Archiv der Kategorie: Konzertrezension

Ein reines Boulez-Programm beim zweiten „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Für die Freunde Neuer Musik wird 2025 in erster Linie wohl ein Boulez-Jahr. Aus Anlass dessen 100. Geburtstags (26. März) widmete die Ernst von Siemens Musikstiftung ihr zweites „räsonanz“ Stifterkonzert am 9. Januar 2025 ganz dem großen Franzosen und präsentierte dem Publikum im Münchner Prinzregententheater endlich auch das fantastische Ensemble Les Siècles, dessen schon lange geplanter Auftritt wegen der Corona-Pandemie weit verschoben werden musste. So erklangen nun unter der Leitung von Franck Ollu zwei der Hauptwerke von Pierre Boulez: „Éclat/Multiples“ und „Pli selon pli. Portrait de Mallarmé“. Für die anspruchsvolle Sopranpartie konnte Sarah Aristidou gewonnen werden.

Sarah Aristidou und Franck Ollu mit dem Ensemble Les Siècles ©BR/Severin Vogl

Pierre Boulez (1925–2016) zählt noch immer zu den wichtigsten Komponisten der Nachkriegsavantgarde – völlig zu Recht, wie man am Donnerstag schon zur Pause des zweiten „räsonanz“ Stifterkonzerts im so gut wie ausverkauften Münchner Prinzregententheater feststellen durfte. Unter den meist in einem Atemzug genannten Zeitgenossen Xenakis, Berio, Nono, Ligeti und Stockhausen gilt Boulez vielleicht als der am verkopftesten agierende Intellektuelle, der zwar typische Techniken der 1950er Jahre wie den Serialismus aufgreift, jedoch zugleich mit geschickt gelenkter Aleatorik seine Musik sehr offen hält, zudem vielen Werken nie eine endgültige Fassung gab – Stichwort: work in progress –, sondern immer wieder daran weiterbastelte. Als Dirigent war Boulez spätestens ab Mitte der 1960er nicht nur einer der präzisesten Interpreten neuester Musik – seine manchmal als „Karate“ verspottete Schlagtechnik erwies sich als ungemein effektiv. Bei vielen modernen „Klassikern“ wie der Neuen Wiener Schule, Bartók und Strawinsky, insbesondere jedoch Ravel und Debussy wirkte er als Klangsensualist allererster Güte.

Die oft sehr vom instrumental hochdifferenzierten Schlagzeug dominierte, schon deshalb über Strecken leicht exotisch angehaucht klingende Musik Boulez‘ vermittelt sich dann auch dem Hörer überhaupt nicht über ihre oft mathematisch akribisch angelegten inneren Strukturen, sondern durch Raum, Resonanz, Hall und eben äußerst subtile und fantasievolle Farbmischungen. Éclat/Multiples (1970) entstand zunächst in zwei Etappen, wobei Multiples eine Art Erweiterung des ursprünglich für 15 Instrumentalisten geschriebenen Éclat (1965) darstellt, von der Besetzung her um 10 Bratschen erweitert. Sonst gibt es nur noch ein Cello in den Streichern. Abgesehen davon kann das Publikum schon optisch die beiden Abschnitte gut unterscheiden. In Éclat existieren weder durchgängige Metren noch Takte oder ein fixierbares Tempo, so dass der Dirigent – Franck Ollu, bereits in einem Konzert der musica viva 2023 mit dem BRSO ein überragend souveräner Leiter – hier wirklich jedes (!) einzelne Klangereignis dezidiert anzeigen muss. Bei Multiples gibt es streckenweise dann wieder Takt und Tempo: Der ungemein farbige, aber eben punktuelle Klang weicht dank der Bratschen stark auf und erscheint so insgesamt flächiger. Faszinierend sind die sich gegenseitig bespiegelnden Momente zwischen den einzelnen Orchestergruppen. Und kein Mensch merkt, dass Boulez dieses Werk ebenfalls nie wirklich beendet hat. Das von François-Xavier Roth gegründete, stets auf historisch korrekten Instrumenten spielende Orchester Les Siècles bewältigt all dies mit größter Konzentration, enormer Einigkeit mit dem Dirigenten, gerade was die Länge und den Nachhall einzelner Töne betrifft, und echter Sinnlichkeit – von wegen verkopft! Hier sind praktisch alle Musiker Solisten; besonderen Dank für eine gelungene Darbietung zollen Dirigent und Saal jedoch dem Pianisten, dem Bassetthorn sowie den Spielerinnen von Celesta und Cimbalom.

Pli selon pli. Portrait de Mallarmé (1957–1962) – vielleicht das wichtigste Werk des Komponisten – ist ebenso wieder in Boulez-typischer Manie mehrfach umgearbeitet worden, teils mit einschneidenden Veränderungen, zuletzt 2010/11, wo es mit Barbara Hannigan unter Boulez so hier aufgeführt wurde. Zum Glück entschieden sich Ollu und Les Siècles doch für die Fassung von 1989 – der letzte Satz Tombeau wirkte 2011 nicht nur nach Meinung des Rezensenten arg kastriert, worunter die symmetrisch angelegte Gesamtform spürbar litt. Wie der Komponist mit den revolutionär erratischen, hochästhetischen Texten des Dichters Stéphane Mallarmé (1842–1898) arbeitet, soll hier nicht erörtert werden. Nur so viel: Das gut 65 Minuten dauernde Werk besteht aus 5 Sätzen. In allen wirkt auch eine Sopranistin mit, die jedoch in den beiden großbesetzten Ecksätzen – Don und Tombeau – eher eine untergeordnete, in den drei mehr kammermusikalisch angelegten Improvisations, die allerdings minutiös ausnotiert sind, klar die Hauptrolle spielt. Es gibt nur wenige Künstlerinnen, die dies so überzeugend schaffen wie Sarah Aristidou – seit erst wenigen Jahren eine der profiliertesten jungen Koloratursopranistinnen und wegen ihres besonderen Engagements für Neue Musik da längst ein Star. Ihre Stimme ist bis auf wenige tiefe Töne – Boulez‘ Partie hat einen irrwitzigen Umfang – immer tragfähig, dabei jedoch nie grell, verströmt stets Wärme und bringt vor allem ein gewaltiges Charisma herüber, wodurch Aristidous Gesang eben nie nur instrumental wirkt, sondern menschlich und überraschend natürlich. Der Hörer klebt quasi an ihren Lippen, die von sirenenhaftem Schmelz bis zum aggressiv Hässlichen quasi sämtliche Schattierungen hervorbringen, die man einer Stimme überhaupt zutrauen mag. Eine absolute Glanzleistung, obwohl dieses Stück die erste Begegnung der aus Paris stammenden Sängerin französisch-zypriotischer Herkunft mit Boulez‘ Musik ist. Zwar enttäuschte der berühmte erste Zwölftonakkord von Don etwas – der sollte eigentlich wie der Urknall reinhauen –, doch danach klangen die Musiker von Les Siècles schlicht überwältigend: egal, ob solistisch-kammermusikalisch oder als Teil des faszinierenden Gesamtklangs agierend. Ollu hat dies natürlich perfekt im Griff: Ohne Allüren dient er der Musik und hält die Spannung über das gesamte, tief beeindruckende Werk, das wieder mit besagtem Zwölftonakkord endet, diesmal mit durchschlagendem Effekt. Mehr kann man als Dirigent für Pierre Boulez nicht leisten. Riesiger Beifall für Aristidou, Les Siècles und Ollu. Und entgegen verbreiteter Meinungen in einigen Medien: Boulez‘ Musik ist nicht tot. Man muss nur ihre Schönheiten entdecken.

[Martin Blaumeiser, 10. Januar 2025]

30 Jahre Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft e.V. – Bericht vom Symposium 2024

[Anmerkung des Verfassers: Der folgende Text ist ein Bericht über das zweitägige musikwissenschaftliche Symposium, das die in Hamburg ansässige Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft e. V. anlässlich des 30. Jahrestages ihrer Gründung im September 2024 veranstaltete. Der Verfasser ist selbst Mitglied der Gesellschaft und hielt im Rahmen dieses Symposiums einen Vortrag. Im Anschluss daran schrieb er auf Bitten der Organisatoren einen Bericht, um in knapper Form den Inhalt der Veranstaltung festzuhalten. Ursprünglich war angedacht, den Text an eine im Druck erscheinende Musikzeitschrift zur Veröffentlichung zu geben. Nachdem die Zeitschrift Bedenken angemeldet hatte, da es sich bei dem Verfasser um einen der Mitwirkenden handelte, entschied selbiger in Übereinstimmung mit den Organisatoren des Symposiums, das Maß voll zu machen und zur Personalunion von Teilnehmer und Verfasser noch die des Herausgebers hinzuzufügen. Ich betrachte die folgenden Zeilen als Bericht. Wenn er gelegentlich den Charakter einer Rezension, gar einer zustimmenden, annimmt, so geschieht dies in Anerkennung der wissenschaftlichen, künstlerischen und organisatorischen Leistungen meiner geschätzten Kolleginnen und Kollegen. N.F. Schuck, Januar 2025]

Seit 30 Jahren pflegt die Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft das Andenken zweier Komponisten, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert maßgeblichen Einfluss auf das Musikleben Hamburgs ausübten: Ferdinand Pfohl (1862–1949) und Felix Woyrsch (1860–1944). Einander in gegenseitiger Wertschätzung verbunden, waren sie sehr verschiedene Künstler. Pfohl, der in einem impressionistischen Stil vorrangig Lieder, Klavierwerke und orchestrale Programmmusik schuf, war zugleich ein Virtuose des Wortes und als solcher einer der einflussreichsten Musikkritiker seiner Generation. Diese Tätigkeit ließ ihn zeitweise als schöpferischen Musiker verstummen, sodass die meisten seiner Kompositionen entweder Früh- oder Alterswerke sind. Im Gegensatz zu Pfohl geizte Woyrsch mit verbalen Äußerungen, sodass wir über seine Persönlichkeit wenig wissen. Sein Lebensmittelpunkt war Altona, die einst selbstständige Nachbarstadt, die erst nach Hamburg eingemeindet wurde, als ihr Städtischer Musikdirektor Woyrsch bereits in den Ruhestand getreten war. Neben seinem über vierzigjährigem Wirken als Kirchenmusiker und Leiter der Altonaer Singakademie gelang es ihm, erstmals in Altona regelmäßige Symphoniekonzerte zu etablieren. Sein kompositorisches Werk, im klassischen Gattungskanon verankert, ist sehr breit gefächert, wobei sich mit der Zeit der Schwerpunkt von Opern, Oratorien, Chören und Liedern auf Kammermusik und Symphonik verlagert und die Harmonik herber und kühner wird.

Anlässlich ihres 30. Gründungstages veranstaltete die Pfohl-Woyrsch-Gesellschaft am 20. und 21. September 2024 in Kooperation mit dem KomponistenQuartier Hamburg im Lichtwarksaal der Carl-Toepfer-Stiftung ein wissenschaftliches Symposium. Zwischen den beiden Vortragsreihen gaben der Sänger Johannes Wedeking (Bass) und die Pianistin Tatjana Dravenau einen Liederabend mit Werken beider Komponisten.

Der erste Tag des Symposiums war Woyrsch gewidmet. Andreas Dreibrodt (Neumünster), Pionier in der Erforschung des Woyrsch-Nachlasses, beschrieb die Rezeptionsgeschichte der Musik des Komponisten, ihr allmähliches Verschwinden aus dem Repertoire und die zunehmende Beachtung, die ihr seit der Wiederaufführung des Oratoriums Da Jesus auf Erden ging anlässlich des 800. Hamburger Hafengeburtstags 1989 zuteil wird. Einen entscheidenden Wendepunkt bedeutete der 150. Geburtstag Woyrschs 2010. Seitdem hat die Repräsentation seines Schaffens auf Tonträgern und im Notendruck bedeutende Fortschritte gemacht. (Es folgte der Vortrag des Verfassers dieser Zeilen über die sechs zwischen 1908 und 1941 entstandenen Symphonien Woyrschs: eine Betrachtung hinsichtlich Form und Harmonik, sowie der stilistischen Entwicklung des Komponisten.) Cornelia Picej (Graz) und Hazal Akyaz (Linz) verfolgten die Rezeptionsgeschichte des Oratoriums Totentanz in Österreich. Der Totentanz, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg international erfolgreich und eines den meistgespielten deutschen Oratorien, erklang in Österreich bislang nur zweimal. Picej und Akyaz berichteten über die Hintergründe der Aufführungen 1926 in Linz unter Georg Wolfgruber (Vater) und 1949 in Wels unter Georg Wolfgruber (Sohn), wobei sie auch biographische Irrtümer über die beiden gleichnamigen Dirigenten aufklären konnten. Ein Vortrag über Woyrschs bedeutendsten Schüler Ernst Gernot Klussmann (1901–1975), Autor von zehn Symphonien und fünf Opern, beschloss den ersten Teil des Symposiums. Der Komponist Wolfgang-Andreas Schultz (Wedel), Schüler Klussmanns (und Ligetis), erzählte vom persönlichen Umgang mit seinem Lehrer, umriss dessen Biographie und schilderte die Entwicklung Klussmanns von einer post-brahmsischen Tonsprache bis zur Dodekaphonie. Besondere Aufmerksamkeit widmete er Klussmanns persönlicher Zwölftonmusik aus dreiklangsbasierten Reihen. Die späten Opern des Komponisten klingen trotz strengster Reihenkonstruktion auffallend geschmeidig, eher an Richard Strauss erinnernd als an Schönberg.

Die zweite, Pfohl gewidmete Vortragsreihe, wurde am folgenden Tag durch Andreas Willscher (Hamburg) mit einer Einführung in Pfohls kompositorisches Schaffen eröffnet. Willscher, selbst Komponist, hat die erste Biographie über Pfohl samt Werkverzeichnis verfasst und zahlreiche von dessen Werken bearbeitet. Anhand von Kompositionen verschiedener Gattungen beschrieb er Pfohls Klangideal, das stets ins Orchestrale tendiert, sowie seine Vorliebe für Synkopen und Nonakkorde. Tristan Eissing (Halle) widmete sich dem Musikkritiker Pfohl und analysierte mittels statistischer Auswertung von Stichproben aus über 800 Rezensionen, welche Schwerpunkte dieser in seinem Schreiben über musikalische Aufführungen setzte. Beispielsweise nahm in seinen Opernkritiken die genaue Beurteilung der stimmlichen Qualität und interpretatorischen Leistung der Sänger und vor allem der Sängerinnen den größten Raum ein, während er die Werke selbst meist nur dann besprach, wenn es sich um Neuheiten handelte. Pfohls Beziehungen zur Hasse-Gesellschaft in Hamburg-Bergedorf wurden von Wolfgang Hochstein (Geesthacht) ausführlich dargestellt. Mehr als ein Vierteljahrhundert in Bergedorf ansässig, hielt Pfohl seit 1913 Vorträge im Rahmen von Veranstaltungen der Gesellschaft, wobei sich diese Zusammenarbeit in den 1930er Jahren intensivierte. Auch wurden Geburtstagskonzerte zu Pfohls Ehren durchgeführt. Da ein Großteil dieser Aktivitäten in die Zeit des Nationalsozialismus fällt, widmete sich Hochstein auch dem Verhältnis Pfohls zu den damaligen Machthabern. Zwar hat sich Pfohl als Bewunderer Wagners positiv zur Förderung der Bayreuther Festspiele durch die Nationalsozialisten geäußert, doch waren ihm, seit er 1933 in einem Vortrag anlässlich des 100. Geburtstags von Brahms dessen jüdische Freunde und Vorliebe für Zigeunermusik hervorgehoben hatte, Auftritte im Rundfunk untersagt. Als Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie kann Pfohl jedenfalls nicht bezeichnet werden. Johannes Wedeking (Haan), der Sänger des Liederabends, berichtete von dem Fund Pfohlscher Liedmanuskripte im Deutschen Literaturarchiv Marbach, der die Geschichte der „Halkyonischen Akademie für unangewandte Wissenschaften“ erhellt, einem von dem Dichter Otto Erich Hartleben gegründeten Künstlerbund. Die Manuskripte, darunter auch bislang unbekannte Lieder, belegen die enge Zusammenarbeit Pfohls und Hartlebens bei der Entstehung der Mondrondels auf Texte aus Hartlebens Nachdichtung von Girauds Pierrot Lunaire. Der letzte Vortrag stammte von Simon Kannenberg (Detmold), dem Anreger und Hauptorganisator des Symposiums, und befasste sich mit der Rhapsodie Twardowsky für Mezzosopran, Männerchor und Orchester, die u. a. von Max Reger geschätzt und aufgeführt wurde. Neben einer Einführung in den Sagenkreis um den „polnischen Faust“ Twardowsky, stellte Kannenberg das Werk ausführlich vor und ging seiner Aufführungsgeschichte nach, die 1932 mit einer Darbietung im Hamburger Rundfunk (vorläufig?) endete.

Der Liederabend, der nach Ende der ersten Vortragsfolge die Überleitung von Woyrsch zu Pfohl bildete, machte nicht nur die verschiedenen Ansätze beider Komponisten in ihren Liedkompositionen deutlich, sondern beeindruckte auch durch das ungewöhnliche Unterhaltungstalent Johannes Wedekings, der zwischen den Liedvorträgen geistreiche, leichtfüßig vorgetragene Überleitungen voller kulturgeschichtlicher und philosophischer Anspielungen einflocht.

Eine Veröffentlichung der auf dem Symposium gehaltenen Vorträge ist geplant.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2024]

Loops, Scherben und Whistleblower

Beim musica viva Konzert am 20. 12. 2024 im Münchner Herkulessaal war der Stargeiger Leonidas Kavakos zu Gast und spielte das 2. Violinkonzert „Scherben der Stille“ der diesjährigen Trägerin des Ernst von Siemens Musikpreises, Unsuk Chin. David Robertson leitete das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks außerdem bei der Uraufführung von Bernhard Langs „GAME 18 Radio Loops“ und der deutschen Erstaufführung von Philippe Manourys „Anticipations“.

Leonidas Kavakos, Unsuk Chin, David Robertson, © BR-Astrid Ackermann

Nicht nur die Bühne im Herkulessaal stand – trotz einer nur 50er-Streicherbesetzung – mal wieder randvoll, vor allem mit einer breiten Palette an Schlaginstrumenten. Auch das Publikum war äußerst zahlreich erschienen, zudem sogar alle drei Komponisten des anspruchsvollen Programms, das vom amerikanischen „Neue Musik“-Experten und ehemaligen Boulez-Schüler David Robertson geleitet wurde.

Der Linzer Bernhard Lang (*1957) bezeichnete sich in der Einführung sogleich etwas ironisch, aber absolut zutreffend, als „Wiederholungstäter“. Zumindest im deutschsprachigen Raum hat sich wohl kein Komponist so lange und intensiv mit dem Potential von Wiederholungen, gerade auch in Verbindung mit Live-Elektronik – Stichwort Loops – auseinandergesetzt. Lang verlangt für GAME 18 Radio Loops einen differenzierten Orchesterapparat aus praktisch individuellen Akteuren inklusive Synthesizer samt besonderer Lautsprecherinstallation in zwei Höhenebenen, großartig realisiert von Zoro Babel. Das Grundmaterial besteht – anlässlich des 75-jährigen Bestehens des BR – aus „Pausenzeichen“ (heute sagt man Jingles) nicht nur deutscher Rundfunkanstalten. Diese zerlegt Lang natürlich in seine atomaren Bestandteile, um daraus über etwa 40 Minuten eine faszinierend neue Klangwelt zu schaffen. Von den einzelnen Spielern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks erwartet der Komponist dabei in mehreren der – schon durch deutlich hörbare „Schnitte“ in der Beschallung – gut erkennbaren sieben Abschnitte ein Höchstmaß an Selbstverantwortung, da sie oft, wie aus einem Kartenspiel, das Material, das sie selbst konkret zum Klingen bringen wollen, quasi ziehen dürfen. Das knüpft – wenn auch mit viel weitgehenderer Freiheit – noch an die kontrollierte Aleatorik etwa Witold Lutosławskis an. Und so laufen längere Sequenzen völlig ohne Beteiligung des Dirigenten ab. Überraschend, dass das klangliche Ergebnis zwar undurchschaubar komplex, jedoch keinesfalls chaotisch wird, sondern – im Gegenteil – erstaunlich homogen. So gibt es eine durchaus witzig-groovige Passage, die nur vom Schlagwerk gestaltet wird; die Loops im Raum wandern teilweise in zwei gegenläufigen Kreisen rund um den Saal und erzeugen dann eine Art Weltraumatmosphäre usw. Im letzten Abschnitt generiert Lang u. a. naturnahe Geräusche. Da, wo Robertson eingreifen darf, gelingt ihm enorme Kontrolle. Der immer mit ausgesprochen freundlicher „Ansprache“ agierende Dirigent – schlagtechnisch sieht das bei Lang ähnlich „einfach“ aus wie bei Ligeti – kann trotz allem Klein-Klein in der Partitur vor allem präzise Charakterisierungen zustande bringen, die einfach Freude machen. Ganz am Schluss kommt dann – ausnahmsweise klar erkennbar – das BR-Sendezeichen, der Alte Peter. Große Zustimmung zu einem unerwartet kurzweiligen Werk.

Obwohl sie eigentlich „klassische“ Setups lieber meidet, hat sich die schon lange in Berlin lebende Koreanerin Unsuk Chin, Trägerin des diesjährigen Ernst von Siemens Musikpreises, gerade mit ihren Instrumentalkonzerten einen Namen gemacht. Ihr zweites Violinkonzert „Scherben der Stille“ – Anfang 2022 vom Widmungsträger und Solisten des Abends, Leonidas Kavakos, mit dem LSO unter Simon Rattle aus der Taufe gehoben – beginnt mit absichtsvoll brüchigen Flageoletts der Geige. Der praktisch über die gesamten 29 Minuten hochaktive Solopart steht in seinem technisch-musikalischen Anspruch fraglos auf dem Niveau des Berg- oder des großen Pettersson-Konzerts. Chin sieht das Stück als Porträt Kavakos‘, ihn sogar als „Hausherr“ des Geschehens, dessen Emotionalität dabei immer in einen Dialog mit dem Orchester tritt, dort durchaus nicht ohne Konflikte weiterentwickelt wird. Oft berückend schön sind die feinen, unaufdringlichen Schlagzeugfarben, aber etwa ebenso ein Zwischenspiel von vier Solo-Violinen des BRSO, das schließlich zu einem intensiven Flautando von Kavakos mit allen hohen Streichern führt. Robertson bleibt immer glasklar, ohne Mätzchen, kann jedoch, wo nötig, abrupt körperlich ganz energische Impulse geben. Das Orchester bewältigt alles mustergültig. Der unerwartet dramatische Schluss wirkt fast wie eine Erlösung von gewaltiger Anspannung. Dieses Konzert hat offenkundig das Zeug, zu einem Klassiker zu werden – langanhaltender Beifall und Bravos, insbesondere für die Komponistin.

Philippe Manourys (*1952) großbesetzte Anticipations (2019) wirken von Beginn an überwältigend: fasslich dichte, geradezu wuchtige Dramatik. Um es mit Hans Werner Henze zu sagen: wilder, schöner – allerdings weniger neuer – Klang. Wie Langs Live-Elektronik arbeitet Manoury geschickt mit gelenkter Aleatorik und dem Raum: Hier in Gestalt von zwei Bläsergruppen, die als „Whistleblower“ mit einem „Choral“ – als Gegenentwurf zum Geschehen auf der Bühne – von der Rückseite des Herkulessaals aus in mehreren Etappen das Podium entern und schließlich im Orchester zwar die angestammten Plätze einnehmen, aber ihre manipulativen Eingriffe fortsetzen. Das übrige Orchester muss sich damit auseinandersetzen: Das geht, bildlich gesprochen, von Verschmelzung über Konfrontation bis zu Ablehnung. Manoury kann hinreißend für Orchester schreiben: Trotz ungeheurer Intensität wird letztlich alles zu modernem „Schönklang“. Man staunt nicht schlecht, wie sein Schluss – ebenfalls mit einem Tam-Tam-Schlag, hier noch gefolgt von zaghaften Zuckungen der Streicher – dem von Chins Konzert ähnelt. David Robertson führt mit seiner Lockerheit und Konzentration das BRSO zu einem geradezu symbiotischen Musizieren. Alle Mitwirkenden und das Publikum sind anscheinend für derartige, fast konventionelle Formate, die für eine gelungene Realisation zwingend die Qualitäten eines Weltklasse-Klangkörpers benötigen, gleichzeitig dessen Höchstleistung noch zu beflügeln scheinen, sehr dankbar.

[Martin Blaumeiser, 22. Dezember 2024]

Der Bogen des Odysseus, und noch etwas wirklich Wichtiges

Ein kurzer, nicht abschließender Bericht aus Wien in der Vorweihnachtszeit.

Die Inszenierung und Aufführung von Monteverdis Oper Il ritorno d’Ulisse in Patria in der Wiener Staatsoper war eine bunte und traurige Angelegenheit.

Eine Personenführung fand nicht statt, wo und wohin die Sängerinnen und Sänger sich bewegten, schien ratloser Willkür zu folgen, die teilweise schönen Stimmen waren im Vorfeld wohl nicht an die Klangwelt der Musik von Monteverdi herangführt worden; so blieb Penelope blass, auch Ulisses entfaltete keine stimmliche oder stilistische Strahlkraft, da die Regie aus ihm eine Karikatur des Monsieur Bonacieux aus der legendären Musketier-Verfilmung von Richard Lester aus dem Jahr 1973 machte (es gab also wenigstens eine Idee?), einzig Isabel Signoret als Minerva konnte wirklich darstellerische und stimmliche Präsenz entfalten. Erfreulich war auch das Trio der Freier von Penelope, die mit ihrer Stimmschönheit aber eher bei La Bohème ein Genuss zu hören wären, hier aber stilistisch nicht am rechten Platz waren.

Das Bühnenbild war ein sinnfreies Caroussel einer größeren Anzahl Sitzgruppen – den Göttern waren dabei originellerweise die Firstclass-Sitze eines Flugzeugs vorbehalten. Der Concentus Musicus als Platzhalter der Alten Musik in Wien lebt noch von der Vergangenheit: matt kam die Musik aus dem Graben, trotz der fordernden Gestik des musikalischen Leiters Stefan Gottfried, oder gerade wegen ihr: sie war zu viel des Guten, nicht am Metrum oder Takt, sondern meist am melodischen und rezitativischem orientiert; eine klare Eins hätte hier und da geholfen, und das Tastencontinuum wurde ja ohnehin von jemand anderem gespielt, was sein Wechseln vom Gestischen zum Tastenspiel in mindestens sportlichem Licht erschienen ließ.

Vielleicht ist es im Ganzen keine gute Idee, in einem Repertoirehaus solche Projekte in den Spielplan zu quetschen; möglicherweise gibt es einfach keine Zeit für eine der Sache Monteverdis angemessene gründliche Arbeit, um die Mühen der Freier, den Bogen zu spannen, nicht zu einem derartigen Klamauk verkommen zu lassen.

Stimmig und gefasst war alles erst am Ende mit dem Auftritt des Chores und dem abschließenden, innig gesungenen Duett von Penelope und Ulisses, die endlich ganz bei sich waren, wunderbar eingeleitet und gestützt vom Chor.

Der gewohnheitsmäßige Jubel erinnerte daran, welch herrliches Haus die Wiener Staatsoper im Bewusstsein seines Publikums dennoch ist und bleibt.

Den odysseischen Bogen vergeblich zu spannen versucht hat auch Klaus Mäkelä, umjubelter und gleichzeitig, da man nicht nur in Wien beginnt, dem Braten nicht mehr zu trauen, skeptisch und irritiert zur Kenntnis genommener Chefdirigent einer Handvoll internationaler Spitzenorchester bei seinem Debut mit den Wiener Philharmonikern. Gespielt wurde die Sechste Symphonie von Gustav Mahler.

Diese zweite seiner großen Instrumentalsymphonien überbordet vor tief empfundenen Einfällen, entbehrt aber größtenteils einer geschlossenen Form; speziell im langsamen Satz und im ausufernden Finale tritt dies als Schwäche zutage. Dieses weiß dann so gar nicht, wo es eigentlich hinwill, bis der erste Hammerschlag daran erinnert, welchem Umstand die Symphonie ihre Berühmtheit verdankt.

Der Schlag des Schicksals wurde hier allerdings geschönt, da man zwar zur Ausführung einen optisch spektakulär großen Holzhammer wählte, der, wie von Mahler vorgesehen, jedoch nicht, wie in der Partitur gefordert, „wie ein Axthieb“ wirkte und sich zu homogen in den Gesamtklang einfügte. So blieb es hier eher bei einer Visualisierung jenes Dramas, das eigentlich musikalisch hätte wirken sollen.

Und damit sind wir bei Klaus Mäkelä, auf den diese Beobachtung ebenso zutrifft. Als Kind seiner Zeit ist seine Gestik einfach und klar impulsorientiert. Eine dirigentische Schlagfigur, die ursprünglich den Sinn hat, über einen einfachen Impuls hinaus eine Phrase musikalisch zu ordnen und ihr eine weiterführende Perspektive zu verleihen, sucht man vergebens, und was wie Frische und Spontaneität juveniler Gefühlswelt erscheint, entpuppt sich bald als durchchoreographierte Pose.

Bereits nach der ersten rhythmisch geprägten Phase des ersten Satzes hat Mäkelä denn auch seine Geschichte auserzählt. Seine gestische Spezialität sind Akzente im tiefen Register, die er mit publikationswirksamem Nachwippen seines Kopfes, dem der Sinn für etwas darüber Hinausgehendes fehlt, unterstreicht. Gestus ohne Ductus, Augenblicksgewerkel ohne Ziel, Plan und Weitsicht, und ohne Idee für die sich ausbreitende Klangfläche einer Symphonie, die aufgrund ihrer Komplexität eine andere Herangehensweise benötigen würde.

Auch rein kapellmeisterlich ist Mäkelä der Aufgabe an manchen Stellen überraschenderweise nicht gewachsen: Bei diversen Tempowechseln im 3. Satz überlässt er das Orchester sich selber, da er nur mitschlägt, statt ein neues Tempo vorzubereiten, was aber schon zum Handwerk jedes 2. Kapellmeisters eines Provinzopernhauses gehört. Das Orchester reagiert instinktiv, so dass diese Momente kaum merklich vorbeigehen.

Es fehlt hier schlicht an einer geistigen Einstellung, die über die Wiedergabe der äußerlichen Effekte der phänomenal instrumentierten Partitur hinausgeht, vielleicht aber einfach an Bedarf und Interesse, oder auch an einer sorgsamen Ausbildung, die ihn über diese elementare Ebene hinaus orientiert hätte. Wer sich als Hörer am Klangspektakel berauschen mag, wird es zufrieden sein. Für alle anderen ist es schwer, diese Leere auszuhalten.

Es wäre nicht weiter tragisch, und hier liegt ein grundsätzliches Problem, wäre Mäkelä als Dirigent nicht Protagonist einer Generation junger, künstlerisch unbedarfter und mehr und mehr austauschbarer Dirigentinnen und Dirigenten; mithin schon jetzt ein Vorbild für einen Nachwuchs, für deren komplexe Profession er künstlerisch keine Perspektive aufzeigt, die über eine möglichst gute Wirkung auf Photos und Videoclips und einen damit gesteuerten Hype hinausgeht; ganz zu schweigen vom Publikum, das auf diese Weise von der Tiefe und unbedingten Wahrhaftigkeit der Mahler’schen Musik entweder entwöhnt wird, oder gar nicht erst mit dieser Tiefe der musikalischen Empfindung in Berührung kommt.

Es entbehrt nicht der Ironie, dass diese Dimension des menschlich-künstlerischen Ausdrucks, die Mahler durch seine unerreichte, aber doch sehr leicht als vordergründig misszuverstehende Kunst der Orchesterbehandlung erst möglich gemacht hat, hier als krachendes Orchesterspektakel von Mäkelä geradezu konterkariert wird.

Wo ist das Logentür-schmeißende, „Scandalo“-rufende Fachpublikum, für das Wien einst berühmt war? Stattdessen erfährt man in einer Pressenotiz im Internet, dass Mäkelä mit Freunden, Familie und seiner derzeitigen Freundin nach dem Konzert im Hotel Imperial speiste.

Neulich huschte ein Interview mit Egon Wellesz, der Mahler in seiner Jugend als Dirigenten erlebt hat, durch die sozialen Medien. Nach seinem Zeugnis waren Mahlers Dirigierbewegungen zurückhaltend und funktionell, fast benutzte er nur die rechte Hand, die linke fast nie, und er gebar sich keineswegs so wild, wie man es sich angesichts der berühmten Scherenschnitte von Otto Böhler vorstellen mag (Celibidache nannte ihn, Mahler, mehrfach den besten Dirigenten aller Zeiten). Diesem Beispiel zu folgen wäre eine andere Empfehlung für den Nachwuchs. Ein anderes kürzlich aufgetauchtes Video zeigt Otto Klemperer, wie er im hohen Alter die Siebte von Beethoven dirigiert. Dreht man den Ton ab, hört man trotzdem, was gemeint ist.

Als Chef großer Orchester ist jemand wie Mäkelä folglich nur geeignet, wenn er sich mit seiner Popularität für die Sicherung der Finanzierung und Marktbeteiligung der jeweiligen Institution einsetzt, und dafür im Gegenzug durch häufige Abwesenheit glänzt, da ansonsten der Klangkörper zwangsläufig leiden muss.

Wie gesagt, Mahlers Sechste ist ein sehr schwieriges Werk, und seine Kohärenz darzustellen ist nicht nur eine große Herausforderung, sondern auch die ureigenste Aufgabe eines Dirigenten. Eben darum gilt es, durch Verständnis für Gestalt und Form, aus dem alleine die künstlerische Aussage eines Werkes zum Leben erweckt werden kann, den odysseischen Bogen zu spannen. Dazu reichte es bei Mäkelä aber nicht. Es ist ein Scheitern, und das nicht einmal auf hohem Niveau.

Dirigierkarrieren starten früh und geben einer notwendigen Entwicklung, abgesehen von einer kommerziellen, kaum einen Raum. Die Ausbildung scheint vor allem intellektuell verkürzt und auf das Praktisch-Pragmatische und Persönlich-Willkürliche beschränkt; daraus muss dann eine Marke entwickelt werden – anders lässt sich die grassierende professionelle Oberflächlichkeit in der Ausübung dieses Berufs wohl nicht erklären.

Es ist vollkommen klar, dass auch die Karajans, Kleibers, Klemperers, Wands, Boulez‘, Abbados, Mutis, auch ein Janssons, und viele andere mehr (die gibt es übrigens auch heute, aber abseits der dirigentischen Popkultur) eine Entwicklung nehmen mussten, aber ihre Arbeit hatte eine Grundlage, die eine solche ermöglicht hat. Davon ist heute bei den dem Publikum als Maßstab präsentierten Dirigentinnen und Dirigenten wenig zu spüren.

Gerettet wird das wie immer von der stupenden individuellen Qualität der Orchestermusikerinnen und Orchestermusiker (die es nicht nur in den nominellen Spitzenorchestern gibt!), und ihrer geballten und zu oft unfair missbrauchten Routine. Man darf gespannt sein, wie lange sie das noch auszuhalten bereit sind, und wohin dieses unsinnige Theater noch führen soll. Swarowsky (nein, nicht der mit den Perlen, der andere) hat’s gewusst – in welchem Beruf ist es eigentlich noch möglich, dass Können und Karriere folgenlos so enorm auseinanderklaffen?

Genug davon, hinweg damit, denn es gibt auch gute Nachrichten: die wichtigste Konzertreihe der Stadt findet alle paar Wochen im kleinen Ehrbarsaal statt: Das „Echo des Unerhörten“, veranstaltet vom ExilArte Institut der mdw. Letztens war der ins Exil vertriebene Komponist Egon Lustgarten zu entdecken. Als nach dem 1. Weltkrieg die Musikzeitschrift Der Anbruch erschien, „fiel allgemein der Leitaufsatz “Philosophie der Musik” auf. Darin waren die subtilsten und tiefgründigsten Probleme der Musik mit großer Klarheit behandelt. Die künstlerische Eigenart Lustgartens kam schon damals voll zum Ausdruck: seine schöpferische Phantasie benötigt in gleicher Weise Wort und Ton….Eine Oper “Dante im Exil“ ist eben beendet worden; sie ist voll der zarten, doch eindringlichen Musiksprache, die ihn seit langen Jahren zu einem der bekanntesten Vertreter der gediegenen Wiener Schule gemacht hat.“ (Karl Wiener, 1937).

Hier, liebe Wiener Opernhäuser, und in anderen liegengelassenen Werken dieser erst annulierten, dann und jetzt peinlich vernachlässigten Generation, liegt eine wirkliche Chance für eine Erfrischung der Spielpläne.

Unbedingt lohnend ist auch der Besuch in der Kammeroper, wo die Neue Oper Wien einen szenisch und musikalisch umwerfenden Der Prozess von Gottfried von Einem nach Franz Kafka auf die Beine gestellt hat. Auf Alice von Kurt Schwertsik im Odeon (Sirene Operntheater/Serapion-Theater) und die zu Weihnachten allfällige, über das Publikum hinwegfegende und mit immer wieder großäugigem Staunen und Applaus bedachte Hexe in Hänsel und Gretel in der Volksoper freut sich der Rezensent auch schon.

[Jacques W. Gebest, Dezember 2024]

„Da Jesus auf Erden ging“ – Felix Woyrschs Mysterium im Würzburger Adventskonzert

Am 7. und 8. Dezember erklang das Mysterium Da Jesus auf Erden ging von Felix Woyrsch durch den Monteverdichor Würzburg und die Jenaer Philharmonie unter der Leitung von Matthias Beckert in der Würzburger Neubaukirche. Die Soli sangen Mechthild Söffler (Sopran), Bernhard Gärtner (Tenor) und Hanno Müller-Brachmann (Bariton).

Das Innere der Würzburger Neubaukirche

Wer Chorkonzerte liebt und Abwechslung im Spielplan schätzt, der ist in Würzburg gut aufgehoben. Dem Monteverdichor und seinem Dirigenten Matthias Beckert ist es zu verdanken, dass die fränkische Bischofsstadt seit vielen Jahren zu den interessantesten Pflegestätten der Chormusik in Deutschland gehört. Beckert ist ein echter Entdecker, der bezüglich des Repertoires seines Chores auf maximale Vielfalt setzt. So finden sich auf den Spielplänen mit schöner Regelmäßigkeit selten gespielte Werke der Vergangenheit, aber auch zeitgenössische Stücke, teils als Ur- oder Erstaufführung. Wiederholungen werden nach Möglichkeit vermieden. Ein gutes Beispiel dieser Praxis sind die Adventskonzerte des Monteverdichors, bei denen man alle Jahre wieder darauf gespannt sein darf, welche Werke diesmal auf dem Programm stehen.

Das Adventskonzert von 2024, das am 7. und 8. Dezember in der Neubaukirche, dem Konzertsaal der Würzburger Universität, gegeben wurde, lässt sich als eine nahtlose Fortsetzung des letztjährigen ansehen. Damals stand neben Werken von Gabriel Pierné und Hermann Zilcher auch das Kurzoratorium Die Geburt Jesu von Felix Woyrsch auf dem Programm (zum Bericht siehe hier). Dieses Jahr erklang nun eines der drei abendfüllenden Oratorien Woyrschs, das 1917 uraufgeführte Mysterium Da Jesus auf Erden ging.

Woyrschs Jesus gehört zu den nicht wenigen Oratorien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, deren Handlung das gesamte Leben Christi umspannt. In einem Weihnachtskonzert ist es durchaus am Platze, da das Geschehen der Heiligen Nacht gegen Anfang recht ausführlich abgehandelt wird. Auf einen gewaltigen Eingangschor, der mit den Worten „Mache dich auf, werde Licht!“ anhebt, folgen ein Orchesterzwischenspiel mit pastoralen Bläsersoli, die Verkündigung durch einen Frauenchor, ein Hirtenchor in reizvoll wechselnden Taktarten auf den Text des schlesischen Volkslieds Auf dem Berge da weht der Wind, in welchen ein Duett Marias und Josephs eingefügt ist, eine orchestrale Bearbeitung des einstimmig gesungenen Chorals Euch ist ein Kindlein heut geborn (= Vom Himmel hoch da komm ich her) und schließlich ein eigener vierstimmiger Choral Woyrschs auf die bekannten Worte „Vom Himmel hoch, ihr Englein, kommt“. Jede Szene dieser Weihnachtsmusik hat ihren eigenen Klang und unterscheidet sich hinsichtlich der satztechnischen Komplexität von den übrigen. Die Spanne reicht vom chorsymphonischen Tutti und strenger Fugenarbeit bis zur Einstimmigkeit. Was hier im Kleinen an Abwechslung geboten wird, wird in den folgenden Teilen des Werkes weiter ausgeführt.

Woyrsch gliedert sein Oratorium in fünf große Abschnitte. Der Heiligen Nacht folgen die Seligpreisungen mit abschließendem Vaterunser, Christi Wandeln auf dem Meere, die Heilige Woche und der Gang nach Emmaus. Die Bezeichnung „Mysterium“ geht auf die mittelalterlichen Mysterienspiele zurück, deren Tradition sich im Text des Werkes insofern niederschlägt, als dass Woyrsch neben Auszügen aus Evangelien und Psalmen vor allem auf volkstümliche geistliche Dichtung zurückgegriffen hat. Am deutlichsten zeigt sich dies im vierten Teil, in welchem das Geschehen von Christi Einzug in Jerusalem bis zum Karfreitag durch einen einzigen längeren Volksliedtext abgedeckt wird. Dieser ist ein Dialog zwischen Maria und Jesus, eingeleitet von einer instrumentalen Passacaglia und einem Vorspruch des Chores. Die Kreuzigung wird dabei textlich nur angedeutet („Ach Mutter, liebste Mutter mein, mög‘ dir der Freitag verborgen sein!“), musikalisch ist sie durch abrupte Harmoniewechsel und Dissonanzen an der entsprechenden Textstelle durchaus präsent.

Der dramatischste Abschnitt des Werkes ist der Seesturm in der Mitte. Packend schildert Woyrsch die heraufziehenden Windböen, die unruhige See und die Hilferufe der verzweifelten Jünger, bevor er das Ganze zur eigentlichen Sturmszene steigert, die rein musikalisch eine chromatische Fuge mit einem Choral als Cantus firmus ist – ähnlich wie in der verwandten Flut-Fuge in Franz Schmidts Buch mit Sieben Siegeln, mit der sie sich durchaus messen kann, wird hier größtes Chaos durch strengste Ordnung geschildert. Mit dem Erscheinen Christi beruhigt sich das aufgewühlte Meer und die Jünger stimmen erleichtert den Dankeschor an („Du bist wahrlich Gottes Sohn“), zu dessen Begleitung die Wellen nun sanft und angenehm rauschen. Die ganze Szene ist nicht nur ein Höhepunkt in Woyrschs Oratorienschaffen, man darf sie getrost zu den hervorragendsten Momenten der chorsymphonischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts rechnen.

Ja, Da Jesus auf Erden ging ist ein großes Werk, und die beiden Aufführungen in der Würzburger Neubaukirche ließen keinen Zweifel daran aufkommen. Mit der Jenaer Philharmonie und dem aus hochmotivierten jungen Leuten bestehenden Monteverdichor standen Matthias Beckert ausgezeichnet disponierte Kräfte zur Verfügung. Der Dirigent nahm sich die nötige Zeit, übereilte nichts, ließ namentlich den fugierten Schlusschor mit der gebotenen Wucht und Feierlichkeit ausführen, und widmete sich liebevoll der Ausgestaltung von Details. Sehr schön gelangen beispielsweise stets die Kadenzen der dem Chor zugedachten Abschnitte. Bernhard Gärtner (Tenor) überzeugte in den ihm zugedachten kurzen Soli und in der Rolle des Evangelisten ebenso wie Hanno Müller-Brachmann (Bariton) als Jesus. Neben diesen beiden sehr kräftigen Männerstimmen hatte es die Sopran-Solistin Mechthild Söffler mitunter schwer, sich zu behaupten. An Tonschönheit, Lyrik, Zartheit fehlt es ihr nicht, wie bei ihren Soli deutlich wurde, im Zusammenwirken mit dem Chor oder mit den anderen Solisten trat sie allerdings ein wenig zu sehr zurück.

Beide Abende waren sehr gut besucht und endeten mit enthusiastischem Applaus. Auf Felix Woyrschs Bedeutung als Instrumentalkomponist ist durch Einspielungen seiner symphonischen, kammermusikalischen, Klavier- und Orgelwerke in den letzten Jahren wieder stärker hingewiesen worden. Die Würzburger Aufführungen waren nun ein starkes Plaidoyer dafür, auch dem Chorsymphoniker Woyrsch wieder gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Möge Beckert darin würdige Nachfolger unter den Chorleitern finden!

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2024]

Ein gelungener Zemlinsky-Dünser-Abend in Innsbruck

In Innsbruck spielte am 10. November 2024 das Orchester der Akademie St. Blasius unter der Leitung von Karlheinz Siessl Musik Alexander Zemlinskys in Bearbeitungen von Richard Dünser. Es erklangen das Streichquartett Nr. 2 als Kammersymphonie und die Sieben Lieder von Nacht und Traum. Als Sängerin war Anne Schuldt, Mezzosopran, zu hören.

Alexander Zemlinskys 1918 uraufgeführtes Streichquartett Nr. 2 gehört zu den herausragenden Gattungsbeiträgen des frühen 20. Jahrhunderts und kann als bedeutendste Leistung seines Komponisten auf dem Gebiete der Kammermusik gelten. Mit einer ganzen Reihe anderer Streichquartette dieser Epoche – z. B. Max Regers op. 74, Arnold Schönbergs op. 7, Friedrich Kloses Es-Dur-Quartett, Josef Suks op. 31 und Hans Pfitzners später zur Symphonie orchestriertem op. 36 – teilt es die Tendenz zur formalen Expansion und zur äußersten Ausreizung der klanglichen Möglichkeiten der vier Streicher. Wie die etwas älteren Werke Schönbergs und Suks besteht es aus einem einzigen Satz, dessen Unterabschnitte sich aber ungefähr mit den Satzcharakteren einer mehrsätzigen Sonate decken. Innerhalb des 40-minütigen Verlaufs kommt es zu extremen Kontrasten. In Hinblick auf harmonische Kühnheiten kann es Zemlinsky ohne weiteres mit dem späten Mahler und dem frühen Schönberg aufnehmen. Die Musik wechselt zwischen manischer Aktivität und introspektivem Verharren, bleibt mitunter unsicher in der Schwebe, steigert sich dann wieder zu leidenschaftlichen Gefühlsausbrüchen und erstirbt letztlich, nachdem sie sich zuvor noch durch dornige Chromatik winden musste, in lichtem D-Dur. Ohne Zweifel ist dieses Quartett ein Bekenntniswerk. Kein Ton ist darin, der klingt, als wäre er einem bloß artistischen Bedürfnis entsprungen. Hier spricht sich eine zutiefst erschütterte Seele aus.

Anders als Schönberg, sein Schüler und Schwager, hat Zemlinsky nicht den Weg zur Kammersymphonie eingeschlagen, sondern großorchestrale Symphonik und Kammermusik voneinander getrennt kultiviert. Das nichtsdestoweniger im Zweiten Streichquartett vorhandene orchestrale Potential reizte den Komponisten Richard Dünser, dieses Werk zu einer Kammersymphonie umzuformen. Hinsichtlich der Besetzung orientierte sich Dünser an Schönbergs Kammersymphonie op. 9 und verzichtete lediglich auf das Kontrafagott, womit seine Bearbeitung des Zemlinskyschen Quartetts auf 14 Stimmen kommt. Dünsers Instrumentation zeichnet einerseits Zemlinskys Linien mit kontrastreicheren Farben nach, anderseits fügt sie dem Werk neue Ebenen hinzu, indem sie Gegensätze schafft, die im Original höchstens angedeutet waren. So schafft Dünser bereits in den Anfangstakten, die Phrasierung interpretierend, ein Wechselspiel zwischen Streichern und Bläsern, indem er die Bläser an jenen Stellen einsetzen lässt, die Zemlinsky in der Oberstimme durch Akzente hervorgehoben hat.

In dieser Gestalt erklang das Werk am 10. November 2024 im Innsbrucker Kulturzentrum Vier und Einzig durch das Orchester der Akademie St. Blasius unter der Leitung von Karlheinz Siessl. Man hörte 19 Instrumente spielen, da die Violinen auf sechs, die Bratschen auf zwei aufgestockt wurden; angesichts der Stärke der Bläser eine durchaus sinnvolle Entscheidung. Die Darbietung des anspruchsvollen Werkes gelang außerordentlich gut. Karlheinz Siessl ist ein äußerst sorgfältiger Kapellmeister, der, die Takte genau ausschlagend, präzise das Tempo vorgibt. Eine starke, ausladende Geste ist bei ihm immer mit einer spezifischen Bedeutung verknüpft und nie zufällig. Mit sicherer Hand lenkte er die Kräfte seiner hochmotivierten Musiker und wog die einzelnen Sektionen des Orchesters gegeneinander ab, sodass ein in kräftigen, stark kontrastierenden Farben strahlendes Klangbild entstand, in welchem es aber nie grob und unbeherrscht zuging.

Den zweiten Teil des Konzerts bildeten die Sieben Lieder von Nacht und Traum, ein Zyklus, den Richard Dünser aus verschiedenen, getrennt voneinander veröffentlichten Klavierliedern Zemlinskys zusammengestellt hat. Nachdem er seine Auswahl unter den Gesichtspunkten persönlicher Vorliebe und Eignung zur Orchestrierung getroffen hatte, stellte Dünser fest, dass sich alle in einer nächtlichen Szenerie abspielen oder von Träumen handeln – darum der Titel. Das Orchester entspricht demjenigen der aus dem Zweiten Streichquartett gewonnenen Kammersymphonie, erweitert um eine Harfe. Der Verschiedenheit der Gedichte, die von sieben Dichtern unterschiedlicher stilistischer Ausrichtung stammen, entspricht die Vielseitigkeit der Vertonungen Zemlinskys. Herrscht im ersten Lied (Der Traum) ein volksliedartiger Ton vor, und erinnert das zweite (Das verlassene Mädchen) an ein altdeutsches Lied der Renaissance-Zeit, so geben sich Stücke wie Um Mitternacht und Und hat der Tag all seine Qual als kleine symphonische Szenen, bei denen durchaus Richard Wagner, auf dessen Spuren Zemlinskys raffinierte Harmonik ohnehin wandelt, Pate gestanden hat. In Schlaf nur ein mischt sich mit den titelgebenden Worten immer wieder, wie von außen kommend, volksliedhafte Schlichtheit ins spätromantische Zwielicht, und Vöglein Schwermut, das letzte Lied, hebt wie ein Volkslied an, um als symphonischer Gesang zu schließen. Immer wieder beeindruckt, wie Zemlinsky durch die Begleitung Atmosphäre schafft, sei es tonmalerisch, wie in den Vogelrufen im Traum, und den nächtlichen Unwettern in Um Mitternacht und Ich geh nachts, sei es als Darstellung der sich steigernden Erregung und schließlichen Resignation im Verlassenen Mädchen. Dünsers Instrumentation trägt sehr wohl zur Vertiefung der Eindrücke bei. Er hat sich übrigens eng an Zemlinskys Klaviersatz gehalten, sodass in seiner Bearbeitung einige Stellen ungeachtet der neuen Klangfarben auffallend klavieristisch anmuten.

Die Mezzosopranistin Anne Schuldt darf man durchaus als ideale Besetzung für diese Lieder betrachten. Allgemein passt ihre kräftige, dunkel getönte und lyrisch-samtene Stimme sehr gut zur Grundstimmung der Musik Zemlinskys, doch versteht sie sich gleichfalls darauf, sich in den individuellen Charakter jedes einzelnen Liedes hineinzuversetzen und ihm zu adäquaten Ausdruck zu verhelfen. Hervorheben muss man außerdem ihre gute Textverständlichkeit. Karlheinz Siessls umsichtige Leitung bewährte sich auch hier. Das Orchester bot der Sängerin eine sehr belebte Bühne, auf der sie sich entfalten konnte, ohne fürchten zu müssen, von den Instrumenten übertönt zu werden.

Die Akademie St. Blasius kann sich diesen Abend als großen Erfolg verbuchen.

[Norbert Florian Schuck, November 2024]

Ansprechend Bildhaftes aus Australien und Großbritannien

Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks spielte in seinem ersten musica viva Konzert der neuen Saison am 25. Oktober 2024 im Münchner Herkulessaal unter Edward Gardner zwei Orchesterwerke des Briten Oliver Knussen: „Flourish with Fireworks“ und die „Cleveland Pictures“. Von Knussens Schüler Mark-Anthony Turnage erklang „Three Screaming Popes“. Die größte Aufmerksamkeit erregte jedoch die Australierin Liza Lim mit der bejubelten Uraufführung von „A Sutured World“, eine Art Cellokonzert für den Solisten des Abends, Nicolas Altstaedt.

Nicolas Altstaedt, Edward Gardner, Liza Lim, BRSO ©BR/Astrid Ackermann

Nach Meinung des Rezensenten erklingen ja Werke britischer Herkunft, gemessen an ihrer Bedeutung, generell zu wenig auf deutschen Konzertpodien. Nun hatte das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks für diesen Abend nicht nur Edward Gardner, den derzeitigen Chef des London Philharmonic Orchestra zur musica viva eingeladen, sondern auch Musik zweier kompositorischer Schwergewichte der letzten Jahrzehnte programmiert, die gerade in München zuletzt nicht oft zu hören waren. Oliver Knussen (1952–2018) war eine eminente, frühreife Doppelbegabung, dirigierte schon mit 15 die Premiere seiner 1. Symphonie beim London Symphony Orchestra. Als Dirigent ein kongenialer Interpret komplexer zeitgenössischer Musik, – etwa der Werke Elliott Carters – bezog sich seine eigene Musik stark auf Strawinsky, knüpfte gerade an dessen Spätwerk an. Seine Instrumentationskunst war immer exzeptionell. Dies beweist das BRSO gleich in Flourish with Fireworks (1993): Zwar nur eine Gelegenheitskomposition für das Antrittskonzert von Michael Tilson Thomas als Chefdirigent des LSO, leitet Gardner den 4-Minüter präzis, ohne mit der linken Hand allzu viel anzuzeigen und kreiert einen mitreißenden Klang, der sich offenkundig an Strawinskys frühem Feu d’artifice orientiert –immerhin ein positiv einstimmendes Warm-up.

Die Australierin Liza Lim (Jahrgang 1966) braucht man in München nicht mehr vorzustellen. Sie erhielt den Happy New Ears Preis der Hans und Gertrud Zender Stiftung für 2021, und ihre Musik erklang mehrfach im Herkulessaal. Vieles davon zeugt von starkem politischem Engagement und Umweltbewusstsein. A Sutured World, dem deutsch-französischen Solisten Nicolas Altstaedt quasi auf den Leib geschrieben, darf das Publikum neben allem philosophischen Über- und Unterbau inklusive Begrifflichkeiten wie Wundheilung, Riss, Sutra oder Narbe schlicht als ein grandioses Cellokonzert genießen. Die für den Hörer klar strukturierte, vierteilige Anlage sowie Altstaedts hochengagierter, zudem von einer enormen emotionalen Spannweite geprägter Vortrag können durchgehend überzeugen: von mystischer Versenkung über Halluzination bis zu ekstatischer Spielfreude – der letzte Abschnitt ist mit Simon says: Alle Vögel fliegen hoch betitelt. Natürlich werden alle spiel- und klangtechnischen Möglichkeiten des Instruments genutzt: So beginnt Altstaedt sein erstes Solo mit einem Barockbogen. Für den wieder intimen Schluss nutzt er gar zwei Bögen gleichzeitig, darf auch mal in durchaus tonal gedachten Kantilenen schwelgen. Das mit nur 2-fachen Bläsern besetzte Orchester tritt oft mit Einzelinstrumenten (Harfe) oder kleineren Gruppen in interessante Dialoge mit dem Solisten und verzaubert mit schlüssiger, fein austarierter Farbigkeit, wird vom Dirigenten mit größter Übersicht und klarer Dynamik so geleitet, dass Altstaedt mit seinem Cello stets durchkommt. Selten hat das musica viva Publikum mit derart ungeteiltem, begeistertem Applaus ein Solistenkonzert bejubelt wie Liza Lims staunenswertes Stück; da verbot sich jede Zugabe.

Nach der Pause gibt es dann zwei Orchesterwerke, die sehr konkret von bildender Kunst inspiriert wurden. Mark-Anthony Turnage (*1960) studierte u. a. bei Oliver Knussen und bezeichnete den Lehrer als Vaterfigur, zu der er eine geradezu familiäre Beziehung unterhielt. Zu Weltruhm gelangte der junge Komponist auf einen Schlag bei der ersten Münchner Biennale 1988 mit seiner Oper Greek. Auch Three Screaming Popes – nach Francis Bacons berühmten Studien über Papstporträts von Velázquez – aus der gleichen Zeit ist eigentlich mittlerweile ein Klassiker. So wie Bacon die alten Gemälde verzerrt, benutzt Turnage historische spanische Tänze als Grundlage. Es ist jedoch weniger die elaborierte Umformung musikalischen Materials als pure Ausdrucksintensität, die sofort unter die Haut geht. Turnage konnte immer mittels Elementen aus Jazz und Pop zusätzliche Härten in seine Musik einbringen, was hier voll aufgeht. Gardner – jetzt mit noch mehr Detailkontrolle als vor der Pause – und das BRSO, die eine unglaubliche Spannung aufrechterhalten, erzielen nebenbei eine bessere Durchsichtigkeit als Simon Rattle in seiner 1992er Aufnahme mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra, mit dem Turnage seinerzeit assoziiert war: faszinierend. Der Komponist freut sich sichtlich über diese Darbietung und die Ovationen der Zuhörer.

Zuletzt erklingen Knussens Cleveland Pictures: Sieben geplante Stücke, entstanden zwischen 2003 und 2009, die bereits die letzten Orchesterwerke des Briten darstellen, leider teils unvollendet geblieben sind und erst vor zwei Jahren uraufgeführt wurden. Tatsächlich wollte er quasi neue Bilder einer Ausstellung – nach Exponaten aus dem Cleveland Museum of Art – erschaffen, die freilich weit mehr als pittoreske, mimetische Umsetzungen einzelner Kunstwerke sein sollten. Im ersten Satz mit Bezug auf Rodin wird ein völlig tonaler Streichersatz mit aufmüpfigem Blech konfrontiert, im zweiten (Velázquez) gibt es kurze Renaissance-Anklänge, im dritten (Gauguin) eine knappe, sehr effektiv energiegeladene Streicherlinie. Im freundlichen, fast Tschaikowsky-nahen vierten (Two Clocks) findet sich ein unüberhörbares Zitat aus Mussorgskys Boris Godunow. Der Goya-Satz (St. Ambrose) mit äußerst delikater Harmonik – Mark-Anthony Turnage gewidmet – richtet seinen Blick gebetsartig nach oben, aber wohl, allein durch die verwendeten spanischen Tanzrhythmen, ebenso auf die Three Screaming Popes. Wäre es fertiggestellt worden, hätte man im letzten Bild (Turners The Burning of the Houses of Lords and Commons) mit Sicherheit die Entwicklung einer gewaltigen Feuersbrunst hören können. So bricht das Werk nach einer unglaublich starken, düster-bedrohlichen und unheilschwanger initiierten Atmosphäre schnell ab. Knussen zeigt bei all diesem fast schon unverschämten Schönklang nochmals seine ganze Instrumentationskunst, die Bewunderung verdient. Das Publikum findet großen Gefallen an dieser durch und durch verständlichen Musik. Dirigent und Orchester können mit einem gelungenen, mal überhaupt nicht verkopftem musica viva Abend mehr als zufrieden sein.

[Martin Blaumeiser, 27.10.2024]

Das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música brilliert beim „räsonanz“ Stifterkonzert der musica viva

Für das erste räsonanz Stifterkonzert der neuen Münchner musica viva Saison – es folgt noch ein zweites im Januar – hatte die Ernst von Siemens Musikstiftung am 28. 9. 2024 das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música mit seinem Chefdirigenten Stefan Blunier ins Münchner Prinzregententheater eingeladen. Zunächst erklang das großangelegte Orchesterwerk „Ruf“ des portugiesischen Komponisten Emmanuel Nunes. Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ benötigt zusätzlich als Solisten ein Streichquartett: hier spielte kein Geringeres als das weltberühmte Arditti Quartet. Wie gewohnt ein staunenswertes Programm.

Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música; StefanBlunier – © BR-Astrid Ackermann

Die räsonanz Stifterkonzerte der Ernst von Siemens Musikstiftung bleiben ihrem Prinzip treu, einerseits höchst aufwändige Werke zu programmieren, die bereits historische Relevanz haben, ohne allzu oft aufgeführt worden zu sein, andererseits dem Münchner Publikum Klangkörper vorzustellen, die bislang selten oder gar nie hier zu Gast waren. Letzten Samstag brillierte im „Prinze“ das Orquestra Sinfónica do Porto Casa da Música, 1947 zunächst als Konservatoriumsorchester gegründet, nun nach dem 2001 für den Auftritt Portos als eine Kulturhauptstadt Europas neu errichteten musikalischen Zentrum Casa da Música benannt und dort ab 2006 beheimatet. Der Schweizer Stefan Blunier – in Deutschland u. a. von 2008-2016 GMD in Bonn – ist seit 2021 Chef des 94-köpfigen Ensembles. Leider hatten wohl selbst Teile des geladenen Publikums wegen der bereits grassierenden Erkältungswelle absagen müssen: Etliche Plätze blieben frei.

Nach anfänglichen Studien in seiner Heimat bei Fernando Lopes-Graça war Emmanuel Nunes (1941–2012) Schüler von Boulez, Pousseur und Stockhausen, gehört somit bereits zur zweiten Komponistengeneration, die man mit den Darmstädter Ferienkursen verbindet. Seine großangelegten Vokal- und Orchesterwerke führten bald zu internationalen Erfolgen. Später unterrichtete der Portugiese selbst in Lissabon, Freiburg und Paris. Ruf – für Orchester und Tonband (1977, revidiert 1982) – verwendet nicht einmal einen Riesenapparat: 28 Streicher, nur doppelt besetzte Bläser, 2 Schlagzeuger, Klavier (+ Celesta) und Harfe. Der 45-Minüter besteht aus sechs verbundenen Abschnitten. Bei vier davon wird der zeitliche Ablauf unerbittlich durch das Zuspielband vorgegeben. Das Orchester spielt seine Parts hochdifferenziert – jeder Spieler quasi als Solist – und der Dirigent muss trotz des engen Korsetts einerseits präzises Zusammenspiel, andererseits ein gehöriges Maß an kontrolliert aleatorischen Ereignissen koordinieren. Stefan Bluniers Schlagtechnik ist von makelloser Klarheit, dabei zum Glück nie mechanisch. Er formt den Klang der einzelnen Orchestergruppen immer gestisch äußerst dynamisch mit, agiert zugleich als emotionaler Katalysator dieses sich anfangs als recht chaotisch darstellenden, jedoch mit feinst austariertem Innenleben gestalteten musikalischen Stromes. Die elektronischen Klänge erscheinen als echte – gerade auch räumliche – Erweiterung, wirken streckenweise mit ihrem Gewobbel wie aus zeitgenössischen Science-Fiction-Filmen dem doch recht natürlichen Geschehen im Orchester dialektisch entgegen. Am Schluss wird es sehr leise, mit ganz unterschwelligen Zitaten aus spätromantischer Musik – Wagner und Mahler: ein überwältigendes Erlebnis. Hier ist bereits klar, dass man das tolle Orchester aus Porto einfach liebgewinnen muss.

Ganz anders nach der Pause Helmut Lachenmanns „Tanzsuite mit Deutschlandlied“ von 1979/80. Hier ist alles bis ins letzte Detail ausnotiert, mit schwäbisch-protestantischer Gründlichkeit. Dabei ist dies ein perfektes Beispiel der vom bald 89-jährigen Komponisten selbst so benannten Verweigerungsästhetik, die er über Jahrzehnte gepflegt und Teile des Publikums damit häufig ziemlich provoziert hat. So bleibt also hier das „Unerhörte“, lediglich Mitzudenkende, zentrales Element des großbesetzten Stücks, wohingegen das tatsächlich Erklingende konsequent so gut wie jede Hörerwartung enttäuscht. Nicht nur das Orchester, sondern ebenso das solistische, kaum merklich verstärkte Streichquartett, das anfangs die Führung übernimmt, spielen fast nur geräuschhafte Maskierungen. Der Prozentsatz „normal“ herausgebrachter „Töne“ ist minimal, dann jedoch meist verstörend. Das Arditti Quartet kennt das Stück genau; die vier Streicher schütteln die komplexen Spielanweisungen locker aus den Ärmeln. Die den 17 Abschnitten zugrunde liegenden Tanzrhythmen werden noch am ehesten erkennbar, wenn man optisch (!) dem wieder absolut souveränen Dirigenten folgt. Nach und nach wird klar, mit welch subversiver Energie und tiefgründigem Humor hier Altbekanntes komplett dekonstruiert wird. Selbstverständlich kommt auch das Deutschlandlied in der letzten der fünf Abteilungen – Mahler lässt grüßen – nur als „leeres Gerüst“: Nicht mal ansatzweise erscheinen Text oder Ton verbatim. Lediglich in der Partitur sind Stimmen mit den Silben der ersten (!) Strophe unterlegt, bereits zu Tode geritten (Galopp), bevor diese überhaupt anklingen könnte. Trotz des anstrengenden Appells von Lachenmanns Musique concrète instrumentale ans Publikum, hier zu versuchen, ständig zwischen den Zeilen zu hören, wird diese von Blunier und seinen fabelhaften portugiesischen Musikern sorgfältigst erarbeitete Darbietung keinen Moment langweilig. Und irgendwie passt Lachenmanns Werk auch zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution. Provozieren kann das heutzutage kaum mehr – und Musik wie Ausführende, die hier wirklich alles gegeben haben, erhalten verdient langen Applaus. Das Stifterkonzert ist einmal mehr seinen hohen Ansprüchen gerecht geworden.

[Martin Blaumeiser, 30. 9. 2024]

St. Florianer Brucknertage 2024 [2]: Ballot dirigiert Bruckners Neunte Symphonie

Die in den Boden der Stiftskirche von St. Florian eingelassene Platte zeigt die Lage der Krypta an, in welcher Anton Bruckner 1896 zur letzten Ruhe gebettet wurde.

(Zu Teil 1 des Berichts siehe hier.)

Den Höhepunkt der St. Florianer Brucknertage bildet traditionell das abschließende Symphoniekonzert, das seit gut einem Jahrzehnt in den Händen Rémy Ballots liegt. Ballots Aufführungen der Bruckner-Symphonien mit dem Altomonte-Orchester St. Florian und dem Oberösterreichischen Jugendsinfonieorchester wurden von Gramola mitgeschnitten und seit 2014 auf CD veröffentlicht. Mit der annullierten d-Moll-Symphonie wurde dieser Zyklus im vergangenen Jahr abgeschlossen, sodass das diesjährige Konzert in gewisser Weise eine Zäsur markiert. Dies und die Feierlichkeiten zu Bruckners 200. Geburtstag ließen für 2024 ein besonderes Programm erwarten, und man wurde nicht enttäuscht. Am 23. und 24. August kamen in der Stiftsbasilika durch das Altomonte-Orchester unter der Leitung von Rémy Ballot die drei abgeschlossenen Sätze der Neunten Symphonie zur Aufführung; vorangestellt wurden ihnen acht Fragmente des unvollendeten Finales, wobei der Bruckner-Biograph Felix Diergarten die Moderation übernahm.

Um Bruckners Neunte Symphonie ranken sich mancherlei Legenden. In letzter Zeit hört man beispielsweise häufiger die Vermutung, der Komponist habe in der Coda des Finales die Hauptthemen seiner früheren Symphonien (oder zumindest eine Auswahl derselben) noch einmal verarbeiten wollen. Nikolaus Harnoncourt hing diesem Gedanken an (er äußerte ihn in seinem auf CD festgehaltenen Vortrag über die Finale-Fragmente), anscheinend auch Augustinus Franz Kropfreiter; der belgische Komponist Sébastien Letocart legte ihn seiner Vervollständigung des Finales zugrunde. Gern wüsste ich, wann und durch wen diese Idee aufgekommen ist. Mir erscheint sie widersinnig, zumal im erhaltenen Material nichts darauf hindeutet, dass zum Abschluss der Neunten Themen hätten herangezogen werden sollen, die nicht im Finale oder den vorangehenden Sätzen bereits erklungen sind.

Keine Legende ist dagegen, dass Bruckner über der Arbeit an einem Partitur-Entwurf des Finales starb. Er hatte also bereits eine sehr klare Vorstellung vom Verlauf des Satzes, wenngleich er, wie die erhaltenen Bögen zeigen, mit der Instrumentation nicht fertig wurde. Dass diese Partitur bis zum abschließenden Doppelstrich gediehen war, liegt durchaus im Bereich des Wahrscheinlichen. Umso mehr muss man das Versäumnis der Behörden bedauern, die Wohnung des Komponisten nach seinem Tode rechtzeitig zu versiegeln. In den Worten von Bruckners Arzt Richard Heller stürzten sich, kaum hatte die Nachricht von Bruckners Ableben in Wien die Runde gemacht, „Befugte und Unbefugte wie die Geier auf seinen Nachlass“. Die Andenkenjäger griffen offenbar nach den nächstliegenden Notenblättern, darunter die Partiturbögen des Finales der Neunten Symphonie. So erklärt sich die zerrissene Gestalt des überlieferten Materials. Heute sind 22 Bögen der Partitur bekannt. Vermutlich waren es ursprünglich 40. Der Verlauf des Satzes lässt sich nach einer beinahe vollständig vorhandenen Exposition bis weit in den zweiten, Durchführung und Reprise verknüpfenden Satzteil hinein verfolgen. Eine Fuge über das Hauptthema, die dessen Reprise ersetzt, bildet offensichtlich die Peripetie der musikalischen Handlung. An ihrem Ende kommt das Triolenmotiv aus dem Hauptthema des Kopfsatzes, zu einer Fanfare in Dur umgebildet, wieder zum Vorschein. Dieses bricht in den letzten vorhandenen Takten der Partitur erneut durch und sollte wohl den Beginn der Coda ankündigen. Zuvor war das choralartige Schlussthema zu seiner Reprise gelangt, begleitet vom Te-Deum-Motiv, das in den letzten Takten der Exposition eingeführt worden war. Man sieht, wie positiv konnotierte Elemente in der zweiten Hälfte des Satzes zunehmend die Oberhand gewinnen. Die Coda sollte zweifellos diese Entwicklung zum krönenden Abschluss bringen und damit eine Antwort auf die Schlüsse der vorangegangen Sätze geben.

Aufführungen der Neunten Symphonie mit Finalsatz stehen vor dem Problem, dass man letzteren nicht so spielen kann wie beispielsweise Contrapunctus 14 aus Bachs Kunst der Fuge oder das Dies Irae aus Max Regers Lateinischem Requiem, die ja bis zum Abbruch vollständig ausgearbeitete Stücke sind. Dagegen ist Bruckners Neunte als viersätziges Werk nur spielbar, wenn ein Bearbeiter das Finale zu Ende instrumentiert und mit Takten eigener Komposition ergänzt. Unter den verschiedenen Versuchen erscheint mir nur die Arbeit von Nicola Samale, Giuseppe Mazzuca, John Philips und Benjamin-Gunnar Cohrs diskutabel, denen es als einzigen gelang, die Lücken ohne Stilbrüche zu schließen. Ob allerdings ihre Coda hält, was Bruckner verspricht? Da sich das originale Material zur Coda auf wenige Takte beschränkt, stehen alle Bearbeiter des Finales, wie Felix Diergarten in seiner Einführung treffend sagte, vor der Aufgabe, „Bruckner seine letzten Worte in den Mund zu legen.“ Dass im Jahr von Bruckners 200. Geburtstag im Schlusskonzert der Brucknertage in der Stiftsbasilika von St. Florian – ein Stockwerk tiefer liegt in der Krypta die sterbliche Hülle des Meisters in Hörweite aufgebahrt! – nicht von dieser Option Gebrauch gemacht wurde, ist völlig verständlich. Man wollte dem Publikum zeigen, in welchem Zustand der Satz überliefert ist, wie weit Bruckner mit der Arbeit kam und wie stark das Werk durch die posthume Fragmentierung beschädigt wurde. Verzichtet wurde bei der Aufführung auf alles Material, in welchem ein endgültiger Wille Bruckners nicht erkennbar schien, weswegen beispielsweise weniger Takte aus der Durchführung des Finales erklangen als von der Hand des Komponisten vorhanden sind. „Wir spielen nicht alles, was Bruckner geschrieben hat, aber alles, was wir spielen, hat Bruckner geschrieben“, so Diergarten. Das heißt auch, dass unvollständig instrumentierten Abschnitten nicht eine Note hinzugefügt wurden. Besonders deutlich wurde dies in der zentralen Fuge, die Bruckner nur in Streicherstimmen niederschrieb, und in den letzten Fragmenten, in denen sich der Orchesterklang in den Bläsern ausdünnt.

Den Finalsatz in seiner fragmentarischen Gestalt ans Ende eines Konzerts zu stellen, ist unmöglich. Man muss ihn folglich zu Beginn bringen, vor den drei fertigen Sätzen. Die Lückenhaftigkeit des Materials macht es notwendig, mit kurzen Erklärungen durch die Musik zu führen. So präsentierten Rémy Ballot und das Altomonte-Orchester, moderiert von Felix Diergarten, insgesamt acht Fragmente des Finales. In der Generalprobe, die vom klingenden Ergebnis her durchaus als vollwertiges Konzert angesprochen werden konnte, wurden dem Anfang des Finales die letzten Takte des Adagios vorangestellt: ein sinnvoller Gedanke, wird dadurch ja der Zuhörer am Ende der Aufführung, wenn diese Takte ein weiteres Mal zu hören sind, daran erinnert, dass ihnen eigentlich nach dem Willen des Komponisten noch etwas folgen soll! In den beiden Konzerten selbst gingen die Musiker allerdings von diesem Einfall wieder ab und begannen direkt mit dem Finale. Man kann diese Entscheidung bedauerlich finden, aber angesichts der Anforderungen, die der Schluss des Adagios an die Hörner stellt, ist es nachvollziehbar, den Hornisten einen solch heiklen Einsatz gleich zu Beginn nicht zuzumuten.

Was die Qualität der musikalischen Darbietung betrifft, so war es angesichts des sich im Raumhall des Marmorsaales verlierenden Beethoven-Quartetts höchst erfreulich, hier nun ein Musizieren erleben zu können, das sich in voller Übereinstimmung mit den Gegebenheiten des Raumes abspielte. Rémy Ballot stellte wieder einmal unter Beweis, wie trefflich er auf den langen Nachhall der Basilika zu reagieren und die Aufführung an diesem auszurichten weiß. Er nimmt relativ breite Tempi, die aber stets flüssig und nirgends übertrieben langsam wirken, ganz einfach weil sie der Entfaltung des Klanges im Kirchenraum Rechnung tragen. Die Brucknerschen Generalpausen hört man hier nicht als Unterbrechungen der Musik, sondern als ein Ausatmen der Musik in den Hall hinein. Ist der Ton ganz entschwunden, nimmt das Orchester den Faden wieder auf. Musik und Raum befinden sich permanent im Zwiegespräch miteinander. Dieses Eingehen auf den Aufführungsort ist die eine wesentliche Stärke Ballots, die andere ist sein Sinn für Harmonik und Kontrapunkt. Wo manch anderer Dirigent nur Begleitfloskeln oder Stütztöne wahrnimmt und folglich nicht weiter beachtet, hört Ballot Melodien, die mit anderen Melodien in einem Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung stehen und vermittelt seinen Orchestermusikern, was hier Wichtiges zu sagen ist. Welche Aktivität in Bruckners Bässen herrscht, zeigte sich gleich zu Anfang des Kopfsatzes: In der mit T. 27 beginnenden Steigerungspartie agierten die tieferen Streicher nicht als bloßer Hintergrund für die Ersten Violinen, sondern fassten ihre Noten als langgestreckte Linien auf. So befeuerten die Orchestergruppen einander von Beginn an gegenseitig. Besonders innig gelang der Seitensatz, in welchem man perfekt das feine Spiel der Wellen wahrnehmen konnte, welches die differenziert instrumentierten, ineinander verschlungenen Themen bildeten. Aber auch sonst herrschte schönste Sorgfalt in der Darstellung des kontrapunktischen Gewebes und der instrumentatorischen Feinheiten. Die Hauptstimmen ließen die Nebenstimmen durchklingen, ohne ihren Charakter als Hauptstimmen einzubüßen, alles getragen von einem kräftigen, lebendigen Bass. Zum Scherzo ist zu sagen, dass es lebhafter und zupackender klang als in Ballots auf CD festgehaltener früherer Aufführung der Neunten. (Mit 14 Minuten ist dieses wohl die wohl langsamste Einspielung des Scherzos überhaupt, allerdings durchaus spannungsvoll!) Das zunächst von den Violinen allein vorgestellte Anfangsthema des Adagio wurde nüchtern dargeboten, ohne zu schleppen. Man vertraute ganz auf die dem Thema innewohnenden Spannkräfte und sparte sich jede sentimental-rhetorische Übertreibung. Solcher Mittel bedarf es nicht, wenn man, wie Ballot, es schafft, die Musik aus den harmonisch-kontrapunktischen Prozessen emporwachsen zu lassen. Wie tief die Musiker in den Stoff eingedrungen sind, zeigte sich namentlich anhand der großen Steigerung im letzten Drittel des Adagios, wo wirklich in jeder der übereinandergelagerten Klangschichten lebhaft der Puls schlug. In der Generalpause nach dem Höhepunkt konnte man am eigenen Leibe spüren, wie die im Tredezimakkord zusammengeballten Töne auseinanderstoben und den Kirchenraum durchrasten. Wie der Anfang des Satzes hatte auch der Schluss nichts Rührseliges. Es gab keine gekünstelten Ritardandi, kein aufgesetztes Schmachten in der Artikulation. Ganz natürlich löste sich die Spannung und die Musik kam zur Ruhe.

Wie gesagt, hatte die Generalprobe bereits die Qualität einer vollwertigen Aufführung. Allerdings fiel doch auf, dass sich die Verbindung zwischen den Musikern im Verlauf der drei Tage zwischen Generalprobe und zweitem Konzertabend noch einmal intensivierte, was sich auch anhand der Reaktion des Publikums zeigte: Während es am Ende des ersten Konzerts nach einer längeren Pause in Applaus ausbrach, herrschte nach dem zweiten Konzert völlige Stille. Alle Anwesenden waren derartig von der soeben gehörten Aufführung gebannt, dass offenbar jedem Einzelnen eine Unterbrechung dieser Stille unpassend erschien. Erst als der Dirigent dem Konzertmeister die Hand reichte, war der Bann gebrochen und tosender Beifall füllte das Kirchenschiff.

[Norbert Florian Schuck, September 2024]

St. Florianer Brucknertage 2024 [1]: Ein Streichquartett von und ein Buch über Franz Xaver Müller

Angesichts der Tatsache, dass sich 2024 der Geburtstag Anton Bruckners zum 200. Male jährt, nimmt es nicht Wunder, dass die Veranstaltungen im Stift St. Florian dieses Jahr besonders opulent ausfallen. Das Stift feierte das Jubiläum seines größten Musikers bereits mit der Ausstellung Bruckners Visionen, die noch bis Oktober besucht werden kann und neben klassischen Vitrinen auch drei im Stiftshof aufgestellte Pavillons mit virtuellen Präsentationen umfasst. Dazu traten nun im August die St. Florianer Brucknertage, in deren Rahmen diesmal nicht nur ein einfaches wissenschaftliches Symposium abgehalten wurde, sondern ein viertägiger Internationaler Bruckner-Kongress, den die Brucknertage gemeinsam mit der Bruckner Society of America ins Werk setzten. Auch gipfelte das musikalische Programm in zwei Symphoniekonzerten besonderer Art: Am 23. und 24. August spielte das Altomonte Orchester St. Florian unter der Leitung von Rémy Ballot Bruckners Neunte Symphonie einschließlich erhaltener Fragmente des unvollendeten Finalsatzes. Neben diesen Konzerten besuchte der Verfasser dieser Zeilen das Kammerkonzert am 21.August, in welchem das Varga Quartett, verstärkt durch Florian Eggner am zweiten Violoncello, Ludwig van Beethovens Streichquartett e-Moll op. 59/2 und Franz Schuberts Streichquintett C-Dur vortrug. Dazwischen kam ein weiterer Meister aus St. Florian zu Wort: Franz Xaver Müller mit seinem Quartettino D-Dur von 1928.

Christoph Lettner: Franz Xaver Müller. Priester, Musiker, Mensch.

Eigenverlag Marktgemeinde Dimbach 2023, 100 Seiten.

ISBN: 978-3-200-09369-0

Bevor wir zur Schilderung des auf den Brucknertagen Gehörten kommen, sei der Blick auf ein neues Buch gerichtet, das in engem Zusammenhang mit St. Florian steht und im dortigen Stiftsladen erhältlich ist. Anton Bruckner ist zwar der überragende, keineswegs jedoch der einzige große Komponist in der Geschichte des oberösterreichischen Augustiner-Chorherrenstiftes. Franz Xaver Müller (1870–1948), der selbst Augustiner-Chorherr war, darf als die bedeutendste Musikerpersönlichkeit gelten, die im frühen 20. Jahrhundert in St. Florian wirkte. Wie einst Bruckner begann er seine musikalische Laufbahn als Sängerknabe im Stift. 1904 wurde er dort Stiftsorganist und zwei Jahre später Regens Chori, was er bis 1924 blieb. Danach wirkte er bis 1943 als Domkapellmeister in Linz. Müller war kein Schüler Bruckners – er studierte bei Johann Evangelist Habert und Josef Venantius von Wöss –, doch hatte er in seiner Jugendzeit ausgiebig Gelegenheit, diesen als Mensch und Musiker näher kennenzulernen. So assistierte er Bruckner wiederholt bei der Überprüfung der Stimmführungen in dessen Partituren und hörte ihn oft an der Orgel der Stiftskirche improvisieren. Diesen Tagen gedenkend verfasste Müller 1931 für die schweizerische Zeitung Der Bund den kurzen Text „Anton Bruckner. Persönliche Erinnerungen“, der zu den lebendigsten Schilderungen der Persönlichkeit Bruckners gehört. Müller komponierte vorrangig geistliche Musik, darunter sechs lateinische Messen in verschiedenen Besetzungen, ein Requiem für A-cappella-Chor und, als Hauptwerk, das 1924 uraufgeführte Oratorium Der heilige Augustinus. Unter seinen Instrumentalkompositionen ragt eine D-Dur-Symphonie von Brucknerschen Ausmaßen hervor. – In wie weit Müller als Symphoniker stilistisch auf Bruckners Spuren wandelt, müsste eine Aufführung dieses zuletzt 1960 gespielten Werkes klären.

Das Interesse an Müller kommt nun erfreulicherweise wieder in Gang. Lange Zeit existierte nur eine einzige Monographie zu Leben und Schaffen des Komponisten, das 1970 anlässlich seines 100. Geburtstages erschienene Buch von Joseph Mayr-Kern: Franz Xaver Müller. Ein oberösterreichischer Komponist zwischen Anton Bruckner und Johann Nepomuk David. (David war Schüler Müllers und sang unter seiner Leitung als St. Florianer Sängerknabe.) Es enthält neben einer Biographie eine ausführliche Betrachtung der Müllerschen Messen und im Anhang Aufsätze aus Müllers Feder, darunter die oben erwähnten Erinnerungen an Bruckner. An die Seite dieser Veröffentlichung ist im vergangenen Jahr ein weiteres Buch über Müller getreten. Herausgegeben von der Markgemeinde Dimbach, Müllers Heimatort, erschien Christoph Lettners Dokumentation: Franz Xaver Müller. Priester, Musiker, Mensch. Wichtigste Grundlage des Buches ist der private Nachlass des Komponisten, der von seinen Verwandten sorgfältig aufbewahrt wurde, bislang aber der Forschung unbekannt war. Christoph Lettner stellt nun erstmals dieses reiche Korpus an Dokumenten vor: Die Briefe, die Müller mit seinen Verwandten und Freunden gewechselt hat, finden ihre Ergänzung in zahlreichen Photographien sowie zeitgenössischen Zeitungsberichten. Es wird dadurch nicht nur der Lebenslauf des Komponisten nahezu lückenlos abgedeckt, auch tritt daraus Franz Xaver Müllers Charakter plastisch hervor. Wir lernen einen Menschen kennen, der sich sowohl als Musiker, als auch als Priester hingebungsvoll seinen Aufgaben widmet und stets um das Wohl seiner Mitmenschen, namentlich seiner Geschwister (die er alle überlebt) und deren Kinder, besorgt ist, der aber auch herzlich lachen kann, eigene Theaterparodien zur Aufführung bringt und bei Kuraufenthalten seine Mitgäste gut zu unterhalten weiß; der auf Reisen von den Schweizer Bergen und der Blauen Grotte von Capri schwärmt, und gegen Ende seines Lebens ohnmächtig zusehen muss, wie Linz im Zweiten Weltkrieg verheert wird; der Nachforschungen über Bruckner betreibt und Auskünfte ehemaliger St. Florianer Sängerknaben sammelt. Gleichsam im Vorübergehen erhalten wir Einblick in die gesellschaftlichen Verhältnisse des ländlichen Oberösterreich, wo der „Fleischhacker-Franzl“ als Neffe des Bürgermeisters im schwer erreichbaren Dimbach heranwächst, wo seine Schwestern sich in ihrer Jugend als Dienerinnen bei örtlichen „Herrschaften“ verdingen müssen und wo man in der Familie zum Feierabend mehrstimmig das Andreas-Hofer-Lied singt. Natürlich kommen auch Linz und das Stift St. Florian nicht zu kurz. Lettner lässt sich als Autor nur dort ausführlicher vernehmen, wo Hintergrundinformationen nötig sind, etwa zu Beginn bei der Schilderung Dimbachs und der Vorstellung der Familie Müllers. Ansonsten begnügt er sich damit, den Rahmen zu setzen und Müller bzw. seine Zeitgenossen selbst sprechen zu lassen. Er gliedert den Stoff, der im Wesentlichen chronologisch präsentiert wird, in eine Vielzahl kurzer Kapitel, die meist nur eine Doppelseite umfassen und jeweils eine bestimmte private oder berufliche Situation Müllers in den Fokus rücken. Diese Form der Darstellung bewirkt, dass man sich als Leser den Personen stets sehr nahe fühlt. Man legt das Buch aus der Hand mit dem Empfinden, tief in den Brunnen der Vergangenheit eingetaucht zu sein.

Lettners Buch ist eine biographische Arbeit, keine Werkmonographie. Es möchte mit Müllers Persönlichkeit und seinen Lebensumständen bekannt machen, wozu selbstverständlich auch Erwähnungen seiner Kompositionen gehören. Ausführliche Werkbetrachtungen enthält es allerdings ebenso wenig wie ein Verzeichnis der Kompositionen Müllers. Da auch bei Mayr-Kern ein solches fehlt (er beschränkt sich auf genaue Angaben zu den Messvertonungen), ist eine Übersicht über sämtliche Werke des Komponisten nach wie vor ein Desiderat der Forschung. Die Musikwissenschaft lasse sich also von Christoph Lettners schöner Vorarbeit dazu anregen, diese Lücke alsbald zu schließen!

Das Grab Franz Xaver Müllers auf dem Priesterfriedhof gegenüber der Stiftsbasilika. Schräg dahinter sieht man in der Bildmitte das Grab des Komponisten, Stiftsorganisten und Regens Chori Augustinus Franz Kropfreiter (1936-2003).

Kammerkonzert: Beethoven, Müller, Schubert (Varga Quartett, Florian Eggner)

Franz Xaver Müller stand im Mittelpunkt des vom Varga Quartett (Pavol Varga, Katharina Veselská, Peter Zwiebel und Stefanie Huber) im Marmorsaal des Stiftes dargebotenen Kammerkonzerts der Brucknertage – zumindest stand sein Quartettino in D-Dur in der Mitte der Vortragsfolge. Davor und danach hörte man je ein Gipfelwerk der Kammermusikliteratur: Beethovens Streichquartett e-Moll op. 59/2 (das zweite der Rasumowskij-Quartette) und das Streichquintett C-Dur D 956 von Franz Schubert, bei welchem Florian Eggner als zweiter Cellist zum Quartett hinzustieß. Müllers Komposition bestand in dieser Nachbarschaft, wie die freundliche Blumenwiese zwischen zwei Bergriesen besteht: als anmutiger Kontrast. Der Name „Quartettino“ ist durchaus angemessen, denn das viersätzige Werk dauert keine zehn Minuten. Es entstand 1928 als Geschenk zur Silberhochzeit für den St. Florianer Musiklehrer Karl Aigner, der einst zu den Ausbildern des Sängerknaben Müller gehört und sich für Bruckner als Notenkopist betätigt hatte. Entsprechend ist jeder Satz als Gratulationsadresse gedacht. So steht über dem einleitenden Adagio: „Bruckner kommt zu gratulieren.“ Im Folgenden erhält Aigner außerdem Glückwünsche für die weitere Lebensfahrt mittels eines ganz kurzen Allegros, den Segen des Himmels für seine Chordienste in Form eines choralhaften Andantes und schließlich im fugierten Schluss-Allegro Gratulationen der früheren Chorregenten Ignaz Traumihler und Bernhard Däubler, sowie aller Sängerknaben. Wüsste man nicht um Müllers enges Verhältnis zu Bruckner, man würde ein solches sofort anhand der ersten Takte des Quartettinos vermuten: Sie könnten tatsächlich einem Brucknerschen Adagio entnommen sein. Das gleiche lässt sich vom ebenfalls langsamen dritten Satz sagen, einem äußerst zarten, in sich gekehrten Stück. Auch die raschen Sätze zeugen in Harmonik und Kontrapunkt von Bruckners Einfluss, ohne dass sich aber aus dessen Schaffen konkrete Vorbilder benennen ließen. Gerade die leichtfüßige Schlussfuge belegt, dass Müller originell genug war, auf der von Bruckner übernommenen Grundlage eigenständig weiter zu schaffen. Alles in allem ein handelt es sich bei dem Quartettino um ein ungemein ansprechendes kleines Meisterwerk – und man fragt sich, was ein Komponist, der eine solche Gelegenheitsarbeit zustande bringt, in seinen Hauptwerken geleistet hat.

Das Beethovensche Quartett und das Schubertsche Quintett bedürfen keiner näheren Vorstellung. Die Aufführungen erinnerten daran, wie wichtig es ist, die akustischen Gegebenheiten des Aufführungsortes zu berücksichtigen. Ist die St. Florianer Stiftskirche für ihre hallige Akustik bekannt (und berüchtigt), so stellt der Marmorsaal die Musiker vor nicht geringere Herausforderungen. Für ein Streichquartett ist es hier nicht schwer, eine orchestral anmutende Klangfülle hervorzubringen. Die Töne fluten gewichtig durch den Raum, aber sie verhallen nur langsam. Rasche Tempi können hier leicht zu rasch erscheinen, da der Nachhall die Konturen der Musik verschwimmen lässt. Leider hat das Varga Quartett nicht genug Rücksicht auf die akustischen Bedingungen dieses Raumes genommen, sodass in den raschen Sätzen des Beethoven-Quartetts viele Einzelheiten im Hall untergingen. Weniger schnelle Tempi wären hier von Vorteil gewesen. Schuberts Quintett erwies sich – ähnliches lässt sich von Müllers Quartettino sagen – aufgrund seiner insgesamt gemächlicheren Zeitmaße und des mehr flächigen Tonsatzes als weniger anfällig, sodass die zweite Hälfte des Konzerts gegenüber der ersten eine Steigerung bedeutete. Auch wirkte das Ensemble nun ausgewogener als noch in der ersten Konzerthälfte, wo der Primgeiger gegenüber seinen Mitspielern mitunter gar zu dominant auftrat, namentlich im Finale des Beethoven-Quartetts. So gelang eine schöne Aufführung des Schubertschen Quintetts, die im langsamen Satz die Kontraste deutlich herausstellte und im Scherzo wie im Finale durch musikantischen Schwung bestach.

Das Konzert war dem Andenken an Thomas Wall gewidmet, den langjährigen Intendanten des Altomonte-Orchesters St. Florian, dessen Tod im Mai dieses Jahres eine schmerzliche Lücke in das Musikleben des Stiftes riss. Wall hatte 1996 gemeinsam mit Augustinus Franz Kropfreiter das Altomonte-Orchester gegründet und diesem seither als Solocellist selbst angehört.

(Zur Fortsetzung siehe hier.)

[Norbert Florian Schuck, September 2024]

Freies Spiel der Kräfte

Das Wiener Publikum hat am letzten Dienstag [30. Juli] die Möglichkeit gehabt und leider teilweise verpasst, einem außergewöhnlichen Klavierabend beizuwohnen. Es ist durchaus entschuldbar: es ist Sommer, und man hält sich großteils auf dem Land oder in der Ferne auf; alles macht Pause, während die Touristen mit Touristenkonzerten in Perücke und Kostüm abgespeist werden. Andererseits ist es aber vollkommen unentschuldbar, da es hier wenigstens zwei Entdeckungen zu machen gab, und einem Konzert zu lauschen, wie man es nicht oft zu erleben das Glück hat.

Die erste Entdeckung betrifft den Konzertort. Man kennt das etwas renovierungsbedürftige, aber gerade dadurch sehr charmante Jugendstiltheater im Otto-Wagner-Areal mehr vom Hörensagen. Dem Publikum ist es hauptsächlich durch die Wiener Festwochen bekannt, und zur Zeit finden dort die Konzerte der Wiener Meisterkurse statt.

Die Geschichte des Areals, erbaut zwischen 1905 und 1907, umfasst einerseits die Absicht, einen echten Fortschritt für die Patienten in der Psychatrie zu erreichen, andererseits war das Areal aber auch Schauplatz der NS-Euthanasie-Morde am Spiegelgrund, denen Hunderte von Kindern zum Opfer fielen, an die das Mahnmal aus einem zarten Meer von Lichtstelen vor dem Jugendstiltheater erinnert. Diese Gegenwärtigkeit der Vergangenheit verleiht dem schönen Ort einen Ernst, dem sich die Konzertbesucher vor allem beim Verlassen des Theaters in der Dunkelheit nicht entziehen können

Der kleine Saal des Jugendstiltheaters verfügt über eine schöne Akustik dieses kleinen Saals. Im ersten Eindruck etwas überakustisch, verwandelt sich der Saal im Konzert in einen Resonanzraum für feinste musikalische Details.

Diese waren an diesem Abend, und das ist die zweite und eigentliche Entdeckung, dem Pianisten Martin Hughes zu verdanken, der dem Publikum in Wien vor allem als ehemaliger Vorstand der Klavierabteilung der Musikuniversität mdw ein Begriff ist. Dass er selber ein außergewöhnlicher Pianist und Musiker ist, ist ein vielleicht allzu gut gehütetes Geheimnis, das sich jedoch dem mit Staunen zuhörenden Publikum sofort offenbarte.

Das Konzert begann mit der 1. Klaviersonate op. 2 Nr. 1 von Ludwig van Beethoven, die Martin Hughes mit größter Klarheit und Unmittelbarkeit zu Gehör brachte. Man horcht auf, weil alles, was man vom Pianisten an dem hervorragenden Bösendorfer-Flügel hörte, einfach und richtig war, man folgt der erhellend selbstverständlichen Bewegung der Musik: frei von interpretatorischer Über-Absichtlichkeit der Darstellung geschieht ein natürliches Sich-Entfaltenlassen der Musik durch den Pianisten, dem das Publikum gebannt lauschte.

Alles war an seinem Platz, jede Note, jede Phrase, jede Gestalt, und nicht zuletzt der Raum selber: dass dieser mit seiner Akustik immer ein Teil der klanglichen Realität ist, und damit einen Einfluss auf Spiel und Tempo hat, ist eine Erkenntnis, die sogar unter Musikerinnen und Musikern nicht selbstverständlich ist, sich an diesem Abend aber als ein Aspekt der absoluten Meisterschaft von Martin Hughes zeigte.

Die pianistische und kompositorische Brillanz der Intermezzi op. 4 von Robert Schumann entfalten sich unter seinen Händen frei und umstandslos. Doch lief alles an diesem Abend auf die Sonate in B-Dur, op. posth. D960, von Franz Schubert hinaus.

Diese spielte Martin Hughes auf eine Weise, dass man Angst hat, sie jemals wieder anhören zu müssen, weil es schwer vorstellbar ist, dass es mehr als einmal im Leben möglich ist, dieses Werk in seiner Schönheit, Tiefe und geistigen Klarheit so vollkommen wiedergegeben zu hören.

Dabei folgt Martin Hughes einem scheinbar einfachen Ansatz; einem, der streng genommen keiner ist: er hört dem Stück zu und sich selber, während er spielt. Es scheint banal und wie eine Selbstverständlichkeit, es ist aber keine. Und in welche seelische Tiefe sich der langsame Satz damit ausbreitet, wie die Dinge, die man einfach nicht beim Namen nennen kann, erscheinen und entstehen, ist eine wunderbare und schlüssige Konsequenz aus dieser Musizierhaltung.

Die Idee, dass man als Musiker oder Musikerin sich selber ausdrückt durch das Werk, dass man es interpretiert, dass man eine persönliche Art der Darstellung, also eine eigene Interpretation, formt, wird auf diese Weise obsolet und löst sich ganz in Luft auf, weil es bei Martin Hughes nur noch um das freie Spiel der Kräfte geht, die Schubert auf dem Notenpapier gebunden und niedergeschrieben hat.

Man kann diese Sonate natürlich auch anders spielen, da sich das Spiel der Kräfte unter anderen Bedingungen vielleicht auch anders entfalten mag, aber an diesem Abend war die Sonate so wahrhaftig und vollkommen wie nur möglich, und wie sie komponiert wurde.

Die Schönheit der Musik existiert ja tatsächlich nur im Moment des Erklingens; also in einer Zeitspanne, die so jenseits der gemessenen Zeit ist, dass sie ohne Zeit wahrgenommen wird, also nicht eigentlich als Zeit wahrgenommen wird. Das ist nun nicht neu, aber der Zeit auf diese Weise als Maß des Vergehens zu entkommen, ist immer wieder eine besondere, schöne, und vor allem plötzliche Erfahrung, der man erst gewahr wird, wenn sie gerade wieder vorüber ist. Und mit dem Verklingen des Werkes ist der Moment, das Momentum des musikalischen Erlebnisses vorbei und unwiderruflich vergangen. Und so klingt die Musik in den Konzertbesuchern noch lange nach. Denn es ist ja nicht nur die Musik, die nachklingt, sondern ihr Wesen, dem wir in Konzerten wie diesem begegnen und lauschen.

Nur Menschen, die ihr Leben damit verbringen, in das Wesen der Musik einzudringen, sind in der Lage, solche seltenen Ewigkeitsmomente zu erschaffen. Michelangeli sagte einmal, dass ein Leben gerade so dazu ausreicht, eine Sache gut zu machen. Dies ist das Niveau, auf dem sich Martin Hughes pianistisch, musikalisch, und vor allem geistig bewegt, und das ist das eigentliche, das das Publikum in diesem Konzert erleben konnte.

[Jacques W. Gebest, August 2024]

Winterberg und Winterberg in Berlin – eine musikalisch-literarische Spurensuche

Die Schwartzsche Villa in Berlin-Steglitz bot am 12. Juli 2024 den Hintergrund für eine musikalisch-literarische Zusammenkunft besonderer Art. Zwei Namensvettern trafen hier aufeinander, deren Schicksale erstaunliche Parallelen aufweisen, und luden zu einer Reise in die Vergangenheit Mitteleuropas ein, insbesondere derjenigen ihrer Heimat Böhmen: der Komponist Hans Winterberg (1901–1991) und Wenzel Winterberg, die Titelfigur des 2019 erschienenen Romans Winterbergs letzte Reise von Jaroslav Rudiš. Von Hans Winterberg erklangen drei Kammermusikwerke, vorgetragen von den Mitgliedern des Adamello Quartetts – Clemens Linder und Byol Kang (Violinen), Susanne Linder (Viola), Adele Bitter (Violoncello) – und dem Pianisten Holger Groschopp. Dazwischen las Jaroslav Rudiš ausgewählte Kapitel aus seinem Roman.

Hans Winterberg galt nach seinem Tode lange Zeit als ein weitgehend vergessener sudetendeutscher Komponist. Von seinen Werken war nichts im Druck greifbar, auch gab es keine kommerziellen Einspielungen. Nur durch eine Anzahl von Mitschnitten im Archiv des Bayerischen Rundfunks konnte man sich einen Eindruck von Winterbergs Musik verschaffen. Der künstlerische Nachlass lagerte, für die Öffentlichkeit unzugänglich, im Sudetendeutschen Musikarchiv in Regensburg. Den Anstoß zur Entdeckung Winterbergs gab Peter Kreitmeir, der Enkel des Komponisten, der ohne Kontakt zu seinem Großvater aufgewachsen war und sich 2010 auf dessen Spuren begab. Die Nachforschungen gerieten zu einer Archäologie böhmischer Kulturgeschichte, denn nicht nur wurde deutlich, dass Hans Winterbergs kultureller Hintergrund deutlich vielgestaltiger war als zunächst angenommen, auch kam ein Lebenslauf zum Vorschein, in welchem die Umbrüche des 20. Jahrhunderts deutliche Einschnitte hinterlassen haben.

Will man Hans Winterberg einer Nationalität zuordnen (er selbst hielt davon nicht viel und nannte „Nationalität“ einen „verqueren, rückständigen Begriff“), so tut man wohl am besten daran, ihn einen Böhmen zu nennen. In dieser Bezeichnung finden sich seine deutschen, tschechischen und jüdischen Wurzeln gleichermaßen aufgehoben, denn Winterberg war einer jener Böhmen, die deutsch, tschechisch und jüdisch zugleich waren: Er war deutschsprachig, jüdischen Glaubens und fühlte sich als Tscheche. Hans Winterbergs Lebensweg begann im 53. Regierungsjahr des Kaisers Franz Joseph im zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gehörenden Prag und endete in der Bundesrepublik Deutschland kurz nach der Wiedervereinigung. Er erlebte zwei Weltkriege, die Gründung der Tschechoslowakei, ihre Zerschlagung durch die Nationalsozialisten und ihre Wiedererrichtung, den Holocaust, dem mehrere seiner Verwandten, darunter seine Mutter, zum Opfer fielen und dem er selbst nur knapp entkam, und die Vertreibung der Deutschböhmen nach 1945. Da er sich vor dem Krieg als Angehöriger der tschechischen Nationalität hatte registrieren lassen (er schrieb sich selbst damals bevorzugt „Hanuš Winterberg“), blieb ihm die Ausweisung aus seiner Heimat erspart, doch verließ er die Tschechoslowakei bereits 1947 in Richtung Bayern, wo er sich als Lektor beim Bayerischen Rundfunk und als Lehrer am Münchner Richard-Strauss-Konservatorium betätigte.

Von diesem Lebenslauf wusste der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudiš nichts, als er einen Roman entwarf, dessen Protagonist ebenfalls den Namen „Winterberg“ tragen sollte – nach einer Kleinstadt im Böhmerwald nahe der bayerischen Grenze, die heute auf Tschechisch „Vimperk“ heißt. Interessanterweise spielt sich Winterbergs letzte Reise im Jahr 2017 ab, im gleichen Jahr also, in welchem Peter Kreitmeir die alleinigen Nutzungsrechte am Schaffen seines Großvaters, des Komponisten Winterberg, zugesprochen erhielt, woraufhin er die Verbreitung der Musik in die Wege leiten konnte.

Wenzel Winterberg, die Titelfigur von Rudišs Roman, ist kein Komponist, sondern ein Berliner Straßenbahnfahrer im Ruhestand, der als Deutschböhme in Reichenberg (Liberec) zur Welt kam. Zu Beginn der Romanhandlung ist Winterberg bereits 99 Jahre alt. Da nach einem schweren Schlaganfall sein Tod erwartet wird, stellt seine Tochter den Altenpfleger Jan Kraus ein, der sich darauf spezialisiert hat, Todkranke bei ihrer „Überfahrt“, wie er es nennt, zu begleiten. Doch als Kraus beiläufig erwähnt, aus Winterberg, Vimperk, zu stammen, kommt Winterberg ins Leben zurück und fühlt sich bald gesund genug, zu einer Reise nach Tschechien aufzubrechen, wohin er nach seinem Militäreinsatz im Zweiten Weltkrieg nicht mehr zurückgekehrt war. Kraus, Sohn eines deutsch-tschechischen Elternpaars und als junger Mann nach traumatischen Erfahrungen und einem Aufenthalt im Gefängnis ausgewandert, begleitet ihn widerwillig, obwohl er sich vorgenommen hatte, nie wieder seine alte Heimat zu betreten. Ein großer Teil der Handlung spielt sich in Zügen und auf Bahnhöfen ab. Winterberg will die Stätten seiner Jugend sehen, aber auch Orte besuchen, an denen sich einschneidende Ereignisse der Geschichte abgespielt haben: „Die Schlacht bei Königgrätz geht durch mein Herz“, lautet der erste Satz des mitten in der Handlung beginnenden Romans. Letztlich soll die Reise bis nach Sarajewo führen, nicht nur der fatalen Ereignisse von 1914 wegen, sondern auch weil Winterberg von dort das letzte Lebenszeichen seiner Jugendliebe Lenka, die als Jüdin vor den Nazis hatte fliehen müssen, erhalten hat. Kraus spricht nicht viel, doch da er der Ich-Erzähler des Romans ist, erhält man Einblick in seine Gedanken. Aus seiner Perspektive erlebt man die „historischen Anfälle“ mit, die Winterberg regelmäßig während der Reise heimsuchen. Sie äußern sich in geradezu manischen Rezitationen aus dem Baedeker-Reiseführer für Österreich-Ungarn von 1913, den Winterberg als seine „Bibel“ stets mit sich führt, sowie in ausgiebigen Kommentaren zum dort Geschriebenen. Dabei verschwimmen die weltgeschichtlichen Begebenheiten mit Winterbergs Biographie und dem Alltagsleben der Vor- und Zwischenkriegszeit. Die Gegenwart wird immer wieder an der Geschichte gespiegelt, nicht nur im Hinblick darauf, welche Gebäude aus früherer Zeit noch vorhanden sind, sondern auch hinsichtlich der Lebensgewohnheiten der Menschen, dargestellt etwa in Exkursen über Wirtshäuser, böhmisches Bier und die länderübergreifende Küche der alten Doppelmonarchie. Die Eisenbahn ist als Lebensader der Zivilisation permanent präsent: Die beiden Hauptfiguren sind ständig mit dem Zug unterwegs und begeben sich dabei wiederholt auf Abschweifungen – etwa nach Vimperk; auch kommt Winterberg in seinen historischen Anfällen immer wieder auf die Eisenbahn zu sprechen und erzählt von interessanten Begebenheiten wie der Lokomotivflucht der Sachsen während des Deutschen Krieges 1866 nach Eger; ein unausgesprochenes Motiv für die Reise ist Winterbergs gescheitertes Lebensprojekt, die Geschichte Mitteleuropas in einer Modelleisenbahnanlage darzustellen.

Winterbergs letzte Reise ist literarische Archäologie. Nach und nach wird nicht nur die Vergangenheit freigelegt, es entsteht auch ein Bewusstsein für ihre einzelnen Schichten, die sich ineinander verschachtelt haben und nun, ausgegraben, in direkte Beziehung zueinander und zur Gegenwart treten. So werden die Grenzen von Raum und Zeit neu gezogen, Vergessenes und Verdrängtes kommt wieder zu Tage, das Individuum erlebt sich als Teil des großen Zusammenhangs, als mitwirkender Akteur wie als als machtloses Subjekt der Geschichte.

Vorgetragen wird das alles in einem Stil, den man durchaus musikalisch nennen kann. Sowohl Winterberg als auch Kraus haben ihre feststehenden Wendungen, die den Roman refrainartig durchziehen, wobei sich die Sprache gerade in Winterbergs Monologen zu einer Beharrlichkeit steigert, die in ihrer Intensität an Thomas Bernhard gemahnt. Die aufgestaute Spannung löst sich allerdings immer wieder in komischen Situationen, die sich aus der Verschiedenheit der beiden Hauptcharaktere und ihren Kommunikationsproblemen ergeben. Viele Stellen des im Grunde sehr ernsten Buches – einmal schimpft Winterberg demonstrativ auf den böhmischen Humor –, geraten dadurch zu humoristischen Kabinettstücken.

Jaroslav Rudiš, der den Roman original in deutscher Sprache verfasst hat, las insgesamt fünf Kapitel vor, die sich über den ganzen Verlauf des Buches verteilen. Die Lesungen alternierten mit drei Kammermusikwerken Hans Winterbergs: der Sudeten-Suite für Klaviertrio, der Sonate für Violoncello und Klavier und dem als „Symfonie [sic] für Streichquartett“ bezeichneten Streichquartett Nr. 1. Das letztere Werk gelangte dabei zu seiner Uraufführung. Zu Lebzeiten des Komponisten war keine öffentliche Darbietung zustande gekommen. Nach seinem Tode ging die letzte Seite des Manuskripts verloren, weswegen Toccata Classics in seiner 2023 erschienenen Einspielung der Streichquartette Winterbergs auf dieses Stück verzichten musste. Vor kurzem tauchte allerdings die verschollene Seite inmitten anderer Papiere wieder auf, sodass einer Aufführung der „Quartett-Symfonie“ nichts mehr im Wege stand.

Hans Winterbergs Musik harmonierte erstaunlich gut mit Rudišs Erzählung. Ebenso wie dort ist in den Werken des Komponisten ein nervöser Unterton zu spüren, der in dissonanten Umkreisungen der tonalen Zentren und dem häufigen Einsatz ostinater rhythmischer Formeln seinen Ausdruck findet. In den raschen Sätzen des Streichquartetts und der Cellosonate, insbesondere dem toccatenartigen Finale der letzteren, liegt auch die Assoziation mit einer Zugreise gar nicht so fern. Und wie der literarische Winterberg in die Geschichte Böhmens eintaucht, so erscheint der Komponist gleichen Familiennamens als ein fest in der tschechischen Musiktradition verwurzelter Künstler. Die Sudeten-Suite erscheint mit ihren romantischen Topoi als ein eher untypisches Werk im Schaffen Hans Winterbergs. Allerdings wird gerade an diesem Stück seine Verbindung mit der Musik des 19. Jahrhunderts, insbesondere Bedřich Smetana, deutlich. Fluktuierende Klangflächen scheinen auf das Waldesrauschen Aus Böhmens Hain und Flur zu verweisen und die im letzten Satz dargestellten Elbe-Quellen ähneln kaum zufällig den Quellen der Moldau. Dieses Rauschen, diese landschaftlichen Töne gehören wie die Liebe zu tänzerischen Rhythmen zum Grundrepertoire der musikalischen Ausdrucksweise Winterbergs, auch wenn sie in den meisten seiner Kompositionen dissonant geschärft auftreten und sich mitunter in urban-mechanische Klänge verwandeln. Aber auch, wenn er die böhmische Landschaft verlässt, verleugnet er seine Herkunft nicht, nur wechselt das Idiom vom slawischen Tanz zum modernen Tanz der 1920er Jahre, von den Fluren Tschechiens zu den impressionistischen Landschaften der damaligen französischen Musik. In jedem der drei Werke, die sämtlich vorzüglich wiedergegeben wurden, präsentierte sich der Komponist von einer etwas anderen Seite. Das Streichquartett ließe sich als expressionisch, die Cellosonate als klassizistisch mit deutlichen expressionistischen Untertönen charakterisieren, wohingegen die Trio-Suite an nationalromantische Vorbilder anknüpft. Insofern bot der Abend auch einen guten Überblick über die stilistische Vielseitigkeit Hans Winterbergs.

Die gut besuchte Veranstaltung fand beim Publikum sichtlich Anklang, und man kann wohl sagen, dass alle Zuhörer, ob sie nun ursprünglich wegen der musikalischen oder der literarischen Komponente des Abends den Weg in die Schwartzsche Villa eingeschlagen hatten, von dieser Spurensuche in der Geschichte Böhmens bereichert zurückgekommen sind.

Jaroslav Rudiš: Winterbergs letzte Reise, 3. Auflage, München: btb Verlag, 2021, 544 Seiten. ISBN 978-3-442-71967-9

[Norbert Florian Schuck, Juli 2024]

Jörg Widmann überzeugt bei der musica viva in Dreifachfunktion

Beim Konzert der musica viva am 28. Juni 2024 im Münchner Herkulessaal präsentierte sich Jörg Widmann mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks einmal mehr in gleich dreifacher Funktion: als Klarinettist, Dirigent und natürlich als Komponist. Mal abgesehen von Wolfgang Amadeus Mozarts „Adagio für Glasharmonika“, KV 356/617a, mit dem Christa Schönfeldinger Widmanns Schlüsselerlebnis mit diesem Instrument in Erinnerung rief, gab es ausschließlich Widmann-Werke: „Armonica, „Drei Schattentänze“, „Danse macabre“ und das gewaltige Trompetenkonzert „Towards Paradise“ (Labyrinth VI) mit dem Solisten Håkan Hardenberger.

Håkan Hardenberger und Jörg Widmann mit dem BRSO © BR musica viva/Astrid Ackermann

Im letzten Konzert der musica viva Saison am 28. 6. 2024 durfte sich der Münchner Jörg Widmann gleich dreifach in Szene setzen: als Komponist von vier eigenen Werken, mit einem Solostück für sein Instrument: die Klarinette, sowie als Dirigent des Abends – und konnte diesmal in allen Belangen überzeugen. Vor knapp sieben Jahren versuchte sich Widmann hier bereits in dieser Mehrfachfunktion – wir berichteten. Damals rief zumindest sein Dirigat Stirnrunzeln beim Rezensenten hervor. Seitdem hat Widmann ziemlich viel mit Orchestern gearbeitet, nicht nur an eigenen Stücken, mittlerweile auch als Erster Gastdirigent bei der NDR Radiophilharmonie (Hannover). Widmann ist am Pult sicht- und spürbar deutlich souveräner geworden: Er gibt nicht nur hochengagiert und klar alle wichtigen Impulse, sondern steuert den Klang insgesamt viel differenzierter als früher. Natürlich darf man von einem Komponisten erwarten, dass er seine eigene Musik wahrscheinlich besser kennen dürfte als die meisten Dirigierkollegen. Dennoch hat seine Ausstrahlung auf das BRSO heute einen unvergleichlich positiveren Effekt und unmittelbarere Wirkung als etwa in besagtem Konzert von 2017.

An diesem Abend gibt es vier Widmann-Stücke, allerdings keine Uraufführung. In Armonica (2006) versucht der Komponist, die fast jenseitigen klanglichen Sphären der Glasharmonika – diese steht nicht etwa als Soloinstrument ganz vorne, sondern weil dynamisch sonst chancenlos – mittels delikatester Orchestrierung quasi auf den gesamten Apparat zu erweitern. Dabei gelingen ausladende, organische Spannungsbögen mit nur einem absichtsvoll verstörenden „Abbruch“. Christa Schönfeldinger, mit den komplexen Anforderungen von Widmanns Partitur seit nunmehr über 60 Aufführungen bestens vertraut, beweist anschließend – als offizieller Programmpunkt bei der musica viva höchst ungewohnt – mit dem Standardwerk für die Glasharmonika, Wolfgang Amadeus Mozarts Adagio KV 356/617a, die wundervolle Zerbrechlichkeit und Klangschönheit ihres besonderen Instruments. Die Begegnung mit diesem Stück war für Widmann das anregende Schlüsselerlebnis für Armonica.

Wenn der Komponist ein Solo auf der Klarinette darbietet, ist dies immer hochspannend. Die eigenen Drei Schattentänze von 2013 beleuchten höchst kontrastierende Aspekte der Klangerzeugung: Im Echo-Tanz geht es um extreme Techniken des Überblasens, damit erzeugte Mehrstimmigkeit und Mikro-Tonalität. Die übrigen beiden benötigen elektro-akustische Unterstützung: Der (Under) Water Dance vermittelt die beabsichtigte Illusion mittels eines künstlichen Hallraums, der Danse africaine benutzt die Klarinette als imaginäres Schlagzeugensemble – mit Verstärkung. All dies stößt beim Publikum auf helle Begeisterung.

Der Danse macabre (2022) steht natürlich in der großen Tradition des Totentanzes, die nicht erst mit Saint-Saëns beginnt. Der Tod als einschmeichelnder, aber zugleich sarkastischer Werber für den letzten Weg alles Lebendigen, ist naturgemäß eine Steilvorlage für einen Instrumentationskünstler von Rang. Das verwendete Orchester ist noch nicht einmal überdimensioniert, enthält aber erwartungsgemäß Exoten wie Flexaton oder Waterphone – dessen Name verweist sowohl auf seinen wassergefüllten Korpus als auch den Erfinder Richard Waters, und das Instrument machte insbesondere in Filmmusiken des Horror-Genres Karriere. Für die Gattung ist Widmanns Beitrag mit 17 Minuten schon recht lang – mehr echte Tondichtung als nur netter Lärm wie z. B. Helmut Lachenmanns Marche fatale – und verwurstet verschiedene vertraute Tanzmodelle bis zur Groteske bzw. zum nackten Gerippe. Das hemmungslos tonale Hauptmotiv geht fast so ins Ohr wie Klaus Badelts Filmmusik zu Fluch der Karibik. Trotzdem ist das Publikum ob der leichten Zugänglichkeit des Werkes einigermaßen überrascht.

Das mit knapp 40 Minuten äußerst ausladende Konzert Towards Paradise für den nach wie vor phänomenal tonschön agierenden Trompeten-Weltstar Håkan Hardenberger gehört zur Gruppe der Labyrinth-Stücke, in denen Widmann immer auch seine momentane Befindlichkeit als Komponist reflektiert. 2021 prägte diese freilich die Corona-Situation, und so dreht sich der Weg ins Paradiesische nicht zuletzt um das Thema Einsamkeit, was durch den halbszenischen Gang des Solisten von außerhalb des Podiums durch die einzelnen Orchestergruppen, wo er mit unterschiedlichem Erfolg Anschluss sucht, bis zum Entschwinden in die „Katakomben“ des Herkulessaals am Ende überdeutlich wird. Anders als im 2002 für Sergei Nakariakov geschriebenen Konzertstück, das mit seinem Hochgeschwindigkeitswahnsinn Virtuosität ganz wörtlich ad absurdum führte, steht im Labyrinth VI Lyrik und Nachdenklichkeit im Vordergrund. Das Werk ist aber – trotz eindringlicher Choral-Andeutungen – keineswegs nur langsam.

Hardenberger nimmt vom ersten Augenblick die Zuhörer gefangen. Die exquisite Schönheit der Melodik seines riesigen Parts ist von geradezu erstaunlicher Einprägsamkeit, verlangt dafür eine unglaubliche Sicherheit in der Höhe, aber noch mehr Flexibilität im Ausdruck bei den großartigen Interaktionen mit einzelnen Teilen des Orchesters. In der Mitte gibt es zudem auch Jazz-Momente – die jedoch mit etwas zu wenig Synkopen nicht die Authentizität etwa von B. A. Zimmermanns Nobody knows de trouble I see erreichen. Die Innigkeit gerade an Stellen, wo die Trompete mit Dämpfern spielen muss, scheint bei Hardenberger unübertrefflich. Widmann ist hier meilenweit entfernt von der bis ins Extreme ausdifferenzierten Geräuschhaftigkeit seines Dritten Labyrinths, setzt auf Klangkombinationen, die stets aufhorchen lassen und emotional unterstützend wirken – so etwa Akkordeon oder gestrichene Crotales als schärfste Waffen im Diskant. Symbolisiert gegen Schluss Bachsche Kontrapunktik das Erreichen eines paradiesischen Zustands? Dunkles Blech und geheimnisvolles Schlagzeug stellen dies zumindest infrage, während Hardenberger als letztes Statement einsam ein dreigestrichenes Es verhaucht.

Selten einmütiger Applaus für eines der besten Werke Widmanns überhaupt, für ein in jeder Sekunde aufmerksam und empathisch mitgehendes BRSO und selbstverständlich die musikalische Glanzleistung des dann sehr glücklich wieder aus dem Off erscheinenden Solisten. Widmann wird zu Recht für die Erfüllung der hohen Erwartungen in allen drei Funktionen bejubelt – das soll ihm erst mal jemand nachmachen!

[Martin Blaumeiser, 1. Juli 2024]

Richard-Strauss-Tage 2024 [2]: Ariadne auf Naxos und Norens Klaviertrio

Der zweite Teil des Berichts von den Richard-Strauss-Tagen Garmisch-Partenkirchen (zum ersten Teil siehe hier) befasst sich mit folgenden Konzerten:

9. Juni: Oper (Richard Strauss: Ariadne auf Naxos, konzertante Aufführung), Department für Oper und Musiktheater der Universität Mozarteum Salzburg, Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker, Kai Röhrig

11. Juni: Kammerkonzert (Klaviertrios von Richard Strauss und Heinrich G. Noren), Phaeton Piano Trio

Garmisch-Partenkirchen, gesehen vom Aufgang zum Rießersee aus.

Nach dem Matinéekonzert konnte man, wieder im Festsaal Werdenfels, am Abend desselben Tages die Oper Ariadne auf Naxos in einer konzertanten Aufführung hören. Es handelte sich um eine Kooperation mit dem Department für Oper und Musiktheater der Universität Mozarteum Salzburg, das jährlich eine Auswahl vielversprechender Gesangsstudenten in speziellen Opernklassen auf die Bühnenlaufbahn vorbereitet. Entsprechend war ein großer Teil der Rollen mit jungen Leuten besetzt. Die Tenöre Konstantin Igl und Lucas Pellbäck sowie die Bässe Brett Pruunsild und Dominik Schumertl übernahmen dabei außer der Verkörperung der vier Komödianten noch die kleinen Partien, die nur zu Beginn des Vorspiels auftauchen. Als geschlossen auftretendes Quartettensemble sorgten sie im zweiten Teil mit frischem, kecken Vortrag für die nötige Auflockerung der statuarischen Opera-seria-Szenerie. Zerbinetta, die Frontfrau der Komödiantentruppe, fand in Yukari Fukui eine Darstellerin, der es auf ganz natürliche Weise gelang, sich den Charakter dieser verspielten, koketten, aber durchaus geistvollen Figur zu eigen zu machen. Julia Maria Eckes, Anastasia Fedorenko und Donata Meyer-Kranixfeld trugen als Nymphentrio mit zarten, ineinander verschlungenen Kantilenen wesentlich dazu bei, in der „Oper“ die angemessen entrückte Stimmung zu schaffen, zu welcher das unbekümmerte Trällern der Komödianten scharf kontrastieren konnte. Jesse Mashburn dominierte in der Hosenrolle des Komponisten den ersten Teil. Hinreißend gelang ihr die Darstellung dieses ebenso unerfahrenen wie idealistisch-verstiegenen jungen Menschen, der erleben muss, wie seine Traumgebilde hart in einer vom Geld beherrschten Realität aufschlagen (symbolisiert durch den nie auftretenden Hausherrn, der aus dem Hintergrund die Anweisungen gibt) und dadurch in emotionale Extreme gestürzt wird. Zweifellos ist der Komponist, der im zweiten Teil leider nicht mehr auftaucht, die interessanteste Figur des ganzen Stückes, da sich in seiner Partie Tragisches mit Komischem mischt und Strauss in seiner Vertonung beides sehr geschickt in der Schwebe hält. Den Trotz, die Verletzlichkeit und die Hoffnungen des Jünglings hat Jesse Mashburn trefflich zur Geltung gebracht. Bewährte, erfahrene Kräfte ergänzten die Schar der jungen Sängerinnen und Sänger: Juliane Banse exzellierte als energische, auf ihre Würde bedachte Primadonna und erfüllte die Kantilenen der Ariadne im zweiten Teil mit blühender Lyrik. Mit Christoph Strehl als Tenor in der Rolle des Bacchus stand ihr dazu ein ebenbürtiger Partner zur Seite. Bernd Valentin trug im Vorspiel als Lehrer des Komponisten, der zwischen dessen Idealismus und den Realitäten des Lebens zu vermitteln hat, wesentlich zur gelungenen Wirkung des turbulenten Geschehens bei.

Mit der Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker stand dem Gesangsensemble ein Kammerorchester zur Seite, das hinsichtlich der Motivation hinter der Pilsener Philharmonie nicht zurückstand. Dirigent Kai Röhrig, Leiter der Opernklasse des Salzburger Mozarteums, führte mit festen, aber nicht unflexiblen Tempi die Musiker und Sänger souverän durch den Abend und wusste die delikaten Klangeffekte Straussens zu pointieren.

Ariadne auf Naxos enthält einige der besten Einfälle des Opernkomponisten Richard Strauss und stellt gewiss einen Höhepunkt in dessen Zusammenarbeit mit Hugo von Hofmannsthal dar. Das Vorspiel ist schlichtweg eine geniale komische Oper für sich, die den Zuhörer durch ständige Umschwünge der Handlung in Atem hält – oft verbunden mit der Sprechrolle des Haushofmeisters (in der Garmischer Aufführung durch Franz Tscherne verkörpert), der durch die von ihm übermittelten Anweisungen des Hausherrn das Geschehen in immer neue Richtungen lenkt. Allerdings stellt sich diesem temporeichen ersten Teil im zweiten eine recht statische Szenerie entgegen, in welcher sich zwar auch immer wieder wunderbare musikalische Gedanken finden, die im Großen und Ganzen aber die Wirkung des Vorspiels konterkariert. Dass die im ersten Teil so wichtigen Figuren des Komponisten, des Musiklehrers und des Haushofmeisters im zweiten verschwunden bleiben, trägt bedeutend dazu bei, dass die „Oper“ hinter dem Vorspiel zurückbleibt. War dort alles Interaktion Aller mit Allen, so beschränkt sich der zweite Teil im Wesentlichen darauf, Ariadne (am Ende Ariadne und Bacchus) mit Zerbinetta und den Komödianten alternieren zu lassen. Allen Schönheiten zum Trotz, an denen der zweite Teil, wie gesagt, nicht spart, hinterlässt das Stück insgesamt einen im wörtlichen Sinne zwiespältigen Eindruck.

Das letzte Konzert der Richard-Strauss-Tage 2024 war der zu Anfang des ersten Teils dieses Berichts bereits erwähnte Kammermusikabend des Phaeton Piano Trios am 11. Juni, der im kleineren Richard-Strauss-Saal des Garmisch-Partenkirchener Kongresshauses stattfand. Erneut teilten sich Strauss und Heinrich G. Noren das Programm. Die dargebotenen Werke kontrastierten wesentlich stärker zueinander als das Kaleidoskop und das Heldenleben, was nicht zuletzt daran liegt, dass es sich bei den beiden Klaviertrios von Richard Strauss um Jugendwerke handelt, die der Komponist im Alter von 13 Jahren schrieb. Sie repräsentieren also nicht seinen den Kompositionsstil seiner Hauptwerke. Man sollte sich davon aber nicht dazu verführen lassen, von diesen Stücken geringschätzig zu reden oder sie als „jugendlich unreif“ abzutun. Es ist nichts Unreifes in ihnen. Im Gegenteil: Der Autor ist ein junger Meister, der sich durch das Studium klassischer Vorbilder zu bemerkenswertem Können herangebildet hat und dem alles gelingt, was er sich vornimmt. Diese Musik hat nichts Himmelstürmendes an sich, nichts deutet darauf hin, dass von derselben Hand nur ein Jahrzehnt später die Violinsonate op. 18 geschrieben werden wird, von Don Juan und Macbeth ganz zu schweigen. Wir müssen bedenken, dass wir uns mit dem jungen Strauss in einem München befinden, das erst nach und nach zur „Richard-Wagner-Stadt“ wird und in dem Franz Lachner noch unter den Lebenden weilt, jener langjährige bayerische Hofkapellmeister, der die Pflege der ihm teils noch persönlich bekannt gewordenen Wiener Klassiker dort fest etabliert und als Vorgesetzter von Franz Strauss, dem Vater Richards, auf den Geschmack der Strauss-Familie einen nicht geringen Einfluss genommen hat. Es ist kurzum eine verlängerte Wiener Klassik, die der 13-Jährige hier präsentiert. Und das tut er mit Geschmack und Feingefühl!

Bei der Wiedergabe der Strausschen Trios fiel auf, dass sich der Pianist Florian Uhlig gerade im ersten Trio auffällig zurückhielt. Während Friedemann Eichhorn, Violine, und Peter Hörr, Violoncello, von Anfang an als ebenbürtige Partner auftraten, verblieb Uhlig lange in einem wenig differenzierten Mezzopiano, aus dem er erst nach und nach herausfand. Nehmen wir zu seinen Gunsten an, dass er sich seine Kräfte für die zweite Hälfte des Konzerts aufsparte. Jedenfalls war er bei der Aufführung von Norens Klaviertrio op. 28 ganz präsent und stand hinter den Streichern nicht zurück. Dieses viersätzige Werk ist das genaue Gegenteil der Strauss-Trios: Es handelt sich um monumentale Bekenntnismusik eines reifen Meisters, der alle klassizistischen Spiele hinter sich gelassen hat und eine eine starke Neigung zu „fremden Ländern und Menschen“ an den Tag legt. Hinsichtlich der zeitlichen Dimensionen von einer guten Dreiviertelstunde, wobei der riesige Kopfsatz allein 20 Minuten einnimmt, kann man dieses Trio getrost eine Symphonie für drei Instrumente nennen. Aber auch klanglich zieht Noren alle Register, um der Trioformation maximale Opulenz zu entlocken. Elemente slawischer Musik treten in dem Trio noch deutlich stärker zu Tage als in den Kaleidoskop-Variationen. Der Kopfsatz beginnt mit einem wuchtig einher schreitenden Thema, einem Bild heroischen Trotzes, das in der Durchführung in resignative Introversion gewendet wird. Die Gesangsthemen der Ecksätze und der langsame Satz entfalten jenes breit strömende Melos, das für russische Komponisten dieser Zeit so typisch ist. Das mäßig rasche Scherzo lässt in seiner Frische an Mussorgskij denken. Den langsamen Satz leitet ein Solo des Cellos ein, das eine archaische, schamanische Welt heraufzubeschwören scheint. Das ganze Werk durchziehen harmonisch-instrumentatorische Lichteffekte, die an die russischen Maler des Peredwischniki-Kreises denken lassen, denen ja auch Modest Mussorgskij nahestand. Im Finale, das mit einem flinken, etwas raubeinigen Tanzthema beginnt und dieses später als Fuge durchführt, wird der Farbenrausch schließlich auf die Spitze getrieben. Das ist ein großes, herrliches Werk, von dem man sich fragt, warum es so lange unbeachtet geblieben ist, und dem man sehr gern häufiger im Konzertsaal wieder begegnen möchte. Mit einem starken Plädoyer für einen unterschätzten Meister gingen also die Richard-Strauss-Tage 2024 zu Ende, und man fragt sich bereits, was dieses verdienstvolle Festival wohl im nächsten Jahr bringen wird.

[Norbert Florian Schuck, Juni 2024]

Richard-Strauss-Tage 2024 [1]: Heinrich Gottlieb Norens Auferstehung

Der folgende Bericht über die Richard-Strauss-Tage in Garmisch-Partenkirchen beschäftigt sich mit vier Konzerten:

8. Juni: Symphoniekonzert (Richard Strauss: Guntram-Vorspiel zum 2. Akt; Heinrich G. Noren: Kaleidoskop; Richard Strauss: Ein Heldenleben), Pilsener Philharmonie, Rémy Ballot

9. Juni: Matinéekonzert (Richard Wagner: Ouvertüre zu Tannhäuser; Richard Strauss: Don Juan, Gesänge op. 51, Träumerei am Kamin aus Intermezzo, Schlussmonolog aus Die schweigsame Frau), Günther Groissböck, Pilsener Philharmonie, Rémy Ballot

9. Juni: Oper (Richard Strauss: Ariadne auf Naxos, konzertante Aufführung), Department für Oper und Musiktheater der Universität Mozarteum Salzburg, Angelika Prokopp Sommerakademie der Wiener Philharmoniker, Kai Röhrig

11. Juni: Kammerkonzert (Klaviertrios von Richard Strauss und Heinrich G. Noren), Phaeton Piano Trio

Heinrich Gottlieb Noren (1861-1928) um 1912, Photographie von Aura Hertwig (1861-1944)

Am 11. Juni 2024, dem 160. Geburtstag von Richard Strauss, endeten die diesjährigen Richard-Strauss-Tage mit einem Kammerkonzert des Phaeton Piano Trios. Florian Uhlig, Klavier, Friedemann Eichhorn, Violine, und Peter Hörr, Violoncello, spielten sämtliche Werke, die der Jubilar für die Besetzung ihres Ensembles hinterlassen hat: die beiden Klaviertrios, die er als 13-Jähriger Ende 1877 und Anfang 1878 komponierte, und die drei an Vorbilder Couperins angelehnten Tänze, die in der letzten, 1942 uraufgeführten Oper Capriccio als Bühnenmusik dienen. Das Schlusswort erhielt allerdings ein anderer Komponist, der in Folge seiner Parteinahme für Strauss 1908 in einen Urheberrechtsstreit verwickelt wurde, dessen Ergebnis den Strauss-Gegnern zu einem schallenden Lacherfolg verhalf: Heinrich Gottlieb Noren (1861–1928). Norens Musik bildete einen der Schwerpunkte des Festprogramms. Mit dem Klaviertrio d-Moll op. 28, das im abschließenden Kammerkonzert zu hören war, und dem Orchesterwerk Kaleidoskop – Variationen und Doppelfuge über ein eigenes Thema op. 30, das durch die Pilsener Philharmonie unter der Leitung von Rémy Ballot Seite an Seite mit Straussens ihm eng verbundener Tondichtung Ein Heldenleben erklang, gelangten erstmals seit sehr langer Zeit (im Falle des Kaleidoskops seit mehr als einem Jahrhundert) wieder zwei Hauptwerke des Komponisten zur Aufführung.

Bekanntlich wurde in den letzten drei Jahrzehnten eine Vielzahl sogenannter vergessener Komponisten durch CD-Einspielungen, teils in Verbindung mit Konzertaufführungen und Rundfunksendungen, ins Gedächtnis der Musikwelt zurückgerufen – darunter auch zahlreiche Zeitgenossen von Richard Strauss. So haben wir heute wieder eine gute Vorstellung von Künstlerpersönlichkeiten wie Ludwig Thuille, Max von Schillings, Emil Nikolaus von Reznicek und Siegmund von Hausegger, um nur einige besonders wichtige Weggefährten des Garmischer Meisters zu nennen. Auch sein einziger Kompositionsschüler Hermann Bischoff ist durch Aufnahmen seiner Symphonien wieder mehr als nur ein bloßer Name in musikgeschichtlichen Darstellungen. Aber der hervorragenden Arbeit einer Reihe rühriger Musikproduktionen zum Trotz klaffen immer noch große Lücken in unserem Bild von der deutschen Musik des frühen 20. Jahrhunderts. Dass im Jahre 2024 keine einzige Aufnahme eines Werkes von Heinrich G. Noren vorliegt, darf als für diesen Zustand bezeichnend gelten, denn Noren war zu seinen Lebzeiten keineswegs ein Unbekannter. Gut ein Jahrzehnt lang gehörte er gar zu den prominentesten Komponisten seiner Generation im deutschsprachigen Raum. Nachdem er 1907 schlagartig bekannt geworden war, erklangen seine Werke bis zum Ende des Ersten Weltkriegs regelmäßig in deutschen Konzertsälen und wurden auch in anderen europäischen Ländern sowie in den Vereinigten Staaten gespielt (noch 1917, kurz vor dem Kriegseintritt der USA, führte Carl Muck in New York Norens Symphonie Vita auf). Erst in den 1920er Jahren verliert sich diese Erfolgsspur, gewiss zum Teil bedingt durch die neu aufgekommenen, gänzlich anders gearteten Stilrichtungen, aber auch, weil der Komponist – ähnlich wie Hausegger, Schillings und Bischoff – nicht mehr mit neuen großen Werken vor die Öffentlichkeit trat.

Der Verfasser dieser Zeilen war nur in der Absicht nach Garmisch gereist, sich dort als Rezensent zu betätigen. Unerwartet wurde er anderthalb Stunden vor dem Symphoniekonzert von Christoph Schlüren und Frank Harders-Wuthenow, denen die Konzerteinführung oblag, eingeladen, sich an derselben zu beteiligen, da er bereits Nachforschungen in Sachen Noren unternommen habe. Tatsächlich habe ich dies getan, und gern nahm ich die Einladung an. Allerdings bin ich weit davon entfernt ein „Noren-Experte“ zu sein. Was wissen wir eigentlich über Noren? Die Eckdaten seiner Biographie sind bekannt: Er hieß eigentlich Heinrich Suso Johannes Gottlieb und wurde 1861 in Graz als Sohn des Chemikers Johann Gottlieb geboren. Er bildete sich zuerst bei Henri Vieuxtemps in Brüssel, dann bei Lambert Massart in Paris zu einem hervorragenden Geiger aus und kam anschließend weit in Europa herum. Nachdem er als Konzertmeister in Belgien, Spanien, Russland und Deutschland gewirkt hatte, ließ er sich in Krefeld nieder, wo er 1896 ein Konservatorium gründete. Nach einem kurzen Intermezzo in Düsseldorf ging er 1902 ans Stern’sche Konservatorium nach Berlin, 1907 ans Dresdner Konservatorium. 1911 finden wir ihn wieder in Berlin, 1915 schließlich am Tegernsee, zuerst in Rottach-Egern, dann in Kreuth-Oberhof, wo er 1928 starb. Zunächst vor allem als ausführender Musiker und Pädagoge tätig, war der Schüler Friedrich Gernsheims, Ludwig Busslers und Otto Klauwells als Komponist ein Spätentwickler. Erst mit über 30 Jahren trat er mit eigenen Werken öffentlich in Erscheinung.

Über den Menschen Noren ist bislang kaum etwas bekannt. So wissen wir auch nicht, warum sich Heinrich Gottlieb das Pseudonym „Noren“ zulegte und wie er auf diesen Namen kam. Die Angabe im Österreichischen Biographischen Lexikon, er habe seit 1916 „Noren“ geheißen, bezieht sich nicht auf den tatsächlichen Zeitpunkt der Namensänderung, sondern auf deren nachträgliche Legitimierung durch die k.k. Steiermärkische Statthalterei vom 12. November 1916 (siehe MGG2). Nicholas Slonimsky schrieb in Baker’s Biographical Dictionary of Musicians, der Komponist habe den Namen seiner Ehefrau angenommen. Nachweislich war Noren mit einer norwegischen Sängerin namens Signe Giertsen (oder Gjertsen) verheiratet, die noch 1955 in Bergen lebte. Sie findet sich in den Musikzeitschriften der Zeit auch als „Signe Giertsen-Noren“ verzeichnet, allerdings nicht vor 1913. Damals führte ihr Ehemann den Namen bereits seit vielen Jahren. Sie hat diesen also mit der Heirat, die um 1912/13 stattgefunden haben dürfte, von ihm übernommen, nicht umgekehrt. Ob der Komponist zuvor bereits einmal verheiratet war, ist bislang nicht bekannt. Weiterhin ist möglich, dass Heinrich Gottlieb seine Herkunft verschleiert hat, da sein Vater jüdischer Abstammung war (Johann Gottlieb findet sich im Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert verzeichnet). Solange keine intensiveren Forschungen zur Biographie des Komponisten konkrete Ergebnisse zu Tage fördern, bleibt freilich alles in diesem Punkt Spekulation. Auffällig ist jedenfalls, dass er im Laufe der Jahre die Formulierung seines Künstlernamens abwandelte. So taucht der eigentliche Familienname „Gottlieb“ teils als Vorname, teils als Nachname („Gottlieb-Noren“) auf und verschwindet schließlich hinter dem Mittelinitial („Heinrich G. Noren“).

Noren gehörte nicht zum engeren Kreis um Richard Strauss, dennoch war sein Aufstieg zu größerer Bekanntheit eng mit dem Namen des drei Jahre jüngeren Kollegen verbunden. Zu jener Zeit war in der deutschen Musikpresse ein großer Streit um den richtigen Fortschritt in der Musik losgebrochen. Felix Draeseke, der damals wohl angesehenste unter den lebenden deutschen Komponisten der älteren Generation und keineswegs ein Brahmsianer, hatte 1906 unter dem Titel Die Konfusion in der Musik ein Pamphlet veröffentlicht, in welchem er Richard Strauss scharf kritisierte: Der namentlich nicht Genannte, „von Haus aus in ungewöhnlicher Weise für die Musik befähigt, als Schöpfer sehr kühner, aber höchst interessanter Kunstwerke zu bezeichnen“ – Draeseke hatte einst den Don Juan ausdrücklich begrüßt –, sei vom Verismus ergriffen und von diesem dazu getrieben worden, „sich dem Kultus des Häßlichen zu ergeben und der Kunst in bis dahin unerhörter Weise Gewalt anzutun.“ Der Aufsatz löste eine Flut von Artikeln aus, in welchen sich eine Vielzahl namhafter Musiker pro oder contra Strauss äußerte. Die teils mit Witz, teils mit erbitterter Heftigkeit geführte Debatte zog sich über Jahre hin und verlor sich erst mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. (Die wichtigsten Texte erschienen gesammelt in Band 4 der Mitteilungen der Internationalen Draeseke-Gesellschaft: Die Konfusion in der Musik. Felix Draesekes Kampfschrift und ihre Folgen, Bonn: Gudrun Schröder Verlag, 1990.) Strauss selbst betrachtete den Pressekrach mit Gelassenheit und dürfte wohl manches Mal an „Des Helden Widersacher“ aus seiner Tondichtung Ein Heldenleben gedacht haben. Als sich die Kontroverse auf ihrem Höhepunkt befand, gelangten 1907 im Rahmen der Tonkünstlerversammlung des Allgemeinen deutschen Musikvereins in Dresden Norens Kaleidoskop-Variationen zur Uraufführung. Das Werk lässt sich kaum ohne die Vorgeschichte der „Konfusions-Debatte“ denken, da seine letzten beiden Abschnitte überdeutlich darauf anspielen. Noren zitiert (nicht ganz notengetreu, aber deutlich erkennbar) in der letzten Variation, die er ausdrücklich mit der Widmung „An einen berühmten Zeitgenossen“ überschreibt, die Themen des Helden und der Widersacher aus dem Heldenleben. Das Widersacher-Thema wird anschließend zum Ausgangspunkt der Doppelfuge, in welcher das originale Thema der Variationen als Gegensatz wiederkehrt. Kann man das alles anders deuten, als dass Noren dem Strausschen Helden auf dessen Walstatt zu Hilfe eilt und sich den gleichen Widersachern entgegen wirft? Was die Haltung zu letzteren betrifft, zeigt sich Noren optimistischer als Strauss. Besteht im Heldenleben zwischen dem Helden und den Widersachern bis zum Schluss eine unüberbrückbare Kluft – der weltflüchtig Gewordene hört sie von Ferne wieder missgünstig Knurren –, so lässt Noren im Kaleidoskop sein Variationsthema als Choral triumphieren, in den das erste Fugenthema, das seinen Charakter gänzlich gewandelt hat, begleitend einstimmt: Die Widersacher konnten hier offensichtlich zu Unterstützern gemacht werden.

Noren hatte sich für die Zitate aus dem Heldenleben die Genehmigung von Strauss eingeholt. Nichtsdestoweniger wurde er vom Verlag Leuckart, der die Straussche Tondichtung herausgebracht hatte, wegen Verletzung des Urheberrechts angeklagt. Der Prozess vor dem Königlichen Landgericht in Dresden endete 1908 mit einer Niederlage Leuckarts. Noren wurde mit der Begründung freigesprochen, es handle sich bei den beiden zitierten Themen nicht um Melodien, und nur diese seien geschützt. „Die Benutzung von Motiven und Themen fremder Musikstücke bleibt dagegen unter der Voraussetzung künstlerischer Verarbeitung und Neugestaltung nach § 13 Absatz 1 auch weiter freigegeben“, so das Urteil. Im nächsten Jahr erschien eine Faschingsausgabe der Zeitschrift Die Musik, auf deren Titelblatt das Anfangsthema des Heldenlebens mit folgendem Text unterlegt wurde: „Strauss ist ein großes Genie, aber ganz ohne Melodie. O, so hört Franz Lehár an, das ist doch noch ein ganz andrer Mann!“ …

Auch abgesehen vom Wert des Norenschen Variationszyklus als Zeitdokument handelt es sich um ein höchst bemerkenswertes Werk, zumal Noren keineswegs Straussens Stil zu imitieren sucht. So hebt das Thema der Variationen denkbar unstraussisch als eine schlichte Englischhornmelodie in modal getöntem e-Moll an, die ungefähr zwischen einem slawischem Volkslied und einem protestantischen Choral die Mitte hält. Von einem „Thema“ kann eigentlich nur in erweitertem Sinn gesprochen werden, denn der Komponist belässt es nicht bei dieser Melodie, sondern verarbeitet sie imitatorisch und modulierend, sodass ein in sich geschlossenes kurzes Charakterstück entsteht. Die anschließenden Variationen folgen dann nicht der klassischen Praxis, Ausmaße und Form des Themas im wesentlichen beizubehalten, wie dies auch noch Brahms tat, sondern greifen nur seine Motive auf und entwickeln daraus in freier Abwandlung völlig neue Gebilde. „Kaleidoskop“ ist genau der richtige Name für diese Art der Variationskomposition. In den einzelnen Variationen sprüht es nur so vor Einfällen! Noren zeigt sich als ein unbekümmert musikantischer Komponist, dem tänzerische Rhythmen im Blut liegen. Slawisches Temperament tritt immer wieder zutage, nicht nur in der explizit als „Slawischer Tanz“ bezeichneten Variation. Unter Verwendung üppigster nachwagnerischer Harmonik erschafft Noren aus dem Material seines Themas einen kontrastreichen Bilderbogen. Die Ausmaße einiger Variationen gestatten es durchaus, von ihnen als kleinen Tondichtungen zu sprechen, zumal sie charakterisierende Titel tragen, die teils ins Programmmusikalische hinüberspielen („Im Dom“, „Aus fernen Tagen“). Im Gegensatz zu Straussens Don Quixote sind sie aber nicht als Teile einer übergreifenden Handlung gedacht, das Ganze mithin nicht als Programmmusik im engeren Sinne anzusprechen. Die das Werk prägende Tendenz zum Symphonisch-Expansiven – außer in der Schlussfuge besonders spürbar in der „Dom“-Variation und im gewaltig auftrumpfenden zentralen Trauermarsch – zeigt sich auch darin, dass Noren dem Thema eine langsame Einleitung voranstellt, in welcher dessen Motive angedeutet werden, und den die Fuge krönenden Choral in eine leise Coda auslaufen lässt, die mit der Einleitung korrespondiert. Norens Instrumentation steht an Farbenpracht und Brillanz der Strausschen nicht nach. Auffällig ist seine Vorliebe für Schlaginstrumente, die in einigen Abschnitten des Werkes geradezu eine eigenständige Orchesterebene bilden.

Man muss dem künstlerischen Leiter der Richard-Strauss-Tage, Dominik Šedivý, für die Aufnahme dieses Meisterwerkes ins Festprogramm herzlich dankbar sein, wie man überhaupt die kluge Zusammenstellung der Garmischer Konzertprogramme loben muss. Die Koppelung des Kaleidoskops mit dem Heldenleben, die ja aufgrund der thematischen Bezüge auf der Hand liegt, mag aufgrund der Ausdehnung beider Werke und der großen Ansprüche, die sie an die Musiker stellen, in normalen Konzerten schwierig sein. Im Rahmen der Strauss-Tage war sie genau am richtigen Platz. Norens Werk kam dadurch außerdem in den Genuss einer Wiederbelebung in Form einer erstrangigen Aufführung – etwas, das viele großartige Kompositionen, die zuvor lange Zeit nicht gespielt worden sind, leider entbehren mussten und allzuoft noch müssen. Die Pilserner Philharmonie übertraf ihre Leistung vom letzten Jahr, als sie unter Rémy Ballot u. a. den Macbeth spielte, deutlich – und schon damals war das Ergebnis eine hervorragende Aufführung. Dieses Jahr erschien das Orchester allerdings noch um einiges agiler und motivierter – ideale Bedingungen also für einen so umsichtigen Gestalter wie Ballot, die großen Werke von Strauss und Noren – am 8. Juni im Festsaal Werdenfels des Kongresshauses Garmisch-Partenkirchen – zum Klingen zu bringen.

Als der Zwölftonkomponist Joseph Matthias Hauer einmal anmerkte, Beethoven habe doch sein Leben lang nur Kadenzen geschrieben, konterte Wilhelm Furtwängler: „Ja, aber was für Kadenzen!“ Rémy Ballots Aufführung des Heldenlebens machte erlebbar, „was für Kadenzen“ Richard Strauss geschrieben hat. Strauss macht es mit seiner Liebe zum Ornament, mit seinen durch alle Orchestergruppen flutenden Klangwogen, mit einem Notenbild, von dem sich Ferruccio Busoni einst an den New Yorker Straßenverkehr erinnert fühlte, den Dirigenten oft nicht leicht, in seinen Werken die roten Fäden zu finden. Freilich, diese sind da, und wenn sie erfasst und zur Geltung gebracht werden, dann zeigt sich, dass Strauss eben mehr war als bloß ein brillanter Orchestrationsvirtuose und dass in seinen Stücken die polyphone Kunst mannigfaltig blüht. Rémy Ballot hat als Bruckner-Dirigent hinreichend bewiesen, dass er weitestgespannte musikalische Verläufe zu realisieren in der Lage ist (siehe seinen kürzlich bei Gramola herausgekommenen Bruckner-Zyklus aus St. Florian). Er versteht es, den Musikern zu vermitteln, welche Bedeutung ihre Stimme im Zusammenhang des Ganzen besitzt. So vermag er auch, als wäre es das Selbstverständlichste, in der ganz anders gearteten Musik Straussens, jeden Winkel auszuleuchten. Wo es bei manch anderem Dirigenten nur blitzt und blendet, findet er Gegenstimmen, Kontrapunkte, Feinheiten des Tonsatzes und lässt diese in Interaktion miteinander geraten. So wird das Gefälle der Harmonien zum Erlebnis, die symphonische Handlung entsteht wie von selbst daraus – „Des Helden Walstatt“ ist kein konfuses Geplänkel und kein Schlagzeugkonzert, sondern Musikdrama im schönsten Sinne – und man kann mit Furtwängler feststellen: „Was für Kadenzen!“ Nirgendwo wurde das deutlicher als in jenem Abschnitt, bei dem ich mich nie ganz des Gedankens erwehren kann, Strauss habe ihn geschrieben, um die Geduld seiner Hörer zu testen, nämlich dem lang ausgesponnenen Dialog zwischen Solovioline und Orchester zu Beginn von „Des Helden Gefährtin“, welcher durch Ballots Weitsicht – und die hervorragende Leistung der Pilsener Konzertmeisterin – auffallend kurzweilig geriet. Den beiden großen Werken des Abends war, gleichsam als Ouvertüre, das Vorspiel zum zweiten Akt der Strausschen Erstlingsoper Guntram vorangestellt. Angesichts solch prächtiger Musik, wie sie in diesem knappen, schwungvollen Stück enthalten ist, würde es sich gewiss lohnen, den selten aufgeführten Guntram einmal wieder in Gänze vorzustellen – gern auch konzertant.

Das Matineekonzert der Richard-Strauss-Tage, das am Tag nach dem Symphoniekonzert dem festlichen Empfang des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst vorangeht, litt im letzten Jahr an einer zu kurzen Probenzeit, sodass es die Höhe des damaligen Symphoniekonzerts nicht halten konnte. Umso erfreulicher gestaltete sich dagegen die diesjährige Matinee, denn das Orchester war, gewiss vom Erfolg am Abend zuvor noch zusätzlich bestärkt, bestens disponiert. Das Programm umfasste ausschließlich Kompositionen, in denen Liebesbeziehungen thematisiert werden, meist ohne glücklichen Ausgang: Richard Wagner hat den Gegensatz zwischen irdischer und himmlischer Liebe, der seiner Oper Tannhäuser zugrunde liegt, bereits im Aufbau der Ouvertüre zum Ausdruck gebracht; Strauss schickt in seiner Tondichtung Don Juan den Titelhelden von einem Liebesabenteuer zum anderen, bevor er ihn zum Schluss ausgebrannt zusammenbrechen lässt; die Texte seiner Zwei Gesänge op. 51 handeln vom Verlust der Liebe; in den beiden Opern Intermezzo und Die Schweigsame Frau, aus welchen Auszüge zu hören waren, kommen Komplikationen des ehelichen Zusammenlebens zur Sprache.

An den Darbietungen der Tannhäuser-Ouvertüre und des Don Juan fesselte ungemein, wie zwanglos sich das musikalische Geschehen entfaltete. Das hymnische Thema zu Beginn der Ouvertüre erklang sehr sorgsam phrasiert. Die harmonischen Schwer- und Leichtpunkte der Melodie wurden von den Musikern wirklich empfunden, sodass die Musik in ein ganz natürliches Ein- und Ausatmen geriet. Willkürliche Zergliederung konnte dadurch genauso wenig aufkommen wie übertriebene Theatralik. Hier wurden keine Posen eingenommen, sondern es wurde Musik innig erlebt und beseelt wiedergegeben. Noch deutlicher als anhand der Werke Straussens und Norens zeigte sich bei Wagners breiten Melodiebögen, dass Rémy Ballot ein Musiker ist, der aus tiefster innerer Ruhe heraus schafft und gerade deswegen fähig ist, die Musik sich so großartig steigern zu lassen und ihren Verlauf so sicher auf den Punkt gebracht zu gestalten. Eben deshalb wirkte auch Don Juan so ungeheuer profund. Das lebhafte Gebärdenspiel, das dieses kapriziöse Werk auszeichnet, hatte nichts Oberflächliches oder Erzwungenes an sich, sondern klang wie frei vom Herzen weg gesprochen, als ganz selbstverständlicher Ausdruck einer extravertiert-sinnenfreudig disponierten Persönlichkeit. Die Extreme, in die sich Straussens Held stürzt, kommen nicht zu kurz. Dass er das Schwelgen liebt und das Abenteuer sucht, glaubt man ihm in jeder Note. Ballots sicherer Überblick über das Geschehen verhinderte alles Übereilen, das vorzeitige Verschießen des Pulvers. Auch behielt die Musik in den langsamen Abschnitten durchweg ihren Fluss, verlor sich nirgends im bloß Momenthaften. Das feine Auskosten der Einzelheiten, ebenso wie der überlegte Aufbau der Steigerungen förderten dabei eine Vornehmheit zutage, wie sie sich bei weniger guten Aufführungen des Stückes schlicht nicht einstellt. Ballot fand den inneren Adel der Musik, sodass man tatsächlich Don Juan agieren hörte.

In den Gesängen op. 51 trat der Bassbariton Günther Groissböck zum Orchester hinzu. Beide Stücke sind in Zwielicht getaucht: Das Thal bietet vordergründig eine Idylle (mit Alphorn-Anklängen), über die sich aber immer wieder Schatten lagern, dagegen herrscht in Der Einsame Dunkelheit vor, in welche wiederholt Lichtstrahlen durchbrechen. Groissböcks ließ seine Stimme schwer und dunkel klingen, was sehr gut zum Charakter der Stücke passte. Die fein abgestuften Farbenspiele in Harmonik und Instrumentation kamen durch Ballots Dirigat wunderbar zur Geltung. Seine sorgsame Ausrichtung der Entwicklung auf den jeweiligen Höhepunkt hin, ließ deutlich werden, dass die beiden Lieder nicht nur bloße Stimmungsbilder, sondern symphonische Dichtungen im Kleinen sind. Dasselbe lässt sich auch vom Orchesterzwischenspiel Träumerei am Kamin aus der Oper Intermezzo sagen, einem beinahe kammermusikalisch anmutenden Stück, das hier in seiner ganzen raffiniert polyphonen Zartheit erblühen konnte. Das Schlusswort der Matinee gehörte Günther Groissböck, der für den Monolog des Sir Morosus, der Die Schweigsame Frau beschließt, deutlich sanftere Töne fand als für die beiden Gesänge. Die darin enthaltenen Worte „Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist!“ möchte ich für das dargebotene Konzert jedenfalls nicht unterschreiben.

(Zur Fortsetzung siehe hier)

[Norbert Florian Schuck, Juni 2024]

[Korrektur: Im obigen Text wird als Quelle zu Norens Namensänderung die MGG2 genannt. Dies geschah in der Annahme, es finde sich dort ein Artikel über den Komponisten, da die Online-Ausgabe des Lexikons einen solchen enthält. Tatsächlich wird Noren in der ersten Auflage der MGG noch mit einem Artikel bedacht (dieser steht im Netz), die MGG2 erwähnt ihn dagegen nicht mehr. NF Schuck]