Archiv der Kategorie: Konzertrezension

Erneuter Aufguss von Lachenmanns „My Melodies“

Im Herkulessaal widmete sich das letzte Konzert der laufenden musica viva Saison am 23. Juni 2023 einmal mehr der Musik Helmut Lachenmanns. Unter der Leitung von Matthias Hermann spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit seiner fantastischen Horngruppe allerdings lediglich die Neufassung der großformatigen My Melodies, die hier vor 5 Jahren uraufgeführt worden waren. Vor der Pause erklangen zwei imposante Duos: Salut für Caudwell mit den Gitarristen Mats Scheidegger und Stephan Schmidt sowie GOT LOST, dargeboten von der Sopranistin Yuko Kakuta und Pierre-Laurent Aimard am Flügel.

Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Matthias Hermann [© BR / Astrid Ackermann]

Wenn man die Ankündigung für das letzte musica viva Konzert vor der Sommerpause las, war man versucht, an den Film Und täglich grüßt das Murmeltier zu denken, so sehr ähnelte das Programm demjenigen vor gut 5 Jahren, wo ebenfalls Pierre-Laurent Aimard als Pianist auftrat und Helmut Lachenmanns beeindruckende „Musik für acht Hörner und Orchester“ My Melodies ihre Uraufführung erlebte (wir berichteten). Im Vorfeld gab es mehrere Absagen: Zunächst sprang Lachenmanns Schüler und langjähriger Freund Matthias Hermann für den erkrankten Peter Eötvös ein, der sonst auch die Neufassung von My Melodies dirigiert hätte. Und ganz kurzfristig musste noch Ersatz für das Trio Recherche gefunden werden, welches für das neue, zweite Streichtrio Mes Adieux von 2021/22 eingeplant war. Statt des angekündigten „Adieus“ gab es nun zu Beginn des Konzerts ein „Salut“: Salut für Caudwell (1977), das von den beiden Gitarristen Mats Scheidegger und Stephan Schmidt dargeboten wurde, die man bei My Melodies eh‘ für die E-Gitarren im Orchester engagiert hatte und die das Duo-Stück erst kürzlich eingespielt haben.

Lachenmanns „Musik für zwei Gitarristen“ erweist sich nicht nur von seiner Länge her als passender Ersatz für das Streichtrio. Obwohl über 45 Jahre alt, zeigt sich bereits hier, dass eine Reduktion des Komponisten auf reine Verweigerungsästhetik seinem Werk keinesfalls gerecht wird. Natürlich verwendet er die beiden Gitarren über das gesamte, gut 25-minütige Stück vorwiegend unkonventionell: Über weite Strecken spielen sich intensive Plektrumklänge in höchster Lage ab – jenseits der Bünde, die bestimmte Tonhöhen fixieren. Entsprechend dominieren so dauernde Glissando-Effekte; die Textvorlage des im spanischen Bürgerkrieg gefallenen britischen Marxisten Christopher Caudwell – eine Kritik des bürgerlichen Kunstbegriffs – wird von den Musikern teilweise sehr prononciert auf Deutsch rezitiert usw. Scheidegger und Schmidt bleiben selbst dort, wo die anfänglich stabilen Rhythmen variabler werden, immer spannungsvoll und verständlich. Die halsbrecherisch virtuosen Figurationen erinnern den Hörer einerseits an Freiheiten wie etwa den Beginn von Pendereckis 1. Streichquartett, andererseits an die kalte Strenge von Nancarrows Etüden für Player Piano – eine insgesamt ungemein eindringliche Darbietung.

Noch stärker dann GOT LOST (2007/08), quasi eine 28-minütige Auseinandersetzung mit dem Kunstlied, dabei fast schon Musiktheater. Drei scheinbar völlig divergierende Texte –Nietzsches Vierzeiler Der Wandrer, Fernando Pessoas Todas as cartas de amor são ridículas und eine kurze, profane Annonce – werden bis in kleinste, kaum mehr als Worte identifizierbare Fragmente zerlegt: musikalisch vielfältigste Gesten, die aber in der enorm intensiven und bewussten Wiedergabe der japanischen Sopranistin Yuko Kakuta absolut faszinierend geraten. Besonders eindrucksvoll, wenn sie direkt in den Flügel singt, und der Resonanzraum den Klang ihrer Stimme fast wie ein langanhaltendes, natürliches „Echo“ weiterträgt. Pierre-Laurent Aimard ist hierbei mit seinem höchst anspruchsvollen Klavierpart – auch er muss mit dem Mund arbeiten, dazu mit einer Vielzahl von Präparationen im Flügel zurechtkommen – völlig gleichberechtigt, engagiert sich gespannt wie ein Flitzebogen und begeistert mit Raffinement und völliger Durchsichtigkeit. Diese musikalische Glanzleistung wird selbstverständlich mit entsprechendem Beifall bedacht.

Trotz des Triumphs 2018 – sowie weiterer Aufführungen mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle – war Lachenmann mit My Melodies wohl längst nicht zufrieden und erstellte nun eine Neufassung, die anscheinend – zum genauen Vergleich müsste man beide Partituren gründlichst studieren – die Gesamtform weitgehend unangetastet lässt, an wenigen Stellen erweitert und im Detail, insbesondere im Satz der acht solistischen Hörner, viele Dinge weiter verfeinert. Zudem hat ein Neue Musik souverän meisternder Klangkörper wie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wohl selten Gelegenheit, nach relativ kurzer Zeit ein solch komplex ausgearbeitetes Werk nochmals einzustudieren. Andreas Hermanns Dirigat wirkt leider ziemlich steif: Er schlägt sehr mechanisch, dazu mit der Linken, die nur Einsätze gibt, meist parallel. Nur oberhalb von Forte scheint er auch körperlich mitzugehen. Kein Vergleich mit Peter Eötvös, jedoch darf der äußere Eindruck nicht darüber hinwegtäuschen, dass Hermann anscheinend mit dem Orchester ganz ausgezeichnete Probenarbeit geleistet hat. So funktioniert nicht nur das überragende Solistenensemble der acht Hörner – Carsten Duffin, Ursula Kepser, Thomas Ruh, Ralf Springmann, Norbert Dausacker, François Bastian, Marlene Pschorr (Gast) und Marcin Sikorski – wie vom Komponisten intendiert erneut als ein einziger, atmender Organismus. Auch zahlreiche (teils neue?) leise Bogeneffekte in den Streichern erscheinen nun wie ein zartes Gebläse – die Musik erzeugt sich dadurch sozusagen ständig ihren eigenen „Raum“. Ebenso gebührt der Schlagzeuggruppe ganz besonderes Lob. Jedenfalls gelingt es, die Hörer im Saal zu zwingen, über 40 Minuten jedem noch so winzigem Klangereignis nachzuspüren. Der Applaus beginnt danach erst zögerlich, steigert sich aber, als der 87-jährige Komponist die Bühne betritt, in echte Begeisterung. Die Hörner dürfen sogar die ausgefeilte, absolut verrückte Kadenz kurz vor Schluss von My Melodies noch einmal wiederholen – großartig!

[Martin Blaumeiser, Juni 2023]

Krieg und Frieden bei den Richard-Strauss-Tagen 2023

Der Ort des Konzerts: das Garmischer Kongresshaus

Die Pilsener Philharmonie spielte im Rahmen der Richard-Strauss-Tage 2023 am 17. Juni 2023 unter Rémy Ballots Dirigat Macbeth und Vier letzte Lieder von Richard Strauss, Felix Mendelssohn Bartholdys Symphonie Nr. 3, die Schottische Symphonie, und Robert Volkmanns Ouvertüre zu Shakespeares Richard III. Es sang Sarah Marie Kramer (Sopran).

„Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen, und jeder geht zufrieden aus dem Haus“, möchte man mit Goethe über das Programm der diesjährigen Richard-Strauss-Tage in Garmisch-Partenkirchen sagen. Unzweifelhaft den Höhepunkt bildete das Symphoniekonzert der Pilsener Philharmonie unter Leitung Rémy Ballots am 17. Juni, doch war es eingebettet in eine ganze Reihe weiterer Veranstaltungen unterschiedlichster Art, welche man zwischen dem Eröffnungskonzert am 14. und dem „Ausklang“ am Abend des 18. Juni im Wahlheimatort des Komponisten erleben konnte. „Musikwanderungen“ in und um Garmisch-Partenkirchen boten den Besuchern Gelegenheit, sich mit der Landschaft vertraut machen, vor deren Hintergrund seit 1908 der größte Teil des Straussschen Schaffens entstand. Ein Theaterprojekt des Werdenfels-Gymnasiums setzte sich mit der Oper Ariadne auf Naxos auseinander. Ein Liederabend des Tenors Andreas Schager und der Pianistin Donka Angatscheva kombinierte Strauss mit Schumann und Wagner. Die Wiener Kammersymphonie stellte Auszüge aus Straussens Bürger als Edelmann und Tanzsuite nach Couperin Werken von Schreker, Mahler und Korngold gegenüber. Im Eröffnungskonzert der Musikkapelle Partenkirchen und im Platzkonzert des Gebirgsmusikkorps der Bundeswehr fanden sich Blasorchesterstücke des Garmischer Meisters neben Militär- und Populärmusik seiner und unserer Zeit wieder. Zwei Kabarettnachmittage lockerten das Festprogramm humoristisch auf.

Ein ausgesprochenes Motto war dem Symphoniekonzert nicht beigegeben, doch die Zusammenstellung der Werke verriet, daß man es mit einem Programm zum Thema „Krieg und Frieden“ zu tun hatte. Zwei Programmmusikstücke, denen entsprechende Handlungen ausdrücklich zugrunde liegen, Straussens Macbeth op. 23 und Robert Volkmanns Ouvertüre zu Shakespeares Richard III. op. 68, umrahmten mit Felix Mendelssohn Bartholdys Schottischer Symphonie op. 56 ein Werk, das zwar vorrangig als romantisches Portrait schottischer Landschaft und schottischen Nationalcharakters angesprochen werden kann, jedoch im letzten Satz, ursprünglich „Allegro guerriero“ betitelt, durchaus kämpferische Töne anschlägt und mit einer Coda schließt, die sich als „Friedenshymne“ charakterisieren lässt. Den Schluss des Abends bildeten die Vier letzten Lieder von Richard Strauss, gesungen von der kanadischen Sopranistin Sarah Marie Kramer, mit welchen nicht nur die britischen Inseln, sondern auch die kriegerische Thematik verlassen wurden. Man erlebte diese letzte vollendete Arbeit des Komponisten – Strauss schrieb sie 60 Jahre nach dem Macbeth – im Kontext des Programms also als das, was sie rein entstehungsgeschichtlich in der Tat ist: als Nachkriegsmusik.

Rémy Ballot hat sich in den vergangenen Jahren vor allem als Dirigent der Bruckner-Tage (sein bei Gramola erscheinender Bruckner-Zyklus nähert sich der Vollendung) sowie an der Spitze des Klangkollektivs Wien mit Werken der Wiener Klassiker einen guten Namen gemacht. Umso interessanter war es, ihn nun mit Repertoire abseits dieser beiden Schwerpunkte zu erleben. Man geht gewiss nicht fehl, Ballot einen der form- und strukturbewusstesten Musiker unserer Tage zu nennen. Sein Dirigieren ist schlicht funktional und lässt „choreographische“ Elemente ganz bei Seite. Umso wichtiger ist ihm der stetige Kontakt zu den einzelnen Mitgliedern des Orchesters. In der Tat macht er aus ihnen allen instrumentale Choristen, die um die Bedeutung ihrer Stimme im Zusammenhang wissen, aufeinander hören, miteinander im Dienste der Gesamtwirkung agieren können, sodass es nicht Wunder nimmt, dass unter seinem Dirigat die Melodiebögen in langem Atemzügen auszuschwingen pflegen, und der Darstellung des Geflechts kontrapunktischer Stimmen besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Kunst, die einzelnen Momente einer musikalischen Handlung in ihrer Einzigartigkeit auszukosten und zugleich das Ganze im Blick zu behalten, das Geschehen zum Ziel zu führen, beherrscht Ballot wie nur wenige unter den Heutigen. Sehr schön zeigte sich dies gleich anhand des Macbeth. Der Vorschrift „un poco maestoso“ trug er mit einem relativ breiten Grundtempo Rechnung, das optimal dazu geeignet war, bei den martialischen Themen des Titelhelden den Eindruck einer ehrfurchtgebietenden, finsteren Gestalt aufkommen zu lassen. Ebenso wurde der einschmeichelnden Melodik der Lady Macbeth genug Raum zur Entfaltung geboten. In der zweiten Hälfte des Stücks, worin Macbeth seine gewonnene Krone in minutenlangen, lautstarken Kämpfen mit zahlreichen nach oben schießenden Motivsequenzierungen verteidigen muss, erlebte man, wie das Pulver nicht vorschnell verschossen, sondern durch kluge Dosierung der Kräfte immer noch eine Möglichkeit der Intensivierung gefunden wurde. Zugleich wurde deutlich, welch ein großartiger Meister der Orchesterpolyphonie Strauss schon in dieser frühesten seiner Tondichtungen gewesen ist. Die sorgfältige Darbietung des kontrapunktischen Gefüges verlieh auch dem Festmarsch in der Mitte den nötigen Prunk und ließ die bläserbetonte, leise Episode mit dem choralartigen Einwurf der hohen Streicher (bei etwa ¾ der Spieldauer) zu einem heimlichen Höhepunkt des Werkes werden – manchmal sind Strauss und Bruckner einander gar nicht so fern.

In der Schottischen Symphonie fesselten sofort die Zartheit der einleitenden Takte und die sorgfältige Phrasierung, mit der die anschließenden Sechzehntelfiguren der Violinen zum Sprechen gebracht wurden. Ein besonderes Augenmerk legte der Dirigent offenbar auf die Hervorhebung instrumentatorischer Feinheiten. Nicht nur der Nachvollziehbarkeit der thematischen Arbeit kam dies zugute, etwa wenn in der Durchführung des Scherzos das Hauptmotiv fröhlich durch die verschiedenen Orchestergruppen jagt. Auch Phänomene rein klangfarblicher Natur kamen trefflich zur Wirkung. Wann hört man beispielsweise die Farbtupfer der Trompeten im letzten Satz nach Buchstabe E einmal so deutlich? Ganz hervorragend gelang Ballot die Coda des Finales. Die ungewöhnliche Gestaltung dieses Schlusses, in welchem Mendelssohn nicht nur zu Gunsten eines neuen Themas auf die Verwendung der Hauptgedanken des Satzes verzichtet, sondern ihn auch vom vorangegangenen Hauptteil durch ein langes, auskomponiertes Diminuendo deutlich abgrenzt, birgt die Gefahr in sich, dass die Coda als unorganisches Anhängsel erscheint, gelingt es dem Dirigenten nicht, den Übergang schlüssig darzustellen. Ballot bannte die Gefahr, hielt die Spannung aufrecht und ließ sie sich schließlich in den A-Dur-Hymnus hinein auflösen, der somit als Zielpunkt der ganzen Symphonie erschien. Auch die Klangfarbenarbeit feierte wieder einen Triumph. Mendelssohn wünscht hier, wie die Vorschrift „marcato assai la melodia“ zeigt, keineswegs einen glatten, geschmeidigen Vortrag. Zugleich muss es, dem Charakter der Melodie gemäß, kantabel klingen. Durch konsequente Umsetzung dieser Vorgaben gelang Ballot und den Pilsenern ein feierlicher Dankgesang aus rauen Highlander-Kehlen.

Volkmanns Ouvertüre zu Richard III., ein im 19. Jahrhundert viel gespieltes Werk, für das sich auch später noch große Dirigenten wie Carl Schuricht und Gennadij Roshdestwenskij einsetzten, bot nach Strauss und Mendelsohn eine dritte, nicht minder interessante Darstellung von „Krieg und Frieden“. Mendelssohn lässt dem „kriegerischen“ Allegro des letzten Satzes einen strahlenden Hymnus folgen, während Strauss nach dem Untergang von Lord und Lady Macbeth ihre Gegner mit Fanfaren in der Ferne Sieg und Frieden feiern lässt, bevor in den letzten Takten ein Motiv, das man das „Motiv des Ehrgeizes“ nennen kann, den Hörer erneut anspringt und davon zu künden scheint, dass der nächste Gewaltherrscher schon in den Startlöchern steht. Auch bei Volkmann fehlen die Fanfaren nicht, die, nach einer düsteren Einleitung und einer für ein Werk von 1871 geradezu expressionistischen Schlachtenmusik, das Ende des Krieges verkünden. Ein verhalten-sublimes Adagio, den langsamen Sätzen des späten Beethoven stil- und geistesverwandt, schließt sich an, mit dem das Werk still ausklingt. Auf diesen Schluss hin entwickelte Ballot das Geschehen und fasste damit die stark kontrastierenden Teile dieser Symphonischen Dichtung (als welche man die Ouvertüre sehr wohl bezeichnen kann) unter einem großen Spannungsbogen zusammen.

An die beruhigte Stimmung des Volkmannschen Schlusses konnten nun Straussens Vier letzte Lieder direkt anknüpfen. Diese Stücke sind vom Mythos des großen Abschiedswerkes umwoben. Ich kann sie weder einen traurigen, noch wehmütigen Abschied nennen, als welcher die wenig älteren Metamorphosen durchaus erschienen wären, hätte Strauss mit ihnen sein Gesamtwerk beschlossen. Verglichen mit diesem im Schaffen des Komponisten raren Bekenntnis persönlicher Betroffenheit wirken die Lieder emotional distanziert – oder, wenn man anders formulieren möchte: wie Dokumente eines, der sich wieder gefangen hat. Und so verabschiedet sich Strauss als der, als den man ihn aus dem Großteil seiner früheren Werke kennt: als Genussmensch und virtuoser Klangzauberer. Die Aufführung ließ so recht deutlich werden, mit welchem Feinsinn Strauss seine Ideen auf das Orchester verteilt, welche Lebendigkeit in den einzelnen Klanggruppen herrscht und wie sie einander wechselseitig beleuchten. Sarah Marie Kramer begegnete den hohen Anforderungen an ihre Partie mit stupender Meisterschaft und unerschöpflicher stimmlicher Energie, wirkte inmitten der von Ballot fein abgestuften Orchestermassen als die kräftig pulsende Hauptschlagader des Ganzen. Ein würdiger Abschluss eines großartig gelungenen Konzerts!

[Norbert Florian Schuck, Juni 2023]

Bewegende Preisverleihung 2023 der Ernst von Siemens Musikstiftung im Münchner Herkulessaal

Am Freitag, 26. 5. 2023 um 20 Uhr fand – anstatt im Prinzregententheater diesmal im Herkulessaal – die Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises 2023 an den britischen Komponisten Sir George Benjamin statt – wieder gemeinsam mit den Förderpreisen für junge Komponisten/Komponistinnen und Ensembles. Im Rahmen des Festaktes erklangen zudem live zwei Schlüsselwerke des Hauptpreisträgers, vorgetragen vom Ensemble Modern: „At First Light“ unter der Leitung Christian Karlsens sowie „Into the Little Hill“, dirigiert vom Komponisten selbst.

Sir George Benjamin, Keren Motseri, Helena Rasker, Ensemble Modern © Stefanie Loos

Annekatrin Hentschel vom Bayerischen Rundfunk moderierte diesmal die Preisverleihung der Ernst von Siemens Musikstiftung. Entgegen weitverbreiteter Meinung ist der Besuch dabei keineswegs nur geladenen Gästen vorbehalten, sondern die Veranstaltung stand – wie bisher – auch dem interessierten Publikum offen, wenn man sich vorher bei der Stiftung anmeldete. Aber natürlich waren zahlreiche „Promis“ der Neue-Musik-Szene anwesend, vielleicht nicht ganz so viele wie im vorigen Jahr. In seinem Grußwort warb der Komponist und Musikmanager Peter Ruzicka – nach einem erschreckenden Szenario, wo Neue Musik nur noch online, gestreamt oder auf Konserve, möglicherweise sogar durch künstliche Intelligenz generiert, stattfinden könnte – nachdrücklich für den Erhalt einer lebendigen, zeitgenössischen Musikkultur mit den dafür unabdingbaren finanziellen Mitteln und dankte der Stiftung für Ihren ungebrochenen Einsatz für diese nur scheinbare „Nische“, die sich dann jedoch stetig als wichtiger gesellschaftlicher Impulsgeber entpuppt.

Die aktuellen Förderpreisträger Komposition wurden sofort bejubelt, nachdem die in diesem Jahr besonders gelungenen filmischen Kurzporträts das Publikum mehr als neugierig auf deren Musik gemacht haben dürften, da Livebeiträge den zeitlichen Rahmen gesprengt hätten. Jedenfalls wurde Johannes List den ungewöhnlich individuellen Künstlerpersönlichkeiten der Kroatin Sara Glojnarić (* 1991), des Briten Alex Paxton (* 1990) und des US-Amerikaners Eric Wubbels (* 1980) mal wieder auf äußerst sympathische Weise gerecht. Der scheidende Vorsitzende des Kuratoriums, Thomas Angyan, übernahm dann die Preisverleihung – zusammen mit den Förderpreisen Ensemble an Vertreter des New Yorker Vokalensembles ekmeles bzw. von NAMES (New Art and Music Ensemble Salzburg).

Sehr persönlich geriet die Laudatio auf den Hauptpreisträger, den Komponisten und Dirigenten Sir George Benjamin (Jahrgang 1960), durch den Philosophen John Hyman. Kein Wunder, denn die beiden verbindet eine enge Freundschaft seit Kindertagen. Hyman scheute bei den überragenden Hörfähigkeiten Benjamins nicht den Vergleich mit Mozart, erwähnte die Schönheit seiner Skizzen und lobte generell dessen Ernsthaftigkeit und Präzision. Gewisse Wunderkind-Attribute wären hier in der Tat nicht übertrieben: Zu komponieren begann der junge Brite mit sieben, mit sechzehn wurde er bereits Schüler Olivier Messiaens. Und sein Einsatz für die Neue Musik als Dirigent ist herausragend, man erinnere nur an das von ihm geleitete Stifterkonzert 2016, das sofort die hohen Maßstäbe für diese Reihe setzte. Benjamin, offenkundig durch Erscheinung wie seinen Dirigierstil ein enorm einfühlsamer und empathischer Mensch, konnte bei seiner kurzen Dankesrede – unter Einbeziehung der mittlerweile 30-jährigen Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern – eine gewisse Rührung nicht verbergen.

Das Frankfurter Ensemble hatte zum Auftakt des Abends Benjamins frühes At First Light (1982) für Kammerorchester aufgeführt – unter dem Schweden Christian Karlsen, der schon als 20-Jähriger mit Karlheinz Stockhausen zusammengearbeitet hat. Optisch wirkte sein Dirigat ein wenig eckig, aber musikalisch sehr suggestiv; Karlsen hatte Klang und Dynamik völlig im Griff. In Deutschland ist er gerade dabei, seinen Wirkungskreis zu erweitern. Wer ihn noch nicht kennt, sollte die soeben erschienene CD mit Musik Tōru Takemitsus (BIS) anhören, die seine bemerkenswerten Qualitäten unterstreicht. Nach der Pause trat George Benjamin schließlich selbst ans Pult und begeisterte mit einer hochspannenden Darbietung seiner Kammeroper (lyric tale) „Into the Little Hill“ (2006)– die erste Zusammenarbeit mit dem Librettisten Martin Crimp, der bislang drei weitere Opern folgten (Picture a day like this wird im Juli uraufgeführt werden). Man spürte sofort, welch enges Vertrauensverhältnis hier zwischen Ensemble und Dirigent gewachsen ist: Benjamin brachte mit präzisen, sparsamen Handbewegungen alles in schönsten Einklang. Das Stück – eine moderne Version des Rattenfänger-Mythos – wird lediglich von zwei Sängerinnen gestemmt, die verschiedenste Rollen einnehmen: Dies bewältigten Keren Motseri und Helena Rasker grandios. George Benjamin hat bislang zwar nur knapp 45 Kompositionen veröffentlicht, aber seine Partituren zeugen von einer sensationell präzisen und differenzierten Klangvorstellung, stets perfekt ausformuliert und ohne jede plumpe Effekthascherei. Für diese emotional unmittelbar verständliche Musik gab es natürlich wieder völlig verdient Ovationen.

[Martin Blaumeiser, 3. Juni 2023]

Die Rückkehr orchestraler Opulenz – Werke von Lim, Verunelli und Dusapin bei der musica viva

Liza Lim und Franck Ollu © Astrid Ackermann/BR

Anschließend an die – für 2021 nachgeholte – Verleihung der „Happy New Ears“ Preise in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste spielte am 12.5.2023 das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks im Herkulessaal bei der musica viva den 2. Teil des Annunciation Triptychs: „Mary / Transcendence after Trauma“ der Preisträgerin für Komposition, Liza Lim. Anschließend erklangen die Uraufführung von Francesca Verunellis „Accord, chord and tune“ für Akkordeon und Orchester (Solist: Krassimir Sterev) sowie „Morning in Long Island“ von Pascal Dusapin. Es dirigierte Franck Ollu.

Auch die Verleihung der im 2-Jahres-Turnus vergebenen Happy New Ears Preise der Hans und Gertrud Zender-Stiftung für 2021 konnte coronabedingt erst jetzt in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste nachgeholt werden. Wolfgang Rathert hielt die Laudationes und betonte bei der Preisträgerin für Komposition, der Australierin Liza Lim, die Weltbezogenheit und das politische Engagement ihrer Musik. Der Preisträger für Publizistik zur Neuen Musik, der italienische Musikwissenschaftler Gianmaria Borio, wurde für sein umfangreiches Schaffen beiderseits des Atlantiks – darunter eine 4-bändige Geschichte der Darmstädter Ferienkurse – gewürdigt. Die kurzen, umso prägnanteren Danksagungen der Ausgezeichneten hielten diese in perfektem Deutsch – und erstmals in diesem Rahmen erklang ein kleiner musikalischer Beitrag: Matthew Sadler spielte Lims faszinierendes Trompetensolo Wild Winged-One.

Das Symphoniekonzert beginnt mit Liza Lims 2. Teil ihres Annunciation Triptychs: Mary / Transcendence after Trauma (2020/21), mit dem nun hoffentlich die Reihe der „verpassten“ musica viva Uraufführungen – das Triptychon wurde stattdessen 2022 in Köln von Cristian Măcelaru aus der Taufe gehoben – endet. Ganz im Gegensatz zu Lims zuletzt im Herkulessaal gespielter, hochpolitischer Performance instrumentalen Theaters Extinction Events and Dawn Chorus (wir berichteten) beschäftigt sich Lim hier mit dem Mysterium von Mariä Verkündigung und bedient sich dabei einer gewaltigen Palette orchestraler Klangfarben, deren Opulenz sie mit einer Meisterschaft beherrscht, die in jedem Detail absolut überzeugt. So gut wie nichts ist dabei konventionell oder gar ein Rückgriff in die Kiste der Neo-Romantik. Vom zarten Beginn der Spring Drums und Streicher bis zu ehrfurchtgebietenden Blechbläserglissandi – die die Komposition inspirierenden Texte schlagen von der Geschichte der Verkündigung eine Brücke bis zur Reflexion der Offenbarung – zeugt das gesamte, ca. 18-minütige Stück von tiefer spiritueller Versenkung, auch gerade in eher lauten Abschnitten. Ergreifend der kurze, zentrale Moment Her wild consent – nur mit Basstrommel, Horn und Klavier und die folgenden apokalyptischen Visionen. Lim benutzt gekonnt vierteltönige Einfärbungen und beeindruckende spektrale Klänge, besonders in den Bläsern. Dies alles kontrolliert der französische Spezialist Franck Ollu – er dirigiert ohne Taktstock und mit links – mittels klarer Impulse und genauer dynamischer Führung, bleibt dafür emotional recht unbeteiligt, vor allem im folgenden Beitrag.

Francesca Verunelli (*1979) erhielt 2020 den Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung. In ihrem Uraufführungsstück mit dem technischen, neutral erscheinenden Titel Accord, chord and tune geht die Komponistin entschieden radikalere Wege: Konsequente Mikrotonalität erhält hier eine im wahrsten Sinne des Wortes unerhörte Bedeutung. Der Solopart wurde eigens auf das spezielle Viertelton-Akkordeon Krassimir Sterevs abgestimmt. Ein Solistenkonzert im traditionellen Sinne hören wir jedoch nicht: Die besondere Klanglichkeit wird in einen einheitlichen Organismus von Solist und Orchester integriert; das Akkordeon tritt praktisch kaum jemals in den Vordergrund. Aus den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten werden beständig neuartige Klänge synthetisiert, wo lediglich die Harfen stellenweise vertraute Akzente setzen. Mit seiner Überladenheit an instrumentalen Effekten, wodurch immerhin ein unterbrechungsloser, stimmiger Klangstrom gelingt, gehört Verunellis Stück zu den vielen „überinstrumentierten“ Orchesterwerken der letzten Jahre, die dann doch ohne jede Emotionalität irgendwie auf der Stelle treten. Das Publikum ist allerdings wohl anderer Meinung und bedenkt die Beteiligten mit großem Applaus.

Nach der Pause kommt Pascal Dusapin mit seinem gut halbstündigen „Konzert Nr. 1 für großes Orchester“ Morning in Long Island von 2010 zum Zuge. Dusapin (geb. 1955), Schüler u. a. von Iannis Xenakis, gehört seit langem zu den wichtigsten Komponisten Frankreichs; entsprechend groß ist seine Souveränität im Umgang mit dem Orchester. Inspiriert durch einen Spaziergang an den eiskalten Strand Long Islands im Jahre 1988 schildert Dusapin nicht etwa konkrete Naturstimmungen, sondern setzt die Erinnerungen an seine damaligen Empfindungen musikalisch um. Der stark durch Literatur – namentlich Flauberts – geprägte Komponist begibt sich auch hier auf eine Metaebene, nie simpel programmatisch. So etwas mag heutzutage dennoch altmodisch wirken – gute Musik ist es trotzdem. Nun ist Franck Ollu, höchst vertraut mit Dusapins Schaffen, endgültig in seinem Element, geht insbesondere im rhythmisch mitreißenden, positiv energetischen Schlussabschnitt (swinging) mit seinen amerikanischen Tanzrhythmen voll mit. Dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks muss man an erster Stelle aber für eine höchst gelungene Darbietung des langen, langsamen Mittelteils (simplement) danken, der farblich ungemein ausdifferenziert herüberkommt. Ollu scheint nun glücklich mit dem ganzen Abend zu sein und erhält zusammen mit dem Komponisten verdient begeisterte Zustimmung.

[Martin Blaumeiser, Mai 2023]

Julian Andersons »Exiles« und ein phänomenaler Schostakowitsch unter Manfred Honeck

Am 30./31. März und 1. April 2023 konzertierten Chor- und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Manfred Honeck in der Münchner Isarphilharmonie. Gespielt wurden die Kantate „Exiles“ des britischen Komponisten Julian Anderson (Sopransolo: Julia Bullock) sowie Dmitri Schostakowitschs 5. Symphonie d-Moll op. 47. Unser Rezensent besuchte das erste Konzert am Donnerstag.

© BR/ Astrid Ackermann

Ein Konzertprogramm an drei Abenden nur aus Werken des 20. bzw. 21. Jahrhunderts: Das klappt nun beim BR auch wieder mit den Abos in der Isarphilharmonie – und wie! Vor der Pause spielt das BRSO unter Manfred Honeck samt Chor (Einstudierung: Peter Dijkstra) die eigentlich in München als Uraufführung für Januar 2022 geplante Kantate »Exiles« des Briten Julian Anderson (* 1967). Wegen Corona fiel dieser Termin leider aus, das Stück wurde dann in Berlin aus der Taufe gehoben, und man darf froh sein, dass es jetzt mit absoluten Spitzenkräften doch noch hier zu hören ist. Anderson studierte bei John Lambert, Alexander Goehr, später auch beim französischen Spektralisten Tristan Murail, was großen Einfluss auf die außerordentliche Farbigkeit seiner Orchestersprache hat.

Die etwa 40-minütige Kantate besteht aus fünf Sätzen, von denen nur der zweite und fünfte von der kompletten Besetzung vorgetragen werden. Der knappe erste – für Sopransolo und Orchester – handelt vom inneren „Exil“ des marokkanisch-französischen Komponistenkollegen Ahmed Essyad während der Corona-Lockdowns, vertont dessen prosaischen Email-„Notruf“, der aber ohne Weiteres für die damalige Erstarrung gerade der Kulturszene insgesamt stehen darf. Die US-amerikanische Sängerin Julia Bullock zeigt von Beginn an eine ungemein eindringliche, glaubwürdige Bühnen- und Stimmpräsenz, gewinnt sofort das Publikum, das gerne die ganze Zeit an ihren Lippen hängt. Sie vermag die musikalische Bedeutung des höchst anspruchsvollen Gesangsparts weit über den Text hinaus mit hinreißender Empathie herüberzubringen, auch wenn sie trotz gewaltigen Stimmvolumens und -umfangs stellenweise gegen ein doch riesiges Orchester ziemlich ankämpfen muss. Der relativ weit hinten und oberhalb des Orchesters platzierte Chor des BR hat es in dieser Hinsicht allerdings sogar schwerer – bekannte Einschränkungen des HP 8.

Anderson erweitert dann seine Beschäftigung mit der Vokabel Exil weit über die allen noch präsente Isolation der Corona-Wirren hinaus: auf die Verfolgung des Volkes Israel, Befindlichkeiten während des Exils oder auf dem Weg dorthin. Im zweiten Satz werden hebräische Psalmtexte mit Versen des rumänischen Komponisten Horatio Radulescu – ebenfalls ein Protagonist des Spektralismus im Umfeld Gérard Griseys – verknüpft. Dabei erreicht Manfred Honeck eine fast makellose Synchronisation der Stimmen mit dem übrigen, dichten Geschehen. Dies demonstriert – von beinahe tonalen Passagen über teils aleatorische Klangflächen bis zu die Hörer in einen wohligen Schauer einhüllenden, spektralen Supernovae – erneut Andersons fantastische Orchestrierungskunst. Gerade bei leisen, zugleich komplexen Abschnitten – auch im dritten Satz (doppelchörig a cappella), der die Rettung vieler jüdischer Künstler durch den Diplomaten Varian Fry in Erinnerung ruft – behält Honeck den Überblick, modelliert sicher den Klang und stellt sowohl dessen Härten als auch die oft unfassbaren Schönheiten völlig überzeugend heraus. Bei der Behandlung des Chors merkt man, wie der anwesende Komponist an beste britische Traditionen – von Benjamin Britten bis Jonathan Harvey – anschließt und recht ökonomisch erstaunliche Feinheiten aus den Stimmen herauskitzelt, was der BR-Chor souverän meistert.

Der vierte Satz, diesmal rein instrumental unter Einbeziehung obertonreicher musique concrète vom Soundtrack, schildert die tragische Flucht des später berühmten Musikwissenschaftlers Harry Halbreich vor den Nazis 1942 in die Schweiz. Großartig schließlich der letzte Teil, in dem Psalm 108 mit Apollinaire und Vítězslav Nezvals herrlichem Gedicht Sbohem a šáteček – teils tschechisch, teil englisch – kombiniert wird! Hier gäbe es allerdings den einzigen Kritikpunkt an Andersens Komposition: Die teilweise engmaschige musikalische Vernetzung von gleich drei oder vier Sprachen – Nezval ist schon alleine kaum adäquat ins Englische oder Deutsche zu übersetzen; warum nicht einfach nur beim Original bleiben? – macht dem Hörer das Verständnis unnötig schwer. Dennoch ist das Münchner Publikum, nicht zuletzt wegen der grandiosen Leistung aller Sänger, zu Recht komplett begeistert. Andersons Werk hätte weitere beeindruckende Schätze parat: zum Beispiel Heaven is Shy of Earth

Lässt sich das noch toppen? Antwort: Ja, denn Honecks Darbietung von Schostakowitschs 5. Symphonie von 1937 sollte sich am Donnerstag als wirklich maßstabsetzend erweisen. Hier kommen mehrere glückliche Umstände in idealer Weise zusammen. Das BRSO kennt über Mariss Jansons seinen Schostakowitsch sehr gut, und Honeck hat mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra, dessen Chef er seit bald 15 Jahren ist, für eine Einspielung dieses Werks von 2013 schon einen Grammy erhalten. Der Dirigent bleibt seinem Konzept treu, das sich im Detail merklich von dem Jansons unterscheidet: Honeck wählt hier ungewöhnlich zurückhaltende Tempi, bis auf den letzten Satz. Er erzeugt, vor allem durch Pianissimos ohnegleichen, die in dieser Tonqualität nur Spitzenorchester hinkriegen, enorme dynamische Kontraste – emotional immer tragfähig. Das beginnt mit der großen Steigerung des Kopfsatzes, die nach trügerischer Ruhe total unter die Haut geht. Die Nähe zu Gustav Mahler wird in beiden Mittelsätzen bewusst zelebriert, wobei die unterschwellig stets karikierende Art des russischen Komponisten im Allegretto wunderbar schräg wirkt. Das Largo verströmt eine Ruhe, wie sie der Rezensent dort noch nie so intensiv empfunden hat: gnadenlose Erhabenheit der Natur. Und Honecks Lieblingsstelle, die einsamen Holzbläsersoli über sibirisch frostigen Streichertremoli, wird so zum ergreifenden Höhepunkt der gesamten Symphonie. Das monströs martialische Finale gelingt mit ironisch überpointiertem Schluss schlicht phänomenal, danach folgt selten einmütiger, minutenlanger tosender Applaus für Orchester und Dirigent.

[Martin Blaumeiser, 1. April 2023]

Matthias Pintscher als grandioser Motivator beim BRSO

Im Symphoniekonzert der musica viva vom Freitag, 17. März 2023, brachte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks neben „Shaar“, einem Streicher-Klassiker Iannis Xenakis‘ (1922–2001) noch zwei großbesetzte Werke zu Gehör, die während der bzw. als Reaktion auf die Corona-Lockdowns von 2020 entstanden sind: Chaya Czernowins „Atara“ mit den beiden Gesangssolisten Sophia Burgos und Holger Falk. Außerdem dirigierte der Komponist Matthias Pintscher sein eigenes Stück „Neharot“.

© BR/ Astrid Ackermann

Die Besucherzahlen der musica viva Symphoniekonzerte im Münchner Herkulessaal haben wohl endlich die Corona-Delle hinter sich gelassen und die Neugier des Münchner Publikums auf ganz moderne Klänge scheint wieder ungebrochen. Wenn dann noch der Komponist und Dirigent Matthias Pintscher zu Beginn einen wegweisenden, mittlerweile als Klassiker geltenden Iannis Xenakis aufs Programm setzt, sind Vorfreude und Erwartungen entsprechend hoch. Shaar (1982), für ein teilweise komplett aufgefächertes, großes Streicherensemble – hier mit 52 Spielern musiziert –, arbeitet mit Clustern, rhythmisch impulsiven Repetitionen und ausladenden Glissandi. Insbesondere letztere, von ihm früher geradezu inflationär eingesetzt, hat der Komponist dabei dermaßen kultiviert, dass man statt von einer Klangflächen– besser von einer Klangraumkomposition sprechen muss, die eigentlich ganz logisch ihre dichtesten Momente im Unisono erreicht. Unter berufenen Dirigenten – wie etwa Lothar Zagrosek – lief das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bei Xenakis schon immer zu Höchstform auf. Das energetische Stück kann unter Pintschers strukturell glasklarer, emotional immer mitgehender Leitung wieder von Anfang an begeistern: ein genüsslicher Klangschauer.

Zu Pintschers besonderen Fähigkeiten als Komponist gehört längst der differenzierte Umgang mit der ganzen Palette an Orchesterfarben und modernen Spielweisen. Dabei ist der Einsatz des riesigen Instrumentariums aber nie Selbstzweck, sondern eher ökonomisch auf das Erreichen ausdrucksstarker Höhepunkte hin angelegt, wie man sie nicht zuletzt in guter Filmmusik vorfindet. Entstanden angesichts des großen Sterbens in New York im Frühjahr 2020, dominieren in Neharot – hebräisch für Flüsse wie Tränen stehend – dunkle Farben, die sich gerne mal gespenstisch zusammenballen und sofort wieder quasi ins Leere auflösen können. Zentral wird für den 24-Minüter dann ein Trauer-Kaddish der Solotrompete, das Ganze schließlich zum „Tombeau“, gleichzeitig jedoch irgendwie tröstlich. Pintscher lenkt die ungeheuren Energieströme punktgenau – das BRSO folgt dem offenkundig mit Hingabe, klingt fantastisch – und erhält folglich enormen Beifall für ein überaus gelungenes Orchesterstück.

Wie Pintscher lehrt und lebt Chaya Czernowin (* 1957) nun hauptsächlich in den USA. Und ebenso wurde Atara – der Titel bezieht sich auf das integrierte Gedicht Zohar Eitans – durch den menschlichen Kontrollverlust angesichts dann doch immer noch nicht zu bändigender Naturgewalten inspiriert. Noch dunkler als in Neharot – anfangs grummeln tiefste Bässe vom Sampler-Keyboard – setzt die Komponistin ein unvorhersehbares Spiel der Kräfte in Gang. Ausdrücklich als Lamento bezeichnet, wirken hierbei die beiden nach einer Viertelstunde einsetzenden verstärkten Stimmen meist irritierend zerbrechlich – souverän, aber vielleicht selbst nicht völlig überzeugt von dem, was sie da vokal anbieten müssen: Sophia Burgos und Holger Falk. Sowohl die vokalen Effekte als auch die enorm einfallsreiche, abstrus zerfaserte Orchestrierung geraten so – durchaus gewollt – unorganisch, unberechenbar und eher verstörend. Chernowins Kunst liegt gerade darin, über fast 40 Minuten zumindest Spannung aufrecht zu erhalten und immer wieder Neues zu bringen, obwohl dadurch der Zerfall ins Episodische vorprogrammiert ist – erstaunlich wahrhaftig, trotzdem ein wenig ermüdend. Musikalisch grandios in jedem Falle die Leistung des hochmotivierten BRSO und des Dirigenten Matthias Pintscher, den man bei Neuer Musik auch in München nicht mehr missen möchte: Die musica viva lebt!

[Martin Blaumeiser, 18. März 2023]

Wien würdigt Kalevi Aho zum 74. Geburtstag

Nur wenige Komponisten unserer Zeit können auf ein so umfangreiches Schaffen zurückblicken wie der 1949 im finnischen Forssa geborene Kalevi Aho, Autor von 17 Symphonien, mehr als doppelt so vielen Instrumentalkonzerten und gut sechs Dutzend Werken für kammermusikalische Besetzungen vom Solostück bis zum Sextett. Einige dieser Werke gehören zu den meistgespielten zeitgenössischen Kompositionen ihrer jeweiligen Gattungen. So erlebte beispielsweise das Schlagzeugkonzert Sieidi in den zehn Jahren seit seiner Premiere 2012 bereits über 120 Aufführungen. In seiner Heimat ist Aho längst eine etablierte Größe des Musiklebens, wie nicht zuletzt das seit 2016 in seiner Geburtsstadt veranstaltete Festival Musica Kalevi Aho verdeutlicht. Aber auch außerhalb Finnlands weiß man den Meister zu würdigen. In Wien nahmen Musiker und Musikwissenschaftler den 74. Geburtstag des Komponisten am 9. März 2023 zum Anlass, mit einem Kammerkonzert und einer Gesprächsrunde an den beiden vorangegangenen Tagen gleichsam in das Jubiläum hinein zu feiern. Kalevi Aho wirkte an beiden Veranstaltungen mit.

Im Konzert, das am 7. März im Gläsernen Saal des Wiener Musikvereins stattfand, spielten das Violinistenehepaar Rémy und Iris Ballot, auch bekannt als Dirigent und Konzertmeisterin des Wiener Klangkollektivs, und die Pianistin Anika Vavić. Zwei Kompositionen Kalevi Ahos bildeten den Rahmen des Programms. Dazwischen waren Werke verschiedener anderer Komponisten zu hören: von Ahos verehrtem Lehrer Einojuhani Rautavaara, vom Übervater der finnischen Musik Jean Sibelius und von den beiden russischen Meistern Sergej Prokofjew und Dmitrij Schostakowitsch – die meisten davon mit einem mehr oder weniger deutlichen Bezug zu Wien. Nur in den Fünf Stücken für zwei Violinen und Klavier, einem Arrangement verschiedener Nummern aus Ballettsuiten und Filmmusiken Schostakowitschs durch Lewon Atowmjan, fanden alle drei Instrumente zusammen. Das übrige Programm bestand aus Solo- und Duowerken. Man hätte den Abend schwerlich eindrucksvoller eröffnen können als mit Rémy Ballots Darbietung von In memoriam Pehr Henrik Nordgren, einem Solostück, das Kalevi Aho 2009 zu Ehren des im Jahr zuvor gestorbenen großen Komponistenkollegen geschrieben hat. Ballot ließ die Musik sich mit rhapsodischer Spontaneität entfalten, ohne darüber den strengen, konsequenten Aufbau des Werkes zu vergessen. Die melismatischen Abschnitte und die choralartigen Doppelgriffpassagen gingen auseinander hervor wie Vorgesang und Responsorien, es entstand die bezwingende Wirkung eines schamanischen Trauerrituals. Hervorgehoben verdient noch zu werden, mit welcher Sicherheit Ballot eine äußerst leise Passage in höchster Lage meisterte, in der die Musik sich kaum mehr hörbar vor dem rauschenden Hintergrund des Bogenstrichs abspielt. Anika Vavić, die Ballot in Prokofjews Fünf Melodien op. 35a eine einfühlsame Begleiterin war, zeigte in der Suggestion diabolique op. 4/4 des gleichen Komponisten ihre Virtuosität, bevor sie sich in Sibelius‘ Impromptu op. 5/6, dem Tempo di valzer aus Prokofjews Klaviersonate Nr. 6 und Schostakowitschs Lyrischem Walzer & Romanze aus den Puppentänzen op. 91b als Meisterin der Charakterisierungskunst erwies. Durch alle Stücke, die gewissermaßen die Ausstrahlung des Wiener Walzers in andere Musikkulturen verdeutlichen, pulste jener dezente Schwung, der den Walzer erst zum Walzer macht. Ausgezeichnet gelang der Pianistin die verschiedenen Lagen des Klaviers gegeneinander abzuheben, sodass die einzelnen Stimmen miteinander dialogisierten und sich zeigte, wie farbig die Komponisten auf dem Klavier „instrumentieren“ konnten. Dieses klangliche Feingefühl kam auch den zwei Stücken Der Tod der Gottesmutter und Zwei Dorfheilige aus Einojuhani Rautavaaras Klavierzyklus Ikonen sehr zugute. Vavićs sicheres rhythmisch-melodisches Gespür ließ zudem die volksmusikalischen Wurzeln der Musik deutlich werden. Als drittes Stück Rautavaaras war eine Erinnerung an dessen Wiener Studienjahre zu hören, die den dritten Satz seiner Suite Lost Landscapes für Violine und Klavier bildet und nach der damaligen Wohnadresse des Komponisten Rainergasse 11, Vienna heißt. In dieser tiefempfundenen Elegie fand Anika Vavić in Iris Ballot ihre Partnerin an der Violine, und die Aufführung zeigte, dass Frau Ballot ihrem Manne im feinfühligen Gestalten der Phrasen, in der Sorgfalt der Tongebung und im Erfassen der melodischen Bögen nicht nachsteht. Die bereits erwähnten Schostakowitsch-Bearbeitungen hätten sich auch als heiterer Kehraus geeignet, doch damit sollte das Konzert noch nicht zu Ende sein. Der Abschluss blieb einer Uraufführung vorbehalten. Kalevi Ahos Fragen für zwei Violinen entstanden 2022 als Auftragswerk anlässlich der Hochzeit von Iris und Rémy Ballot. Das gut zehnminütige Stück ist ein veritables Gespräch in Tönen. Ein Instrument „fragt“, das andere „antwortet“, die Motive wechseln zwischen ihnen hin und her, werden variiert und fortgesponnen, wie man im Gespräch von einem ins andere kommt. Im Laufe des Werkes tauschen die beiden Violinen wiederholt die Rollen. Auch gibt es Abschnitte, die weniger nach Frage und Antwort klingen als nach gemeinsamer Erörterung eines Sachverhalts. Aho ist hier ein höchst feinsinniges und abwechslungsreiches Duo gelungen, das zwei einander ebenbürtige, technisch starke Spieler, die zeigen wollen, wie gut sie aufeinander hören können, vor lohnende Aufgaben stellt. Die Ballots haben sich „ihr“ Werk ganz zu eigen gemacht und brachten es aufs erfreulichste zum Sprechen, wobei zwischen beiden eine bewundernswerte Ausgeglichenheit herrschte. Eine solch innige Verbindung mit- und ein solch behutsames Eingehen aufeinander dürfte dem Komponisten als Ideal wohl vorgeschwebt haben.

Das Konzert bestand nicht nur aus musikalischen Beiträgen. Durch den Abend führte Peter Kislinger, der wohl beste Kenner des Ahoschen Schaffens in Österreich, der einem größeren Publikum vor allem durch seine Beiträge im Österreichischen Rundfunk (Ö1) als Förderer zeitgenössischer und Entdecker wertvoller, in Vergessenheit geratener Musik der Vergangenheit bekannt ist. Seine lebendigen Einführungen in die jeweiligen Stücke gaben dem Konzert ebenso zusätzlichen Wert wie die wiederholten kurzen Gespräche mit dem Komponisten. Kalevi Aho sprach u. a. über seine Freundschaft mit Pehr Henrik Nordgren und über Einojuhani Rautavaara, der gerade deswegen ein sehr guter Lehrer war, weil er es verstand, sich in die Werke seiner Schüler hineinzuversetzen und sie zu ermutigen, ihren eigenen Stil zu entwickeln. Auch über Ahos gegenwärtige Projekte konnten die Zuhörer etwas erfahren. Der Komponist hat gerade den Kopfsatz seiner Achtzehnten Symphonie vollendet, auch sei ein Orchesterwerk in Arbeit, das die Fragen aufgreift, aber anders weiterführt.

[Korrektur, 16. März 2023: Nach Mitteilung der Kalevi Aho Society wurde das Doppelkonzert für Violine, Violoncello und Orchester, welches am Anfang die Fragen zitiert, bereits am 18. Dezember 2022 vollendet.]

Am folgenden Tage leitete Dr. Andreas Holzer an der Universität für Musik und darstellende Künste eine Gesprächsrunde, an der neben Kalevi Aho auch Rémy Ballot, Peter Kislinger und die junge japanische Komponistin Reina Yoshioka teilnahmen. Angelpunkte des Gesprächs waren fünf Punkte, die Aho einst in einem Artikel als Aufgaben für die Komponisten unserer Zeit ausgemacht hatte:

1) Die Wiederentdeckung des Publikums
2) Die Suche nach einem Ausweg aus einer hermetischen Avantgarde samt Stärkung der Verbindung zur Vergangenheit
3) Die Stärkung der gesellschaftlichen Dimension von Musik
4) Die Entwicklung von Strategien, den Elfenbeinturm abzutragen
5) Der Komponist müsste fähig sein, der Musik tiefe emotionale Ausdrucksqualitäten zu verleihen

Aho berichtete aus dem finnischen Musikleben, wo zeitgenössische Musik ein fester Bestandteil regulärer Konzerte ist und nach wie vor zahlreiche neue Opern mit der Aussicht entstehen, in den namhaften Theatern des Landes zur Aufführung zu gelangen. Er selbst möchte Musik schreiben, die vom Publikum gern gehört und von Musikern gern gespielt wird. Sein erster Zuhörer ist er selbst: „Ich komponiere Musik, die ich selbst hören möchte.“ Als regelmäßig mit Aufträgen bedachter Komponist, trifft er sich sich vor der Arbeit an einem bestellten Werk mit den Musikern, für die es entstehen soll: „Zuerst kommen die Musiker zu mir und spielen mir vor. Dann denke ich an ihre Persönlichkeit und versuche so zu schreiben, dass das Werk für die Musiker sitzt. Wenn es für einen Musiker sitzt, dann wird es auch für andere Musiker annehmbar sein können.“ Aho gehört nicht zu denjenigen Komponisten, die um jeden Preis originell sein wollen: „Der Stil hängt davon ab, was man sagen möchte. Ich möchte nicht in einem Personalstil komponieren, denn dann verfällt man in Klischees. Ich mache mir klar, was ich sagen möchte. Der Stil kann sich von Werk zu Werk ändern, was sich nicht ändert, ist die Persönlichkeit des Komponisten.“ Dies ist einer der Gründe, warum der mitteleuropäische Modernismus, wie er sich letzten Endes in der Darmstädter Schule manifestierte, für ihn etwas Altmodisches ist. Großen Einfluss auf sein Schaffen hatte dagegen das Studium ursprünglicher musikalischer Phänomene außerhalb Europas: „Die Lösungen für Probleme fand ich nicht im mitteleuropäischen Modernismus, sondern ich habe mich mit Indischer und Arabischer Musik befasst. Ich habe seitdem oft arabische Instrumente verwendet und ein Buch über arabische Rhythmen geschrieben.“ Mit Jean Sibelius hat sich Aho viel beschäftigt. Er kennt sein Schaffen gut, sieht sich ihm durchaus innerlich verwandt, orientiert sich aber nicht bewusst an ihm. Auch denkt er beim Komponieren nie an etwas Finnisches. Seine Werke schreibt Aho seit langem sofort ins Reine, ohne Skizzen zu machen. „Ich fange an und mache weiter bis zum Schluss. Wenn ich beginne, weiß ich noch nicht, wie es sich entwickelt. Ich habe nur zweimal versucht, nach einem Plan zu schreiben. Habe ich etwa zwei Drittel des Stückes fertig, kann ich ungefähr sagen, wie es enden wird.“ Mitunter kristallisiert sich die jeweilige Gattung erst im Laufe des Kompositionsprozesses heraus. Interessanterweise entstand keine der ersten vier Symphonien des heute vor allem als Symphoniker bekannten Komponisten unter dem Vorsatz eine Symphonie zu schreiben. Zu seiner Ersten sagt Aho: „Ich wollte nur ein großes Werk für Orchester schreiben. Da sagte mein Lehrer Einojuhani Rautavaara: Das ist eine Symphonie.“ Auf die Frage, wie er den Begriff „Symphonie“ definiert, antwortet der Komponist: „Eine Symphonie ist ein großes Orchesterwerk, in dem der Komponist zeigt, was er kann, in dem er seine Gedanken kristallisiert.“ Kritik äußerte Aho an Konzertagenturen, die die von ihnen geförderten Musiker davon abhalten, sich mit zeitgenössischer Musik zu befassen. Er erzählte, wie ihn eine Geigerin um ein Violinkonzert bat, er sie jedoch aufgrund anderer Aufträge um zwei Jahre vertrösten musste. Nach der Fertigstellung des Werkes traf er die Geigerin wieder, doch sagte sie ihm diesmal, sie fühle sich noch nicht reif für moderne Musik. „Sie hatte eine andere Agentur.“

Vergnüglich waren Peter Kislingers Berichte über das Verhalten der Wiener Kritik im Laufe der Jahre gegenüber Werken zeitgenössischer finnischer Komponisten. Die von ihm zitierten Rezensionen boten wunderbares Anschauungsmaterial hinsichtlich des Umgangs der Kritiker mit dem Konzertpublikum. So erfuhr man vom einen Kritiker, dass das Wiener Publikum viel zu gebildet und anspruchsvoll sei, als dass solche Anbiederungsversuche, wie sie von Komponisten wie Rautavaara und Aho unternommen würden, Aussicht auf Erfolg hätten. Ein anderer Kritiker widersprach dem, denn die Musik habe dem Publikum gefallen – sie könne deshalb wenig taugen.

Rémy Ballot sprach aus eigener Praxis über das Erfassen des Zusammenhangs innerhalb einer Komposition – eine Sache, die ja nicht nur den Autor des Stückes und seinen Vermittler betrifft, sondern eminente Auswirkungen auch auf die Zuhörer hat. Denn wie kann ein Hörer ein Stück als ein Ganzes erleben, wenn es dem Musiker nicht gelingt, den Zusammenhang der Musik deutlich zu machen? „Der Klang ist nicht die Musik. Der Klang kann Musik werden. Er kommt von einem inneren Prozess her.“ Erst wenn es dem Musiker gelingt, Kontinuität in die Klänge zu bringen, das Hervorgehen eines klanglichen Phänomens aus dem anderen nachzuvollziehen, kommt eine lebendige Aufführung zustande. Wer unter den Zuhörern dieses Gesprächs das Konzert Tags zuvor miterlebt hatte, wusste nun, warum der Eindruck ein so vorteilhafter war!

Am 9. März, seinem 74. Geburtstag, reiste Kalevi Aho aus Wien ab. Und man hofft, dass die altehrwürdige Musikmetropole auch den 75. Geburtstag des Meisters angemessen zu würdigen versteht.

[Norbert Florian Schuck, März 2023]

Verlebendigte Wiener Klassik

Am 1. März 2023 spielte das Klangkollektiv Wien unter Leitung von Rémy Ballot im Großen Saal des Wiener Radiokulturhauses des ORF ein ganz im Zeichen der Wiener Klassik stehendes Programm. Auf Wolfgang Amadé Mozarts Große A-Dur-Symphonie KV 201 folgte die unter dem Namen La Reine bekannte Pariser Symphonie B-Dur Hob. I:85 von Joseph Haydn, bevor Franz Schuberts Symphonie Nr. 5 B-Dur D 485 den Abend beschloss. Der Verfasser dieser Zeilen war nicht selbst anwesend, sondern verfolgte das Konzert mittels Direktübertragung im Netz.

Wer das Konzert des Klangkollektivs im vergangenen November noch in angenehmer Erinnerung hat, als das Ensemble als reines Streichorchester zu hören war (nur in einem Werk durch die Soloflöte ergänzt), konnte sich nun davon überzeugen, dass es auch in größerer Besetzung vortrefflich spielt. Dirigent Rémy Ballot animierte die Bläser nicht weniger als die Streicher zu Höchstleistungen musikalischen Zusammenwirkens. Mit großer Liebe zum Detail sorgt er dafür, dass die Mittelstimmen nicht im Geschehen untergehen, dass man auch die langen Töne der Hörner und Holzbläser als Gesänge hört, die Teil am Ganzen haben. Er gehört zu denjenigen Dirigenten, die ihren Musikern vermitteln können, aufeinander zu hören. Alle wissen, wann sie wie stark hervorzutreten haben, wann sie führen, wann nur begleiten sollen, und sind während der Aufführung füreinander da. Ja, es ist echter Gemeinschaftssinn in diesem Orchester, dank Ballot, den man einen Meister des Ausbalancierens der Klanggruppen nennen muss.

Erfreuen konnte man sich auch an der kultivierten Artikulation des Orchesters. Man erlebte ein elegantes, lichtdurchflutetes Musizieren, aber ohne dass etwas glattgebügelt oder ruppig um der Ruppigkeit willen vorgetragen wurde. Hörte man Folgen von Staccato-Tönen, so waren es wirkliche Staccati, und doch herrschte ein Gefühl für die melodische Linie. Dieser Sinn für Melodie ließ auch die kontrapunktischen Stellen aufblühen. Das Klangbild war bei aller Grazie, die dem Ganzen inne wohnte, von einer angenehm kernigen Deutlichkeit. Solch ein Durchleben, solche Verlebendigung der Wiener Klassiker kann man nur wünschen in der heutigen Zeit häufiger zu hören.

[Norbert Florian Schuck, März 2023]

Mehr und weniger gelungene Uraufführungen bei der musica viva

Auch im Symphoniekonzert der musica viva am Freitag, 17. Februar 2023, präsentierte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks wieder zwei Uraufführungskompositionen: „In der Farbe von Erde“ von Nikolaus Brass – mit Tabea Zimmermann als Solistin an der Bratsche – sowie „…the Brent geese fly in long low wavering lines…“ von Hans Thomalla. Zuvor erklangen noch die legendären Quattro pezzi su una nota sola des Italieners Giacinto Scelsi. Am Pult stand der aus Simbabwe gebürtige Dirigent Vimbayi Kaziboni.

Vimbayi Kaziboni, Photo © BR/ Astrid Ackermann

So langsam arbeitet man die Auftragskompositionen der musica viva ab, die sich durch Corona mittlerweile aufgestaut haben, und deren Uraufführungen eigentlich viel früher geplant waren. Am Pult steht an diesem Abend der aus Simbabwe stammende Dirigent Vimbayi Kaziboni, der in den USA (Los Angeles) und Deutschland (Frankfurt) ausgebildet wurde, schon länger auf zeitgenössische Musik spezialisiert ist und derzeit eine Professur in Boston innehat. Souverän und mit ruhigen Bewegungen leitet er das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, das in allen drei Stücken trotz vollgestellter Bühne des Herkulessaals in gar nicht mal so großen Besetzungen spielt. Bei Scelsi und Thomalla kann er leider rein technisch nicht allzu viel von seinen Fähigkeiten zeigen, da der Ablauf hier relativ unproblematisch zu kontrollieren ist.

Giacinto Scelsi (1905–1988) hatte nach einer mithilfe fernöstlicher Spiritualität überwundenen psychischen Krise ab Anfang der 1950er Jahre damit begonnen, Aspekte des Einzeltons näher zu erforschen. Dazu nahm er Improvisationen an der Ondiola, einem frühen elektronischen Instrument, auf Tonband auf und ließ diese dann von anderen Musikern transkribieren, was natürlich bis heute zu Diskussionen über die Authentizität gerade seiner Orchesterwerke führte. Die Quattro pezzi su una nota sola von 1959 treiben dies titelgemäß auf die Spitze, indem jedes der kurzen Stücke, kaum mehr als Orchesterstudien, tatsächlich nur jeweils einem Ton gewidmet ist – mit Schwankungen von mikrotonalen Schwebungen bis hin zum Ganzton (Doppelkreuz). Die Konzentration richtet sich also komplett auf Klangfarbe, Dynamik und Rhythmus. Kaziboni gelingt diese Gratwanderung zwischen „Eintönigkeit“ und musikalisch sensibler Aktion ausgezeichnet, vielleicht sogar besser als Hanz Zender 2006 an gleicher Stelle.

Obwohl Nikolaus Brass (*1949) nun wieder in seiner Geburtsstadt Lindau lebt, darf man ihn getrost zu den Münchner Komponisten rechnen. Seinem Ruf als nachdenklicher Spätentwickler wird er mit In der Farbe von Erde (2021) erneut gerecht. Ursprünglich als Musik für 44 Solostreicher geplant, ergab sich nach Kompositionsbeginn die Erweiterung um einen – nun zentralen – Solopart für die Bratschistin der Uraufführung, Tabea Zimmermann. Der Titel bezieht sich auf die Inspiration durch einen Text des schweizerischen Dichters Philippe Jaccottet, der aber keinesfalls als Vorlage einer „Vertonung“ verstanden werden soll. Die Streicher spielen in Gruppen mit unterschiedlichen, feinen Skordaturen und reagieren mit diesen Unebenheiten auf den von Beginn an hochdifferenzierten Solopart, der mit technischen Schwierigkeiten nur so gespickt ist, ohne dabei äußerlich virtuos zu wirken. Die Expressivität von Frau Zimmermann ist einmal mehr grandios. Unglaublich, wie sie dazu fähig ist, in Sekundenbruchteilen Klang und Stimmung glaubwürdig komplett zu modifizieren. Feinheiten sind es auch, die der gesamten Komposition Sinn einhauchen. So wirken besagte Skordaturen keineswegs wie Fremdkörper, sondern organische Bestandteile lebendig gewordenen musikalischen Materials. Lediglich im letzten Tutti nach der großen Kadenz führen sie zu einer gewissen Sprachverwirrung. Überzeugend auch die Idee, zwei Vibraphone als Pedalinstrumente einzusetzen, die den Hörer den Raum als solchen deutlicher wahrnehmen lassen. Das kaum 14-minütige, intensive Wechselspiel zwischen Solistin und Orchester – vom Dirigenten mit Hingabe geführt – begeistert jedenfalls das gesamte Publikum: einfach sehr schön!

Konnte Hans Thomalla (*1975) mit seiner Ballade für Klavier und Orchester 2017 den Rezensenten noch positiv beeindrucken, erweist sich „…the Brent geese fly in long low wavering lines…“ als schlicht langweilig. Knapp 40 Minuten quält uns der Komponist mit einem immerhin recht farbigen Minimalismus, der dabei emotional keinerlei Spuren hinterlässt. Lässt man mal den eher nachträglich gefundenen Titel – aus einem Gedicht von Juliana Spahr – außer Acht: Rhythmisch basiert das komplette Stück auf einem durchgehenden Achtelpuls, der zwar durch einige – jedoch mehr oder weniger identische – metrische Modulationen modifiziert wird, dennoch starr wirkt. Harmonisch bzw. melodisch gibt es ein (!) äußerst simples Motiv, das Dreiklänge umspielt, die sich so als das jeweilige tonale Zentrum etablieren. Mittels verstärkter Klaviere und Vibraphone wirkt dieses zudem zunächst als omnipräsentes, stabiles Gerüst, bald zunehmend wie unbewegliche Säulen, die uns quasi signalisieren: Hier führt kein Weg hinaus; es gibt nicht mal einen Blick über den Tellerrand! In der Tat ist das Stück wegen der recht anspruchsvollen Partien vor allem der Bläser durchaus ein Konzert für Orchester. Trotzdem scheint sich Thomalla an bewährte Rezepte bestimmter amerikanischer Komponisten dranzuhängen, ohne deren Entwicklungsmöglichkeiten auch nur annähernd auszunutzen: also John Adams für Arme? Nein, aber ein viel zu lang geratener Rohrkrepierer, für den es völlig zu Recht entsprechend zurückhaltenden Applaus gibt, der wohl mehr Vimbayi Kaziboni – bei Thomalla fast zu einem taktschlagenden Automaten degradiert – und dem Orchester gilt.

[Martin Blaumeiser, 18. Februar 2023]

Der andere Tristan: Zur Ursendung von Charles Tournemires „La Légende de Tristan“

Am 15. Dezember 2022 wurde im Theater Ulm die 1926 komponierte dreiaktige Oper La Légende de Tristan des französischen Orgelmeisters und Symphonikers Charles Tournemire zum ersten Mal überhaupt aufgeführt. Wer damals nicht dabei sein konnte, dem bot sich am 5. Februar 2023 die Möglichkeit, auf SWR2 die Uraufführung unter Leitung des Generalmusikdirektors Felix Bender nachzuhören. Man begegnete einem Tristan, der sich bedeutend vom berühmten Werk Richard Wagners unterscheidet, aber kaum weniger faszinierend ist.

Ohne Zweifel gehört der 1870 in Bordeaux geborene Charles Tournemire zu den großen französischen Komponisten des frühen 20. Jahrhunderts. Man kann nicht sagen, dass er je in Vergessenheit geriet, allerdings war er lange Zeit nur mit einem Teil seines Schaffens, nämlich seinen Orgelwerken, im Musikleben tatsächlich präsent. Zu Lebzeiten war Tournemire, der am Pariser Konservatorium Kammermusik unterrichtete und über 40 Jahre lang in der Nachfolge seines Lehrers César Franck als Organist an der Basilika Ste-Clotilde wirkte, auch auf anderen Gebieten der Musik durchaus erfolgreich gewesen. Seine ersten fünf Symphonien wurden wiederholt aufgeführt und erfreuten sich eine Zeit lang einiger Wertschätzung. 1924 inszenierte die Pariser Oper Tournemires Les Dieux sont morts. Allerdings hatte diese Premiere nicht den Durchbruch Tournemires als Opernkomponist zur Folge. Seine anderen vier Bühnenwerke blieben ungehört in der Schublade, ebenso seine letzten drei Symphonien. Da seine großbesetzten Kompositionen unveröffentlicht blieben, wurde Tournemire, der 1939 unter nie geklärten Umständen in der Bucht von Arcachon ertrank, nach seinem Tode jahrzehntelang nur als bedeutender Orgelmeister wahrgenommen. In den 90er Jahren trugen dann zwei Gesamtaufnahmen seiner Symphonien, die beide unvollendet blieben, aber zusammen sämtliche Gattungsbeiträge des Komponisten umfassen, bedeutend dazu bei, den Blick auf Tournemires Schaffen zu weiten. Mittlerweile kann man sich mittels Tonträger ein recht umfangreiches, wenngleich nicht lückenloses Bild von seinen Leistungen als Klavier-, Kammermusik- und Liederkomponist machen. Mit der Uraufführung der Légende de Tristan durch das Theater Ulm wurde nun endlich auch der Bann um Tournemires Opern gebrochen.

Eigentlich hätte die Premiere bereits 2020, anlässlich des 150. Geburtstags des Komponisten, stattfinden sollen, doch machten die Covid-Restriktionen dem Theater damals einen Strich durch die Rechnung. Umso erfreulicher ist es zu sehen, dass die Ulmer ihr Projekt wieder aufgenommen und erfolgreich zum Abschluss gebracht haben.

Was erwartet einen nun in diesem Tristan? Tournemires Oper hat drei Akte und handelt von Tristan und Isolde, Brangäne und König Marke – doch damit sind die Gemeinsamkeiten mit Richard Wagners berühmtem Werk eigentlich schon aufgezählt. Genaugenommen sind nicht einmal die Namen der Protagonisten gleich, denn natürlich müssen wir bei Tournemire von Iseut, Brangien und Le roi Marc sprechen. Nicht nur die französische Sprache sollte uns dazu ermahnen, hier nicht an die deutschen Namen der Figuren und damit an Wagner zu denken, sondern auch der Umstand, dass Tournemire und sein Librettist Albert Pauphilet ein ganz anderes Konzept verfolgen als der Meister von Bayreuth.

Die Geschichte von Tristan und Iseut entstammt dem keltischen Sagenkreis, Marc ist in den altfranzösischen Fassungen des Stoffes ein bretonischer König. Angeregt von den Forschungen des Romanisten Joseph Bédier, der in den 1900er Jahren nicht weniger als drei Bücher über den Tristan-Stoff publiziert hatte, legen Tournemire und Pauphilet den Schwerpunkt auf die Umsetzung der mittelalterlichen Legende. Bereits der Titel La Légende de Tristan – im Kontrast zu Tristan und Isolde –verrät, dass das Geschehen sich hier nicht mit solcher Ausschließlichkeit auf die beiden Liebenden konzentriert. Bei Tournemire gibt es mehr äußere Handlung. Seine Oper beginnt in Irland mit dem Kampf Tristans gegen den Drachen, also deutlich vor der Seereise, die bei Wagner das Drama eröffnet. Auch das Ende unterscheidet sich fundamental: Im dritten Akt greift Tournemire die von der Spielmannsdichtung beeinflusste Tradition auf, die Tristan als Narren auftreten lässt (in Deutschland vor allem durch Ernst Hardts Drama Tantris der Narr bekannt). Nachdem Tristan sich von Iseut getrennt hat, kommt er in dieser Verkleidung nach Jahren in Marcs Schloss zurück, wo er Iseut ein letztes Mal umarmen darf, dann aber endgültig von ihr Abschied nimmt. Verglichen mit Wagner wirkt die Umsetzung der Geschichte auffällig keusch: Tristan und Iseut treffen sich heimlich, als sie jedoch den sie beobachtenden Marc gewahren, spielen sie ihm (und den Zuschauern) höfische Zurückhaltung vor (Tournemire setzt das trefflich durch ein strenges Rezitieren beider auf einem Ton um); in einer anderen Szene findet Marc die beiden schlafend im Bett, stellt jedoch fest, dass Tristan sein Schwert zwischen sich und die Geliebte gelegt hat, mithin also kein Ehebruch stattfand. Offensichtlich ist es Tournemire und Pauphilet daran gelegen zu betonen, dass die erotische Beziehung zur Unmöglichkeit verdammt ist. Die Tragödie der Liebenden besteht darin, dass sie gerade keine Sklaven des Liebeszaubers sind. Sie kämpfen mit Gewissensbissen, die sie letztlich in die Entsagung treiben.

Auch musikalisch geht Tournemire einen Wagner völlig entgegengesetzten Weg. Statt mit exzessiver Chromatik zu prunken, färbt er seine Harmonik modal ein. Die Musik wirkt kaum psychologisierend, viel eher begegnen uns mystische Naturbilder, die gleichsam die Verfassung der Protagonisten spiegeln. Wer die Symphonien Tournemires kennt, der weiß, dass dieser inbrünstige Katholik ein großer Naturfreund war, der wiederholt das Wirken des Göttlichen in der Natur zum Thema eines großen Werkes gemacht hat. Seine Zweite und Vierte sind Meeressymphonien, Nr. 5 führt uns in die Berge und schließlich „dem Lichte entgegen“ (so der Titel des Finalsatzes). In der Dritten, 1913 während eines Aufenthalts in Moskau komponiert, malt er die Landschaft des alten Russlands, das seine Erweckung zum Christentum erlebt. Die letzten drei Symphonien gehen dann direkt zu mystischen Gesichten über. Die vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs entstandene Nr. 6 (eine Chorsymphonie mit Tenor- und Orgelsolo) entrollt ein apokalyptisches Geschehen, die achtzigminütige Siebte besteht aus fünf Danses de la Vie, in denen die Entwicklung der Menschheit von den Anfängen hin zur göttlichen Erlösung geschildert wird, Nr. 8 schließlich, eine musikalische Gedenkstele für Tournemires erste Ehefrau, schildert Le Triomphe de la Mort (was als Triumph über den Tod zu übersetzen ist). In den letzten drei Symphonien findet Tournemire zu einer charakteristischen Melodik, die von carillonartigen Kurzmotiven aus wenigen gleich langen Noten und weiten Intervallsprüngen geprägt wird. Diese Motive zucken auf wie Blitze, die schlagartig weite Räume erhellen, und schreiten einher mit Riesenschritten. Tournemire gelangte damit zu einer ebenso einfachen wie wirkungsvollen Darstellung des Erhabenen. In eben dieser Tonsprache ist auch seine Tristan-Legende gehalten. Man darf sich das Ganze nun nicht als ein permanentes Verharren im Fortissimo-Tutti vorstellen! Im Gegenteil: Das Erhabene drückt sich bei Tournemire sehr oft auch in zartesten Pianissimi aus. Von kontrapunktischen Techniken macht er wenig Gebrauch, eher lässt sich bei ihm eine Tendenz zur Einfachheit feststellen, die bis hin zu veritablen Monodien führt. In den recht ausgedehnten symphonischen Zwischenspielen der Oper erleben wir mehrfach, wie sich das Geschehen im Orchester auf eine einzelne Melodielinie reduziert. Gerade durch diese Reduktion entstehen Momente größter Spannung, die den Atem anhalten lassen. Im zweiten Akt findet sich eine längere Monodie für Klarinette, die wie eine Vorwegnahme des Abime des Oiseaux aus Olivier Messiaens Quatuor pour la fin du Temps wirkt. Nicht nur in der Reduktion, auch in der Mischung der Instrumentalfarben beeindruckt das Werk. Tournemire zeigt sich in seinem Tristan als überragend begabter Klangfarbenkünstler, der bei der Einkleidung der Handlung alle Register seines Könnens zieht.

Charles Tournemire hat vier seiner fünf Opern und die letzten drei seiner acht Symphonien nie gehört. Ob er sich damit tröstete, dass wenigstens der Herrgott um den Wert seiner Arbeiten wisse, entzieht sich meiner Kenntnis. Man muss jedenfalls betonen, dass den Menschen musikalische Schätze höchster Qualität entgehen, wenn diese Musik ungespielt bleibt.

Die Aufführung der Légende de Tristan war von der Kompetenz und Hingabe getragen, die man sich für die Erweckung vergessener Meisterwerke wünscht. An De Ridder (Iseut), Markus Francke (Tristan), Dae-Hee Shin (Le roi Marc), I Chiao Shih (Brangien), Joshua Spink (Le nain Frocin), Chor und Orchester des Ulmer Theaters haben sich unter Leitung des Generalmusikdirektors Felix Bender überzeugend für den Musikdramatiker Tournemire eingesetzt. Möge ihre Tat anderen Opernhäusern zum Vorbild werden, auf dass die Welt bald auch die übrigen noch ungespielten Opern des Meisters zu hören bekommt!

[Norbert Florian Schuck, Februar 2023]

Uneitler, berührender Bruckner mit Herbert Blomstedt

Am Donnerstag, 12. 1. 2023 und Freitag, 13. 1. 2023, spielte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Herbert Blomstedt Bruckners 4. Symphonie sowie Mendelssohns unverwüstliches Violinkonzert e-Moll mit dem Solisten Leonidas Kavakos. Unsere Rezension bezieht sich auf das Konzert vom Donnerstag.

© Astrid Ackermann für BR

Wenn ein Konzert mit dem nun 95-jährigen Herbert Blomstedt angesagt ist, haben wohl mittlerweile alle begriffen, dass dann musikalische Glanzleistungen zu erwarten sind und es um jedes verpasste Konzert mit diesem charismatischen Dirigenten wirklich schade wäre. Vor den Türen des Herkulessaals standen nach langer Zeit tatsächlich wieder etliche Leute an, die noch Karten für das offensichtlich ausverkaufte Event suchten. Trotzdem blieben im Saal ein paar Plätze frei, was am Ehesten der anhaltenden Erkältungswelle geschuldet sein dürfte.

Blomstedt, der nach einem unangenehmen Sturz im Sommer vorerst im Sitzen dirigieren muss, ist hellwach, wirkt in seiner präzisen Zeichengebung auch manuell fit wie ein Turnschuh und versetzt die Zuhörer mit seiner absolut überzeugenden Klangregie in atemloses Staunen. Bedeutsamer allerdings, wie souverän und intelligent er seine vortreffliche Agogik unmittelbar aufs Orchester überträgt – dies wird bereits bei Mendelssohns Violinkonzert e-Moll deutlich. Nur direkt zu Beginn herrscht bezüglich des Anfangstempos wenige Sekunden leichte Uneinigkeit zwischen ihm und dem wie immer fantastischen Solisten Leonidas Kavakos. Der agiert ebenso uneitel wie Blomstedt, stellt die zweifellos vorhandene Virtuosität überhaupt nicht heraus, sondern gestaltet insbesondere die lyrischen Stellen überlegen. So erklingt das Seitenthema des Kopfsatzes innigst, ohne übertriebene Geste, die Kantilene im zweiten Satz quasi unschuldig unsentimental: dies völlig glaubwürdig. Fast schon jenseitig gelingt ihm der zauberhafte Schluss vor dem überleitenden Allegretto non troppo. Den 3. Satz begleitet das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks erneut mit perfekter Dynamik. Toll, wo die Streicher das kokette Thema des Solisten später mit breitem Strich unterfüttern. Blomstedt steuert neben der Präzision des Augenblicks jedoch immer gleichzeitig das große Ganze, sorgt für klare Strukturen und fortwährende Spannung der musikalischen Entwicklung. Nichts wirkt dabei erzwungen, behält eine umso mehr befreiende Leichtigkeit. Kavakos bedankt sich für den tosenden Applaus mit zwei Sätzen aus Bachs Solopartita h-Moll.

Bruckners Vierte dirigiert der schwedische Maestro auswendig; er kennt jedes Detail, zeigt genauestens selbst kleinste dynamische Schattierungen an, gibt alle wichtigen Einsätze und Impulse. Der Blick aufs Ganze ist hier absolut vonnöten, sollen die langen musikalischen Entwicklungsbögen nicht – wie leider bei allzu vielen Bruckner-Dirigenten – in akademisch sture Periodik zerfallen, wo das Publikum dann ab und an durch brachiale Blechorgien erschreckt wird. Blomstedt hat jedes Motiv als klanglich in sich bereits sinnhaftes Element mit dem Orchester genauestens erarbeitet. Wie phänomenal seine Proben ablaufen, hat das BRSO dankenswerterweise auf Youtube zugänglich gemacht – und mit der ergreifenden Aufführung der Romantischen ernten die Musiker nun die Früchte dieser Anstrengung. Man hört an keiner Stelle falsches Pathos, selbst die Fortissimo-Massierungen sind organisch und fein austariert. Vor allem versteht man endlich diejenigen Passagen, die schon vieles vom späteren „Naturlaut“ bei Mahler vorwegnehmen – vom geheimnisvollen Beginn der Ecksätze bis zu den gewaltigen Eruptionen, wo Motive mehrfach übereinander geschichtet werden: Alles strahlt Erhabenheit aus, wobei Blomstedts Tempi niemals zäh werden. Selbst die beiden Abschnitte im Andante, in denen sich eine Melodie sehnsüchtig und nicht enden wollend über einem Pizzicato-Teppich ausbreitet, wobei der Rezensent in anderen Darbietungen kaum ein Gähnen unterdrücken konnte, langweilen hier keine Sekunde.

Blomstedt beachtet durchaus Bruckners typische Terrassendynamik, gönnt ihr jedoch differenzierte Zwischenstufen, die fürs jeweilige musikalische Material optimiert sind. Verschleppen duldet er hingegen überhaupt nicht. Sehr bestimmt und dennoch flexibel im Tempo wird ständig die Spannung am Köcheln gehalten. Der Dirigent vertraut seinem Prinzip, Form über – äußerliche – Emotion zu stellen und gewinnt damit. Den Bläsersolisten – hier natürlich allen voran den Hörnern – gebührt mal wieder ein Extralob. An diesem Abend darf jeder sein besonderes „Schmankerl“ erfolgreich präsentieren. Und bei den großen Tutti-Höhepunkten fügen sich alle höchst aufrichtig zu einem riesigen, aber stets kultiviertem Organismus zusammen. Derart wirkungsvoll – gerade im grandiosen Finale – und zugleich unaufgeregt wie klangschön hat man die Romantische in München lange nicht mehr gehört: Herbert Blomstedt reiht sich damit völlig zu Recht in die Reihe geschätztester und äußerst erfahrener Bruckner-Interpreten wie Jochum, Wand oder Skrowaczewski ein. Hoffentlich bleibt uns dieser Dirigent noch einige Zeit erhalten. Seine Aura begeistert das Publikum im Herkulessaal auch diesmal wieder, so dass Standing Ovations für ein hinreißendes Konzerterlebnis eine Selbstverständlichkeit sind. Man merkt, wie Blomstedt – der auf dem Weg von und zum Podium ein wenig gestützt werden muss – gerne öfter auf- und abtreten würde, es aber bei einem Mal belässt. München freut sich auf ein baldiges Wiedersehen.

[Martin Blaumeiser, 15. Januar 2023]

Klassisches vom Klangkollektiv Wien: Ballot dirigiert Mozart, Stamitz und Beethoven

Besprechung des Konzerts:

Wien, ORF RadioKulturhaus, 19. November 2022

  • Wolfgang Amadé Mozart: Eine Kleine Nachtmusik KV 525
  • Carl Stamitz: Flötenkonzert G-Dur
  • Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 (Fassung für Streichorchester)

Karin Bonelli, Flöte

Klangkollektiv Wien

Rémy Ballot, Dirigent

Zugleich Vorstellung der CD:

Ludwig van Beethoven: Streichquartette op. 131 und op. 135

Gramola, 99248; EAN: 9 003643 992481

Das erst vor wenigen Jahren von Norbert Täubl, dem Klarinettisten der Wiener Philharmoniker, und Rémy Ballot, dem Dirigenten der St. Florianer Brucknertage, ins Leben gerufene Klangkollektiv Wien hat sich rasch den Ruf eines der hervorragendsten Kammerorchester unserer Zeit erworben. Mehrere Mitschnitte von Konzerten des international zusammengesetzten Ensembles, dessen Repertoireschwerpunkt auf der Epoche zwischen Joseph Haydn und Franz Schubert liegt, sind bei Gramola auf CD erschienen. Sie zeugen gleichermaßen von der hohen Spielkultur, die in diesem Orchester herrscht, wie von der außerordentlichen Kapellmeisterbegabung Rémy Ballots. Wer sich am Abend des 19. November 2022 im großen Sendesaal des ORF RadioKulturhauses einfand, konnte ein weiteres Mal bestätigt finden, dass die Auftritte des Klangkollektivs zu den Höhepunkten des Wiener Musiklebens zählen. Das Orchester spielte unter Ballots Leitung in einer Besetzung von 16 Streichinstrumenten zuerst Eine kleine Nachtmusik von Wolfgang Amadé Mozart. Anschließend begleiteten die Streicher die Flötistin Karin Bonelli im Flötenkonzert G-Dur von Carl Stamitz, bevor am Ende des Programms mit dem chorisch gespielten Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 von Ludwig van Beethoven wieder ein reines Streichorchesterstück zu hören war.

Die Auswahl der Stücke ließ bereits erwarten, dass der Abend dem fließenden Übergang von kammermusikalischem und orchestralem Musizieren gewidmet war. Die Kleine Nachtmusik ist Mozarts einzige nur für Streicher geschriebene Serenade und auch als Quartett ausführbar, doch ihr Tonsatz ist über weite Strecken eindeutig der eines Orchesterwerks. Umgekehrt animiert Beethoven in seinen späten Quartetten das Kammerensemble an zahlreichen Stellen geradezu, sich als ein Orchester zu fühlen. Selbst in op. 135, dem anmutigsten dieser Werkgruppe, in dem das Pathos der vorangegangenen Quartette opp. 130–132 und der Großen Fuge op. 133 weitgehend in ein hintersinniges Spiel verwandelt scheint, finden sich solche quasi-orchestralen Takte, etwa in der Einleitung des Finales, wo die Frage „Muss es sein?“ mit bohrender Intensität gestellt wird. Es liegt also durchaus nahe, dieses Stück auch in größerer Besetzung vorzutragen. Carl Stamitz bildete zwischen den Werken seiner großen Zeitgenossen das entspannte Intermezzo. Sein Flötenkonzert versetzte die Zuhörer in die Welt des galanten Rokoko, als Orchester zum großen Teil tatsächlich noch in der Kammer spielten.

Rémy Ballot führt das Klangkollektiv sicher und unbeirrt durch diese Grenzregion zwischen Symphonik und Kammermusik. Dass er neben seiner Dirigententätigkeit auch als Kammermusiker wirkt, dürfte seinen Anteil daran haben. (An dieser Stelle sei auf die in jeder Hinsicht herausragende Aufnahme von Anton Bruckners Streichquartett und -quintett durch das Altomonte-Ensemble mit Ballot als Primgeiger hingewiesen.) Vor allem aber befähigt ihn sein Gespür für die Entwicklung melodischer Linien und die Darstellung polyphoner Strukturen dazu. Ballot ist kein Mann der schrillen Effekte. Wenn etwa Sforzati oder abrupte Wechsel von Forte und Piano vorgeschrieben sind – wie man dergleichen namentlich bei Beethoven immer wieder antrifft –, ist das für ihn nicht zwingend ein Anlass, dem Publikum rohe Kraft zu demonstrieren oder es durch die virtuose Darbietung scharfer Kontraste zu verblüffen. Er achtet vor allem darauf, in welcher Beziehung die entsprechenden Stellen mit ihrer Umgebung stehen. Sie werden nicht als isolierte Momente vorgeführt, sondern als Teile eines größeren Zusammenhangs begriffen, als Ereignisse, die eine Vor- und Nachgeschichte haben. Welche Funktion hat der durch das Sforzato hervorgehobene Ton innerhalb der Melodie, zu der er gehört? Welchen Verlauf nimmt die Periode, in der mehrfach die Lautstärke wechseln soll? Die Frage des richtigen Vortrags ist für Ballot offensichtlich immer mit der Frage nach der schlüssigen Wiedergabe der musikalischen Handlung verknüpft. Nichts überlässt er dem Zufall, jede Phrase erscheint auf ihre Stellung im großen Ganzen hin geprüft. Das „kammermusikalische“ und das „orchestrale“ Musizieren ergeben sich ganz natürlich aus der jeweiligen Situation im Verlauf der Musik. Es sind nicht Gegensätze, sondern Wechsel des Zustands. Eines geht aus dem anderen hervor. Die Differenziertheit im Vortrag, zu der Ballot sein Orchester animiert, ist nichts anderes als eine genaue Darstellung der Vielgestaltigkeit des Mozartschen und Beethovenschen Tonsatzes. Besonders loben muss man, wie wunderbar das Klangkollektiv die kontrapunktischen Abschnitte umsetzt. Wenn die Motive durch die Stimmen wandern, erlebt man in aller Deutlichkeit, wie trefflich die einzelnen Instrumentengruppen in Kontakt miteinander stehen, wie gut sie aufeinander zu hören wissen. So wird kein Themeneinsatz überdeckt. Jede Stimme kann führen, jede kann begleitend zurücktreten. Gesittete Dialoge geraten ebenso vorzüglich wie spannungsvolle Engführungen. Aber auch in einer mit kontrapunktischen Demonstrationen kaum aufwartenden Partitur wie der Kleinen Nachtmusik bewährt sich der Sinn des Dirigenten für Polyphonie, sodass durch die Aufführung deutlich wurde, wie feinsinnig Mozart auch in diesem schlicht gehaltenen Stück zu Werke gegangen ist.

Sehr aufschlussreich ist es, Dirigent und Orchester bei der Aufführung zuzusehen. Ballot achtet sorgsam darauf, dass die Kommunikation zwischen ihm und den Musikern nicht abreißt. Der Augenkontakt ist ihm sichtlich nicht minder wichtig als die Bewegungen der Hände. So dirigierte er den Anfang des Finales der Kleinen Nachtmusik beinahe nur mit den Augen und brachte die Hände erst beim ersten Forte ins Spiel. Seine Bewegungen sind im allgemeinen sparsam und immer präzise. Stärker ausladende Gesten hebt er sich für besondere Stellen auf. Die Orchestermitglieder achteten hellwach auf alle Zeichen und spielten hochmotiviert.

Zum reinen Streicherklang gesellte sich in Stamitzens Flötenkonzert Karin Bonelli, ebenfalls Mitglied des Klangkollektivs, als Solistin. Das Orchester hat hier weitgehend begleitende Funktion – auch in dieser Rolle agiert das Klangkollektiv tadellos –, während die Flöte eindeutig im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Stamitz führt die Solostimme regelmäßig durch den gesamten Tonraum des Blasinstruments und gibt damit Karin Bonelli ein geeignetes Betätigungsfeld, ihre Stärken zu zeigen. Das Spiel der Flötistin erfreut besonders durch ihre Fähigkeit, jedem Register eine charakteristische Klangfarbe zu verleihen, sodass, wenn sie zwischen den Lagen wechselt, dialogische Wirkungen entstehen. Noch deutlicher wurde dies in ihrem Zugabestück, dem Kopfsatz der Solosonate h-Moll von Carl Philipp Emanuel Bach.

Auch die Streicher spielten eine Zugabe nach dem abschließenden Beethoven-Quartett. Angesichts der anhaltenden Kriegshandlungen in der Ukraine, der Heimat dreier Mitglieder des Klangkollektivs, hatte man sich entschieden, den sorgsam gesetzten klassischen Rahmen zu verlassen und das Konzert mit einem Werk des 20. Jahrhunderts zu beenden, das auf eine lange Tradition der Verwendung als Trauermusik zurückblicken kann: Samuel Barbers Adagio for Strings. Wie intensiv die Aufführung auf das Publikum wirkte, zeigte sich daran, dass nach dem Verklingen des letzten Tons im Saal vollkommene Stille herrschte. Erst nach einer – gefühlt sehr langen – Pause sahen sich die Zuhörer in der Lage zu applaudieren, und sie taten es in spürbarer Begeisterung darüber, einen Konzertabend höchster Qualität erlebt zu haben.

Seit kurzem liegt eine Aufführung von Beethovens Quartett op. 135 durch das Klangkollektiv unter der Leitung Rémy Ballots auf einer CD vor, die, wie die anderen CDs des Orchesters, bei Gramola erschienen ist. Es handelt es sich um den Mitschnitt eines Konzerts im Penzinger Lorely-Saal vom 7. Oktober 2020, in welchem neben op. 135 auch das Quartett Nr.  14 cis-Moll op. 131 erklang. Dieses erlebte eine Wiedergabe, die seine ganze Vielgestaltigkeit in nahezu idealer Weise erfahrbar machte. Welch eine blühende Polyphonie in der einleitenden Fuge! Welch eine Leichtigkeit in den beiden scherzoartigen Sätzen! Der langsame Mittelsatz entfaltet sich in einem großen Bogen von knapp 17 Minuten Dauer, wobei die Variationen ganz natürlich auseinander hervorgehen. Zum Herzstück des Ganzen gerät der kurze sechste Satz, der im Wesentlichen eine langsame Einleitung zum Finale ist. Wie Ballot die Musik hier innehalten lässt und gleichzeitig eine enorme Spannung erzeugt, die sich erst im Schlusssatz entlädt, ist schlichtweg große Kunst. Das Finale wird, ohne übereilt zu wirken, mit unwiderstehlicher Energie musiziert, doch kommt im Seitensatz auch Ballots Meisterschaft im Gestalten schlüssiger Rubati zu tragen.

Die akustischen Bedingungen waren bei dieser Aufnahme nicht ganz so ideal wie jetzt im RadioKulturhaus, doch trübt dies den Gesamteindruck der CD angesichts der meisterlichen Darbietungen keineswegs. Wer erleben möchte, wie prächtig sich Beethovens späte Quartette als Streichersymphonien ausnehmen, dem sei diese Platte nachdrücklich empfohlen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2022]

Ein musikalischer Waldspaziergang durchs 19. Jahrhundert

Wer sich am 13. November 2022 in der Hamburger Laeiszhalle einfand, wurde auf eine musikalische Reise durch „den deutschen Wald“ mitgenommen. Unter diesem Motto stand das Konzert, das die Neue Philharmonie Hamburg unter der Leitung von Simon Kannenberg gab. Zur Aufführung gelangten die Ouvertüre zu Carl Maria von Webers Freischütz, das ausdrücklich dem Waldhorn zugedachte Hornkonzert Nr. 1 Es-Dur von Richard Strauss und die Symphonie Nr. 3 F-Dur Im Walde von Joachim Raff. Als Hornsolist war Jens Plücker zu hören.

Das Programm wurde klug zusammengestellt, sah man doch den deutschen Wald in jedem der drei Werke, die von Komponisten aus drei verschiedenen Generationen stammen, aus einem anderen Blickwinkel. Der Freischütz, 1821 uraufgeführt, ist das Fanal der Waldesromantik in der deutschen Musik. Mit den sanften Hornklängen gegen Anfang der Ouvertüre hat Weber erstmals in der Symphonik dem Wald zu einer unverwechselbaren Klangsymbolik verholfen, die für Generationen nachfolgender Komponisten verbindlich blieb. Was aber in dieser Oper besonders hervortritt, ist die düstere, dämonische Seite des Waldes. Das Allegro der Ouvertüre beruht zum großen Teil auf mit Samiel und der Wolfsschlucht assoziierten Themen („Doch mich umgarnen finstere Mächte“ ist eines in der Oper textiert), die in der Durchführung zu einem unheimlichen Höhepunkt und Zusammenbruch geführt werden.

Richard Strauss ist in seinem Ersten Hornkonzert, das er 1882/83 mit 18 Jahren schrieb, noch nicht der Programmmusiker, als der er später berühmt wurde. Das Werk erzählt keine Geschichten, sondern präsentiert sich als virtuose „Musiziermusik“ (wie der ältere Strauss gesagt hätte), die dem Solisten reichlich Gelegenheit gibt, dem Publikum sein Können zu zeigen. Als Sohn eines der besten Hornspieler seiner Zeit wusste Strauss genau, wie man die Möglichkeiten des Instruments optimal nutzt und welche Herausforderungen man ihm stellen kann. Dass der junge Komponist auf diverse Topoi zeitgenössischer Hornromantik zurückgreift, liegt in der Natur der Sache. Der deutsche Wald jedenfalls ist bei ihm lichtdurchflutet, ganz mit den Augen eines lebensfrohen Jünglings gesehen.

Der Schwerpunkt des Konzerts lag auf dem letzten Stück, Joachim Raffs Dritter Symphonie Im Walde. Das dreiviertelstündige Werk gliedert sich in vier Sätze, die der Komponist allerdings als drei „Abteilungen“ versteht – eine Einteilung, wie sie später auch Gustav Mahler in einigen seiner Symphonien vornahm. Als zweite Abteilung fasst Raff dabei die Mittelsätze zusammen. Diese Gliederung ist programmatischer Natur, denn der erste Satz schildert „Eindrücke und Empfindungen“ am Tage, die zweite Abteilung zunächst eine „Träumerei“ (Largo), dann den „Tanz der Dryaden“ (Scherzo) „In der Dämmerung“, wohingegen der Finalsatz dem Treiben im Walde bei Nacht gewidmet ist. Zu Lebzeiten setzte sich der Symphoniker Raff bei den Musikästhetikern zwischen alle Stühle, fiel sein Schaffen doch genau in jene Jahre, als sich der Richtungsstreit zwischen den Anhängern der „Programmmusik“ und denen der „absoluten Musik“ auf dem Höhepunkt befand. Alle elf Symphonien Raffs sind nach klassischen Vorbildern gestaltet und können ohne weiteres als absolute Musik bestehen, aber nicht weniger als neun von ihnen hat der Komponist mit einem Programm oder zumindest charakteristischen Überschriften versehen. Auch für die Wald-Symphonie formulierte Raff ein ausführliches Programm, doch beließ er es in der gedruckten Partitur bei kurzen Anmerkungen vor jedem Satz. Mag Raff mit seinem Konzept von Programmsymphonik in den Musikjournalen seiner Zeit umstritten gewesen sein, das Publikum wusste seine Werke jedenfalls zu schätzen. Immerhin blieb die 1871 uraufgeführte Wald-Symphonie drei Jahre lang die meistgespielte Symphonie eines lebenden deutschen Komponisten. Dies verwundert nicht, denn Raff war ein begnadeter musikalischer Landschafts- und Genremaler, der die Farbenpalette des großen Orchesters mit außerordentlichem Geschick zu handhaben wusste. Seine Stärke lag in pittoresken Szenen, in fein abgestufter Koloristik. Klangfarben waren ein unabdingbarer Bestandteil seines Konzepts musikalischer Dramaturgie. In der Symphonie Im Walde schlägt sich dies darin nieder, dass es in den ersten drei Sätzen nur verhältnismäßig wenige Tutti-Abschnitte gibt. Erst im Finale entfaltet sich die Macht des vollen Orchesters ganz. Dieser Satz ist auch der einzige des Werkes, der nicht leise endet. Hier lässt Raff des Nachts die „wilde Jagd mit Frau Holle und Wotan“ ausziehen. Welches Thema Frau Holle, welches Wotan zuzuordnen ist, bleibt unklar. (Ich vermute einen Scherz des Komponisten, um die Zuhörer zur Aufmerksamkeit zu animieren.) Jedenfalls weckt das Programm des Satzes Assoziationen an Webers Freischütz und Wagners Ring. Raffs Musik hat nicht die düstere Majestät des Wagnerschen Wotan, auch führt er uns in seinem Finale keineswegs in die Wolfsschlucht, wo ja Weber bekanntlich das Wilde Heer auf die Beschwörung durch den Teufelsbündner Kaspar hin aufmarschieren lässt. Stattdessen lässt er einen Zug urfideler Waldschrate vor unseren Ohren vorüberziehen. Die ansteckende Wirkung ihrer derben Vitalität bezeugt Pjotr Tschaikowskij, der diverse Stilmittel dieses Satzes im Allegro molto vivace seiner Symphonie pathétique wiederverwendete. Die Elementarkräfte der Natur sind bei Raff dem Menschen freundlich gesonnen. Ganz in diesem Sinne schließt er die Symphonie mit einem prächtigen Sonnenaufgang.

Die Darbietungen durch die Neue Philharmonie Hamburg waren durchweg erfreulich. Simon Kannenberg, der in diesem Konzert zum ersten Mal mit dem Orchester auftrat, erwies sich als ein sehr kompetenter Kapellmeister, der nie den Verlauf der Musik aus den Augen verliert und es versteht, stets die Spannung aufrecht zu halten. Stellen, an denen Motive durch die einzelnen Orchestergruppen wandern, wie etwa in der Durchführung der Freischütz-Ouvertüre, widmete er seine besondere Aufmerksamkeit. Jens Plücker meisterte seine anspruchsvolle Solostimme im Strauss-Konzert glänzend, gleichermaßen sicher in den virtuosen wie in den kantablen Abschnitten. Als zweiter Solist ließ sich in der Zugabe Emmanuel Goldstein hören, der an diesem Abend als Gast-Konzertmeister wirkte und Raffs Cavatina op. 85/3 vollendet gesangvoll vortrug.

Ausdrücklich loben muss man den umfangreichen, sattsam mit wertvollen Informationen zur musik- und ideengeschichtlichen Stellung der aufgeführten Werke ausgestatteten Programmhefttext, den Dirigent Simon Kannenberg selbst verfasst hat. Kannenberg ist auch als Musikwissenschaftler hervorgetreten und gehört zu den besten Kennern des Schaffens von Joachim Raff. Vor nicht langer Zeit hat er den Briefwechsel Raffs mit Hans von Bülow herausgegeben.

[Norbert Florian Schuck, November 2022]

Seong-Jin Cho mit „Rach 3” beim BRSO

Seong-Jin Cho, James Gaffigan, BRSO · © Astrid Ackermann für BR

Der Sieger des Warschauer Chopin-Wettbewerbs von 2015, Seong-Jin Cho, versuchte sich am 3. und 4. November 2022 in der Isarphilharmonie an Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 d-moll op. 30. Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte unter James Gaffigan, der relativ kurzfristig für den erkrankten Zubin Mehta einsprang, danach noch Richard Strauss‘ Tondichtung Also sprach Zarathustra. Unser Rezensent besuchte das Konzert am Donnerstag, 3. 11. 2022.

Da selbst der Bayerische Rundfunk über einen Schwund bei den Abonnenten seiner Symphoniekonzerte klagt: Ja, dafür dass ein absoluter Shooting-Star – der junge Koreaner Seong-Jin Cho – hier ein echtes Kultstück vortragen soll, schmerzt es, dass die Isarphilharmonie nicht bis auf den letzten Platz ausverkauft, allerdings immerhin zu schätzungsweise 90% gefüllt ist. Zu bedenken ist hierbei jedoch, dass der angekündigte Dirigent des Abends – kein Geringerer als Maestro Zubin Mehta – kurzfristig krankheitsbedingt abgesagt hatte und durch James Gaffigan, designierter Generalmusikdirektor der Komischen Oper Berlin, ersetzt werden musste. Dafür sieht man viele junge, asiatische Gesichter, die offenkundig nicht alle Abonnenten sind, jedoch wohl Karten extra wegen Cho erworben haben.

Auch der Rezensent gehört seit Chos Sieg beim Warschauer Chopin-Wettbewerb 2015 zu dessen Fangemeinde, hat jedoch den ersten Auftritt des koreanischen Pianisten beim BRSO – als Einspringer für Lang Lang – vor knapp vier Jahren verpasst. Auf Deutsche Grammophon glänzte Cho bislang natürlich mit Chopin sowie mit Mozart und einer beeindruckenden Einspielung von Liszts Sonate h-Moll. Doch bei Rachmaninows 3. Klavierkonzert, das nicht nur technisch nochmal ein ganz anderes Kaliber darstellt, soll sich zeigen, dass der 28-Jährige durchaus noch entwicklungsfähig ist.

Das Thema des ersten Satzes – das Orchester ist von Beginn an zu laut – nimmt Cho zunächst bewusst schlicht: Man darf keinesfalls gleich die große folgende Entwicklung „verraten“. Das zweite Thema ist leicht marschmäßig, dabei zugleich kokett. Dies spielt Cho leider ohne jeden Charme; erst beim „Nachfassen“ entwickelt Rachmaninow daraus eine verträumte Kantilene, wo der Koreaner endlich in seinem Element ist: Singen auf dem Flügel, damit kann er überzeugen. Selbstverständlich ist Cho dem als Markstein pianistischer Gemeinheiten berühmt-berüchtigten „Rach 3“ technisch gewachsen: Alles greift er traumhaft sicher, die schnellen Passagen sind vom Tempo her meist schon am Limit. Ob er merkt, dass er vom Orchester ständig dynamisch zugedeckt wird? Anders ist kaum zu erklären, wie er – und dies widerspricht geradezu seinem sonst durchgehend feinen, hochdifferenzierten Anschlag – dann zunehmend vor allem eine Reihe von Bass-Oktaven bzw. -akkorden derart brachial und teils musikalisch unmotiviert reindrischt, dass es keine Freude mehr ist. Die fette Kadenz – mit etwas zu viel Pedal – gelingt ihm gut, bei den beidhändigen Akkordkaskaden meißelt er gekonnt zwei Klangterrassen heraus. Die folgenden Dialoge mit den Holzbläsern sind himmlisch. Bei der verkürzten Reprise/Coda nimmt das Orchester die Dynamik anscheinend selbst in die Hand – was funktioniert; der Schluss bleibt, wie gefordert, unnachgiebig.

Die Darbietung des zweiten Satzes ist am stimmigsten: Gleich mit der Orchestereinleitung erschließt Gaffigan das elegische Thema – tolles Oboensolo! – klanglich engagiert und emotional spannend, ohne ins Sentimentale abzugleiten. Cho hält sich an diese Vorgabe, selbst da, wo Rachmaninow richtig pathetisch aufdreht. Das Poco più mosso (nach Zif. [32]) mit seinen gefürchteten Repetitionen ist brillant, aber das hat man schon spritziger, verrückter gehört. Doch dann nimmt das Übel seinen Lauf: Bereits die Überleitung zum Finale wirkt zu brutal und übertrieben, was sich leider so fortsetzt. Der dritte Satz wird deutlich zu rasch genommen; die andauernde, mörderische Orgie von Achteltriolen in einem schnellen Alla breve gerät so zur Farce, bei der alle Details verschwimmen. Die merkwürdige „kavallereske“ Passage (Più mosso vor Zif. [43]) – zugegebenermaßen einer von Rachmaninows vielleicht schwächsten Einfällen überhaupt – wird keineswegs besser, wenn man über sie hinweg rast; die spätere Parallelstelle ist zudem alles andere als perfekt zusammen. Selbst das hübsche Scherzando danach wirkt überhastet, die Schlussapotheose unehrlich und ermüdend – was für ein Krampf! Das erinnert ein wenig an die – in allen drei Sätzen – katastrophale Münchner Aufführung von Yuja Wang 2011 mit dem Royal Philharmonic Orchestra und einem völlig überforderten Charles Dutoit. Immerhin: Wang hat daraus gelernt und ihr „Rach 3“ mittlerweile enorm kultiviert. Fazit: Cho zeigt sehr schöne Ansätze, besitzt die nötige „Pranke“. Die ersten beiden Sätze kann man gerne so verkaufen, das Finale ist jedoch noch völlig unausgegoren. Und eine hochkarätige Aufführung dieses geliebten Monstrums klappt nur mit einem viel aktiver eingreifenden Dirigenten: Erst kürzlich beim ARD-Wettbewerb hat das BRSO mit dem 4. Konzert bewiesen, was da möglich wäre.

Natürlich darf man dankbar sein, überhaupt kurzfristig einen Einspringer für ein so schwieriges Programm zu bekommen. Gaffigan leistet dies beim BRSO nun schon zum zweiten Mal. Bei Strauss‘ Also sprach Zarathustra hört man leider, dass er keinesfalls auf Augenhöhe mit Zubin Mehta agiert. Zwar versteht der Amerikaner, wie die Dramaturgie dieser Tondichtung funktioniert; er weiß genau, wie er etwa auf einen Höhepunkt – davon gibt es hier einige – zusteuert, welches die richtigen Tempi sind. Was fehlt, ist vor allem eine genauere Führung der Feindynamik, der klanglichen Staffelung innerhalb des riesigen Orchesterapparats. Anfangs vermisst man eine echte Orgel. Zwar sind die elektronischen Konzertorgeln von ihrer Charakteristik her mittlerweile nah am Original. Als Bassfundament des bekannten „Universum“-Themas scheitern sie unweigerlich an den Lautsprechern, die da lediglich heiße Luft blubbern. Bei den „Hinterweltlern“ müsste man sofort die vielfach geteilten Streicher, aber ebenso das Holz sorgfältiger austarieren. Gaffigan bleibt in seinem Bewegungsrepertoire erschreckend pauschal. Mit der linken Hand dirigiert er über weite Strecken parallel, gibt viele Einsätze ohne zu anzuzeigen, „wie“ und vor allem „wie laut“ zu spielen ist. Sein Grundambitus ist zu groß, um dynamische Abstufungen schnell zu provozieren. Etwa zu den Bässen oder zum Schlagzeug entsteht kaum Kontakt. So fehlt der Fuge („Von der Wissenschaft“) einerseits das Geheimnisvolle, andererseits die ironische Überzeichnung; auch mangelt es bald an Klarheit. Herr Barakhovsky spielt sein Violinsolo im Tanzlied hinreißend süffig, danach gerät der Abschnitt jedoch – erneut mangels Differenzierung – zu billiger Schrammelmusik. Und spätestens, wo es dann auf „Ganze“ geht – noch vor dem Glockeneinsatz – klingt alles wie ein einziger Brei. Schade, dass bei einem dem Orchester so vertrauten Werk heute nur Mittelmaß zu hören ist. Das Publikum zeigt sich dennoch beeindruckt.

[Martin Blaumeiser, 4. November 2022]

Uraufführungen von Milica Djordjević und Nicolaus Richter de Vroe im Herkulessaal

Chor & Symphonieorchester des BR unter Johannes Kalitzke
© Astrid Ackermann für musica viva/BR

Im ersten musica viva Konzert der neuen Saison im Münchner Herkulessaal mit Chor & Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Johannes Kalitzke gab es am 28. 10. 2022 wieder zwei größere Uraufführungen: „Mit o ptici“ für Chor und Orchester von Milica Djordjević und ein neues Violinkonzert von Nicolaus Richter de Vroe mit dem Weltklassesolisten Ilya Gringolts. Wohl als Beitrag zum Zentenarium Iannis Xenakis‘ (1922–2001) erklang zudem erneut dessen Ensemblestück Jalons.

Zum 100. Geburtstag des griechischen, dann in Frankreich tätigen Komponisten und Architekten Iannis Xenakis, der mit seinem extremen Konstruktivismus bei zugleich überbordender musikalischer Energie bis zu seinem Tode 2001 einer der großen Erneuerer der Nachkriegszeit blieb, spielt das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks nochmals dessen Ensemblestück Jalons von 1986. Eine Verlegenheitsgeste? Das Stück stand erst im Oktober 2020 auf dem Programm (siehe unsere Kritik), freilich zur Zeit der Corona-Beschränkung auf 200 Zuhörer eine fast traurige Angelegenheit. Beim jetzigen Konzert, das zwar nicht ausverkauft, aber doch zum Glück wieder sehr gut besucht ist, dirigiert der technisch ungleich versiertere Johannes Kalitzke.

Das Zusammenspiel der 15 Musiker – Xenakis schrieb Jalons für das von Boulez gegründete Ensemble Intercontemporain zum 10-jährigen Bestehen – erscheint perfekter als unter Peter Rundel, dabei allerdings kälter. Die sich unversöhnlich perspektivisch gegeneinander verschiebenden Klangebenen – absolut toll mal wieder die Bläser – erhalten Vorrang vor Emotionalität, die ja laut Xenakis bei seiner Musik nie Intention ist, auch wenn sie sich unvermeidlich beim Hörer einstellen mag, gerade bei den geradezu beschwichtigenden Harfeneinwürfen. So wirkt diese Darbietung klar, gelassen und fast ein wenig zu routiniert: Schönheit der musikalischen Architektur, die für sich selbst spricht. Trotzdem hätte sich der Rezensent angesichts der immer hochrangigen Xenakis-Aufführungen des BRSO zum Jubiläum doch lieber eines jener großbesetzten Stücke gewünscht, die man bisher noch nie gespielt hat. Davon gäbe es einige, aber angesichts der aufwändigen Probenarbeit an gleich zwei Uraufführungen diesmal wohl nicht realisierbar.

Die Serbin Milica Djordjević – 2016 Komponistenpreisträgerin der Ernst von Siemens Musikstiftung – war schon immer fasziniert von der Dichtung Miroslav Antićs: In Mit o ptici (Mythos des Vogels) für Chor und Orchester geht es um einen von einem Künstler erschaffenen Vogel, der freigelassen zum Monster mutiert und „nicht mehr aus der Welt zu schaffen“ ist. Der über weite Strecken dialogisch geführte Text ist zunächst klar auf die verschiedenen Chorgruppen verteilt, aber die Entropie der Entwicklung über vier längere Abschnitte bringt auch dies zunehmend in Unordnung. Inwieweit die junge Lettin Krista Audere – sie erhielt 2021 den Eric Ericson Preis – bei ihrer Einstudierung die Besonderheiten der serbischen Sprache vermitteln konnte, sei dahingestellt. Für Djordjević ist Textverständlichkeit hier nicht vorrangig, jedoch hält sie gewisse dem Serbischen innewohnende onomatopoetische Qualitäten für unverzichtbar. Das Klanggeschehen im Chor ist von Beginn an hochdifferenziert: Die Frauenstimmen zunächst mit heller Textur; die Herren erinnern stellenweise an die Eindringlichkeit von Strawinskys Zvezdolikij. Selbst bei der brutalen, rauen Steigerung des dritten Abschnitts mit sagenhafter interner Beschleunigung bleibt es dennoch organisch. Im großbesetzten Orchester erscheint ebenso vieles als lautmalerische Mimesis (Flügelschlagen? etc.), von Kalitzke sorgfältig hörbar gemacht. Insgesamt eine poetische, nachvollziehbare Textausdeutung, wobei das musikalische Material für den Hörer allerdings weitgehend unter dem Schirm bleibt. Die Komponistin erfährt dafür einhellige Zustimmung beim Publikum.

Von 1988 bis zu seiner Pensionierung als Violinist beim BRSO tätig, ist der aus Halle stammende Nicolaus Richter de Vroe (*1955) als Komponist auf den bedeutendsten Festivals für Neue Musik gespielt worden. Angesichts des ungewöhnlich breit aufgestellten Repertoires des russischen Stargeigers Ilya Gringolts verwundert es nicht, dass Richter de Vroe in sein 40-minütiges, neues Violinkonzert so ziemlich alles hineingepackt hat, was seit 400 Jahren auf der Geige möglich ist: von Skordaturen bis zum ganzen Arsenal moderner, verfremdender Spieltechniken. Begleitet wird der Solist dabei von einem Kammerorchester – bei den Streichern nur doppelt besetztes Quintett –, erweitert um Klavier bzw. Cembalo, Gitarre bzw. E-Gitarre sowie die japanische Mundorgel Sho, die eine längere, die Violine faszinierend kontrastierende Passage gestaltet.

Das durchgehende Werk ist quasi symmetrisch in sieben Abschnitte gegliedert, mit einem zentralen „Hauptsatz“, der allerdings eher Traditionen karikiert. Gringolts changiert sehr präzise und bewusst zwischen Ton und Geräusch – und wie immer nimmt man diesem Tausendsassa einfach alles ab, egal wie seltsam und im Kontext unerwartbar es vielleicht erscheinen mag. Da Richter de Vroes Bestreben klar in Richtung Klangkomposition geht, hört man sofort Klanggesten in Hülle und Fülle, Laute anstelle „musikalischer“ Motive. Im langen Hauptsatz geht es dann sehr lebendig, wild, schnell und akzentuiert zu. Später gibt es hier eine Reihe von verfremdeten Zitaten bzw. Allusionen „alter“ Musik: vom Barock – daher das Cembalo – bis zu eindeutigen Bezügen zu Bergs Violinkonzert. Nach und nach zerfällt die Spannung – Rückblenden oder gar ein Abschiednehmen vom Orchester? Am Schluss („Zwei Ausgänge“) verlässt Gringolts die Bühne und geht spielend nach hinten durch den Herkulessaal, wobei er geschickt und unsichtbar vom Konzertmeister vorne verdoppelt wird: eine wirkungsvolle räumliche Irritation. Für das ein wenig ausufernde Spektakel instrumentalen Theaters gibt es einzelne Buhs, für den fabelhaften Gringolts, Orchester und Dirigent natürlich den absolut angemessenen, großen Beifall.

[Martin Blaumeiser, 30. Oktober 2022]