassizistischen Spiele hinter sich gelassen hat und eine eine starke Neigung zu „fremden Ländern und Menschen“ an den Tag legt. Hinsichtlich der zeitlichen Dimensionen von einer guten Dreiviertelstunde, wobei der riesige Kopfsatz allein 20 Minuten einnimmt, kann man dieses Trio getrost eine Symphonie für drei Instrumente nennen. Aber auch klanglich zieht Noren alle Register, um der Trioformation maximale Opulenz zu entlocken. Elemente slawischer Musik treten in dem Trio noch deutlich stärker zu Tage als in den Kaleidoskop-Variationen. Der Kopfsatz beginnt mit einem wuchtig einher schreitenden Thema, einem Bild heroischen Trotzes, das in der Durchführung in resignative Introversion gewendet wird. Die Gesangsthemen der Ecksätze und der langsame Satz entfalten jenes breit strömende Melos, das für russische Komponisten dieser Zeit so typisch ist. Das mäßig rasche Scherzo lässt in seiner Frische an Mussorgskij denken. Den langsamen Satz leitet ein Solo des Cellos ein, das eine archaische, schamanische Welt heraufzubeschwören scheint. Das ganze Werk durchziehen harmonisch-instrumentatorische Lichteffekte, die an die russischen Maler des Peredwischniki-Kreises denken lassen, denen ja auch Modest Mussorgskij nahestand. Im Finale, das mit einem flinken, etwas raubeinigen Tanzthema beginnt und dieses später als Fuge durchführt, wird der Farbenrausch schließlich auf die Spitze getrieben. Das ist ein großes, herrliches Werk, von dem man sich fragt, warum es so lange unbeachtet geblieben ist, und dem man sehr gern häufiger im Konzertsaal wieder begegnen möchte. Mit einem starken Plädoyer für einen unterschätzten Meister gingen also die Richard-Strauss-Tage 2024 zu Ende, und man fragt sich bereits, was dieses verdienstvolle Festival wohl im nächsten Jahr bringen wird.
Der folgende Bericht über die Richard-Strauss-Tage in Garmisch-Partenkirchen beschäftigt sich mit vier Konzerten:
8. Juni: Symphoniekonzert (Richard Strauss: Guntram-Vorspiel zum 2. Akt; Heinrich G. Noren: Kaleidoskop; Richard Strauss: Ein Heldenleben), Pilsener Philharmonie, Rémy Ballot
9. Juni: Matinéekonzert (Richard Wagner: Ouvertüre zu Tannhäuser; Richard Strauss: Don Juan, Gesänge op. 51, Träumerei am Kamin aus Intermezzo, Schlussmonolog aus Die schweigsame Frau), Günther Groissböck, Pilsener Philharmonie, Rémy Ballot
9. Juni: Oper (Richard Strauss: Ariadne auf Naxos, konzertante Aufführung), Department für Oper und Musiktheater der Universität Mozarteum Salzburg, Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker, Kai Röhrig
11. Juni: Kammerkonzert (Klaviertrios von Richard Strauss und Heinrich G. Noren), Phaeton Piano Trio
Am 11. Juni 2024, dem 160. Geburtstag von Richard Strauss, endeten die diesjährigen Richard-Strauss-Tage mit einem Kammerkonzert des Phaeton Piano Trios. Florian Uhlig, Klavier, Friedemann Eichhorn, Violine, und Peter Hörr, Violoncello, spielten sämtliche Werke, die der Jubilar für die Besetzung ihres Ensembles hinterlassen hat: die beiden Klaviertrios, die er als 13-Jähriger Ende 1877 und Anfang 1878 komponierte, und die drei an Vorbilder Couperins angelehnten Tänze, die in der letzten, 1942 uraufgeführten Oper Capriccio als Bühnenmusik dienen. Das Schlusswort erhielt allerdings ein anderer Komponist, der in Folge seiner Parteinahme für Strauss 1908 in einen Urheberrechtsstreit verwickelt wurde, dessen Ergebnis den Strauss-Gegnern zu einem schallenden Lacherfolg verhalf: Heinrich Gottlieb Noren (1861–1928). Norens Musik bildete einen der Schwerpunkte des Festprogramms. Mit dem Klaviertrio d-Moll op. 28, das im abschließenden Kammerkonzert zu hören war, und dem Orchesterwerk Kaleidoskop – Variationen und Doppelfuge über ein eigenes Thema op. 30, das durch die Pilsener Philharmonie unter der Leitung von Rémy Ballot Seite an Seite mit Straussens ihm eng verbundener Tondichtung Ein Heldenleben erklang, gelangten erstmals seit sehr langer Zeit (im Falle des Kaleidoskops seit mehr als einem Jahrhundert) wieder zwei Hauptwerke des Komponisten zur Aufführung.
Bekanntlich wurde in den letzten drei Jahrzehnten eine Vielzahl sogenannter vergessener Komponisten durch CD-Einspielungen, teils in Verbindung mit Konzertaufführungen und Rundfunksendungen, ins Gedächtnis der Musikwelt zurückgerufen – darunter auch zahlreiche Zeitgenossen von Richard Strauss. So haben wir heute wieder eine gute Vorstellung von Künstlerpersönlichkeiten wie Ludwig Thuille, Max von Schillings, Emil Nikolaus von Reznicek und Siegmund von Hausegger, um nur einige besonders wichtige Weggefährten des Garmischer Meisters zu nennen. Auch sein einziger Kompositionsschüler Hermann Bischoff ist durch Aufnahmen seiner Symphonien wieder mehr als nur ein bloßer Name in musikgeschichtlichen Darstellungen. Aber der hervorragenden Arbeit einer Reihe rühriger Musikproduktionen zum Trotz klaffen immer noch große Lücken in unserem Bild von der deutschen Musik des frühen 20. Jahrhunderts. Dass im Jahre 2024 keine einzige Aufnahme eines Werkes von Heinrich G. Noren vorliegt, darf als für diesen Zustand bezeichnend gelten, denn Noren war zu seinen Lebzeiten keineswegs ein Unbekannter. Gut ein Jahrzehnt lang gehörte er gar zu den prominentesten Komponisten seiner Generation im deutschsprachigen Raum. Nachdem er 1907 schlagartig bekannt geworden war, erklangen seine Werke bis zum Ende des Ersten Weltkriegs regelmäßig in deutschen Konzertsälen und wurden auch in anderen europäischen Ländern sowie in den Vereinigten Staaten gespielt (noch 1917, kurz vor dem Kriegseintritt der USA, führte Carl Muck in New York Norens Symphonie Vita auf). Erst in den 1920er Jahren verliert sich diese Erfolgsspur, gewiss zum Teil bedingt durch die neu aufgekommenen, gänzlich anders gearteten Stilrichtungen, aber auch, weil der Komponist – ähnlich wie Hausegger, Schillings und Bischoff – nicht mehr mit neuen großen Werken vor die Öffentlichkeit trat.
Der Verfasser dieser Zeilen war nur in der Absicht nach Garmisch gereist, sich dort als Rezensent zu betätigen. Unerwartet wurde er anderthalb Stunden vor dem Symphoniekonzert von Christoph Schlüren und Frank Harders-Wuthenow, denen die Konzerteinführung oblag, eingeladen, sich an derselben zu beteiligen, da er bereits Nachforschungen in Sachen Noren unternommen habe. Tatsächlich habe ich dies getan, und gern nahm ich die Einladung an. Allerdings bin ich weit davon entfernt ein „Noren-Experte“ zu sein. Was wissen wir eigentlich über Noren? Die Eckdaten seiner Biographie sind bekannt: Er hieß eigentlich Heinrich Suso Johannes Gottlieb und wurde 1861 in Graz als Sohn des Chemikers Johann Gottlieb geboren. Er bildete sich zuerst bei Henri Vieuxtemps in Brüssel, dann bei Lambert Massart in Paris zu einem hervorragenden Geiger aus und kam anschließend weit in Europa herum. Nachdem er als Konzertmeister in Belgien, Spanien, Russland und Deutschland gewirkt hatte, ließ er sich in Krefeld nieder, wo er 1896 ein Konservatorium gründete. Nach einem kurzen Intermezzo in Düsseldorf ging er 1902 ans Stern’sche Konservatorium nach Berlin, 1907 ans Dresdner Konservatorium. 1911 finden wir ihn wieder in Berlin, 1915 schließlich am Tegernsee, zuerst in Rottach-Egern, dann in Kreuth-Oberhof, wo er 1928 starb. Zunächst vor allem als ausführender Musiker und Pädagoge tätig, war der Schüler Friedrich Gernsheims, Ludwig Busslers und Otto Klauwells als Komponist ein Spätentwickler. Erst mit über 30 Jahren trat er mit eigenen Werken öffentlich in Erscheinung.
Über den Menschen Noren ist bislang kaum etwas bekannt. So wissen wir auch nicht, warum sich Heinrich Gottlieb das Pseudonym „Noren“ zulegte und wie er auf diesen Namen kam. Die Angabe im Österreichischen Biographischen Lexikon, er habe seit 1916 „Noren“ geheißen, bezieht sich nicht auf den tatsächlichen Zeitpunkt der Namensänderung, sondern auf deren nachträgliche Legitimierung durch die k.k. Steiermärkische Statthalterei vom 12. November 1916 (siehe MGG2). Nicholas Slonimsky schrieb in Baker’s Biographical Dictionary of Musicians, der Komponist habe den Namen seiner Ehefrau angenommen. Nachweislich war Noren mit einer norwegischen Sängerin namens Signe Giertsen (oder Gjertsen) verheiratet, die noch 1955 in Bergen lebte. Sie findet sich in den Musikzeitschriften der Zeit auch als „Signe Giertsen-Noren“ verzeichnet, allerdings nicht vor 1913. Damals führte ihr Ehemann den Namen bereits seit vielen Jahren. Sie hat diesen also mit der Heirat, die um 1912/13 stattgefunden haben dürfte, von ihm übernommen, nicht umgekehrt. Ob der Komponist zuvor bereits einmal verheiratet war, ist bislang nicht bekannt. Weiterhin ist möglich, dass Heinrich Gottlieb seine Herkunft verschleiert hat, da sein Vater jüdischer Abstammung war (Johann Gottlieb findet sich im Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert verzeichnet). Solange keine intensiveren Forschungen zur Biographie des Komponisten konkrete Ergebnisse zu Tage fördern, bleibt freilich alles in diesem Punkt Spekulation. Auffällig ist jedenfalls, dass er im Laufe der Jahre die Formulierung seines Künstlernamens abwandelte. So taucht der eigentliche Familienname „Gottlieb“ teils als Vorname, teils als Nachname („Gottlieb-Noren“) auf und verschwindet schließlich hinter dem Mittelinitial („Heinrich G. Noren“).
Noren gehörte nicht zum engeren Kreis um Richard Strauss, dennoch war sein Aufstieg zu größerer Bekanntheit eng mit dem Namen des drei Jahre jüngeren Kollegen verbunden. Zu jener Zeit war in der deutschen Musikpresse ein großer Streit um den richtigen Fortschritt in der Musik losgebrochen. Felix Draeseke, der damals wohl angesehenste unter den lebenden deutschen Komponisten der älteren Generation und keineswegs ein Brahmsianer, hatte 1906 unter dem Titel Die Konfusion in der Musik ein Pamphlet veröffentlicht, in welchem er Richard Strauss scharf kritisierte: Der namentlich nicht Genannte, „von Haus aus in ungewöhnlicher Weise für die Musik befähigt, als Schöpfer sehr kühner, aber höchst interessanter Kunstwerke zu bezeichnen“ – Draeseke hatte einst den Don Juan ausdrücklich begrüßt –, sei vom Verismus ergriffen und von diesem dazu getrieben worden, „sich dem Kultus des Häßlichen zu ergeben und der Kunst in bis dahin unerhörter Weise Gewalt anzutun.“ Der Aufsatz löste eine Flut von Artikeln aus, in welchen sich eine Vielzahl namhafter Musiker pro oder contra Strauss äußerte. Die teils mit Witz, teils mit erbitterter Heftigkeit geführte Debatte zog sich über Jahre hin und verlor sich erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. (Die wichtigsten Texte erschienen gesammelt in Band 4 der Mitteilungen der Internationalen Draeseke-Gesellschaft: Die Konfusion in der Musik. Felix Draesekes Kampfschrift und ihre Folgen, Bonn: Gudrun Schröder Verlag, 1990.) Strauss selbst betrachtete den Pressekrach mit Gelassenheit und dürfte wohl manches Mal an „Des Helden Widersacher“ aus seiner Tondichtung Ein Heldenleben gedacht haben. Als sich die Kontroverse auf ihrem Höhepunkt befand, gelangten 1907 im Rahmen der Tonkünstlerversammlung des Allgemeinen deutschen Musikvereins in Dresden Norens Kaleidoskop-Variationen zur Uraufführung. Das Werk lässt sich kaum ohne die Vorgeschichte der „Konfusions-Debatte“ denken, da seine letzten beiden Abschnitte überdeutlich darauf anspielen. Noren zitiert (nicht ganz notengetreu, aber deutlich erkennbar) in der letzten Variation, die er ausdrücklich mit der Widmung „An einen berühmten Zeitgenossen“ überschreibt, die Themen des Helden und der Widersacher aus dem Heldenleben. Das Widersacher-Thema wird anschließend zum Ausgangspunkt der Doppelfuge, in welcher das originale Thema der Variationen als Gegensatz wiederkehrt. Kann man das alles anders deuten, als dass Noren dem Strausschen Helden auf dessen Walstatt zu Hilfe eilt und sich den gleichen Widersachern entgegen wirft? Was die Haltung zu letzteren betrifft, zeigt sich Noren optimistischer als Strauss. Besteht im Heldenleben zwischen dem Helden und den Widersachern bis zum Schluss eine unüberbrückbare Kluft – der weltflüchtig Gewordene hört sie von Ferne wieder missgünstig Knurren –, so lässt Noren im Kaleidoskop sein Variationsthema als Choral triumphieren, in den das erste Fugenthema, das seinen Charakter gänzlich gewandelt hat, begleitend einstimmt: Die Widersacher konnten hier offensichtlich zu Unterstützern gemacht werden.
Noren hatte sich für die Zitate aus dem Heldenleben die Genehmigung von Strauss eingeholt. Nichtsdestoweniger wurde er vom Verlag Leuckart, der die Straussche Tondichtung herausgebracht hatte, wegen Verletzung des Urheberrechts angeklagt. Der Prozess vor dem Königlichen Landgericht in Dresden endete 1908 mit einer Niederlage Leuckarts. Noren wurde mit der Begründung freigesprochen, es handle sich bei den beiden zitierten Themen nicht um Melodien, und nur diese seien geschützt. „Die Benutzung von Motiven und Themen fremder Musikstücke bleibt dagegen unter der Voraussetzung künstlerischer Verarbeitung und Neugestaltung nach § 13 Absatz 1 auch weiter freigegeben“, so das Urteil. Im nächsten Jahr erschien eine Faschingsausgabe der Zeitschrift Die Musik, auf deren Titelblatt das Anfangsthema des Heldenlebens mit folgendem Text unterlegt wurde: „Strauss ist ein großes Genie, aber ganz ohne Melodie. O, so hört Franz Lehár an, das ist doch noch ein ganz andrer Mann!“ …
Auch abgesehen vom Wert des Norenschen Variationszyklus als Zeitdokument handelt es sich um ein höchst bemerkenswertes Werk, zumal Noren keineswegs Straussens Stil zu imitieren sucht. So hebt das Thema der Variationen denkbar unstraussisch als eine schlichte Englischhornmelodie in modal getöntem e-Moll an, die ungefähr zwischen einem slawischem Volkslied und einem protestantischen Choral die Mitte hält. Von einem „Thema“ kann eigentlich nur in erweitertem Sinn gesprochen werden, denn der Komponist belässt es nicht bei dieser Melodie, sondern verarbeitet sie imitatorisch und modulierend, sodass ein in sich geschlossenes kurzes Charakterstück entsteht. Die anschließenden Variationen folgen dann nicht der klassischen Praxis, Ausmaße und Form des Themas im wesentlichen beizubehalten, wie dies auch noch Brahms tat, sondern greifen nur seine Motive auf und entwickeln daraus in freier Abwandlung völlig neue Gebilde. „Kaleidoskop“ ist genau der richtige Name für diese Art der Variationskomposition. In den einzelnen Variationen sprüht es nur so vor Einfällen! Noren zeigt sich als ein unbekümmert musikantischer Komponist, dem tänzerische Rhythmen im Blut liegen. Slawisches Temperament tritt immer wieder zutage, nicht nur in der explizit als „Slawischer Tanz“ bezeichneten Variation. Unter Verwendung üppigster nachwagnerischer Harmonik erschafft Noren aus dem Material seines Themas einen kontrastreichen Bilderbogen. Die Ausmaße einiger Variationen gestatten es durchaus, von ihnen als kleinen Tondichtungen zu sprechen, zumal sie charakterisierende Titel tragen, die teils ins Programmmusikalische hinüberspielen („Im Dom“, „Aus fernen Tagen“). Im Gegensatz zu Straussens Don Quixote sind sie aber nicht als Teile einer übergreifenden Handlung gedacht, das Ganze mithin nicht als Programmmusik im engeren Sinne anzusprechen. Die das Werk prägende Tendenz zum Symphonisch-Expansiven – außer in der Schlussfuge besonders spürbar in der „Dom“-Variation und im gewaltig auftrumpfenden zentralen Trauermarsch – zeigt sich auch darin, dass Noren dem Thema eine langsame Einleitung voranstellt, in welcher dessen Motive angedeutet werden, und den die Fuge krönenden Choral in eine leise Coda auslaufen lässt, die mit der Einleitung korrespondiert. Norens Instrumentation steht an Farbenpracht und Brillanz der Strausschen nicht nach. Auffällig ist seine Vorliebe für Schlaginstrumente, die in einigen Abschnitten des Werkes geradezu eine eigenständige Orchesterebene bilden.
Man muss dem künstlerischen Leiter der Richard-Strauss-Tage, Dominik Šedivý, für die Aufnahme dieses Meisterwerkes ins Festprogramm herzlich dankbar sein, wie man überhaupt die kluge Zusammenstellung der Garmischer Konzertprogramme loben muss. Die Koppelung des Kaleidoskops mit dem Heldenleben, die ja aufgrund der thematischen Bezüge auf der Hand liegt, mag aufgrund der Ausdehnung beider Werke und der großen Ansprüche, die sie an die Musiker stellen, in normalen Konzerten schwierig sein. Im Rahmen der Strauss-Tage war sie genau am richtigen Platz. Norens Werk kam dadurch außerdem in den Genuss einer Wiederbelebung in Form einer erstrangigen Aufführung – etwas, das viele großartige Kompositionen, die zuvor lange Zeit nicht gespielt worden sind, leider entbehren mussten und allzuoft noch müssen. Die Pilserner Philharmonie übertraf ihre Leistung vom letzten Jahr, als sie unter Rémy Ballot u. a. den Macbeth spielte, deutlich – und schon damals war das Ergebnis eine hervorragende Aufführung. Dieses Jahr erschien das Orchester allerdings noch um einiges agiler und motivierter – ideale Bedingungen also für einen so umsichtigen Gestalter wie Ballot, die großen Werke von Strauss und Noren – am 8. Juni im Festsaal Werdenfels des Kongresshauses Garmisch-Partenkirchen – zum Klingen zu bringen.
Als der Zwölftonkomponist Joseph Matthias Hauer einmal anmerkte, Beethoven habe doch sein Leben lang nur Kadenzen geschrieben, konterte Wilhelm Furtwängler: „Ja, aber was für Kadenzen!“ Rémy Ballots Aufführung des Heldenlebens machte erlebbar, „was für Kadenzen“ Richard Strauss geschrieben hat. Strauss macht es mit seiner Liebe zum Ornament, mit seinen durch alle Orchestergruppen flutenden Klangwogen, mit einem Notenbild, von dem sich Ferruccio Busoni einst an den New Yorker Straßenverkehr erinnert fühlte, den Dirigenten oft nicht leicht, in seinen Werken die roten Fäden zu finden. Freilich, diese sind da, und wenn sie erfasst und zur Geltung gebracht werden, dann zeigt sich, dass Strauss eben mehr war als bloß ein brillanter Orchestrationsvirtuose und dass in seinen Stücken die polyphone Kunst mannigfaltig blüht. Rémy Ballot hat als Bruckner-Dirigent hinreichend bewiesen, dass er weitestgespannte musikalische Verläufe zu realisieren in der Lage ist (siehe seinen kürzlich bei Gramola herausgekommenen Bruckner-Zyklus aus St. Florian). Er versteht es, den Musikern zu vermitteln, welche Bedeutung ihre Stimme im Zusammenhang des Ganzen besitzt. So vermag er auch, als wäre es das Selbstverständlichste, in der ganz anders gearteten Musik Straussens, jeden Winkel auszuleuchten. Wo es bei manch anderem Dirigenten nur blitzt und blendet, findet er Gegenstimmen, Kontrapunkte, Feinheiten des Tonsatzes und lässt diese in Interaktion miteinander geraten. So wird das Gefälle der Harmonien zum Erlebnis, die symphonische Handlung entsteht wie von selbst daraus – „Des Helden Walstatt“ ist kein konfuses Geplänkel und kein Schlagzeugkonzert, sondern Musikdrama im schönsten Sinne – und man kann mit Furtwängler feststellen: „Was für Kadenzen!“ Nirgendwo wurde das deutlicher als in jenem Abschnitt, bei dem ich mich nie ganz des Gedankens erwehren kann, Strauss habe ihn geschrieben, um die Geduld seiner Hörer zu testen, nämlich dem lang ausgesponnenen Dialog zwischen Solovioline und Orchester zu Beginn von „Des Helden Gefährtin“, welcher durch Ballots Weitsicht – und die hervorragende Leistung der Pilsener Konzertmeisterin – auffallend kurzweilig geriet. Den beiden großen Werken des Abends war, gleichsam als Ouvertüre, das Vorspiel zum zweiten Akt der Strausschen Erstlingsoper Guntram vorangestellt. Angesichts solch prächtiger Musik, wie sie in diesem knappen, schwungvollen Stück enthalten ist, würde es sich gewiss lohnen, den selten aufgeführten Guntram einmal wieder in Gänze vorzustellen – gern auch konzertant.
Das Matineekonzert der Richard-Strauss-Tage, das am Tag nach dem Symphoniekonzert dem festlichen Empfang des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst vorangeht, litt im letzten Jahr an einer zu kurzen Probenzeit, sodass es die Höhe des damaligen Symphoniekonzerts nicht halten konnte. Umso erfreulicher gestaltete sich dagegen die diesjährige Matinee, denn das Orchester war, gewiss vom Erfolg am Abend zuvor noch zusätzlich bestärkt, bestens disponiert. Das Programm umfasste ausschließlich Kompositionen, in denen Liebesbeziehungen thematisiert werden, meist ohne glücklichen Ausgang: Richard Wagner hat den Gegensatz zwischen irdischer und himmlischer Liebe, der seiner Oper Tannhäuser zugrunde liegt, bereits im Aufbau der Ouvertüre zum Ausdruck gebracht; Strauss schickt in seiner Tondichtung Don Juan den Titelhelden von einem Liebesabenteuer zum anderen, bevor er ihn zum Schluss ausgebrannt zusammenbrechen lässt; die Texte seiner Zwei Gesänge op. 51 handeln vom Verlust der Liebe; in den beiden Opern Intermezzo und Die Schweigsame Frau, aus welchen Auszüge zu hören waren, kommen Komplikationen des ehelichen Zusammenlebens zur Sprache.
An den Darbietungen der Tannhäuser-Ouvertüre und des Don Juan fesselte ungemein, wie zwanglos sich das musikalische Geschehen entfaltete. Das hymnische Thema zu Beginn der Ouvertüre erklang sehr sorgsam phrasiert. Die harmonischen Schwer- und Leichtpunkte der Melodie wurden von den Musikern wirklich empfunden, sodass die Musik in ein ganz natürliches Ein- und Ausatmen geriet. Willkürliche Zergliederung konnte dadurch genauso wenig aufkommen wie übertriebene Theatralik. Hier wurden keine Posen eingenommen, sondern es wurde Musik innig erlebt und beseelt wiedergegeben. Noch deutlicher als anhand der Werke Straussens und Norens zeigte sich bei Wagners breiten Melodiebögen, dass Rémy Ballot ein Musiker ist, der aus tiefster innerer Ruhe heraus schafft und gerade deswegen fähig ist, die Musik sich so großartig steigern zu lassen und ihren Verlauf so sicher auf den Punkt gebracht zu gestalten. Eben deshalb wirkte auch Don Juan so ungeheuer profund. Das lebhafte Gebärdenspiel, das dieses kapriziöse Werk auszeichnet, hatte nichts Oberflächliches oder Erzwungenes an sich, sondern klang wie frei vom Herzen weg gesprochen, als ganz selbstverständlicher Ausdruck einer extravertiert-sinnenfreudig disponierten Persönlichkeit. Die Extreme, in die sich Straussens Held stürzt, kommen nicht zu kurz. Dass er das Schwelgen liebt und das Abenteuer sucht, glaubt man ihm in jeder Note. Ballots sicherer Überblick über das Geschehen verhinderte alles Übereilen, das vorzeitige Verschießen des Pulvers. Auch behielt die Musik in den langsamen Abschnitten durchweg ihren Fluss, verlor sich nirgends im bloß Momenthaften. Das feine Auskosten der Einzelheiten, ebenso wie der überlegte Aufbau der Steigerungen förderten dabei eine Vornehmheit zutage, wie sie sich bei weniger guten Aufführungen des Stückes schlicht nicht einstellt. Ballot fand den inneren Adel der Musik, sodass man tatsächlich Don Juan agieren hörte.
In den Gesängen op. 51 trat der Bassbariton Günther Groissböck zum Orchester hinzu. Beide Stücke sind in Zwielicht getaucht: Das Thal bietet vordergründig eine Idylle (mit Alphorn-Anklängen), über die sich aber immer wieder Schatten lagern, dagegen herrscht in Der Einsame Dunkelheit vor, in welche wiederholt Lichtstrahlen durchbrechen. Groissböcks ließ seine Stimme schwer und dunkel klingen, was sehr gut zum Charakter der Stücke passte. Die fein abgestuften Farbenspiele in Harmonik und Instrumentation kamen durch Ballots Dirigat wunderbar zur Geltung. Seine sorgsame Ausrichtung der Entwicklung auf den jeweiligen Höhepunkt hin, ließ deutlich werden, dass die beiden Lieder nicht nur bloße Stimmungsbilder, sondern symphonische Dichtungen im Kleinen sind. Dasselbe lässt sich auch vom Orchesterzwischenspiel Träumerei am Kamin aus der Oper Intermezzo sagen, einem beinahe kammermusikalisch anmutenden Stück, das hier in seiner ganzen raffiniert polyphonen Zartheit erblühen konnte. Das Schlusswort der Matinee gehörte Günther Groissböck, der für den Monolog des Sir Morosus, der Die Schweigsame Frau beschließt, deutlich sanftere Töne fand als für die beiden Gesänge. Die darin enthaltenen Worte „Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!“ möchte ich für das dargebotene Konzert jedenfalls nicht unterschreiben.
[Korrektur: Im obigen Text wird als Quelle zu Norens Namensänderung die MGG2 genannt. Dies geschah in der Annahme, es finde sich dort ein Artikel über den Komponisten, da die Online-Ausgabe des Lexikons einen solchen enthält. Tatsächlich wird Noren in der ersten Auflage der MGG noch mit einem Artikel bedacht (dieser steht im Netz), die MGG2 erwähnt ihn dagegen nicht mehr. NF Schuck]
Als Erster Vorsitzender der Internationalen Draeseke-Gesellschaft ist es mir eine Freude, auf drei in den kommenden Wochen anstehende Konzerte hinweisen zu können, die entweder von der Gesellschaft selbst veranstaltet werden oder unter ihrer Mitwirkung zustande gekommen sind:
Konzert im Rahmen der 38. Mitgliederversammlung der IDG
Bad Rodach, 23. Juni, 11 Uhr, Jagdschloss (Eintritt frei, um Spenden wird gebeten)
Haruka Izawa, Klavier
Felix Draeseke (1835–1913): Hold Gedenken aus Fata Morgana op. 13
Robert Schumann (1810–1856): Klaviersonate Nr. 2 g-moll op.22
Franz Schubert (1797–1828): Klaviersonate Nr. 21 B-Dur D 960
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„Tanz durch Europa“
Heiligenberg (Bodenseekreis), 29. Juni, 19 Uhr, Schloss am Sennhof
Aris Alexander Blettenberg, Klavier
Johann Sebastian Bach (1685–1750): Französische Suite Nr. 5 BWV 816
Ludwig van Beethoven (1770–1827): Sechs Ecossaisen WoO 83
Franz Schubert (1797–1828): Grazer Galopp D 925
Felix Draeseke (1835–1913): Phantasiestück in Walzerform op. 3 Nr. 1
Felix Draeseke: Valse-Scherzo aus der Klaviersonate op. 6
Franz Liszt (1811–1886): Ungarische Rhapsodie Nr. 7 S. 244
Isaac Albéniz (1860–1909): Asturias
Aris Alexander Blettenberg (*1994): Drei Griechische Tänze
Edvard Grieg (1843–1907): Norwegischer Tanz Op. 35 Nr. 2
Béla Bartók (1881–1945): Rumänische Volkstänze Sz 56
Bedrich Smetana (1824–1884): Erinnerung an Pilsen
Frédéric Chopin (1810–1849): Polonaise op. 53
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The Art is in All of Us – Konzert zur Jubiläumsausstellung 200 Jahre Kunstverein Coburg
Coburg, 5. Juli, 19 Uhr, Pavillon des Kunstvereins
Haruka Izawa, Klavier
Franz Schubert (1797–1828) / Franz Liszt (1811–1886): Sei mir gegrüßt; Du bist die Ruh Robert Schumann (1810–1856): Klaviersonate Nr. 2 g-Moll op. 22 Franz Schubert: Klaviersonate Nr. 21 B-Dur D 960
Die Eröffnung der Ausstellung am 6. Juli, 16 Uhr, im Pavillon des Kunstvereins wird von Haruka Izawa mit Klavierstücken von Felix Mendelssohn Bartholdy und Felix Draeseke umrahmt.
Sechs Zyklen, bestehend aus insgesamt 51 Miniaturen, vereint die Kammermusik-CD „Essais musicaux“ mit Musik des in Hamburg lebenden Komponisten Steffen Wolf (Jahrgang 1971): Die titelgebenden Essais musicaux I(„To quiet the mind“) und II („Abbaye Saint-Philibert“) für Violine bzw. Klarinette und Klavier, „Im Zeichen der Kastanie“ (Violine solo), „Kreise“ (Klarinette solo) sowie die Klavierzyklen „Als Kind“ und „So listen to my lullaby, you knights and ladies fine“ (zu vier Händen). Die Interpreten sind Ewelina Nowicka (Violine), Pamela Coats (Klarinette), Jennifer Hymer und Michi Komoto (Klavier) sowie der Komponist als Sprecher.
Der wohl im südlichen Niedersachsen (?) aufgewachsene, nun in Hamburg ansässige Sänger und Komponist Steffen Wolf (*1971), hält sich mit Informationen über seine Vita erstaunlich bedeckt, selbst auf seiner eigenen Website: überall stets die fast im Wortlaut identischen, mehr als spärlichen Angaben. Offenkundig interessiert ihn beim Komponieren mehr als nur die reine Musik, vielmehr eine Verbindung zu Malerei, Architektur, Literatur und Philosophie, was auch in den vorliegenden sechs Zyklen mit insgesamt 51 Miniaturen seinen Niederschlag erfährt. Die Besetzung geht von solistischen Werken – Im Zeichen der Kastanie (Violine), Kreise (Klarinette) sowie dem Klavierzyklus Als Kind – über So listen to my lullaby, you knights and ladies fine (Klavier vierhändig) bis zu den für die CD titelgebenden Essai musical I(„To quiet the mind“) und Essai musical II („Abbaye Saint-Philibert“) für Violine bzw. Klarinette und Klavier.
Die kurzen, emotional fein dosierten Stücke wollen nicht die jeweiligen Inspirationsquellen „übersetzen“ oder gar illustrieren; es sind die inneren Bewegungsmomente des Komponisten bei diesen Kunstbegegnungen, die dem Hörer vermittelt werden. So vergleicht man den durch eine alte Fotografie – des Komponisten? – angeregten Zyklus Als Kind unweigerlich mit von der äußerlichen Anlage ähnlich scheinenden Werken, natürlich insbesondere Schumanns Kinderszenen. Gemeinsam mit diesen werden auch hier eben nicht konkrete Kindheitssituationen gleichsam geschildert, sondern eben aus der Sicht des Erwachsenen in die Gegenwart zurückgeholt und reflektiert. Jedoch ist Wolfs Rhetorik vorsichtiger und dabei noch reduzierter. Da Wolfs Harmonik nie tonal fundiert ist – sie schwankt zwischen eher weicher Atonalität und Polytonalität mit teils mehreren Zentraltönen – wirken die kurzen Blicke dieser Musik recht spontan, nicht „gewollt“ oder gar konstruiert. Das soll nicht heißen, dass es hier keine inneren musikalischen Zusammenhänge gäbe; dies aufzudecken bedürfte eingehenderer Analysen anhand des Notentexts. Michi Komoto spielt makellos, die schnelleren Abschnitte kommen teils etwas aufgesetzt herüber.
Wie diese oft zauberhafte, durchgehend sehr intime Musik – die daher überhaupt nicht in große Konzertsäle passt – wirkt, ist schwer zu beschreiben. Gemessen an der Kammermusik und den Liedern des frühen, expressionistischen Anton Webern mangelt es ihr an Direktheit, sie ist dafür deutlich zugänglicher. Dem vielleicht großartigsten lebenden Verfasser musikalischer Miniaturen, György Kurtág, ähnelt Wolfs Herangehensweise ebenso nur bedingt, da hier nicht ständig musikgeschichtliche Querverweise von der stillen Ausdruckskraft ablenken. Am gelungensten erscheinen dem Rezensenten in der Tat die beiden Essais musicaux: To quiet the mind nimmt Bezug auf einen Bilderzyklus von Carmen Hillers, Wolfs Gattin. Die den 7 Sätzen zugeordneten Kunstwerke sind im Booklet abgebildet. Die exzellente Violinistin Ewelina Nowicka – sie glänzte erst kürzlich auf einer fabelhaften CD mit konzertanten Werken verfolgter polnischer Komponisten – gestaltet die recht freien Assoziationen überzeugend empathisch und wird von Jennifer Hymer minutiös begleitet. Im Zeichen der Kastanie – hier wechseln ruhige und erregtere Abschnitte einander ab – bringt Nowicka kongenial auf den Punkt. Die kammermusikalisch sehr umtriebige Klarinettistin Pamela Coats spielt Abbaye Saint-Philibert – mit eingebauten Glockenassoziationen sowie einem Zitat Hildegard von Bingens – klanglich und dynamisch differenziert, aber setzt mehrfach auf einen leicht gockelhaften Klarinettensound, der Wolfs intimen Ansatz stellenweise konterkariert. In Kreise – die kurzen Haikus Kobayashi Issas werden vom Komponisten selbst mit etwas zu viel Hall dazu gesprochen – wirken die Tierschilderungen (Frosch und Hund) geradezu lächerlich.
Merkwürdig ist die Klangverteilung – die Mittellage des Flügels erscheint unterrepräsentiert – der beiden Spielerinnen in So listen to my lullaby, you knights and ladies fine, in der sich Steffen Wolf einmal mehr Christoph Martin Wielands Versdichtung Der Vogelsang widmet. Da, wo der Satz dichter wird, erreicht der Komponist beinahe ungewohnt orchestrale Fülle. Jedoch wirken gerade in den von der Faktur eher schlichteren Abschnitten Primo und Secondo eher als Antipoden als klanglich zu verschmelzen, was sich nicht nach Absicht anhört. Aufnahmetechnisch hat man offenkundig versucht, diesem Manko (?) mit Hall entgegenzuwirken, sonst vermögen die Einspielungen den intimen Charakter von Wolfs Musik durchaus zu transportieren. Insgesamt eine außergewöhnliche Hörerfahrung, auf die sich einzulassen lohnt, wenn man dafür tunlichst immer nur einen der sechs Zyklen konzentriert genießt, keinesfalls die komplette CD am Stück.
In der Reihe „musica viva“ hat BR Klassik zwei Kompositionen aus der Trias „Entlegene Felder“ des Komponisten Klaus Ospald (*1956) veröffentlicht: Das großbesetzte „Más raíz, menos criatura“ sowie das „Quintett von den entlegenen Feldern“. Es spielen das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Peter Rundel – mit dem Pianisten Markus Bellheim und Singer Pur – sowie das Ensemble Experimental mit dem SWR Experimentalstudio, geleitet von Peter Tilling.
Der aus Münster stammende und lange in Würzburg lebende und lehrende Komponist Klaus Ospald (Jahrgang 1956) hat einen höchst individuellen Stil entwickelt, der stark von Literatur inspiriert scheint. Zuletzt zieht sich insbesondere der früh in den Kerkern der spanischen Faschisten verstorbene Miguel Hernández (1910‒1942) wie ein roter Faden durch Ospalds Schaffen, auch wenn die Texte selbst in der Musik gar nicht direkt in Erscheinung treten oder gar „vertont“ werden. Auf der vorliegenden CD der Reihe musica viva erklingen zwei Werke der Trias Entlegene Felder – inzwischen erweiterte der Komponist seine Auseinandersetzung mit der Dichtung Hernández‘ zum bislang aus sechs ganz unterschiedlich besetzten Stücken bestehenden Guerra-Zyklus.
2019 erhielt Ospald den Happy New Ears Preis für Komposition der Hans und Gertrud Zender Stiftung (wir berichteten). Anlässlich der Preisverleihung erklang im musica viva Konzert des BR eine beeindruckende Darbietung des gut 50-minütigen Werks Más raíz, menos criatura („Mehr Wurzel als Mensch“ = Entlegene Felder III) für Orchester, Klavier und achtstimmigen Kammerchor, die hier nun festgehalten wurde. Die exzellente Aufnahmetechnik überspielt dabei einmal mehr so manche Unzulänglichkeit des Münchner Herkulessaals. Sie macht gleichzeitig klar, wie Ospald die Textfragmente aus Hernández‘ Gedicht El niño yuntero („Das Kind als Zugtier“) selbst für den 8-stimmigen Kammerchor – hier mit dem um zwei zusätzliche Sängerinnen ergänzten, vorzüglichen Vokalsextett Singer Pur – lediglich als Material benutzt und sehr bewusst mit den hochdifferenzierten Orchesterklängen verschmelzen lässt. Dasselbe gilt für den durchgehenden Klavierpart, der mehr reflektiert und kommentiert als solistisch aufzutrumpfen: Markus Bellheim realisiert dies absolut souverän, klangschön und stets präsent, ohne bei aller Virtuosität daraus eine Art Klavierkonzert zu machen. Das Klavier wird oft durch ein Upright-Piano sowie zwei Harfen – alles leicht gegeneinander verstimmt – sekundiert. Ein empathischer Aufschrei für Humanität in einer Welt der Unterdrückung. Das BRSO unter Peter Rundel spielt vielleicht eine Spur zu distanziert, in jedem Fall engagiert und auf höchstem Niveau.
Das Quintett von den entlegenen Feldern für Streichtrio, Klarinette (Bassklarinette), Klavier und Live-Elektronik (2012/13, rev. 2014) als erstes Werk der Trias arbeitet zwar nicht mit Texten, dafür aber mit sehr subtiler Klangerweiterung, die sowohl mit bewegtem Raumklang als auch mit Präparationen sowie Transducern auf dem Resonanzboden des Flügels experimentiert und deshalb nicht nur einen zweiten „Spieler“ am Klavier, sondern auch eine äußerst aktiv eingreifende Klangregie erfordert. Zunächst erscheint die Live-Elektronik eher episodenhaft, steigert jedoch mit der Zeit eindrucksvoll auch ihre emotionale Bedeutung – etwa mit „eingefrorenen” Klängen bzw. plötzlichen Klang-Abbrüchen. Die ebenfalls sehr gelungene Einspielung mit dem Ensemble Experimental und dem SWR-Experimentalstudio entstand im Mai 2019 bei einem Live-Konzert in Coburg. Fazit: Ergreifende Musik eines erklärten Außenseiters, die bei aller klanglichen Dichte und Finesse auf alle äußerliche Effekthascherei verzichtet, klar durchhörbar bleibt und quasi über jeden Ton Rechenschaft ablegen könnte. Die mit knapp 83 Minuten randvolle CD wird so zum Muss für alle Hörer Neuer Musik, verlangt allerdings enorme Aufmerksamkeit. Wer mehr über Ospalds Kompositionsprinzipien als im durchaus informativen Booklet erfahren möchte, sei auf nachstehende Veröffentlichung verwiesen.
Ergänzende Literatur: Ulrich Tadday (Hrsg.), Klaus Ospald, Musik-Konzepte 183, II/2019, edition text+kritik, München
Der Rezensent möchte um Nachsicht dafür bitten, dass in diesem Text weder Orchester, noch Dirigent, beide sehr bekannt, noch Ort und Zeit des Konzerts beim Namen genannt werden können, denn das Konzert war auf eine sehr grundsätzliche, beispielhafte, besondere und eigenartige Weise unmusikalisch, und Namen spielen für diese Betrachtung am Ende keine Rolle; Spekulationen hierüber sind müßig, denn sie gehen am Kern der Sache vorbei. Und vielleicht können die richtigen Worte dafür auch gar nicht gefunden werden. Diese Zeilen sind also ein Versuch.
Unmusikalität ist schwer zu greifen. Im Konzert waren Symphonien aus der Wiener Klassik zu hören, und das Orchester hat individuell und als Kollektiv das informiert-gängige Alphabet der Effekte und Artikulationen tief verinnerlicht. In diesem Fall ging das so weit, dass jeder Moment von jedem Orchestermitglied als Effekt perfekt, und innerhalb der Gruppen äußerst präzise artikuliert wurde.
Diese Art des Abspielens von formelhaften Elementen kann zu verschiedenen Resultaten führen, jedenfalls ist sie keine Garantie für das Entstehen von Musik. Kommt dazu eine, wie in diesem Fall eine fast als Monstranz präsentierte „So spielt man das“-Überzeugung hinzu, so ist die Gefahr groß, dass das Mittel der informierten Artikulation bereits der Endzweck ist, zumal wenn der ernste Eifer der einzelnen Musizierenden deren Sinn für die Gesamtheit der klanglichen Erscheinung übersteigt, was zu Momenten unfreiwilliger Komik führte.
Diese amüsanten Nebenerscheinungen beiseite gelassen, lebt Musik aber doch vom Zusammenhang. Effekte und Floskeln, ebenso Musizierende eines Orchesters oder Ensembles sind aber zunächst nur Einzelerscheinungen, die sich erst miteinander verbinden müssen, um als musikalische Einheit erscheinen und wahrgenommen werden zu können und nicht als Augenblicksmanierismen zu verfliegen. Verbleiben Artikulationen aber als bloße Effekte, so ist die entstehende Einheit keine musikalische, sondern nur Darstellung von Gewusstem und Erlerntem, ein Zusammenhang entsteht nicht.
Würde diese Spielhaltung zu einer Musizierhaltung führen, wäre es etwas anderes, so aber, letzten Endes als Imitation des Einstudierten, führt eine daraus resultierende Klanghomogenität nicht zu musikalischer Homogenität oder gar zu musikalischem Zusammenhang.
Der musikalische ist hier durch den instrumental-rhetorischen Akt abgelöst, der der Musik, jede mögliche musikalisch erlebbare Perspektive ersetzend, keine Chance zum Atmen lässt. Es klingt spontan, ist es aber nicht, denn Spontaneität setzt vor allem eine gewisse Freiheit des Musiziermoments voraus, und diese notwendige Freiheit kann weder imitiert noch aus dieser Art von Einstudiertheit entstehen, da sie sich nur perfekt vorgetragenen Floskeln orientiert.
In jedem Moment geschieht dann etwas Interessantes um seiner selbst Willen, aber es verbindet sich nicht zu einem musikalischen Ganzen, jedes noch so brillant artikulierte Detail steht allein für sich und ist im nächsten Moment sofort vergessen, annulliert durch die nächste Interessantheit, symphonische Leere verkleidet als Inspiration.
Die Bedingungen, unter denen Musik entsteht, sind nicht einfach zu definieren, meist hören und spüren wir eher, wenn keine Musik entsteht. Man kann vielleicht beobachten, dass Musik in Gegenwärtigkeiten von einer gewissen Dauer erscheint, tönende Erscheinungen, die sich zu einer erlebbaren Gegenwart verbinden; so wird dann aus dem Präsens der singulären Erscheinung musikalische Präsenz von einer gewissen Dauer. Nicht aber hier, wo es nur auf den Tupfer für die Dauer eines Wimpernschlags ankommt.
Musikalischer Geist bleibt hier abwesend, und so demaskiert sich der Auftritt von Dirigent und Orchester zum Tod jeder Kunst, zu Selbstkopie und leerer Pose, die mit stärkster Einbildung, das Richtige zu tun, musikalisch vollkommen scheitert.
Das böse Wort der dem klassischen Musikbetrieb gerne – allerdings weitgehend grundlos – vorgeworfenen sozialen Selbstvergewisserung (die es schließlich in jedem soziokulturellen Geschehen gibt, im Theater, in der Oper, bei allen anderen Konzerten jeden Genres, und was anderes ist denn das Rauschen der Masse in einem Fussballstadion!) kommt hier tatsächlich aufgrund der nicht stattfindenden Musik zum Vorschein, obwohl sie eigentlich ein ganz unwichtiges Nebenprodukt eines Konzerts ist: das Publikum vergewissert sich seiner selbst am Bühnengeschehen, das Orchester am Dirigenten, und der Dirigent am Orchester, und alle an sich selbst. Mehr war nicht drin.
So funktioniert dann aber das Missverständnis der Elitisierung der klassischen Musik: hier wird Gegenwärtigkeit durch Interessantheit und intellektuelles Dazugehören nur vorgegeben, und die Idee des Konzerts vollkommen missverstanden.
Es bleibt davon gar nichts, und der fast greifbare Brustton der eigenen Überzeugung des Orchesters und das routinierte Posieren des Dirigenten klingen nirgendwohin fort und mutieren zur künstlerischen Farce. In die Jahre gekommen sind sie, die Musikerinnen und Musiker des Orchesters, und die falsche Frische kündet nur von der Vergangenheit.
Ästhetisierung einer Spielweise ist noch lange keine musikalische Spielkultur. Sollte es eine Krise in der Musik geben, wovon der Rezensent keineswegs überzeugt ist, so ist dies hier sicherlich nicht der Ausweg. Kunst ist schon Vermittlung, schreibt Goethe, aber er meinte damit: Kunst.
Rémy Ballot, Eva Gevorgyan und die Stuttgarter Philharmoniker mit Mozart und Bruckner
Da Chefdirigent Dan Ettinger nunmehr zumindest bis Saisonende krankheitsbedingt nicht einsatzbereit ist, übernahm Rémy Ballot das Abonnementkonzert der Stuttgarter Philharmoniker am 16. Mai in der Stuttgarter Liederhalle, in welchem eigentlich eine Puccini-Gala gegeben werden sollte, und leitete das Orchester stattdessen in einem Mozart-Bruckner-Programm, welches ansonsten dem Stuttgarter Publikum vorenthalten geblieben wäre. Das ist eine insgesamt bemerkenswerte Entwicklung, da Ballot ja zunächst – mit maximalem Erfolg, wie man das wohl nennen muss – in Bruckners Fünfter Symphonie (seiner komplexesten) eingesprungen war. Dies geschah, da er als ‚Bruckner-Spezialist‘ empfohlen wurde, was insofern auf der Hand liegt, als er ja gerade für das führende österreichische Klassik-Label Gramola den ersten Zyklus der zehn reifen Bruckner-Symphonien vollenden konnte, der jemals in der Stiftsbasilika St. Florian eingespielt wurde – also an dem Ort, an welchem sich Bruckners eigene Klangvorstellung einst entscheidend ausgebildet hat. Und natürlich hat Ballot – unter akustisch weit unproblematischeren Bedingungen als in dem sehr halligen Kirchenraum unweit Linz – die Stuttgarter, das Hausorchester des frischgebackenen deutschen Fußball-Vizemeisters, auf fulminant klare, den geistigen Gehalt der Musik, ihr Drama des freien Kontrapunkts ohne Schielen auf Effekte oder Stilisierungen entfaltende Weise durch dieses Werk geführt, wie mir von mehreren Seiten, deren Wort schon des öfteren mit der Realität in Einklang stand, zugetragen wurde – eine Ansicht, die unter anderem auch, und das wiegt nun wahrlich nicht gering, von vielen der Orchestermusiker getragen wird.
Daraufhin lud man Ballot ein, auch die beiden Konzerte in Norditalien zu dirigieren, in welchen zunächst die großartige junge armenisch-russische Pianistin Eva Gevorgyan (Jewa Geworgjan) in Mozarts großem A-Dur-Klavierkonzert KV 488 begleitet wurde, bevor diesmal Bruckners Vierte – in der definitiven 3. Fassung von 1887–88 – erklang. Man spielte dieses Programm beim Klavierfestival in Brescia sowie in Bergamo, der Heimstätte der frischgebackenen Leverkusen-Bezwinger. Und, man kann es ja fast nicht glauben, man spielte dabei die Erstaufführung der Vierten Bruckner – seines zusammen mit der Siebten populärsten Werks – in Bergamo. Also nicht nur in musikalischer, sondern auch in historischer Hinsicht eine entscheidende Tat.
Dieses Programm hätte das Stuttgarter Publikum also nicht zu hören gekommen, hätte nicht Ettingers Puccini-Herzensprojekt auf dem Programm gestanden, welches man dem erkrankten Chef – dem dringend gute Besserung zu wünschen ist – nicht entreißen, sondern auf einen späteren Zeitpunkt verlegen wollte.
In Stuttgart gab es nun – einem Saison-Motto folgend – zwischen Mozart und Bruckner, besetzungsbedingt nach der Pause vor der Symphonie, An Oddment for Orchestra, ein One-Minute-Piece einer Kompositionsstudentin der Stuttgarter Hochschule, der 1997 geborenen Flämin Eveline Vervliet, als Uraufführung – eine Art stehender Klangbildung, ein bisschen gleich einem Tierchen, das auf einer Lichtung um sich schaut und überlegt, wohin es sich denn bewegen soll. Nun denn – zu Bruckner, und das deutet sich auch in den Klängen an, die da in recht bruchstückhafter Weise aufeinanderfolgen (der Titel, dadaistisch-technokratisch, könnte auch eine Hommage an Elon Musk sein). Eine freundliche Talentprobe, die das Publikum nicht beleidigt.
Zuvor gab es einen vor allem im Kopfsatz ganz wunderbaren Mozart, und Eva Gevorgyan ist eben nicht nur eine phänomenale Virtuosin, wie sie anschließend vor allem in den Finessen der Paganini-Campanella in Liszts rhapsodischer Formung in das Publikum absolut in Bann schlagender Weise bewies, sondern eine Musikerin, die in dieser niemals stillstehenden, immerfort sich organisch entwickelnden Musik vollkommen präsent ist, die harmonischen Verläufe sinnfällig aushört, die Kontrapunktik auch da deutlich hervortreten lässt, wo viele andere nur charmantes Figurenwerk durchnudeln. Eine wirklich spannende, dabei auch ganz natürliche Darbietung mit einem adäquat hellwachen Orchester als lebendig changierendem Gegenpart. Im langsamen Satz spielte Eva Gevorgyan sehr fein und stimmungsvoll, auch durchaus klar und äußerst kultiviert, jedoch können die Spannungsverläufe der Phrasen noch viel bezwingender erscheinen, zumal wenn die extreme introvertierte Spannung der Neapolitaner-Akkorde tiefgreifender begriffen würde. Aber das lässt sich ja noch entwickeln, erweitern… Im Finale herrschte geistvoller Dialog, lediglich leicht gebremst durch ein etwas zu geschwind genommenes Starttempo, aber hier ist es viel leichter, das natürliche Idiom des Komponisten zu Wort kommen zu lassen, wenn man nicht den ideologischen Flausen der sogenannten ‚historischen Aufführungspraxis‘ mit ihren nivellierenden Verzerrungen aufsitzt – und diese Gefahr bestand in keinem Moment. Der kleinen Einwände eingedenk also eine vortreffliche, grundmusikalische Darbietung aller Beteiligten.
Auf der gleichen Höhe bewegte sich die Bruckner-Symphonie. Es ist nicht möglich, dies angemessen zu beschreiben. Als Leitfaden möge dienen, dass Ballot definitiv von dem Lehrer und Meister geprägt ist, dessen jüngster Dirigierschüler er am Ende von dessen Leben war: von Sergiu Celibidache. Und da scheiden sich natürlich die Geister von den Ungeistern. Aber lassen wir die Ungeister außer Acht, die können sich ja an Wand, Harnoncourt, Skrowaczewski, Tintner, Thielemann und minderen Gesellen orientieren. Entscheidend ist, dass Ballot es einerseits überhaupt nicht nötig hat, sich irgendwie von Celibidache zu distanzieren, sondern dass er schlicht ein ergebener Diener der Musik ist, wie dies einst, in Zeiten vor dem alle Qualität niederwalzenden Starkult, das Ideal aller seriösen Musiker war. Und das Schöne ist, dass Ballot bei aller Nähe zum von Celibidache Erlernten doch ein ganz anderes Naturell ist. Spezifisch für ihn ist eine Leichtigkeit, Geschmeidigkeit, ein grundsätzlicher Optimismus, ja eine immer spürbare Freundlichkeit und Fröhlichkeit des Wesens, und das begünstigt auch die Transparenz des Orchesterklangs und überhaupt die kollektive Tongebung. Und es bedeutet keineswegs, dass es an Drama mangele! Das Scherzo ist so virtuos, wie es sein soll, und keine gemütliche Veranstaltung (das Trio hingegen selbstverständlich genau das). Kopfsatz und langsamer Satz gelingen vortrefflich, und es steht zu vermuten, dass fast niemand in Orchester und Publikum diese Musik bisher je so wunderbar gestaltet im Konzert erleben durfte. Und überwältigend, wie es eben sein muss, setzt das Finale dem Ganzen die Krone auf, um in einer apotheotischen Coda, wie dies nur möglich ist, dem Himmel zuzustreben. Ganz im Sinne seines Lehrmeisters gelingt es Ballot hier, aus dem Gegensatz der kantablen Harmoniepracht des modulierenden Bläsersatzes und dem markierten Schreiten der Streichertriolen als rhythmischer Erdung eine Wirkung zu manifestieren, die so magisch ist, dem sich nur entziehen kann, wer dümmlicherweise dagegen ist. Und welcher musikalische Geist wäre das? So geht Bruckner, und Ballot ist wohl nicht der einzige, der das heute versteht und verwirklichen kann, aber einer der ganz wenigen. Die Stars gehören jedenfalls bislang nicht dazu. Möge er also kein solcher werden wie diese, sondern seinem eigenen Stern ohne Eitelkeit und Selbstsucht folgen, wie dies bisher ganz offensichtlich der Fall zu sein scheint, und möge ihn der zunehmende Erfolg geistig nicht zu Fall bringen. Ich traue ihm das jedenfalls zu. Ich hätte mir lediglich gewünscht, dass er nicht so pedantisch die Zweier-Gruppen bei der Bruckner-Manie des halb-Zweier, halb-Dreier-Alla-breve-Takts unterschlagen hätte. Auch wenn ihm womöglich die verfügbare Probenzeit ein bisschen knapp gewesen sein mag (was vor allem für den langsamen Satz gilt), so viel Kontrolle war hier nicht nötig, und das Orchester tat, was ihm nur möglich war, um in dieser Art von Bruckner-Spiel, die in jedem Fall so ganz anders als das Gewöhnliche und so ganz neu war, mit Hingabe aufzugehen. Wie schön, wenn ein Orchester so fühl- und spürbar aufblüht und mit solchem Selbstbewusstsein das entdeckt wie beim ersten Mal, was man längst zu kennen glaubte. Großartig.
Was ist das Besondere an dieser Art des Musizierens? Kurz, allzu kurz gesagt: der organische Zusammenhang, der uns alle vier Sätze in bezwingender Weise als Einheit der Form erleben lässt. Und vielleicht sogar die Symphonie als Ganzes, wenngleich jenseits des Erklärbaren, auch wenn das Hauptthema des Beginns am Ende wieder da ist, wie ein Symbol des Ewigen. Diese einmalige Kunst des Musizierens kann man nicht eben mal erklären. Das erlebt man. Sogar als Kritiker ‚von Statur‘ hätte man die Möglichkeit…
Am Samstag, 18. Mai 2024 um 19 Uhr, fand – erneut im Münchner Herkulessaal – die Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2024 an die koreanische Komponistin Unsuk Chin statt. Die diesjährigen Förderpreise für Komposition und Ensembles gingen an Daniele Ghisi, Bára Ghísladóttir, Yiquing Zhu bzw.das Broken Frames Syndicate sowie Frames Percussion. Neben zwei Werken Chins – Gran Cadenza und das Doppelkonzert– wurden auch die drei jungen Komponisten mit Live-Beiträgen vorgestellt.
Deutlich schlechter besucht als in den Vorjahren schien dem Rezensenten die diesjährige Preisverleihung der Ernst von Siemens Musikstiftung im Münchner Herkulessaal. Ebenso war die „Promi-Dichte“ heuer recht überschaubar. Vielleicht lag es an den bevorstehenden Pfingstferien. Man muss allerdings kritisieren, dass das Publikum das sehr lange Programm – gute 160 Minuten – ohne Pause absitzen musste und das Foyer für den anschließenden Empfang der Stiftung einfach unangenehm überakustisch wirkt. Annekatrin Hentschel vom Bayerischen Rundfunk moderierte die Veranstaltung, die übrigens am 18. und 20. Juni auf BR Klassik gesendet werden wird. Nach einem Grußwort durch die Bratschistin Tabea Zimmermann, Vorsitzende des Stiftungsrats, gab es die mit Spannung erwarteten Porträtfilme über die Förderpreisträger Komposition bzw. Ensemble von Johannes List. Leider fielen diese diesmal erheblich uninspirierter aus als in den letzten Jahren; geradezu nichtssagend die kurzen Filmclips zu den Ensembles: Broken Frames Syndicate aus Frankfurt am Main sowie Frames Percussion aus Barcelona. Umso erfreulicher, dass sich die jungen Komponisten auch mit jeweils einer Live-Aufführung vorstellen durften – hier gebührt Zoro Babel schon mal Dank für die gelungene Klangregie.
Wir hatten hier bereits kurz die diesjährigen Stiftungspreisträger vorgestellt. Daniele Ghisis drei Stücke aus Weltliche (2020) – für Klavier und Elektronik – mochten, trotz der engagierten Darbietung durch den britischen Pianisten Joseph Houston, nicht so recht überzeugen: Ghisi verarbeitet darin u. a. Material aus drei weltlichen Bach-Kantaten. In seiner Live-Elektronik, die akustisch ebenso auf den Korpus des Konzertflügels übertragen wird, verwendet der stark mathematisch orientierte Italiener zudem musique concrète. Das Ganze wirkte dann doch sehr verkopft; da halfen die teils sensiblen Klänge kaum weiter.
Einen völlig anderen Weg geht die isländische Komponistin und Kontrabassistin Bára Ghísladóttir. Wie in den meisten ihrer Kompositionen macht sie auch in RÓL (2023) – für Tuba und Elektronik – aus ihrer besonderen Liebe zum Tieffrequenten keinen Hehl: Was Jack Adler-McKean hier an bedrohlich Geräuschhaftem aus dem Instrument des Jahres herausholte, war wirklich beeindruckend, erschien geradezu wie ein Hurrikan in der Tuba. Und die intensive Live-Elektronik – endlich hatte man ein paar Lautsprecher im Herkulessaal aufgebaut, die tatsächlich satte Bässe hergeben – traktierte die Zuhörer gleichermaßen enorm körperlich, entsprechend Ghísladóttirs grundsätzlichem Bekenntnis zum Animalischen.
Am tiefgründigsten erschien jedoch The Aether and Nether des stilistisch sehr breit aufgestellten Chinesen Yiqing Zhu, der selbst auf dem Podium dirigierend die Live-Elektronik – mit vielen verfremdeten Echo- bzw. Loop-Effekten – bediente und gemeinsam mit Liyi Lu an der Pipa (chinesische Laute) und dem Flötisten Rafał Zolkos mit einem erstaunlichen Wechselbad von expressiver Hochspannung und chillig-lässigem Jazz faszinierte. Große Zustimmung für die jungen Tonkünstler bei der Preisverleihung durch den nach 36 Jahren im Kuratorium nun ausscheidenden Vorsitzenden Thomas Angyan.
Nun folgte endlich Musik der Hauptpreisträgerin Unsuk Chin: Dazu hatte man das Ensemble intercontemporain aus Paris eingeladen, mit dem Chin durch eine bald 30-jährige Zusammenarbeit eng verbunden ist. In der für Anne Sophie Mutter und ihre Geigen-Eleven 2018 geschriebenen Gran Cadenza für zwei Violinen – selbst schon ein kleines Doppelkonzert – durften Hae-Sun Kang und Diégo Tosi alle Register ihres Könnens ziehen: eine technisch wie musikalisch ungemein wirksame, zweifellos phänomenale Wiedergabe. Die Laudatio für Chin, die mittlerweile in Berlin lebt, jedoch bereits als Schülerin von György Ligeti in Hamburg entscheidende musikalische Impulse bekam, hielt der langjährige Intendant der Kölner Philharmonie, Louwrens Langevoort. Er betonte insbesondere den außergewöhnlichen Klangsinn der aus Korea stammenden Komponistin, für Orchester zu schreiben sowie die konsequente Umsetzung ihres vielzitierten Leitspruchs „Meine Musik ist die Abbildung meiner Träume“, die vielleicht in der 2007 in München uraufgeführten Oper Alice in Wonderland einen ersten Kulminationspunkt erreichte.
Nach der Preisübergabe und der ein wenig selbstgefälligen Danksagung der Geehrten gab es als krönenden Abschluss das Doppelkonzert, 2002 als drittes Auftragswerk für das Ensemble intercontemporain entstanden. Hier spielten nun dieselben Solisten wie bei der Uraufführung: Samuel Favre (Schlagzeug) und Dimitri Vassilakis, der am geschickt teilweise präparierten Steinway eine vielschichtige, aber nie vordergründig virtuose Klangwelt hinzauberte. Wirklich virtuos war jedoch das hochdifferenzierte, dabei dicht verschmelzende Zusammenspiel mit dem Ensemble – unter dem kongenialen, präzisen und nie aufdringlichen Dirigat seines seit letztem Jahr neuen Leiters: Pierre Bleuse. Dank eines etwas ungewöhnlichen Gewandes sah der agile, kraftstrotzende Herr beim Dirigieren von hinten ein wenig aus wie eine Fledermaus, beherrschte die herausfordernde Partitur dafür absolut souverän. Hier bewahrheitete sich nun offenkundig, mit welchem musikalischen Kaliber man es bei Unsuk Chin zu tun hat: Tosender Applaus im Saal – und sicher nicht die letzte Komponistin, die diesen Preis völlig zu Recht erhält.
Wien ist eine wunderbare Stadt und bietet die Möglichkeit zu täglichen Konzertbesuchen, an zahlreichen Orten gibt es immer etwas zu hören. Und während das Publikum gerade erst jubelt und dann beginnt, an einem Star zu zweifeln, ob er oder sie nicht doch ein X sei statt eines U, da schon der Hunger nach dem nächsten Star wächst, was ein Phänomen ist, das in Wien fast jedes Jahr ein- oder zweimal zu beobachten ist, finden hier und da versteckte Momente von wirklicher Bedeutung statt.
So geschehen am vergangenen Montag im Jüdischen Museum beim Gastkonzert der School of Music, Theatre and Dance der University of Michigan. In einer Kooperation des Jüdischen Museums mit dem ExilArte Institut der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, erklangen Bearbeitungen von Schlagern, Tangos, Walzern und Foxtrotts aus den 30er und 40er Jahren, kundig eingeleitet von Gerold Gruber, dem Leiter des ExilArte-Instituts, dessen Arbeit einmal an anderer Stelle gewürdigt werden muss.
Das Besondere beginnt dabei, dass diese Bearbeitungen statt der Namen der Bearbeiter deren Häftlingsnummern im KZ Auschwitz tragen. So von Nummer 5665, Antoni Gargul, Bratschist, oder Nummer 5131, Maksymilian Pilat, Fagottist. Sie und andere arrangierten diese Nummern für das Auschwitz 1 Männerorchester, das zunächst aus polnischen, und später großteils aus jüdischen Häftlingen bestand. Musik in Auschwitz, so der Titel des Konzerts.
„Meine liebe Frau! Schicke mir bitte sofort meine Geige.“
Stets in der Gefahr, auch während eines Konzerts aus dem Orchester willkürlich herausgeholt und umstandslos erschossen zu werden (so erging es etwa 50 Orchestermitgliedern), spielten die Musiker Konzerte vor der Villa des Kommandanten Höss (eines der bei diesem Konzert gespielten Werke ist auch im jüngst Oscar-prämierten Film „The Zone of Interest“ zu hören), Sonntagskonzerte für die SS und zu zwei verschiedenen Gelegenheiten für die Häftlinge: ein für die SS anschließendes Konzert an Sonntagen und täglich morgens und abends am Lagertor für die zur tödlichen Zwangsarbeit ausziehenden und am Abend dezimiert Heimkehrenden.
Die Titel der Tanznummern waren unter anderem, wie sie original in diesem Konzert erklangen: „Ich bin ja heute so verliebt“, „Ich wollt‘ ich hätt‘ im Wirtshaus gleich mein Bett“, „Traum von Haiti“, „Fidele Bauern“, „Die schönste Zeit des Lebens“ oder „Dideldideldum, Dideldideldei“. Wenn man es aushält, kann man sich sich diese Titel auf der Zunge zergehen lassen, während man sich vorzustellen versucht, wie es in Wirklichkeit war.
Jedes Wort, das überhaupt geschrieben oder gesagt wird, jede Note, die erklingt, hat plötzlich eine andere Bedeutung oder gar keine mehr. Alles ist ausgehöhlt, die Sprache ist entleert, die Musik erklingt schön und doch wie ein endloser Hohn, als eine verwirrende und absolute Antimaterie.
„Der Rauch vom Krematorium irritierte sehr meine Kollegen, aber es ist nicht irritierend, nur schwer zu verkraften. Es verschmutzte die Luft, und es war schwer, die Noten zu sehen.“
Die Studierenden der University of Michigan musizieren beeindruckend, frei, musikalisch, ernst und schön, und so kommt im Konzert diese Musik eigentlich schwungvoll und lieblich daher. Die kurzen Texte, die die Sänger Yinghui Mak He, Benjamin Ysik, Micah Huisman und Jack Morin zwischen den Nummern rezitieren, sind Zitate aus Erinnerungen und Aussagen von Überlebenden. Die natürliche Präsenz der einfachen, unpathetischen Direktheit dieses Vortrags war bemerkenswert, und vielleicht kann die Furchtbarkeit gar nicht besser dargestellt werden. Mit derselben Klarheit und unsentimentaler Empathie, schön, präsent, lieblich und direkt, dirigierte Oriol Sans diese wunderbar und innig aufspielenden 22 jungen Musikerinnen und Musiker aus Michigan.
Es gleicht diese Haltung der, wie sie Hans Sahl in seinem Roman „Die Wenigen und die Vielen“ als amerikanisch bei Varian Fry, den Organisator der Flucht vieler aus Marseille heraus (u.a. von Alma Mahler und Franz Werfel), beschreibt: „…und weil da doch immer , wenn es nicht mehr weiterzugehen scheint, irgendein Mann in Hemdsärmeln vor dir steht und sagt: ‚Oh, there are ways, you know…‘.“
Man kann Particia Hall, der Musikhistorikern aus Michigan, nicht genug danken dafür, dass sie sich diesem Aspekt unserer verzweifelten Geschichte so ausgiebig widmet und dieses Konzert durch ihre wissenschaftliche und kuratorische Arbeit ermöglicht hat. Solche Unternehmungen geben Würde zurück, wo sie einst genommen wurde.
„Sie hätten lieber etwas zu essen gehabt, aber die Hälfte von ihnen sind zum Hören gekommen.“
Ist das also ein Mensch? Für alle Zeiten bleibt die Frage von Primo Levi unbeantwortbar. Musik: Hölle und Trost, Träger von maßlosem Zynismus dem menschlichen Sein gegenüber, an Sonntagen ein Glimmen von Humanität, verdunkelt vom Rauch der Krematorien, am Montag die Todesfanfare beim Auszug aus dem und Trauermarsch beim Einzug in das Lagertor. Was ist da noch Musik an Musik?
Der Applaus des sichtlich bewegten Publikums war zwischen den Nummern herzlich und wohlwollend, blieb aber merklich im Halse stecken. Der stehende Schlussapplaus jedoch erklang als Echo auf die Musik als eine kraftvolle Bejahung der Humanität.
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Anm.: Die kursiv gesetzten Zitate sind dem Programmheft des Konzerts entnommen.
Die Pianistin Dora Deliyska präsentiert ein Programm von Etüden und Präludien von Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Anordnung der einzelnen Stücke, die eigenen Gesetzmäßigkeiten und dramaturgischen Ideen folgt.
Die Pianistin Dora Deliyska, gebürtige Bulgarin, mittlerweile seit Jahren in Wien lebend, hat seit ihrem CD-Debüt 2008 eine respektable Diskographie eingespielt, und so ist ihr im vergangenen Jahr erschienenes neues Album Études & Preludes (nach Angaben ihrer Homepage) bereits das dreizehnte mit ihr am Klavier. Die Palette, die sie abdeckt, ist breit, und neben Liszt-, Schubert- oder Schumann-CDs hat sie speziell in den letzten Jahren offenbar ein besonderes Faible für sogenannte Konzeptalben entwickelt, CDs also, deren Programm einer bestimmten Idee (oder eben: Konzeption) folgt und dabei immer wieder bewusst Grenzen überschreitet, Werke und Komponisten miteinander kombiniert, die man vielleicht a priori nicht unbedingt nebeneinander erwarten würde.
Im Falle von Études & Preludes widmet sich Deliyska zwei der populärsten Genres der Klaviermusik seit dem frühen 19. Jahrhundert, und zwar nicht zufälligerweise im Rahmen eines Programms von 24 Stücken, das sich aus je zwölf Etüden und Präludien zusammensetzt; klassische Zahlen also. Mit Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin geht es dabei vom frühen 19. bis ins späte 20. Jahrhundert auf den Spuren von Marksteinen der beiden Gattungen.
Als besonders raffiniert erweist sich das Konzept im Falle der zwölf Etüden, mit denen die CD beginnt. Deliyska hat hier Stücke aus Chopins 12 Etüden op. 25, Debussys Douze Études sowie György Ligetis 18 Etüden (1985–2001) ausgewählt, wobei sie von Debussy die Idee übernommen hat, die Etüden nach Intervallen anzuordnen. Und so startet das Programm mit der Prime (bzw. einer Etüde, in der die Prime eine prominente Rolle spielt), dann der kleinen Sekunde und so weiter, bis die Oktave erreicht ist; es folgen noch zwei Etüden zu Arpeggien und eine zu Akkorden, und damit ist das Bild vollständig, ohne dass dabei jemals zwei Stücke desselben Komponisten aufeinander folgen würden.
Es ist erstaunlich, wie gut diese Werke nebeneinander funktionieren, exemplarisch zu beobachten am Beginn der CD. Alles beginnt mit den rasenden Tonrepetitionen von Ligetis Etüde Nr. 10 Der Zauberlehrling, gefolgt von Debussys Etüde Nr. 7 Pour les Degrés chromatiques, die Deliyska fast ohne Pause folgen lässt. Gerade in den lapidaren Anfangstakten von Debussys Etüde wirkt der Übergang in der Tat verblüffend natürlich. Eine gewisse Rolle spielt dabei sicherlich auch, dass Ligetis Etüden zwar für den Pianisten horrend schwer sind, auch für den mit Musik des späten 20. Jahrhunderts nicht sonderlich vertrauten Hörer jedoch zu den zugänglichsten seiner Werke zählen dürften – Der Zauberlehrling etwa ist im Grunde genommen fast eine Etüde in C-Dur. Aber selbst, wenn anschließend mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 11 ein Sprung in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgt und, jedenfalls was das Melos betrifft, aus Chromatik Diatonik wird, fühlt man sich doch beim (abermals) chromatischen Wirbelwind in der rechten Hand an das, was in den beiden zuvor gehörten Etüden geschehen ist, erinnert. Allein dies ist bereits ein eindrucksvoller, sehr gelungener Brückenschlag.
Gleichzeitig schaffen diese ersten Stücke eine Atmosphäre permanenter Unruhe, Betriebsamkeit, stetigen Flirrens, auch Dramatik (gerade in Chopins Etüde), die auch in Ligetis Etüde Nr. 4 Fanfares mit ihren unregelmäßigen Rhythmen weitergeführt wird und insofern den Hörer in einen regelrechten pianistischen Strudel reißt, der erst in Track 5 mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 7 gebremst wird, dafür nun umso deutlicher. Ein Ruhepol, der einen Track später in Ligetis Etüde Nr. 2 Cordes à vide, die sanft den Klang leerer Streichersaiten heraufbeschwört, noch einmal bekräftigt wird. Neben dem Fokus auf Intervallen ergibt Deliyskas Auswahl also auch eine veritable Dramatik und Struktur mit Steigerungen, Höhepunkten und Momenten des Durchatmens.
Natürlich folgen nicht alle Etüden dem Intervallschema so deutlich wie etwa Ligeti in den Cordes à vide mit ihren Quinten oder (an neunter Stelle) die mal brausenden, mal innig singenden Oktaven in Chopins Etüde op. 25 Nr. 10, erst recht, zumal Debussys Etüden, die sich ja explizit auf Intervalle beziehen, hier (bis auf Track 2) ausgespart und erst gegen Ende der Abteilung Etüden das Bild mit Arpeggien bzw. Akkorden (Debussys Etüden Nr. 11 und 12) komplettieren. Dabei ergeben sich aber auch interessante Zwischenstellungen. So fallen in Ligetis Fanfares natürlich die Terzen in der rechten Hand auf, aber in der fortwährenden Achtelbewegung in der linken ist es die große Sekunde, die dominiert – eine Etüde „zwischen“ den Intervallen also. Ganz ähnlich verhält es sich mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 7: natürlich hört man hier zunächst Quarten in den Achteln in der linken Hand, aber das Melos wird doch auch stark von der Terz beherrscht.
Generell entsteht jedenfalls speziell in den ersten Etüden in der Tat ganz entschieden jener Eindruck des allmählichen Sich-Weitens der Intervalle, auf den Deliyska mit ihrem Programm offensichtlich abzielt. Dass am Ende Debussys Etüde Nr. 12 für einen robusten Abschluss mit Finalwirkung sorgt, versteht sich von selbst, zumal sie ja im ursprünglichen Zyklus dieselbe Stellung innehat.
Anders verhält es sich mit den Präludien: wieder drei Komponisten, und wieder werden Chopin (mit erneut fünf Stücken aus seinen 24 Préludes op. 28) und Debussy (diesmal mit vier statt drei Stücken aus seinen zwei Büchern von insgesamt ebenfalls 24 Préludes) um einen Komponisten der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ergänzt, nämlich durch Nikolai Kapustin (1937–2020) und drei seiner 24 Präludien im Jazzstil op. 53 (1988). Anders als bei den Etüden gruppiert Deliyska die Präludien aber (konventioneller) nach Komponisten.
So steht am Anfang ein Chopin-Block, der gleich mit dem enorm populären Des-Dur-Präludium (Nr. 15) beginnt, auf das Deliyska das e-moll-Präludium (Nr. 4) folgen lässt und so Parallelen zwischen den beiden Stücken aufzeigen will (die auf einer grundsätzlichen Ebene zweifelsohne vorhanden sind). Ansonsten scheint ihre Anordnung der Präludien vorwiegend von dramaturgischen Überlegungen motiviert, ein wenig auch Tonartenbeziehungen (auf fis-moll folgt, beruhigend, Fis-Dur); auf jeden Fall läuft der kleine Chopin-Zyklus auf einen stürmischen Presto-Abschluss (Nr. 16) hinaus, der in der Tat dann auch eine etwas längere Pause, einen Moment des Sich-Sammelns zur Folge hat.
Ähnlich ist der Debussy-Block aufgebaut: wieder ein ebenso verhaltener wie hochexpressiver Beginn (Des Pas sur la neige), der schließlich in Debussys Beschwörung des Westwindes gipfelt (Buch I, Nr. 7). Kapustins Präludien bilden schließlich ein kleines Triptychon in der „klassischen“ Reihenfolge schnell-langsam-schnell und verwandten Tonarten (gis-moll, H-Dur, h-moll), das hier ein wenig als Zugabe fungiert, als locker gefügter, spielerischer Abschluss eines Programms, das die vollen 80 Minuten der CD ausschöpft.
Deliyskas Argument (im Beiheft), durch die Anordnung gemäß Komponisten seien „die deutlichen Stilunterschiede noch genauer [zu] erkennen“, überzeugt sicher nicht völlig, denn ein Faszinosum am ersten Teil ist ja gerade das ganz leichte Verschwimmen dieser Unterschiede (wohlgemerkt: in kleinen Momenten und Augenblicken, in denen man kurz aufhorcht). Andererseits gibt es sicherlich eine Reihe anderer Gründe dafür, hier eben genau so vorzugehen; das Genre selbst, in dem es ja weniger um technische oder Materialfragen geht als um kurze Impressionen, mag eine Rolle spielen, aber vielleicht auch die Auswahl der Komponisten, denn insgesamt scheint mir Ligeti in seinen Etüden mit ihrem ausgeprägten, raffinierten Klangsinn doch näher an Chopin und Debussy zu liegen als Kapustins schon im Titel aufgezeigter (klassisch fundierter) „Jazzstil“.
Bei alledem überzeugt Deliyska als kompetente, pianistisch sehr gutklassige Anwältin ihrer Programmidee. Ihre Tempi sind insgesamt eher gemäßigt (etwa im Vergleich zu Ligetis Angaben zur Dauer seiner Etüden oder zu Kapustins eigener Interpretation seiner Jazzpräludien), obwohl nicht dezidiert langsam. Gerade bei den Präludien von Chopin fällt ein ausgeprägtes Interesse an Mittel- und Nebenstimmen auf (von ihr selbst im Beiheft im Falle des Préludes Nr. 4 gesondert erwähnt, aber auch an zahlreichen anderen Stellen zu beobachten wie etwa im più lento von Nr. 13).
Gewiss: es handelt sich hier in der Mehrzahl um Repertoire, das diskographisch in einer solchen Breite und Qualität erschlossen ist, dass man fast beliebig stark ins Detail gehen und differenzieren könnte. Im Falle von Ligetis Etüden etwa ist Aimards Lesart der Cordes à vide noch eine Nummer filigraner, ganz exquisit an der Grenze zwischen Stille und zartem Nachhall angesiedelt, während mir in der Teufelstreppe (Nr. 13) der Höhepunkt in Takt 43 (im achtfachen Forte) bei Deliyska deutlich zu wenig Wucht besitzt. Andererseits liegt der Reiz dieser CD ja gerade nicht darin, diese Zyklen (erst recht die ganz bekannten von Chopin und Debussy) wie gewohnt zu hören, sondern sie neu zu kontextualisieren und womöglich in einem etwas anderen Licht zu betrachten. Ebendies erfüllt Deliyskas Album in hervorragender Weise.