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Die isolierteste Oper der Welt

Ein mehrtägiges Festival um eine Opernproduktion, das auf einer kleinen Insel stattfindet, etwa vier Stunden Bootsfahrt von der nächsten Stadt entfernt? Das klingt nach einem Abenteuer für mich: Und so mache ich mich erneut auf nach Norwegen, diesmal nach Røst.

Die Reise geht über Oslo nach Bodø, von wo aus die Fähre nach Røst ablegt. Nach etwa drei Stunden auf dem Schiff erhebt sich langsam eine Wand aus den Wogen, befremdlich und unwirklich. Je näher das Boot kommt, desto bedrohlicher wirken die Landmassen, die sich über den Horizont erstrecken. Durch das Teleobjektiv erkenne ich Häuser und allmählich teilt sich die Wand; sie erweist sich als eine Ansammlung unzähliger kleiner Inseln, die gedrängt aneinander aufragen. Røstlandet kommt in Sicht – in großzügiger Entfernung zueinander stehende Holzhäuser und manch eine Betonhalle zur Stockfischlagerung prägen den ersten Eindruck, dahinter erkenne ich die nun im Sommer leeren Holzgestelle, auf denen der Fisch getrocknet wird.

So befinde ich mich also auf Røstlandet, der südwestlichsten Insel der Lofoten. Die geringe Größe und Bevölkerungsdichte wirken für mich als Großstadtmenschen exotisch, doch eben hier liegt auch der Reiz. Weniger als 600 Menschen leben in der Røst-Kommune auf etwa 11 Quadratkilometern, die sich auf weit über 300 Inseln und Schären verteilen. Kleine Binnenseen und Wasserkanäle machen die Landschaft ebenso aus wie Steine und Wiesenflächen: Bäume findet man keine auf Røst, zumindest keine natürlich gewachsenen. Der Blick reicht weit über die Hauptinsel, denn der höchste Punkt befindet sich gerade einmal 12 Meter über dem Meeresspiegel. Auf der Ostseite befinden sich die meisten Häuser, und im Süden bei der Bootsanlegestelle; im Norden liegt eine Kirchenruine und im Nordosten ein Flughafen: wobei ich während meiner Zeit auf Røst nur ein einziges Mal eine Maschine habe starten sehen.

Mich beeindruckt die Mentalität hier in der Abgeschiedenheit. Kriminalität gibt es keine auf Røst, weshalb auch kaum jemand auf die Idee kommt, Wohnung oder Auto abzusperren. Warum auch? Selbst wenn jemand einbrechen würde, käme er – wenn überhaupt – bis auf die Fähre, und nicht weiter. Trotz eines beinahe familiären Zusammenhalts in der Gemeinschaft sind die Einwohner ausgesprochen offen gegenüber ihren Gästen und man findet schnell Anschluss an Gespräche. Natürlich hilft es hierbei wie auch überall sonst, die Landessprache zu können, jedoch beherrschen alle Einwohner auch Englisch und viele sogar etwas Deutsch. Es finden allerdings weniger Touristen nach Røst als auf die anderen Lofoten: Vielleicht aufgrund der Entfernung zu den anderen Inseln, vielleicht aufgrund der verschwindend geringen Größe. Doch es lohnt sich!

Das Querinifestival begann bereits am 1. August, ich stoße erst zwei Tage später dazu. Fünf Tage lang werden verschiedenartige Veranstaltungen angeboten, allen voran vier Aufführungen der Oper „Querini“ aus der Feder Henning Sommerros; doch auch andere Konzerte stehen auf dem Programm, ebenso wie Ausflüge. Ich werde später dazu kommen, was es mit Querini auf sich hat und warum ausgerechnet hier dieses riesenhafte Ereignis stattfindet.

Direkt nach meiner Ankunft steht bereits ein erster Konzertbesuch an: Die ebenfalls von den Lofoten stammende Sängerin Kari Bremnes tritt erstmalig auf Røst auf, wobei sie von Bengt Hanssen begleitet wird. Bremnes gehört zu den bekanntesten Stimmen Norwegens und entsprechend voll wird es in der Querinihalle, die 500 Plätze umfasst. Rein und schlicht trägt sie ihre Lieder vor, singt, wie für sich ganz alleine. Bengt E. Hanssen ersetzt eine ganze Band, indem er seiner Klavierstimme auch zahlreiche Effekte und Klänge anderer Instrumente beifügt. Herrliche Momente beschert uns der Musiker durch sein Joiken: Ein Joik ist ein samischer Gesang, in dem die Töne mehr Bedeutung tragen als die Worte.

Unterhaltsam geht es am nächsten Tag weiter mit Rasmus Rohde, der gemeinsam mit seiner „verdens beste band“ („weltbesten Band“) einige der erfolgreichsten norwegischen Lieder-CDs für Kinder eingespielt hat und zeigt, dass Musik alles andere als öde oder uncool ist. In seinen Liedern erzählt er von interessanten Mahlzeiten, reisenden Ballons, naiven Kuscheltieren und Sommererlebnissen. Er kann auf hohem musikalischem Niveau nicht nur den Kleinen ein Lachen entlocken. Denkwürdig bleibt der Moment, in dem Rohde die Stimmung kurz umschwingen lässt und von einem Flüchtlingskind singt, das seine Reise nicht überlebt hat. Gewagt, aber wichtig, den Kindern im Rahmen solch eines Konzerts diese Thematik näherzubringen.

Wenige Stunden später beginnt die Hauptveranstaltung: die vierte und somit letzte Aufführung der Querini-Oper von Henning Sommerro. Es ist die Geschichte des italienischen Handelsmannes Pietro Querini, dessen Schiff in einem Sturm vom Kurs abkam und sank. Nach langer orientierungsloser Reise strandete eines der Rettungsboote auf Sandøy, einer Nachbarinsel von Røst. Die überlebenden Männer wurden von einheimischen Fischern gefunden und gepflegt, wobei nur der örtliche Priester durch seine Lateinkenntnisse zwischen Italienern und Norwegern vermitteln konnte. Nach drei oder vier Monaten reisten Querini und die übrigen zehn Überlebenden der ursprünglichen 68 Männer zurück nach Italien; mit an Bord nahmen sie große Mengen an Stockfisch, der sich als Proviant für lange Reisen ideal eignet, und brachten ihn mit in die Heimat. Damit war Querini vermutlich der erste, der den Stockfisch importierte und somit eine bis heute bestehende Verbindung zwischen Nordnorwegen und Italien schuf. In den letzten Jahren kam auf Røst die Geschichte um Querini vermehrt in Erinnerung: Zunächst benannte man eine Straße nach dem Seefahrer, dann das Wirtshaus der Insel. Schließlich wurde die Idee geboren, die Aufzeichnungen Querinis über seine Abenteuer als Oper zu vertonen, was durch den Komponisten Henning Sommerro und den Librettisten Ragnar Olsen dann auch geschah und 2012 das Licht der Welt erblickte. 2018 wird die Geschichte nach 2012 und 2014 zum dritten Mal auf die Bühne gebracht, diesmal in neuer Inszenierung.

Die Oper zeigt das Geschehen vom Aufbruch in Venedig bis zu Querinis Rückkehr, wobei ein Kormoran (Soetkin Baptist) als omnipräsente Erzählerrolle fungiert. Die Wahl dieses Vogels wirkt nicht abwegig, er ist Wappentier von Røst und auch in Venedig heimisch. Insgesamt drei Liebesgeschichten durchziehen die Oper: Eine fromme Liebe verbindet Pietro Querini (Magne Fremmelid) und seine Frau (Anna Einarsson) und überdauert alle räumliche und zeitliche Distanz. Auch Bernardo (Eivind Kandal), Mitglied in Querinis Crew, sehnt sich nach seiner Maria (Jeanette Goldstein), die wie alle Frauen in Venedig geblieben ist. Diese wird allerdings von einem neuen Freier umgarnt (Jacob Abel Tjeldberg): Anfangs widersteht sie ihm, doch als die Crew noch immer nicht wiederkehrt und für tot gehalten wird, gibt sie nach. Am Ende kommt Bernardo zurück, und vergibt ihr. Eine dritte Liebesbeziehung entsteht zwischen Nicolo (Ivar Magnus Sandve), dem Diener Querinis, und Igna (Henriette Lerstad), einem Mädchen aus Røst. Obgleich die beiden nicht die Sprache des jeweiligen Gegenübers verstehen, spüren sie eine innere Verbindung. Als Querini aufbricht, um nach Venedig zurückzukehren, muss sich auch das Paar trennen, denn Igna wird auf Røst und Nicolo an Bord gebraucht. Das Ende der Oper zeigt, wie die Crew den Stockfisch in Venedig präsentiert und dort davon überzeugt. Ein Gabelstapler mit einer Palette Stockfisch fährt herein und eröffnet den Blick in unsere Gegenwart, in der noch immer Stockfisch von Norwegen nach Italien gebracht wird, wenngleich in anderen Mengen und mit anderen Mitteln.

Nicht nur die Rollenverteilung erweist sich als aufwendig mit genannten Solisten plus Rollen für Christofero aus Querinis Mannschaft (Magnus Berg), einer Hausfrau auf Røst (Hildegunn Pettersen), einem Fischer (Thomas Johansen) und dessen Tochter (Sofie Alexandra Arntsen), sondern auch das Bühnenbild. Die Szenerie wechselt immer wieder zwischen Italien und Norwegen; teils muss das Geschehen überblendet werden, um eine Gleichzeitigkeit der Handlung auszudrücken. Dies gelingt durch fahrbare Elemente wie ein Kirchenfenster, eine Treppe, eine Gondel oder die Löwensäule, die alle schnell auf die Bühne gebracht und ebenso schnell wieder herausgeschoben werden können. Dem Lebensstandard entsprechend gestaltet sich die Szenerie auf Røst schlichter: Ein großer Felsen prägt das Bild, später ergänzt durch ein Holzgerüst, auf dem der Fisch zum trocknen aufgehangen wird. Eine Videokulisse im Hintergrund erweckt die Bühne zum Leben, sie lässt rasche Übergänge zu und verleiht dem Sturm eine glaubwürdige Wucht.

Musikalisch steht die Querini-Oper zwischen den Stühlen, Henning Sommerro verpflichtet sich nicht einem Stil, sondern integriert unterschiedlichste Einflüsse in seine Musik. Dem Orchester vertraut Sommerro manche modernen Effekte an, die Sängerpartien setzt er konventioneller. Die aus Italien stammenden Rollen entleihen sich ihren Stil dem Belcanto, die norwegischen Partien ziehen ihre Kraft aus folkloristischen Elementen wie Borduntönen, spannungstragenden Intervallen und dem Joik. Liebesszenen stellt Sommerro gerne musicalartig-idealisiert dar, das Duett zwischen Nicolo und Igna könnte beinahe einem Disneyfilm entspringen. Allgemein ließe sich die Querini-Oper als „Hit-Oper“ bezeichnen, so wie es beispielsweise Carmen von Bizet ist: Eine Fülle an eingängigen Melodien schmeichelt dem Ohr, wiederkehrende Refrains gehen ins Ohr und prägen sich ein.

Das klingende Resultat ist herzergreifend. Das Engagement für dieses eine Event, die Aufführung eines wichtigen Moments der Inselgeschichte, und der Zusammenhalt als eingespieltes Team übertragen sich auf den Hörer. Die Mitwirkenden wollen ihr Bestes geben und so tun sie es auch. Bei Voraussetzungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten, unterstützen sich alle gegenseitig in einem familiären Umfeld. Besetzt wurden die Rollen durch Profis wie Laien gleichermaßen: Manche der Sänger standen erstmals auf einer Bühne, andere regelmäßig seit Jahrzehnten; und die Erfahrenen spornen die Neulinge an, über ihre Grenzen hinauszuwachsen. Es erstaunt, dass auf einer so kleinen Insel so hohes musikalisches Niveau erklingt. Hervorgehoben sei dabei der Chor, der sowohl das Volk aus Venedig als auch die norwegischen Inselbewohner darstellen muss, jeweils mit der entsprechenden regionalen Färbung des Gesangs. Er steht ausgesprochen häufig auf der Bühne und wechselt in den kurzen Verschnaufpausen auch noch die Kostüme. Auch das Orchester leistet viel, die „Querini Sinfonietta“ unter Torodd Wigum wurde extra für das Festival zusammengestellt; sie erweist sich als gutes Team, das sowohl aufeinander wie auch auf die Sänger aktiv eingeht. Bestechend ist die Rolle des Querini durch Magne Fremmelid, einem sonoren Bass mit durchdringender Stimme und Blick für glänzende Details. Jeanette Goldstein überzeugt als Maria, spürbar fiebert das Publikum mit, als sich ihre Liebesaffäre zuspitzt. Heimliche Hauptrolle der Oper bleibt allerdings Soetkin Baptist als Kormoran: In Erinnerung bleibt sie durch ihre erstaunlich naturnahen Vogelrufe, aber auch durch ihren sinnlich-feinen Gesang von unbeschreiblicher Reinheit. Die aus Belgien stammende Sängerin lebt sich in ihre ungewöhnliche Rolle ein und geht in ihr auf, schauspielerisch wie sängerisch: Dieses Talent ist einer großen Entdeckung würdig!

Nach der Oper schließt sich eine Gala an, in welcher die Musiker von Querini noch Highlights aus anderen Opern darbieten. Die erste Hälfte steht im Zeichen von Bizets Carmen, danach tragen die Sänger noch einige ihrer persönlichen Lieblingsarien vor. Bei Carmen (in norwegischer Übersetzung!) steht vor allem der Spaß im Vordergrund, kecke Scherze und lustige Momente werden in die Musik eigebunden; die zweite Hälfte birgt manch einen Opernschatz, der gewissenhaft und reflektiert dargeboten wird.

Am kommenden Tag schließt das Querini-Festival traditionell mit einem Ausflug nach Skomvær, ein kleines Künstlerparadies südwestlich der Hauptinsel. Mit dem Boot kommen wir an Inseln mit Wikingergräbern vorbei, am „Tor zur Hölle“ und an Sandøy, wo Querini und seine Mannschaft 1432 gestrandet sind. Nur fünf Häuser stehen auf Skomvær, eines davon ist der vielbesungene und -abgelichtete Leuchtturm Skomvær fyr. Künstler aus aller Welt bewerben sich für einen dreiwöchigen Aufenthalt auf diesem Fleckchen Land, wo sie in Abgeschiedenheit arbeiten und sich von der Landschaft sowie dem einmaligen Licht inspirieren lassen können. Während unseres Aufenthalts sehen und hören wir einige der hier entstandenen Kunstwerke inklusive des von den Querini-Solisten vorgetragene Lied „Har du fyr?“ von Ola Bremnes. Bei dieser unbeschwerten Idylle kann ich mir kaum vorstellen, dass diese kleine Meereserhebung im Zweiten Weltkrieg strategisch umkämpft war und schließlich vermint wurde. Heute ist nichts mehr übrig von dieser dunklen Vergangenheit und der Blick auf die benachbarten Inseln und das Meer lässt zurückdenken an die vergangenen Tage. Die Zeit auf Røst wird mir lange in Erinnerung bleiben, alleine schon die Anreise auf der Fähre und die Herzlichkeit der Leute, die gemütliche Lebensführung und gleichzeitig der Ehrgeiz, gemeinsam Großes zu schaffen, und das alles in unverwechselbarer Landschaft und mit dem Gefühl von Freiheit.

[Oliver Fraenzke, August 2018]

 

(Alle Fotos von: Oliver Fraenzke, August 2018)

Edvard Grieg zum 175. Geburtstag

Kurzbiographie
Edvard Grieg by Karl Anderson TM.T01607 (edit)

(Foto: Karl Anderson)

Edvard Hagerup Grieg wurde am 15. Juni 1843 in Bergen geboren und zeigte beim Klavierunterricht mit seiner Mutter Gesine Hagerup früh musikalische Begabung, wohingegen er die Schule vernachlässigte und schließlich die dritte Klasse wiederholen musste. Griegs Perspektiven änderten sich, als die Familie Ole Bull als Gast empfing, der nicht nur einer der bedeutendsten Geiger damaliger Zeit war, sondern als Komponist die Musik Norwegens maßgeblich veränderte: Er kämpfte für das Norwegische, Urtypische und Bäuerliche in der Musik, womit er später auch Grieg anstecken sollte. Auf den Rat Bulls begann Grieg 1858 ein Studium der Musik in Leipzig, wo zu seinen Lehrern neben Carl Reinecke auch Ignaz Moscheles und Louis Plaidy zählten. Griegs Berichten zufolge habe er nichts gelernt in Deutschland, auch von seinen Lehrern wurde er als aufmüpfig beurteilt; und doch sind Griegs handwerkliches Geschick und Wissen um einfache, aber effektive Formgestaltung sowie seine kontrapunktischen Fähigkeiten zweifelsohne auf ein gründliches Studium zurückzuführen.

Neue Einflüsse erhielt Grieg in Kopenhagen, wohin er 1863 nach kurzem Aufenthalt in seiner Heimat reiste. In Niels W. Gade fand er seinen neuen Lehrer, der bis heute zu den erfolgreichsten Komponisten Dänemarks gehört. Dieser überzeugte Grieg, ein großer Komponist müsse große Symphonien schreiben, und so machte sich Grieg an seine c-Moll-Symphonie. Diese zog er allerdings vor der Uraufführung zurück, als Johan Svendsen sein symphonisches Erstlingswerk vorlegte, das Grieg für überlegen hielt. Uraufgeführt wurde die Symphonie erst 1980 in Russland, womit das von Grieg ausdrücklich verlange absolute Aufführungsverbot des Werks gebrochen wurde. Kurze Zeit nach der Symphonie folgten auch die Klaviersonate e-Moll op. 7 und die Violinsonate F-Dur op. 8, die beide bis heute regelmäßig auf Konzertprogrammen zu finden sind. Ole Bull kritisierte Gades Einfluss im Werk seines Schützlings und forderte ihn dazu auf, Musik zu komponieren, die sein Land ehre und nicht den Spuren Gades folge. In Dänemark lernte Grieg auch Rikard Nordraak kennen, mit dem zusammen er 1864 Euterpe gründete, eine Vereinigung zur Förderung nordischer Musik. Für Euterpe entstanden die Humoresken op. 6, die erstmalig den Bezug zu den norwegischen Bauerntänzen „Slåtter“ aufweisen.

Weiter ging die Reise 1866 nach Christiania, heute Oslo, wo er seine Cousine Nina Grieg heiratete, mit der er eine Tochter bekam, Alexandra, die allerdings im Alter von 13 Monaten verstarb. 1869 ging er nach Rom und traf dort Franz Liszt, der hingerissen war von der Musik des Norwegers. Besonders begeistert zeigte sich Liszt vom Kopfsatz des neu komponierten Klavierkonzerts a-Moll op. 16, welches er dem Publikum prima vista präsentierte.

Zurück in der Hauptstadt Norwegens wollte Grieg eine feste Orchestervereinigung gründen, woraus sich später die Osloer Philharmonie entwickeln sollte. Ab 1874 konnte er als freier Künstler von staatlichem Künstlerlohn leben, konzentrierte sich entsprechend mehr aufs Komponieren und war nicht so sehr auf andere Geldquellen angewiesen. Arbeiten an einer ersten nationalen Oper Norwegens mit Bjørnstjerne Bjørnson gab Grieg auf (mit ihm schuf Grieg bereits Sigurd Jorsalfar op. 22 und Bergliot op. 24) und nahm dafür ein Angebot Ibsens an, der Grieg dafür gewinnen wollte, Bühnenmusik für eine Aufführung von Peer Gynt zu komponieren. Das Werk und die beiden Orchestersuiten daraus erwiesen sich sogar noch vor dem Klavierkonzert als größte Erfolge Griegs.

Im Jahr darauf starben beide Elternteile Griegs innerhalb kürzester Zeit, was Grieg zu seinen beiden musikalisch wohl substanziellsten Werken trieb: dem Streichquartett g-Moll op. 27 und der Ballade op. 24 in gleicher Tonart.

Die frühen 1880er-Jahre waren durchzogen von einer tiefen Krise, die sich persönlich durch eine Trennung von seiner Frau Nina und künstlerisch durch eine Formkrise beginnend mit seiner Cellosonate a-Moll op. 36 abzeichnete – der Komponist war der Ansicht, er könne keine geschlossene Form mehr schreiben. Grieg reiste in Richtung Frankreich, wo er die Malerin Leis Schjelderup treffen wollte, kehrte allerdings zuvor schon zurück und versöhnte sich mit seiner Frau. Anlässlich des 200. Geburtstags von Ludvig Holberg, dem „Moliere des Nordens“, sollte Grieg eine Kantate schreiben, die ihn allerdings wenig inspirierte. Er legte ein durchschnittliches Werk vor, konzentrierte sich parallel auf ein anderes Stück zu gegebenem Anlass: Aus Holbergs Zeit, Suite im alten Stil op. 40, in welcher er Formmodelle der Barockzeit mit romantischer Musik aktualisierte. Der Formkrise war Grieg damit allerdings noch immer nicht entkommen, erst 1886 entfloh er seiner Angst, keine große Form mehr komponieren zu können, indem er die Dritte Violinsonate c-Moll op. 45 veröffentlichte.


Troldhaugen, Villa von Edvard Grieg (Foto von: Oliver Fraenzke)

Zuvor schon erwarb Grieg 1884 seine berühmte Residenz in der Nähe Bergens: Troldhaugen. Hier lebte er bis zu seinem Tod und liegt nun unterhalb des Hauses begraben; heute dient das Gebäude als Museum, daneben steht eine neu gebaute Konzerthalle. 1887 fand ein geschichtsträchtiges Treffen in Leipzig statt: Brahms, Tschaikowsky und Grieg saßen an einem Tisch: Während Brahms und Tschaikowsky sich zwar menschlich leiden konnten, verabscheuten sie die Musik des jeweils anderen, zu Grieg bauten beide menschlich wie künstlerisch ein gutes Verhältnis auf.

Nach der Jahrhundertwende verschlechterte sich Griegs Gesundheit rapide: Bereits als junger Mann verlor er durch eine Krankheit die Funktion eines Lungenflügels, nun wurden die Atembeschwerden kritisch. Am 4. September 1907, nach einer letzten Tour nach Deutschland, starb er im Zentralkrankenhaus Bergen in den Armen seiner Frau.

Musik und Stil

Grieg zählt zu den großen Nationalromantikern des 19. Jahrhunderts, die sich auf die Volksmusik beriefen. Formal bleibt er weitgehend klassisch-konservativ, harmonisch hingegen beschritt er neue Pfade und ebnete den Weg für den Impressionismus in Frankreich: Debussy und Ravel betrachteten beide Grieg als eine ihrer zentralen Inspirationsquellen.

Als Meister der kleinen Formen geltend, brachte Grieg uns doch zahlreiche grandiose Werke großen Formats: Die frühesten dieser sind die Klaviersonate e-Moll und die Erste Violinsonate F-Dur, wobei die Klaviersonate bereits Ideen enthält, welche Grieg später im Klavierkonzert a-Moll wiederaufgriff und erweiterte. Die beiden Sonaten entstanden zeitgleich, die Zweite Violinsonate G-Dur op. 13 folgte kurze Zeit später. In ihr wendet sich Grieg aktiv der Volksmusik zu und erhebt sie in die Sphären von Konzertmusik, der erste Satz ist ein ausgedehnter norwegischer Volkstanz. Von der ersten Aufführung an etablierte sich das Klavierkonzert a-Moll op. 16 zu einem Publikumsliebling: Die eingängige Thematik, die harmonischen Wechsel und das Ursprüngliche und Natürliche dieses Werks begeistern jedes Mal von Neuem. Düster und aufbrausend geben sich das Streichquartett g-Moll und die Klavierballade, in denen Grieg den Tod seiner Eltern verarbeitete: Das Quartett bildet eine Geschichte ab um einen Pakt mit einem Wassergeist, die Ballade errichtet sich auf einer Volksmusikmelodie, welche in Variationsform bearbeitet wird und in alle Abgründe der menschlichen Seele blicken lässt: Trauer, Resignation, Hoffnung, Wut, Angst, Unsicherheit, Ausgelassenheit und mehr spiegeln sich in den dreizehn Variationen der Klavierballade, die umfangreicher und technisch noch anspruchsvoller ist als Chopins g-Moll-Ballade op. 23 und Züge aufweist von Schumanns Symphonischen Etüden op. 13. Die Cellosonate führt zum Klavierkonzert zurück und behält packende Dramatik, die Dritte Violinsonate ist ebenfalls ein energiegeladenes Werk voll innerer Zerrissenheit und eruptiver Gewalt.

Der Zweifel gehörte zu Griegs lebenslangen Weggefährten, immer wieder überarbeitete er alte Werke und verwarf seine Skizzen, unter anderem mehrere Instrumentalkonzerte kamen nie über ein Skizzenstadium hinweg, andere Werke wie sein F-Dur-Streichquartett blieben unfertig. Aus dem Finale der Klaviersonate strich Grieg eine lange Passage, den Höhepunkt des zweiten Satzes setzte er vom Fortissimo ins Pianissimo, entsagte somit der Zurschaustellung von Virtuosität.

Der Angst vor langen Formen entfloh Grieg, indem er kurze Sätze aneinanderreihte, wie bei der Holberg-Suite, deren längster Satz, die innige Air, in der ursprünglichen Klavierfassung lediglich vier Seiten umfasst. In großen Kontexten behält Grieg gerne eine klare Struktur, Reprisen sind meist ganz regelkonform durchgeführt und auch in seinen Miniaturen vertraut Grieg einer exakten Wiederkehr von bekanntem Material.

Gern gespielt werden die zahlreichen Klavierminiaturen des Norwegers, allen voran seine 66 Lyrischen Stücken in zehn Bänden, vernachlässigt im Repertoire sind hingegen seine etwa 180 Lieder. In den Lyrischen Stücken tastet sich Grieg langsam an die Volksmusik heran, anfangs nennt er seine Stücke „Im Volkston“, oder „Norwegisch“, später erst betitelt er sie nach den Bauerntänzen.

Das Norwegische ist omnipräsent im Schaffen Griegs, sei es durch Stilisationen von Bauerntänzen oder durch Bearbeitungen von Volksliedern, was viele Melodien vor dem Vergessen bewahrte.  Die Liedtranskriptionen und -bearbeitungen op. 66 dürften die feingeistigsten Umsetzungen sein, op. 72 rückt das Volkstümliche mehr in den Konzertkontext. Auch die Ballade beruht auf einer Melodie, die von Ludvig Mathias Lindeman aufgezeichnet wurde.

Zuletzt zu nennen ist das abbildende Element in Griegs Musik: Für eine treffende Illustration überging der Norweger alle Regeln bis hin zu freien Quintrückungen in Glockenklang aus den Lyrischen Stücken. Ob Grieg nun im An den Frühling ganze Lawinen talwärts rutschen lässt, die Vöglein quirlig durcheinandersingen oder das Bächlein ununterbrochen rauschen, die Bilder sind stets eindeutig. Und wer erkennt nicht die Morgenstimmung als DIE Darstellung einer Landschaft bei aufgehender Sonne? Was Peer Gynt betrachtete, hören wir nun in zahlreichen Filmen als Untermalung des angehenden Tages.

Aufnahmen im Vergleich

Es liegt eine beachtliche Anzahl an Gesamteinspielungen Griegs vor, besonders das Symphonische Oeuvre wurde in den letzten Jahren mehrfach vollständig aufgenommen. Ein „Must have“ für alle Grieg-Fans bleibt die „Grieg Edition“ von Brilliant Classics, welche fast das gesamte Schaffen des Norwegers auf 21 CDs bannt: Hervorzuheben hierbei ist die Klaviermusik mit Håkon Austbø. Eivind Aadland legte mit dem WDR Sinfonieorchester Köln eine Gesamtaufnahme des Orchesterwerks vor (erschienen bei audite), die durch Plastizität und Ökonomie der Mittel besticht, sachlich und feingeistig fasst er diese Musik auf. Etwa zeitgleich brachte Naxos die „Complete Orchestral Works“ heraus mit Bjarte Engeset, dem Malmö Symphony Orchestra und dem Royal Scottish National Orchestra. Das Glanzstück hier ist die gesamte Bühnenmusik zu Peer Gynt, die nicht nur in den beiden Suiten zu hören ist, wie in den anderen verglichenen Einspielungen. Herbert Schuch kann im Klavierkonzert für audite mehr überzeugen als Håvard Gimse für Naxos. Wo Engeset in der Gesamtaufnahme allgemein empfehlenswert ist, enttäuschen seine Einspielungen für Streichorchester, die es auch in die Box geschafft haben. Carl Petersson legte für Grand Piano das a-Moll-Konzert vor und begeistert vom ersten bis zum letzten Ton – darüber hinaus spielt er das unvollendete h-Moll-Konzert, von welchem nur wenige Fragmente erhalten sind, in der Vervollständigung von Helge Evju, eine Weltersteinspielung. Leider vergriffen ist die Aufnahme des Komponisten und Dirigenten Nicolas Flagello, der aus einem schlechten Orchester (Da Camera di Roma) Unvorstellbares herausholt und eine der brillantesten Aufnahmen der Holberg-Suite hervorbringt.

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Die Kammermusik lernte ich durch die 3-CD-Box von Brilliant Classics kennen, die ungeschlagen vom Preis-Leistungs-Verhältnis ist: Die Aufnahmen sind vielleicht nicht die Überragendsten, und doch geben sie vieles preis, was die Kammermusik ausmacht – überraschend innig gibt sich das g-Moll-Streichquartett. Die Violinsonaten glänzen in der Referenz-Aufnahme mit Ingolf Turban und Jean-Jacques Dünki, die Musiker erfüllen jeden Takt mit Ausdruck und Substanz. Ein weiterer Schatz, der komplett verborgen blieb, ist die Aufnahme dreier Sonaten mit Tateno, Rautio und Söderblom. Die neueste Aufnahme, welche mir in die Finger fiel, ist die Erste Violinsonate mit den Schwestern Birringer, welche frei und organisch entsteht, durch Musizierfreude mitreißt. Das gleiche Werk erschien nun mit Aleksey Semenenko und Inna Firsova.

Mehr noch als die Orchester- und Kammermusik wurde die Klaviermusik aufgenommen. Mitreißen können dabei vor allem die Stars von früher: Arturo Benedetti Michelangeli belebt jeden Ton des Klavierkonzerts ebenso wie der Solomusik, Emil Gilels bringt unvorstellbares Gefühl aus allen 66 Lyrischen Stücken und Walter Gieseking achtet bei diesen auf jedes noch so kleine Detail. In neueren Aufnahmen finden wir oft Auszüge aus den Lyrischen Stücken, so etwa sehr puppenhaft gekünstelt von Alice Sara Ott oder übermäßig frei von Janina Fialkowska. Die wohl bekannteste Gesamteinspielung des Klavierwerks ist die von Einar Steen-Nøkleberg, der zwar live interessante Details hervorholt, dessen Aufnahmen allerdings doch auf Masse produziert scheinen, makellos, aber uninspiriert wirken. Auch Skizzen und Verworfenes hören wir bei diesem Pianisten. Zwei der Schätze aus Griegs Zeit seien noch hervorgehoben: Percy Grainger, der sich als junger Mann noch mit Grieg anfreundete, präsentierte mit Leopold Stokowski das Klavierkonzert in einer unerhört bezaubernden Version und spielte unter anderem die Ballade ein, für die er lediglich 12(!) Minuten brauchte. Und Grieg können wir selbst erleben, wie er seine eigenen Werke darbietet: 1903 entstanden Aufnahmen auf Wachsplatte und 1906 verewigte er sich auf einer Klavierrolle von Welte Mignon – heute würde keiner seine Musik so spielen, doch als Dokument der Musikgeschichte sind diese Aufnahmen unentbehrlich.

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[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

In Bergen bei den Festspielen

Einmal mehr verschlägt es mich in den hohen Norden, nach Norwegen. Mein Ziel sind diesmal die Festspiele in Bergen, das größte Musikfestival Nordeuropas, wo ich im Laufe von drei Tagen insgesamt acht Konzerte besuche.


Festspiele in Bergen: Byparken, der Stadtpark (Foto von: Oliver Fraenzke)

Gegründet wurden die Bergen Festspillene 1953 nach einer Idee der Sängerin Fanny Elsta, die sich das von Grieg ausführte Musikfest in Bergen von 1898 als Vorbild nahm. König Haakon VII eröffnete die ersten Festspiele, lud dazu Leopold Stokowski, Kirsten Flagstad und Per Aabel ein. Schnell entwickelte sich das Festival zu einem Ereignis internationaler Bedeutung. Als zentral erwiesen sich hierfür die Initiative für Neue Musik, die Integration des Jazz seit den 1970ern sowie die Eröffnung der Insel Lysøen als Veranstaltungsort 1974 und die Fertigstellung der Grieghalle 1978.

Das aktive Bestreben, zeitgenössische Musik zu fördern, schlägt sich in der jährlichen Ernennung eines Festspielkomponisten nieder, der in dieser Zeit vermehrt aufgeführt wird. Zumeist gebührt skandinavischen Komponisten diese Ehre, so unter anderem Harald Sæverud 1986, Ketil Hvoslef 1990, Ragnar Søderlind 1995, Magnus Lindberg 2006 oder Bent Sørentsen 2007. Postum wurde Edvard Grieg 1993 als Festspielkomponist ausgezeichnet. In diesem Jahr fiel die Wahl auf die 1931 geborene Russin Sofia Asgatowna Gubaidulina, die mit ihrem tiefsinnigen, religiös aufgeladenen und auf Bach bezogenen Stil zu den herausragenden Komponistinnen unserer Zeit gehört.

Eine besondere Rolle kommt dem Klavierkonzert a-Moll op. 16 von Edvard Grieg zu, das seit Gründung des Festivals jedes Jahr von einem prominenten Pianisten dargeboten wurde: Kayser, Richter, Ashkenazy, Lupu, Austbø, Steen-Nøkleberg, Gilels, Schiff, Andsnes, Gimse und Süssmann sind nur einige der zu nennenden Namen. In diesem Jahr hören wir die Gewinnerin des internationalen Grieg-Wettbewerbs Ah Ruem Ahn mit dem Klavierkonzert, begleitet vom Bergen Filharmoniske Orkester unter Edward Gardner.

Die Festspiele stehen unter königlicher Schirmherrschaft und werden seit 2012 von Anders Beyer geleitet. Zu den Förderern gehören unter anderem DNB, Statoil, Bergens Tidene und Dagens Næringsliv.

Was mich zu den Festspielen zieht, ist die Vielseitigkeit der Veranstaltungen von Musik, Tanz und Kunst bis hin zu einer Reihe von besonderen Ereignissen, so beispielsweise einer VR-Arena. Musik nimmt dabei einen besonderen Stellenwert ein: Kammermusik, Chormusik und Orchestermusik werden in jedem Rahmen gespielt, vom intimen Hauskonzert bis zum öffentlichen Ereignis auf dem großen Festplatz. Unvergesslich sind für mich die Auftritte in den Häusern von Edvard Grieg, Ole Bull und Harald Sæverud, wo ich Musik in der authentischen Atmosphäre ihres Entstehens genießen kann.

Die Auswahl aus mehreren hundert Konzerten und über 70 Veranstaltungsorten fiel schwer, schließlich fiel die Entscheidung auf folgende acht Auftritte:

In den kommenden acht Tagen werde ich zu jedem dieser Konzerte eine Rezension auf www.the-new-listener.de veröffentlichen und meine Eindrücke von den Festspielen in Bergen teilen.

[Oliver Fraenzke, Mai 2018]

Der Mozart unter den Rockern

Einer der eigenartigsten Musiker des vergangenen Jahrhunderts verstarb heute vor 20 Jahren bei einem Autounfall in der Dominikanischen Republik. Die Rede ist von dem österreichischen Popstar Falco, bürgerlich Johann Hölzel, der mit seinem extravaganten Stil für die gesamte Populär- und Rockmusik nicht nur Österreichs, sondern eben international wegweisend war.

Für manche mag es irritierend scheinen, auf dieser Website, welche hauptsächlich durch Artikel über die heute als „Klassik“ oder „Ernste Musik“ betitelte Musik bekannt ist (beides schädliche wie schändliche Abgrenzungen, die so musikgeschichtlich für gewaltiges Ungleichgewicht und elitäre Unnahbarkeit sorgen) mit gelegentlichen Ausflügen in Richtung Jazz. Doch ist die Intention von The New Listener schon immer gewesen, hörenswerte Musik in den Fokus zu stellen ganz gleich welchen „Genres“, welchen Bekanntheitsgrades oder welcher Herkunft. So ist dieses Jubiläums-Special ein erster Schritt in eine allumfassende Offenheit, auf die ich seit langem hinziele, und in deren Sinn hoffentlich bald schon mehr folgen wird. Und für die Puristen sei erwähnt, dass Falco mit seinem erfolgreichsten Song, Rock Me Amadeus, Wolfgang Amadeus Mozarts Persönlichkeit aktualisiert, mit Phänomenen aus der Rock-Szene gleichsetzt und dabei erstaunliche Parallelen findet.

Rock Me Amadeus ist bis heute das einzige Lied in deutscher Sprache, das Platz 1 der US-Billboard-Charts erreichte und Falco plötzlich weltweit in den Starstatus erhob. Doch begonnen hatte die Stilikone in einem ganz anderen Milieu. 1957 wurde er in Wien in bürgerliche Verhältnisse geboren, war einziger Sohn (seine beiden Drillingsgeschwister starben bereits vor der Geburt) einer Wäscherei-Geschäftsführerin und eines Fabrik-Werkmeisters. Zumindest war Geld vorhanden, die musikalische Begabung des Sohns zu fördern: Schon vor seiner Einschulung war er im Besitz eines Stutzflügels und eines Plattenspielers. Die Schullaufbahn dauerte lediglich zehn Jahre an, dann brache er ab und begann eine Lehre zum Bürokaufmann. Auch sein Studium am Wiener Musikkonservatorium schmiss er nach wenigen Monaten hin, da er der Meinung war, darin könne er kein „richtiger Musiker“ werden. 1978, er war bislang wenig bekannt und nur als Bassist in kleineren Hallen aufgetreten, sah er das Neujahrsspringen der Vierschanzentournee an und beschloss, seinen Künstlernamen dem DDR-Skispringer Falko „Falke“ Weißpflog zu widmen, internationalisierte ihn allerdings zu Falco (ebenso wie er seinen eigentlichen Namen nun Hoelzel schrieb).

Erste Erfolge erzielte Falco (zu der Zeit teils noch mit den Beinamen Gottehrer oder Stürmer) in den Bands ‚Erstes Wiener Musiktheater’, später in ‚Hallucination Company’ umbenannt, und ‚Drahdiwaberl’. Für letztere entstand Ganz Wien, gedacht als beiläufiges Solostück für Pausen, das allerdings schnell für Furore sorgte. Mit ‚Drahdiwaberl’ wurde Falco auch entdeckt, der erfolgreiche Plattenunternehmer Markus Spiegel nahm die Band sowie ihn als Solokünstler unter seine Fittiche. Resultat waren die ersten kommerziellen Alben, „Psychoterror“ war 1981 das Debut. Es folgten „Junge Roemer“ und „Falco 3“, auf letzterem ist besagter Song Rock Me Amadeus zu hören, der nach beträchtlichen nationalen Erfolgen 1985-1986 für den internationalen Durchbruch sorgte. Schon jetzt plagten Falco Sorgen, die Spitze seines Ruhms sei erreicht und er könne daran nicht mehr adäquat anknüpfen. Ein öffentlicher Rückzug nach einer kräfteraubenden Japantournee und die kommerziell eher mäßigen Erfolge (trotz Charts-Platzierungen) der kommenden drei Alben „Emotional“, „Wiener Blut“ und „Data de Groove“ bestätigten dies. Mit „Nachtflug“ konnte er 1992 ein Comeback starten, dem 1995 ein extremer Stilwechsel folgte: Mit Mutter, der Mann mit dem Koks ist da und ein Jahr später mit Naked wandte er sich dem Dance zu. Anfangs arbeitete er hier unter dem Pseudonym T>>MA, später als Falco feat. T>>MB. Am 6. Februar 1998 jedoch kam Falco bei einem Verkehrsunfall ums Leben, ein Bus erfasste sein Auto. Größere Mengen an Alkohol und Drogen in seinem Blut gaben in der Folgezeit verschiedenen Gerüchten Nahrung. Falcos Grab befindet sich auf dem Wiener Zentralfriedhof. „Out of the Dark (Into the Light)“ wurde posthum veröffentlicht und knüpfte an die großen Erfolgsalben des so früh verstorbenen Musikers an.

Trotz seiner recht kurzen Karriere durchlief Falco eine ganze Reihe stilistischer Wandlungen, jedes Album hebt sich vom Vorherigen und vom Folgenden ab. Dabei nahm er Einflüsse verschiedener aktueller Genres in sein Werk auf und fusionierte sie mit seinem unverkennbaren, eigenen Ton. Falco hätte sich selbst vermutlich vor allem als Rocker bezeichnet, doch ist nicht weniger Funk, Groove, New Wave und Rap maßgeblich für seine Musik. Seine Patterns sind schlicht und eingängig, weisen allerdings großen rhythmischen Schwung und ausgefeilte Basslinien auf. Typisch sind auch stimmlich abgehobene, oft verdoppelte oder chorartig gesungene Refrains und ein Fade-Out zum Ende hin, das seine Stücke oft bogenförmig erscheinen lässt. Elektronische Instrumente haben ihren festen Platz in der Band und steuern zentrale Klangelemente bei. Unverkennbar sind der cleane Gitarrensound auf dem Album „Junge Roemer“ sowie die funkigen Rhythmen der Gitarre. Das wohl hauptsächliche Markenzeichen Falcos ist sein einzigartiger Gesang, der gerne zum Sprechen tendiert oder sich in Richtung des Rap bewegt. Dabei entwickelte er einen individuellen und kaum nachzuahmenden Rapstil, der oft tonhöhenbasiert ist, ebenso schnell aber auch ins reine Sprechen oder Singen umschlägt. Typische Beispiele sind Der Kommissar, Vienna Calling, No Answer, Maschine brennt, oder parlierender in Jeanny oder Mutter, der Mann mit dem Koks ist da. In den Refrains oder als Fill Inn in den Parts bringt er zusätzlich schnell lautierte Elemente oder kurze gesungene Melismen hinein, die eine zusätzliche Ebene hineintragen. Stimmen aus dem Off wie in Vienna Calling oder Jeanny sind eine weitere vokale Facette, so dass das Gesamtbild trotz der Fokussierung auf die einzigartige Stimme Falcos rundherum abwechslungsreich bleibt. Die Texte stammen zu einem großen Teil von Falco selbst oder entstanden zumindest unter seiner Mitarbeit. Auffällig sind dabei neben Wortspielen und teils eigenwilligen Reimen vor allem zahlreiche Einstreuungen in englischer Sprache, wie sie auch heute noch in den Songs der Band ‚Bilderbuch’ zu finden sind – einer österreichischen Gruppe, die sich (wie übrigens auch ‚Wanda’, die eher die Rock-fokussierten Elemente wieder aufleben lässt) unmissverständlich auf Falco beruft. So lebt die Musik eines der einflussreichsten deutschsprachigen Musiker weiter, wird zudem immer wieder in neuen Best-Ofs veröffentlicht oder im Radio gespielt, gelegentlich sogar in verschiedenen Live-Projekten wie Musicals zu neuem Leben erweckt.

[Oliver Fraenzke, Februar 2018]

Von Einem besonderen Jubilar

Am heutigen Tage wäre der österreichische Komponist Gottfried von Einem 100 Jahre alt geworden. Obgleich als einer der führenden Komponisten Österreichs aus der Nachkriegszeit geltend, stand er vor allem in späten Jahren auch stets im Kreuzfeuer der Kritik. Der Vorwurf des Traditionalimus wider das lineare Fortschrittsdenken der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hält sich mancherorts bis heute, und zuletzt wurden absurde Unterstellungen laut, er sei ein Nazi-Sympathisant gewesen. Er, der sein eigenes Leben riskierend einem jüdischen Musiker falsche Papiere verschaffte und damit dessen Leben rettete! Gestützt durch die aktuelle Biographie von Joachim Reiber (zu letzterem siehe die Rezension von Annabelle Leskov) wurden Tagebuchdetails aus der Jugend hochstilisiert und in beschämender Weise rufschädigend eingesetzt. Vergessen wird darüber dann nicht nur sein eleganter und tiefgründiger Stil, seine Reflexion alter wie neuer Musik und seine feurige Persönlichkeit, die durch die Zeugnisse langjähriger Freunde und Kollegen in vieler Hinsicht untermauert wird.

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Am 24. Januar 1918 ist Gottfried von Einem als Sohn von Gerta-Luise und (vermeintlich) General William von Einem in Bern zur Welt gekommen. Später erst sollte er erfahren, dass sein leiblicher Vater László Hunyady war, ein ungarischer Graf, welcher 1927 in Ägypten bei der Löwenjagd ums Leben kam. Anstelle seiner meist abwesenden Eltern wurde Gottfried von Einem vom Hauspersonal erzogen, mit seinen beiden Brüdern im Luxus eines gewaltigen Familienanwesens in Schleswig-Holstein unterwiesen, und erhielt dort auch ersten Klavierunterricht. Zur Ausbildung ging er nach Berlin, wo er bei der Aufnahmeprüfung von Heinz Tiessen als Dilettant abgelehnt wurde, doch schließlich privat bei Boris Blacher Anschluss fand. Blacher zählte wie Tiessen zu den angesehensten Lehrern der Zeit und verhalf zahlreichen Größen der kommenden zwei Generationen in all ihrer stilistischen und menschlichen Vielfalt zum Erblühen. Wie nur wenige andere Lehrer wussten sowohl Blacher als auch Tiessen, die Individualität ihrer Schüler zu wahren und aus dem Vorhandenen das Beste herauszumeißeln und zu -schleifen. Blacher urteilte über von Einem, er habe schon in seinen ersten Noten alles gehabt, was seinen späteren Individualstil ausmachen sollte. Nach den Privatstunden bei Blacher absolvierte von Einem noch ein kurzes Studium der Kontrapunktik bei Johann Nepomuk David. Zur Zeit seiner Ausbildung war die Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland alles dominierend. Dass Gottfried von Einem sich nie aktiv gegen die Nazi-Herrschaft wandte und gewisse Kontakte für sich und andere nutzte, lässt sich natürlich von uns Heutigen leicht monieren, zumal wenn man ausblendet, was er im Verborgenen an Positivem bewirkte. Nach dem Kriege lebte Gottfried von Einem zunächst in Salzburg, dann in Wien und auf dem österreichischen Lande, und unterrichtete ab 1963 an der Wiener Musikhochschule, wovon er sich allerdings bereits 1972 zurückzog und seine letzten 24 Lebensjahre fast ausschließlich dem Komponieren widmete. Der internationale Erfolg setzte gleich nach dem Kriege ein, 1947 war seine Oper Dantons Tod op. 6 die erste – triumphal aufgenommene – Opernuraufführung der Salzburger Festspiele, und sie ist bis heute sein bekanntestes Werk geblieben. Das Libretto des nach Georg Büchner konzipierten Werks stammt von Boris Blacher. Im Nachhinein sollte von Einem durch diesen Erfolg zum Opernkomponisten abgestempelt werden, und sieben großteils sehr erfolgreiche Folgewerke bestätigen dies. Gegen diese einseitige Zuordnung spricht allerdings eine gewaltige Zahl groß angelegter Instrumentalwerke wie Solokonzerte, Kantaten, Streichquartette, Lieder und nicht zuletzt vier Symphonien und andere Orchesterwerke. Von Einem war nicht weniger Instrumentalkomponist als Schöpfer von Bühnenmusik.

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Der Stil Gottfried von Einems beruht auf tonalen Strukturen und liebt die sehr individuell abgewandelten klassischen Großformen. Dies heißt allerdings keineswegs, von Einem sei rückwärtsgewandt gewesen, sein ureigener Stil fesselt fortwährend mit überraschenden Wendungen und unerhörten Klängen. Die permanente Dissonanzbildung und Dodekaphonie hat er zwar studiert, verweigerte diesen ‚Qualen’ jedoch (stets zu integrierbaren Ausnahmen bereit) den Einzug in sein Schaffen. Bezeichnend ist von Einems subtiler Umgang mit Chromatik, welche im Gegensatz zu unzähligen Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts bei ihm ausnahmslos nicht die Gesetzmäßigkeiten der Spannung aufweicht und verschwimmen lässt, sondern stets überraschend bereichert und erweitert. Sein ausgereifter Kontrapunkt ist nicht weniger charakteristisch, besonders pur in seinen Streichquartetten zu bewundern. Jedes Instrument kann jederzeit die Führung übernehmen und sich ebenso schnell wieder in den Hintergrund zurückziehen, von Einem spielt mit Einsätzen und Führungspositionen so frei wie ungezwungen. Traditionelle „harmonische“ Klänge stehen dabei neben grellen Reibungen und effektvollem Ausbrechen, das jedoch nie die Grenzen des Korrelierbaren überschreitet, sondern immer in einem spannungsvoll mitverfolgbaren Kontext steht. Unerschöpfliche Varianten des Rhythmus, gepaart mit leichtfüßiger Eleganz, verleihen seinen Werken Schwung und treibende Kraft, bezaubernd ist sein Einsatz von Pausenelementen und der Ruhe als Gegenpol zur Bewegtheit. Gottfried von Einem ist ein stets unverkennbares und unabhängiges künstlerisches Individuum des 20. Jahrhunderts, das sich keinen ästhetischen Mehrheitsdoktrinen beugte und unbeirrt seinem unvorhersehbaren Weg folgte. Nicht nur als Opernkomponist, sondern auch – und vielleicht vor allem – als Instrumentalmusikschöpfer hinterlässt er uns nach seinem Tod 1996 ein substanzielles Œuvre, das zu studieren, zu spielen und zu hören für alle lohnt und dabei tiefe Einblicke jenseits rationaler Ergründbarkeit in eine wahrhaftige Persönlichkeit gewährt.

[Oliver Fraenzke, Januar 2018]

Copyright der Fotoquellen: Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien

Anlässlich dieses Artikel gehörte CDs der Musik Gottfried von Einems:
– Klavierkonzert, Medusa-Suite, Wandlungen, Nachtstück [Orfeo C 764 091 A]
– Streichquartette Nr. 1-5 [Orfeo C 098 101 A und C 098 201 A]
– Philadelphia Symphony, Geistliche Sonate, Stundenlied [Orfeo C 929 181 A]
– Dantons Tod

Neue Verriss-Quoten für The New Listener

Liebe Leser,

des Öfteren stießen wir bereits auf die berechtigte Kritik, wir würden zu wohlwollend und positiv besprechen. Viele Künstler erhielten auf diese Art unangemessen großes Lob und verloren den Ansporn, weiterhin an ihrer Musikalität zu feilen. Ein Fall wurde publik, der sich aufgrund des plötzlichen Erfolgs nach einer New-Listener-Rezension in illegalen Rauschmitteln verlor und seine künstlerische Laufbahn daraufhin beenden musste.

Aus diesem aktuellen Anlass hat sich die Redaktion nach langer Diskussion darauf geeinigt, eine Verriss-Quote von 20% einzuführen. Dies bedeutet, dass mindestens jede fünfte veröffentlichte Rezension die Künstler und bestenfalls auch die Aufnahmetechnik sowie die gesamte Label-Produktion negativ zu besprechen hat. Großen Wert legen wir hierbei auf besondere Härte des Ausdrucks, auf beißenden Sarkasmus und möglichst umfangreiche Diffamierung aller beteiligten. Dies soll dazu beitragen, dass die Künstler sich selbst und ihr Spiel mehr in Frage stellen, mit alten Konventionen und Mechanisierungen brechen und durch intensive Forschung und Abreit an der Musik ihre Leistung um ein Wesentliches verbessern. Natürlich ist uns bewusst, dass durch die Quote auch herausragende Künstler schlecht besprochen werden könnten – doch ist allgemeinhin schlechte Kritik auch für gute Künstler ein hilfreiches Mittel zur weiteren Verfeinerung des Spiels. Ungerechtfertigt negative Besprechungen fügen bei weitem nicht so viel Schaden zu wie fälschlich positive. Nicht zuletzt sind sarkastische Verrisse mit Biss und einer Prise Gemeinheit wesentlich amüsanter zu lesen als lobende Worte, Schadenfreude ist seit jeher zentrale Eigenschaft der Menschheit. So hoffen wir, für Musiker wie für Leser einen Mehrwert unseres Inhalts zu erzielen.

Besagte Regelung tritt ab dem heutigen Tag, dem 1. April 2017, in Kraft. Hiermit leistet The New Listener Pionierarbeit; die Quote ist zum jetzigen Zeitpunkt mit anderen renommierten Online-Plattformen wie Magazinen abgesprochen und einige dieser werden noch in den kommenden Wochen ebenfalls die Verriss-Quote einführen. Es handelt sich um einen wichtigen wie notwendigen Schritt auf dem Weg zu einer für alle Nutzen bringende Rezensions-Regelung im europäischen Raum.

Für weitere Anregungen und kreative Vorschläge zum Ausbau errichteter Quote sind wir stets dankbar.
Im Namen der gesamten Redaktion unterzeichnet von
[Oliver Fraenzke, 1. April 2017]

Emil Gilels zum 100. Geburtstag

Am 19. Oktober 2016 wäre Emil Gilels, dieser Titan unter den Pianisten des 20. Jahrhunderts, 100 Jahre alt geworden. Wie David Oistrach, der überragende Geiger seiner Epoche, wurde er in Odessa geboren, wäre also nach heutigen Maßstäben Ukrainer. Doch kulturell besteht kein Unterschied zwischen Russen und Ukrainern. Und auch, ihn der „russischen Schule“ zuzuordnen, führt schlicht in die Irre. Gilels war als Musiker ein einzigartiges Phänomen, und sicherlich der musikalisch und klangliche vollendetste Pianist, den Russland (oder eben seinerzeit die Sowjetunion) hervorgebracht hat. Was für ein Unterschied zwischen ihm und Svatoslav Richter, dem anderen großen Schüler des legendären Heinrich Neuhaus: Richter, der geniale Sucher, und Gilels, der geniale Finder, um es auf den knappsten Nenner zu bringen. Leider starb Gilels viel zu früh, am 14. Oktober 1985, also fünf Tage vor seinem 69. Geburtstag. Er wurde das Opfer eines Kunstfehlers. Bei einer Routineuntersuchung in einem Moskauer Krankenhaus erhielt er eine falsche Injektion und war binnen weniger Minuten tot. Sein geplantes Gesamtaufnahmeprojekt der Beethoven-Sonaten für die Deutsche Grammophon blieb kurz vor der Zielgeraden unvollendet. Nun  hat das russische Staatslabel zu seinem 100. Geburtstag eine Luxusedition mit 50 CDs zum stolzen Preis von 400 Euro veröffentlicht, das viele bislang unveröffentlichte Mitschnitte enthält und mit einer limitierten Auflage von 2016 Stück bereits fast vergriffen ist. Eine Zeitungsannonce in Russland genügte, und schon hatten viele das Nachsehen… Doch freilich herrscht kein Mangel an Erhältlichem.

Was machte die einzigartige Kunst Gilels’ aus? Es ist oft die Rede vom „goldenen Klang“, von der zutiefsten Ernsthaftigkeit, von der vollendeten technischen Beherrschung, von der strukturellen Strenge, die gleichwohl der Wärme und Leidenschaft keineswegs entbehrt. All das ist richtig. Seine natürliche, runde Wucht, seine filigrane Luzidität, überhaupt die „Natürlichkeit“ seines Spiels wurde stets gerühmt, und eben nicht nur von Kritikern und Strippenziehern, sondern auch von so herausragenden Musikern wie Rudolf Barschai oder David Oistrach. Barschai berichtete, dass es nie auch nur die geringsten psychologischen Schwierigkeiten beim gemeinsamen Musizieren gab, dass Gilels zugleich auf höchster Vollendung bestand und wie kein anderer mit dem Orchester oder in der Kammermusik mit den Streichern zu verschmelzen verstand. Für viele mag überraschend sein, dass dieser Mann, dessen Beethoven, Chopin, Tschaikowsky, Rachmaninoff, Prokofieff oder Schostakowitsch zu Recht aufs Höchste gepriesen wurde, ein phänomenaler Haydn- und Mozart-Spieler war. Und dies eben nicht nur, wenn er alleine spielte – man muss nur die wunderbare Aufnahme von Haydns F-Dur-Sonate mit seiner Schwester, der Geigerin Elisaveta Gilels, hören. Auch Couperin, Scarlatti oder Rameau fanden in ihm einen hinreißenden Meister, und unter den heutigen verehren ihn Klavierhelden wie Grigori Sokolov wie einen Gott. Wie auch anders – seine Fähigkeiten erscheinen unbegrenzt, und fast hätten wir noch erleben dürfen, dass er in München mit Celibidache aufgetreten wäre. Was für ein Zusammentreffen, das nur der so unerwartete Tod verhindern sollte.

Aber ich kann hier natürlich noch viel erzählen… Also lasse ich, unter Verweis auf ergiebiges Material im Internet, lediglich noch ein paar CD-Empfehlungen folgen, auch wenn dies niemals ersetzen können wird, dass wir ihn im Konzert nicht erlebt haben. Rechtzeitig hat die Deutsche Grammophon sämtliche je von ihr veröffentlichte Gilels-Aufnahmen in einem schmucken 24-CD-Schuber zusammengefasst (DG 479 4651) – da sind natürlich die bis auf fünf Sonaten kompletten Beethoven-Sonaten dabei (nur wenige konnten die Hammerklavier-Sonate ähnlich souverän meistern), herrlicher Mozart, die Brahms-Konzete, Chopin, Lyrische Stücke von Grieg, und viel Kammermusik und Konzerte, unter welchen ich das 3. Prokofieff-Konzert mit Kondraschin besonders erwähnen möchte. Von Warner gibt es in der Icon-Serie eine Zusammenstellung der kompletten Emi-Aufnahmen auf 9 CDs, wo sich gleich zweimal die fünf Beethoven-Konzerte befinden (einmal mit dem Cleveland Orchestra unter George Szell) und die drei Tschaikowsky-Konzerte, das 3. Rachmaninoff-Konzert usw. Sony hat in diesem Jahr sämtliche RCA-Aufnahmen Gilels’ auf 7 CDs wiederveröffentlicht, darunter das 1. Tschaikowsky-Konzert und das 2. Brahms-Konzert mit dem Chicago Symphony Orchestra unter Fritz Reiner, zwei Schubert-Sonaten, Liszts h-moll-Sonate und Schostakowitschs 2. Sonate, Bach und Chopins 1. Konzert mit Ormandy (Sony Classical 88875177312). Und mit einem ganz besonderen weiteren 4-CD-Juwel wartete Melodiya auf: ‚Emil Gilels in Ensembles’ – neben besagter Haydn-Sonate mit seiner Schwester fulminantes Duo-Spiel mit Yakov Zak und Yakov Flier, das 1. Klavierquartett von Brahms, die Beethoven’sche Hornsonate op. 17 mit Yakov Shapiro und das Klaviertrio in cis-moll von Andrey Babayev (Melodiya MELCD 10 02210). Also: Hören und selbst erfahren, was ein vulkanischer Künstler, der sich niemals gehen ließ, uns zu schenken imstande war. Für alle Pianisten ist Gilels ohnehin zeitloses Pflichtprogramm, und eine schönere Pflicht kann es kaum geben…

[Christoph Schlüren, Oktober 2016]

Die Entdeckung der musikalischen Phänomenologie – Zum zwanzigsten Todestag von Sergiu Celibidache

Vor zwanzig Jahren, in der Nacht vom 14. auf den 15. August 1996, ist Sergiu Celibidache unweit seiner geliebten Mühle in Neuville-sur-Essonne südlich von Paris gestorben. Von unvoreingenommenen Hörern und kultiviert ausgebildeten Musikern, die die Tatsache nicht scheuen, dass seriöse Einstudierung mit intensiver Arbeit auch an vielgespielten Werken verbunden ist, geliebt, war und ist er zugleich in der Fachwelt sehr umstritten. Doch sind die Einwände, die auf musikalischer Seite gegen ihn vorgebracht werden, sei es von professionellen oder Amateur-Musikern, von Musikwissenschaftlern, Feuilletonisten oder einfachen Laien, in Mangel an Kenntnissen, irreführend konditionierter Ausbildung oder schlichten Aversionen gegen seine Persönlichkeit begründet. In Interviews trat Celibidache keineswegs zurückhaltend auf. Als Pionier einer bewussten Musizierhaltung bekämpfte er die beharrliche Ignoranz eines von Kommerz und Konsum, von eitlem Traditionsdenken und abgebrühter Routine, von spekulativen Theorien und blinder Fortschrittsgläubigkeit geprägten Milieus, dessen Akteure und Mitläufer sich als Mitwirkende einer Hochkultur verstehen, die dringender Erneuerung bedurfte und bedarf. Die Entwicklung, die die Kunst und die Musik im Besonderen im 20. Jahrhundert nahm, ist zwar in vielen historischen Abhandlungen beschrieben worden, doch ist sie keineswegs leicht zu verstehen und mit den gängigen Schlagworten nicht zu erfassen. Im 19. Jahrhundert hatte sich der Kampf zwischen der Fortschrittsmusik und einem immer mehr erstarrenden Akademismus, der alles zu einer beschaulichen Mittelmäßigkeit hin regulieren wollte, immer mehr zugespitzt. In seiner Konsequenz führte dieser Konflikt unaufhaltsam zu einer Revolution, die ihrer ursprünglichen Intention nach eine Befreiung sein sollte, was in der Epoche der ‚klassischen Moderne’, von Stiltendenzen wie Impressionismus, Expressionismus usw. getragen, in vielfältigstem individuellen Ausdruck kreativer Kräfte kulminieren sollte. Fort mit den einengenden Regeln, hinaus aus den Ummauerungen der kleinbürgerlichen Welt! Doch wie bei allen Revolutionen setzten sich dann vor allem jene Kräfte durch, die eine neue verbindliche Orientierung versprachen, ein neues Regelwerk aufstellten, das sich vor allem dadurch auszeichnete, dass es alle tradierten Gesetzmäßigkeiten ablehnte. Arnold Schönberg entdeckte 1922 eine Methode, die, wie er meinte, „der deutschen Musik die Vorherrschaft für die nächsten hundert Jahre sichern“ sollte: die Dodekaphonie, im Volksmund als Zwölftonmusik bekannt. Tatsächlich glaubte man, mit dem künstlichen Regelwerk dieser Technik, die alle Tonbeziehungen durch fortwährende Aushebelung ihrer tonalen Anziehungskräfte nivellierte, in die sogenannte ‚Atonalität’ vorgestoßen zu sein (wobei Schönberg, dessen schöpferisches Genie nicht infrage gestellt werden soll, mit diesem Terminus nicht einverstanden war und zum Ende seines Lebens eine halbgare Kehrtwende vollzog, ohne seine theoretischen Irrtümer einzugestehen). Sein fanatischer Musterschüler Anton Webern, eine singuläre sensitive Begabung, hingegen ging den Weg, den die Dodekaphonie ihrem Wesen nach verlangt, konsequent zu Ende, indem er Formspiele von aphoristisch verdichteter Kürze schuf, die seinen Nachfolgern als ideales Destillat des Wesentlichen per se erschienen.

Wie entsteht eine bezwingende große Form? Sie beruht immer auf erlebbarer Beziehung, auf rhythmischer, harmonischer und melodischer Ebene. Ungeachtet der Einfachheit oder Komplexität dieser Beziehungen sind alle anderen Parameter wie Klangfarbe oder Lautstärke nichts weiter als zusätzliche Begleiterscheinungen und eben keine selbständig strukturierbaren Aspekte des Klangs, da es im Erleben kein absolutes Maß für sie gibt. Das gleiche gilt auch für die Geschwindigkeit, die sich aus dem Charakter der Gestalten und der Dichte und Komplexität der klingenden Informationen ergibt. Hier gilt ausdrücklich: physikalische Messbarkeit steht in keinem direkten Verhältnis zum Erlebnis, denn wir können diese Aspekte nicht absolut, sondern nur in Relation zum klingenden Ganzen wahrnehmen. Da die Expansionskraft rhythmischer Kontraste allein nicht weit trägt (man vergegenwärtige sich gelungene Schlagzeugsoli in Jazz und Rock), basierte die große Expansion der Form in der westlichen Musik auf harmonischen Entfernungen, die mittels Modulation von einer Tonart in andere erreicht werden. Dies verlor natürlich in der Zwölftonmusik jegliche Bedeutung, da von Anfang an alle Töne möglichst gleichwertig da sind und dies als durchgängiger Zustand angestrebt wird. Wenn man überall gleichzeitig ist, kann man sich nirgendwo hin bewegen. Das ist nicht gleichbedeutend mit Atonalität, die sich auf die Strecke nur dadurch als Eindruck einstellt, dass die kontinuierliche Überforderung mit widersprüchlichen Eindrücken und die extreme Komplexität, die die Wahrnehmungsfähigkeit auch des geübtesten Hörers konsequent überschreitet, keine Orientierung mehr ermöglicht, die uns vom Anfang bis zum Ende ein zusammenhängendes Erleben des Ganzen ermöglichen würde.

Trotzdem hat man mit dieser Technik großformatige Werke geschrieben, die eben dann der inneren Notwendigkeit entbehren und nur dadurch existieren, dass ohne Rücksicht auf die eigenen Kapazitäten weitergeschrieben wurde. Die nächste Generation der Moderne, die in der Zeit nach dem II. Weltkrieg ans Ruder kam, übernahm diese Irrtümer und baute optimistisch auf ihnen weiter. Nun wurden alle Parameter reguliert (wie fern des ursprünglichen Wunschs nach Freiheit!), und das Zeitalter des Serialismus ausgerufen, der vollendeten künstlichen Durchorganisation des klingenden Geschehens. Natürlich bildete sich eine Gegenrevolte, die ebenso radikal die völlige Abschaffung allen Regelwerks verlangte, und es entstanden die ‚Techniken’ der freien Aleatorik, der Zufallskomposition usw. Pierre Boulez konstatierte treffend, dass im klingenden Ergebnis „totale Determination und totale Indetermination“ zum gleichen Resultat führen – was für eine totale Kapitulation vor den Gesetzmäßigkeiten des Klanges, freilich, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen! Es ist eben alles ein sinnlich-intellektuelles Spiel. Sich aus diesen ideologischen Konstrukten zu befreien, ist keineswegs gleichbedeutend mit einer Rückwendung zu Vergangenem, auch wenn es dazu führen kann. Doch gibt es zugleich genug Komponisten (wenn auch aufgrund mangelnder Kriterien in der Ausbildung immer weniger), die fruchtbare neue Wege einschlugen (ich denke hier nur einmal aus jüngerer Zeit an Anders Eliasson, Jean-Louis Florentz, Ketil Hvoslef oder Per Nørgård, mit unterschiedlichsten Haltungen und Verfahrensweisen).

Die selbsternannte ‚Avantgarde’, die im Grunde Idealen hinterherläuft, die in den zwanziger Jahren en vogue waren, hat keineswegs den Siegeszug in die Konzertsäle angetreten, den sich sich selbst prophezeihte. Sie hat sich mittlerweile im mit historischen Fragmenten aufgemischten Dschungel der vollkommen chaotisch suchenden Postmoderne verloren und lebt nur noch dadurch weiter, dass es gelungen ist, mit verbaler Propaganda das Subventionsnetz sicherzustellen, das die Nutzung der öffentlich-rechtlich geförderten Spielplätze überhaupt ermöglicht. Kultur braucht Subvention, aber ohne ausgrenzende Ideologien.

Hätte man wirklich atonal komponieren wollen, so hätte die Umsetzung eines einfachen Gedankens genügt. Da Tonalität grundsätzlich auf Quintbeziehungen beruht, hätte man einfach die zwölftönige Einteilung der Oktave abschaffen müssen, und zwar nicht zugunsten einer Mikrotonalität, die auch wieder Quinten hervorbringt, sondern durch eine gleichstufige Aufteilung der Oktave in elf oder zehn Töne – dann gibt es keine Quinten mehr. Das Problem ist nur, dass außer Maschinen niemand diese künstlich generierten Tonschritte intonieren kann, dass man also Legionen von Spezialisten hätte züchten müssen, um dieses faszinierend utopische Niemandsland der Atonalität zu beackern. Dann hätte man auch die Grenzen des Ghettos der ‚Avantgarde’ von vornherein klar ziehen und sich dezidiert der ‚einzigen’ Zukunftsmusik widmen können – als Klang- und Geräuschforscher und nicht als Musiker. Der Begriff des Klang- und Geräuschforschers ist es denn auch, der wirklich zutreffend für die Schöpfer der sich so nennenden ‚neuen Musik’, ohne jegliche Diffamierung, am angebrachtesten wäre.

Solange diese Forschungen musikalischen Absichten dienen – also der Schaffung eines erlebbaren Zusammenhangs –, können die Entdeckungen jedoch alle musikalisch fruchtbar gemacht werden. Die Orientierungslosigkeit der Moderne, die jeder spürt, die absolute Beliebigkeit auf der Suche nach ‚Originalität’, was in diesem Fall nach dem noch nie Dagewesenen meint, gründet sich in der Abwendung von tonalen Beziehungen, egal wie dissonant und kompliziert diese sind. Tonalität ist nicht einengend als Wohlklang zu definieren (auch wenn dies ihr die eindeutigste Farbe verleiht), sondern ausschließlich als Beziehbarkeit der Phänomene zueinander in Bezug auf ein Ganzes.

Sergiu Celibidache war in diesem Sinne ein vollendeter Musiker. Sein ganzes Streben war stets darauf ausgerichtet, den einmaligen Zusammenhang des jeweils aufgeführten Werkes entstehen zu lassen. War der Komponist nicht in der Lage, diesen Zusammenhang zu erreichen, so nahm er Abstand davon – ohne ihm deshalb Genialität oder Originalität abzusprechen, und auch das Epigonale interessierte ihn nicht, denn die handwerklich beschlagene Routine der Nachahmung ist auch nur geborgte, nicht kernhafte Musikalität.

Die von Celibidache entdeckte musikalische Phänomenologie – die nur wenige Parallelen mit derjenigen Ernest Ansermets aufweist und mit deren religiösen und historischen Implikationen nichts zu tun hat – basiert auf der Erforschung der Gesetzmäßigkeiten des Klanges, des menschlichen Bewusstseins und der uninterpretablen Beziehung zwischen Klang und menschlicher Affektwelt. Dies ausführlicher darzulegen, wird an anderer Stelle geschehen. In einer Epoche der zunehmenden Orientierungslosigkeit aufgrund einer vorangegangenen der verwirrenden Manipulation ist sie notwendiger denn je, wenn wir den Kontakt mit der Essenz des Musikalischen nicht ganz verlieren wollen. Celibidache hat damit Generationen von Musikern eine Möglichkeit der Orientierung geschenkt, die ernsthaft Suchende aus der Spaltung zwischen subjektiver Willkür der ‚Interpretation’, materialistischer Buchstabentreue (sogenannter ‚Werktreue’) und philologisch orientierten Auslegungen aufführungspraktischer Detailhinweise (als ob irgendein Fisch wüsste, was das Wasser ist, in dem er selbstverständlich schwimmt) herausführen kann. Alles überkommene Verständnis von Musik, bis hin zu den brüchigen, falsch vereinfachten Fundamenten der ‚allgemeinen Musiklehre’, wie sie – falls überhaupt noch – an unseren Schulen gelehrt wird, alle Konditionierungen des Musikbetriebs dürfen – und müssen – dafür über Bord gehen. An ihre Stelle tritt aber keine ‚neue Lehre’, kein intellektuell absicherndes System, sondern eine bewusste, mithilfe von Wissen und Erfahrung sich allmählich herausbildende Haltung, die jede neue Herausforderung als einmalig, jedesmal neu versteht, basierend auf onthologisch im Wesen von Klang und menschlicher Wahrnehmung verankerten Gesetzmäßigkeiten, die wir nicht beeinflussen, sondern höchstens verdrängen können. Musik ist eine viel subtilere Kunst, als je theoretisch vermittelbar wäre.

Wer Celibidache zunächst einmal von einer anderen Seite als der öffentlich offensichtlichen kennenlernen möchte, schaue sich den folgenden Clip auf Youtube an, gespielt wird das erste der Trois pièces brèves von Jacques Ibert.

Hier arbeitet er in Kopenhagen mit dem Danish Wind Quintet, mit Musikern, die mit der Arbeitsweise der musikalischen Phänomenologie bereits vertraut sind, und in ungeteilter Gemeinsamkeit wird das Spezifische des Werks, sein Charakter und der daraus entwickelte Zusammenhang, herausgeschält. Eine taube Nuss, die keine Freude dabei haben könnte! Was ist das Wesen bewusster Arbeit, schließt sie etwas aus außer liebgewonnenen Bequemlichkeiten, eitlen Eigenwilligkeiten und zwanghaften Widerständen, könnte man fragen.

[Christoph Schlüren, August 2016]

The New Listener feiert Geburtstag

Liebe Leserinnen und Leser,

nun ist es tatsächlich schon ein Jahr her, seit The New Listener seine Pforten öffnete, und entsprechend ist die Zeit gekommen, einen ersten Rückblick zu wagen und natürlich auch, um Danke zu sagen.

Es ist viel geschehen im vergangenen Jahr und ich bin selbst erstaunt und erfreut, wie schnell sich The New Listener entwickelt hat und wie viel Zuspruch der Blog schon nach kürzester Zeit erfuhr und immer mehr erfährt. Doch will ich anlässlich des heutigen Jubiläums von vorne beginnen: Es ist vielleicht bekannt, dass die Entstehung von The New Listener auf Dr. Rainer Aschemeiers Blog „www.the-listener.de“ zurückgeht, welchen er bereits 2003 gegründet hatte und nach elf Jahren im Dezember 2014 aus beruflichen Gründen schließen musste, da er eine Stelle als Pressesprecher in der Musikbranche erhielt, was unvereinbar mit der Aufgabe eines nicht interessengebundenen Rezensenten ist. Zu dieser Zeit begann ich, für verschiedene Medien zu rezensieren und Erfahrungen zu sammeln. Als ich schließlich auf den geschlossenen Blog Rainer Aschemeiers stieß, war meine Begeisterung für die Besprechungen auf dieser Plattform groß und bald schon der Plan geboren, diese Seite zu reanimieren und fortzuführen. Die Realisierung dessen scheiterte anfangs an einem Mangel technischer Kenntnisse, doch glücklicherweise erhielt ich bald Hilfe: Julius Reich, selbst ein wunderbarer Musiker, ermöglichte mir dankenswerterweise, die technischen Hürden zu überwinden: Er designte und programmierte alles, was heute unser Layout ausmacht. Von ihm stammt auch das Design für unsere CD-Cover, welches seit der Rezension „Der andere Wieniawski“ von Liv und Marian Migdal im Februar im Gebrauch ist.

Am 28. Juli 2015 schließlich wurden die ersten zwei Rezensionen veröffentlicht, The New Listener trat zaghaft ans Licht der Öffentlichkeit. „Divergierende Werke des 21. Jahrhunderts“ heißt der erste Text und behandelt Werke für Streichtrio und -quartett, gespielt von Stimmführern des Orchesters der Akademie St. Blasius – darauf bezugnehmend wird zur Feier des heutigen Tages noch eine CD-Rezension über selbiges Orchester erscheinen. Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley, vom ersten Tag an als Mit-Initiator dabei, veröffentlichte am gleichen Tag noch eine Rezension über die geniale Pianistin Ottavia Maria Maceratini und ihr Debüt in der Berliner Philharmonie mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin unter Gustavo Gimeno. Im kommenden Monat begann auch Peter Fröhlich, für The New Listener zu schreiben, einen Monat später Ulrich Hermann, welcher bereits für Dr. Aschemeiers The Listener tätig war und äußerst rege und couragiert kontrovers agiert. Weitere Autoren folgten: Hans von Koch, Grete Catus, Stefan Reik, Georg Glas, Josef Rottweiler, Paul Prechtel, Raphael Buber, Ernst Richter – sie alle trugen zum schnellen Aufstieg von The New Listener bei.

Am 10. Januar eröffnete The New Listener zudem eine Facebookseite für all diejenigen, die unsere Publikationen direkt auf ihrer Pinnwand sehen wollen.

Von Beginn an war es mein Hauptanliegen, nicht primär über die großen Namen und stark beworbenen Einspielungen zu schreiben, sondern gerade auch für unbekanntere Musiker und Komponisten zuständig zu sein, denen auf anderen Plattformen keine oder viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das ist gewiss einer der wichtigsten Aspekte – vielleicht neben der häufig weit überdurchschnittlichen Länge und Detailgenauigkeit der hier erscheinenden Rezensionen -, die The New Listener ausmachen. Es ist mein größter Wunsch, daraus resultierende Erfolg zu sehen in Form von Aufführungen, Einspielungen oder allgemein größerem Interesse am einen oder anderen der hier vorgestellten Komponisten, die noch zu wenig Aufmerksamkeit genießen.

Und nun, wie geht es weiter? Auch wenn ich auf ein schönes und ereignisreiches Jahr zurückblicke, sind wir natürlich noch lange nicht dort, wo wir hin wollen. Die Reise hin zur Musik endet ja bekanntlich nie, so unendlich viel gibt es zu erforschen, doch wir haben gerade erst die Segel gehisst. Wir streben nicht danach, die inhaltliche Qualität einfach nur aufrecht zu erhalten, sondern sie mit jedem neuen Text zu erhöhen, an jeder Besprechung zu wachsen und unsere Qualität weithin auszustrahlen. Genau so wie ich kritisch höre, betrachte ich auch mein eigenes Resultat durchgehend selbstkritisch und werde mich auch nie zufriedengeben. Dies ist die Maxime, mit der ich jeden Tag aufs Neue ans Werk gehe, um an mir selbst Schritt für Schritt zu arbeiten.

Zuletzt gilt es noch, einen weiteren Dank auszusprechen: Und zwar an diejenigen, ohne die alle in The New Listener gesteckte Arbeit sinnlos wäre, ohne die diese Plattform gar nicht erst auf diese Weise existieren würde. Und das sind Sie, liebe Leserinnen und Leser, die unsere Texte verfolgen und uns immer wieder besuchen. Ich weiß, dass unter Ihnen einige professionelle und zum Teil sehr bekannte Musiker sind, aber auch Studierende oder bald-Studierende ebenso wie Liebhaber klassischer Musik – und ich bedanke mich bei jedem einzelnen auf die gleiche Weise, denn es ist die Musik, wo gilt: „Alle Menschen werden Brüder“. Danke, dass Sie dieses eine Jahr The New Listener mit ermöglicht haben, und ich hoffe, dass wir auf dieser Seite noch viele Jahre gemeinsam verbringen werden,

Ihr Oliver Fraenzke

Im Kreise der Ahnen – „The Listener“ wieder erreichbar

Als ich im Juli 2015 die Rezensionsplattform www.the-new-listener.de gründete, errichtete ich sie nicht komplett aus dem Nichts. Die Ursprünge, auf die ich aufbaute, gehen bereits auf das Jahr 2003 zurück, als Dr. Rainer Aschemeier seinen Blog „www.the-listener.de“ ins Leben rief. Elf Jahre lang führte er The Listener mit größter Hinwendung und Liebe zur Musik, bis er schließlich im Dezember 2014 aus beruflichen Gründen die Pforten schließen musste. Dr. Rainer Aschemeier erhielt eine Stelle als Pressesprecher in der Musikbranche, was mit der Aufgabe eines Rezensenten unvereinbar ist, schließlich könnten Gerüchte der Befangenheit entstehen, wenn er Erscheinungen des eigenen Labels lobt oder welche der „Konkurrenz“ kritisiert. Ich selber lernte den Blog erst während der letzten Monate seiner aktiven Zeit kennen und war sichtlich betrübt, als er kurz darauf schon schliessen musste. Viele hofften hiernach, jemand würde The Listener wieder ins Leben rufen und die lange Arbeit weiterführen, doch wusste niemand, wer dies denn machen solle. Inzwischen war die ehemalige Listener-Seite bereits nicht mehr aufrufbar und die Klänge verhallten.

Im Sommer 2015 schließlich schloss ich den Plan, nachdem ich bereits einige Erfahrungen als Rezensent für verschiedene Plattformen gesammelt hatte, es selbst in die Hand zu nehmen und den Blog neu zu eröffnen – die Idee von „The New Listener“ war geboren. Über mehrer Ecken erhielt ich Kontakt zu Dr. Rainer Aschemeier, um seine Erlaubnis zur Fortführung zu erbitten, die er mir gerne erteilte. Die technische Realisierung gewährte mir der Popularmusiker Julius Reich, der neben einer ausgeprägten musikalischen und lyrischen auch eine technische Ader besitzt und kurzerhand die Programmierung übernahm. Am 28. Juli 2015 erschienen die ersten beiden Rezension auf www.the-new-listener.de. Die Werte von The Listener wurden übernommen: Kritische Ausführlichkeit, Fairness ohne „Erkaufen guter Bewertungen“ und Genauigkeit des Hörens sind nur drei der zentralen Leitbilder für The New Listener, an die ich mich stets halte. Mittlerweile gibt es sogar eine recht neue Facebookseite für The New Listener, auf welcher über alle neuen Publikationen informiert wird.

Doch nach wie vor blieb die Seite, ohne die es The New Listener in dieser Form sicherlich nicht geben würde, unerreichbar, die URL lief ins Leere. Umso mehr freudig überraschte es mich, als ich vor einigen Tagen erfuhr, dass aus ungeklärten Gründen der Link zu „www.the-listener.de“ wieder funktioniert. Alle Rezensionen aus 11 Jahren sind wieder abrufbar und laden zum Erforschen und Entdecken ein.
So ist es meine wärmste Empfehlung, auch einmal in die „Ahnen von The New Listener“ einzutauchen, dabei informative Texte zu erhalten über Veröffentlichungen und Konzerte von 2003 bis 2014 ebenso wie über zu Unrecht vernachlässigte Komponisten. Es ist wahrlich lehrreich und ich konnte viele Erfahrungen sammeln in den letzten Tagen, in welchen ich etliche Artikel studierte.

www.the-listener.de

Umso mehr Anreiz ist es natürlich auch für mich, wo ich nun wieder vollen Zugriff auf die Ursprünge habe, The New Listener noch weiter zu entwickeln und auszubauen, die Texte noch präziser zu formulieren und immer zu lauschen und zu lernen – denn die Reise zur Musik endet nie. Und auf The New Listener wird sie definitiv weitergeführt!

[Oliver Fraenzke, Juni 2016]

Variationen über ein Thema – Jesús Villa-Rojo

Die deutsche Erstveröffentlichung des Textes „Variationen über ein Thema“ des spanischen Komponisten Jesús Villa-Rojo anlässlich des Konzerts und Komponistenportraits am 16. Juni 2016 mit dem Cuarteto Quiroga im Salón de Actos des „Instituto Cervantes“ in der Alfons-Goppel-Straße 7.  Mit freundlicher Genehmigung.
[Weitere Informationen]

Die Krise jenes tonalen Systems, dessen sich unsere Komponisten während vieler Jahrhunderte bedient haben, und vielleicht eine Art von Übersättigung damit, zeitigte Ende des 19. Jahrhunderts Zeichen der Ermüdung. Seine Dauerhaftigkeit in der kompositorischen Vorstellung als schöpferisches Element eines ästhetischen, künstlerischen und musikalischen Gedankens hatte es ermöglicht, dass die Organisationsmaterialien der Partitur als Synthese der Ideen die bewunderungswürdigsten Schöpfungen der Menschheit hervorbrachte und die westliche Welt mit herrlicher und herausragender Musik erfüllte.

Sicherlich hat das elatische Wesen dieses Systems seine vollständige Erschöpfung fast verunmöglicht, obwohl die an es herangebrachten Qualitätsansprüche und Interessen mittel- oder langfristig für die Notwendigkeit von Reformen verantwortlich zeichneten.

Diese rein künstlerische und kreative Tatsache begann sich zuerst in den technischen Verfahren bemerkbar zu machen. Die Erweiterungen von Tonalität und Konsonanzempfinden begannen, diese aufzuweichen, und stellten schließlich das Gleichgewicht in Frage, das einst so wundervolle Wirkungen hervorgebracht hatte. Denn nun machten sich antithetische Kräfte bemerkbar, die den natürlichen Ausdruck der Verfahren verschwimmen ließen. Die Zunahme der Lust an größeren Spannungen zum Nachteil der Freude an der Sanftheit und Ruhe, die man vorher sich gegönnt hatte, eroberte sich nach und nach die Bühne.

Die gesellschaftlichen Bewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts wurden immer fordernder und vermischten sich mit künstlerischen und kulturellen Bewegungen, die –von der nicht mehr einzudämmenden industriellen Revolution angeführt – ob ihrer Mechanismen aller Welt die zunehmende Verdinglichung aufzwangen. Alles suchte danach, die neuen Produktionsmittel (letztendlich original und kreativ!) einzubeziehen. Die Welt von Schöpfung und Produktion trat in eine Phase nur schwer zu kontrollierender Evolution ein. Verständlich, dass die Welt der Kultur sich nicht gerade empfänglich für das zeigte, was sich da ankündigte. Hatte sie doch so lange Jahre in einer selbstzufriedenen Gesellschaft gelebt, auf dem riesigen Erbe von großen Männern einst erbaut, und es fiel ihr schwer, diese neue Welt zu verstehen. Doch die kulturelle Zukunft, und die der Musik im besonderen, blieb nicht unberührt von den Erfindungen der Zeit. Wenn auch oft zweifelhaft und wenig kohärent, konnte John Cage doch später darauf hinweisen: „Der klangorganisative Verstand bedient sich unterschiedslos des Klanges wie des Geräusches, der Stille wie der instrumentalen Schwingungen, mechanisch-elektrisch, perkussiv…“ Der Organisationsprozess kann sich aleatorisch gestalten, mit dem Zufall arbeiten – wie so oft bei Cage –, er kann sich unterschiedliche Varianten bei jeder Aufführung vorstellen oder konventionelle Darstellungsarten benutzen, die unvorhergesehene Resultate zeitigen, legt man die traditionellen Codes der musikalischen Notation zugrunde. Für Cage gehörte dies alles schon der Vergangenheit an, und er bediente sich gleichermaßen einer strikt traditionellen Symbolik, die auch Zeichen und Grapheme einschloss, die nie vorher benutzt worden waren, wie Texten, mit denen er Einfluss auf das interpretative Verhalten oder ganz einfach auf die Beschaffenheit der Instrumente nahm.

Der Idee der Konsonanz in ihrer sinnlichen Verankerung, welche die ästhetischen Prozesse zu polyphoner wie harmonischer Vollendung geführt hatte, zur bewundernswerten westlichen, mit keiner anderen damals wie heute vergleichbaren musikalischen Kultur, konnte sich unmöglich materialiter auflösen, konzeptionell hingegen schon. Deshalb war es die Tonalität, die harmonische Struktur, welche zuerst betroffen wurde und den neuen Varianten den Weg freimachte. Hatte die Konsonanz als Garant unitonaler Lösungen der ästhetischen und klanglichen Evolution einen durchgehenden Zusammenhang ermöglicht, so eröffneten sich nun über sie hinaus polytonale oder multitonale Lösungen.

Die ersten Veränderungen manifestierten sich aufgrund dieser neuen Strukturen. Sie behielten also noch immer ihre historische Zweckmäßigkeit, wurden gar oft auf ihre elementare technische Basis hin ausgerichtet, und es konnten so – vormals undenkbar – eine oder mehrere andere Tonalitäten miteinander kombiniert werden. Dieses Streben nach Erneuerung griff auch auf die Rhythmik über. Man kombinierte nun auch verstärkt binäre mit ternären Figuren, erschloss damit eine ganz neue Ära und ermöglichte eine enorme Vielfalt erweiterter Möglichkeiten.

In dieser kreativen Dynamik verschmolzen Techniken und neue Fragestellungen zu dem, was man vielleicht als Atonalität bezeichnen könnte. Mit ihr wird kein System benannt, das ein klaren Bruch mit der Vergangenheit anzeigt oder gar einen originären, systematischen Neubeginn. Was die harmonisch-rhythmischen Strukturen an Neuem boten, fand zunächst kaum ein Echo im Instrumentalen oder Interpretatorischen. Im Allgemeinen veränderten sie kaum die individuelle Instrumentaltechnik. Wohl wurde von Fall zu Fall das eine oder andere mehr oder weniger kuriose neue Instrument akzeptiert, wie im Falle der asiatischen oder afrikanischen Instrumente, die mehr Farbe und Rhythmus in den Orchesterklang hinein brachten, und es gab auch einige Neuerungen durch Komponisten wie Mahler, Bartók, Stravinsky u. a. Stravinsky war es denn auch, dem die orginiellste Erweiterung mit seinem Le sacre du printemps zu verdanken ist, dem wohl wichtigsten Werk auf der Suche nach einem neuen Instrumentalklang.

„Das Zusammenleben der Kulturen seit der Pariser Weltausstellung 1889, durch die eine Periode mit repräsentativen Darbietungen außereuropäischer Musiktradition angestoßen wurde, veränderte dank der Integration von bis dato im Westen unbekannten Klängen nachhaltig den instrumentalen Wortschatz.“

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Edgard Varèse: „Ionisation“. Ed. Cofrane Music, Nueva York

Die Entwicklung von Industrie und Technik hat die Produktion zum Ziel und provoziert oft durch reinen Zufall neue Apparate und Maschinen, von denen man sich das ein oder andere Element auch als Bereicherung für den damaligen musikalischen Klang vorstellen konnte. Neben vielen unauffälligen Neuerungen war es vor allem der italienische Futurist Luigi Russolo, der die Konstruktion von Maschineninstrumenten vorantrieb. Von der Industrie ausgehend begann er, einen der Idee des Orchesters analogen, artifiziellen Klangkörper zu schaffen. Er nannte diesen die intonarumori, und die konkreten Bezeichnungen der Instrumente lauteten frusciatori, graciadatori, gorgoliatori, ronzatori etc.

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Luigi Russolo und Ugo Piatti mit ihren “intonarumori”

Das Amalgam von Alt und Neu, und besonders die Impulse aus der Elektronik, zeitigten viele neue Effekte. Die magnetophonische Aufnahme von Klängen und Geräuschen ermöglichte eine konzeptionelle und technische Neubestimmung und die daraus resultierende musique concrète. Ihre wissenschaftlichen Mittel ließen die Schöpfungen von Luigi Russolo und seiner intonarumori schnell weit hinter sich.

„Es ist gut möglich, dass die wissenschaftlichen Ansprüche des Musikers nur den zweiten Platz hinter seinen kreativen Interessen einnahmen. Er suchte nach direkter Mitteilung, auch wenn die musikalischen Mittel ihm dies nicht immer leicht machten.“

Die Erfahrungen der neuen Klangwelten führten zu gesteigerter Neugierde nach weiteren unverbrauchten Ideen der Klangproduktion und dem Erkunden technischer und sensitiver Parameter zu ihrer Hervorbringung. Eine in Klang verwandelte Frequenz kann unendlich viele Timbres erzeugen, die unser traditionelles Klangverständnis weit übersteigen. Die spezifische Instrumentaltechnik kann zu höchst differenzierten, unterschiedlichen klanglichen Ergebnissen führen. So resultiert bei einem Streichinstrument zum Beispiel der Aufstrich oder Abstrich, die Art des Bogenstrich oder die Position der Kontaktstelle des Bogens auf der Saite, z. B. in Stegnähe oder auf dem Griffbrett, zu deutlich unterschiedlichen Tonqualitäten. Das verschiedenartige Einschwingen oder z. B. die Springbogentechniken (Spiccato) modifizieren den Klang erheblich. Die Komponisten stellten nun erhöhte technische Ansprüche an die Instrumentalisten wie an den zeitgenössischen Hörer. Immer tiefer wurde in die neuen Klangwelten eingedrungen, die Spieltechniken erweitert, stets in Kenntnis des technologischen Fortschritts und der bisher unerschlossenen Möglichkeiten zugleich.

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Karlheinz Stockhausen: „Studio II“. Universaledition, Wien

Die Suche nach neuen Instrumentalklängen begleitete mein eigenes musikalisches Schaffen von Beginn an auf Schritt und Tritt. „Gerade die Suche nach neuen Klangformen lehrte mich, die beschränkten Instrumentaltechniken zu schätzen. Deshalb habe ich auch in den letzten Jahren auf die fortwährende Erneuerung jener Techniken geachtet. Die ursprüngliche Öffnung des Klangraumes durch die musique concrète und die elektronische Musik verhalf auch der Instrumentalmusik zur Entdeckung eigener neuer Mittel.“ Die sogenannte extended technique verleiht dem heutigen Instrumentalspiel einen distinkten Charakter. Neben dem, was die elektronische Musik versprach – und dabei ging es nicht allein um den Gebrauch des Materials dieser Instrumente, sondern auch um die Verzerrung eines jeden Instrumentes oder von Aufnahmen –, war, was uns vor allem beschäftigte, die Suche nach der Erweiterung des traditionellen Instrumentalklangs. Die Ergebnisse unserer Forschungen erscheinen systematisiert in meinem Buch El clarinete y sus posibilidades (Die Klarinette und ihre Möglichkeiten), einer Arbeit, die entsprechend für alle Holzblasinstrumente gilt. Es geht darum, die Ausdrucksmöglichkeiten dieser Instrumente zu steigern, sie für Klangfarben zu nutzen, die es in der westlichen Musik bisher nicht gab.

Im Folgenden finden sie eine kurze Zusammenfassung dieser Möglichkeiten: zwei oder mehr Simultan-Klänge auf einem Instrument. Darunter die realen Klänge-sonidos reales des Instrumentes, welche die Möglichkeit von zwei realen Tönen anbieten mit dem Fundament in der tiefen Lage (grave) und in der unteren Mittellage (medio-inferior), indem man die Fingerstellung des unteren mit einer mittleren Stellung der Lippen zwischen oberem (superior) und unterem (inferior) Ton kombiniert.

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Der reale Klang und der simultan abgeleitete Klang (sonido resultante) erschließt die Möglichkeit von gleichzeitig erscheinenden unterschiedlichen Tonfarben, indem der Obertonbereich manipuliert wird.

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Die sonidos rotos-gebrochenen Klänge sind eines der interessantesten Phänomene der Klarinette. Sie bestehen aus einem realen Klang und seinen Obertönen mit minimalem Intervallabstand zwischen jenen, fast auf dem gesamten Instrument – in der tiefen Lage wie der unteren und oberen Mittellage -, machbar, indem man den Fingersatz des realen Klanges anwendet.

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Der reale Klang und die Obertöne gleichzeitig sind in der tiefen Lage (grave) möglich, in der unteren Mittellage (medio-inferior) mit dem Fingersatz des realen Tones.

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Stimme und Klang können jeden Klang des Instrumentes auf seiner gesamten Skala simultan bereichern, ohne dass ein spezieller Fingersatz nötig wäre.

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Dies so unterschiedlich beschaffene und erzeugte polyphone Material kann ohne weiteres – mit Ausnahme der Stimme – auf dem Instrument alleine hervorgebracht werden. Innerhalb der Einstimmigkeit gibt es viele mehr oder weniger bekannte, oder ganz und gar unbekannte Möglichkeiten, alle jedoch dienen der Erweiterung des Klangraumes. Je nach Technik haben diese Klänge eine große Klangfarbenvielfalt, können gar vollständig aus den gewohnten Klängen ausbrechen, bis hin zum Bruch mit dem temperierten System selbst. Der sonido real-reale Klang ist jener, der normalerweise auf dem Instrument hervorgebracht wird.

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Das Material des sonido resultante-abgeleiteter Klang, verschieden vom realen Klang, besteht aus Obertönen, hinzutretender Stimme, Atem, Flatterzunge, und stellt die Möglichkeiten der Ergänzung des Monodischen dar. Mit Ausnahme von Stimme und Atem erzielt man die Klänge auf dem Instrument mit mehr oder weniger traditionellen technischen Mitteln.

Die Ausarbeitung des Klanges und seine Artikulation sind Parameter von großer Bedeutung für die Instrumentalpartitur. Das Vibrato und seine Kontrolle, winzige Trübungen oder Verstimmungen einer bestimmten Frequenz, die trockenen oder schwachen Einsätze, eingeschoben zwischen Bindungen, sind Elemente, die eine genaue Herausarbeitung nötig machen.

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Jesús Villa-Rojo: „Acordar“. Ed. Edi-Pan, Rom

Ausgehend von diesen neuen Ideen, haben die Bewertung und das Konzept der Höhen in meinen Arbeiten sehr unterschiedliche Ergebnisse gezeitigt. Vom traditionellen Gebrauch in Cuatro movimientos, sonata, Música sobre un tema, in denen es keinen unkonventionellen Gebrauch der Klangmanipulation gibt, führt der Weg zu Rupturas, continuo, Eglogas, Divertimento I, II, III, Tiempos… und auch Temples, 6 pinceladas, Espirales, Líneas convergentes, Sexteto, Septeto, Lamento, Trío, etc., wo die Klänge mit definierten Tonhöhen produziert und wiedergegeben werden, aber Modifikationen erfahren, welche die Tonhöhe, besonders jedoch die Tonqualität verändern. Die größten Veränderungen findet man jedoch in Hombre aterrorizado-dor, Dimensiones, Eclipse, Antilogía, Concerto grosso I, II, III 4+…, Tonalidad dominante (b-moll), Cartas a Génica, Formas planas, Música para obtener equis resultados, wo die tatsächlich erklingenden Tonhöhen das Ergebnis sind von: a) Klängen ohne exakte Tonhöhen, die der Entscheidung des Interpreten anheim gestellt sind, b) komplexen Klängen mit exakter oder nicht exakt bestimmter Tonhöhe, immer aber mit auf einen vorherrschenden Klangkomplex gerichteter Aufmerksamkeit, c) Klängen bzw. Geräuschen, die ob ihrer Natur oder Qualität nicht dem Kriterium der exakten Tonhöhe entsprechen (Luft, Klanglöcher, Nasale, gebrochene Klänge, nicht tonale elektronische Klänge) wie in Obtener variantes, Variaciones sin tema, Acordar, Apuntes para una realización abierta, ellos oder den Serien Juegos gráfico-musicales und Material sonoro, wo (außer einigen wenigen Beispielen in der Serie Juegos gráfico-musicales) der Klangparameter vollständig unbestimmt bleibt, und es nur vage Hinweise von Registern, Bereichen bzw. Stimmlagen gibt.“

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Jesús Villa-Rojo: „Juegos gráfico-musicales“. Ed. Alpuerto, Madrid

Diese Kompositionslandschaft bezeugt die Komplexität bei der Auswahl der besten Möglichkeit für jeden Moment. Bei der Auswahl, der Absicht und der Niederschrift stellten sich immer wieder Momente des Zweifels am Projekt ein. Alles, was ins Gedächtnis Eingang fand und es bereicherte, verkomplizierte den Prozess und entpersonalisierte das Denken. Die Anfänge wurden ebenfalls nicht leichter. Als ich mir 1971 Formas y Fases vornahm, konnte ich mir nicht vorstellen, ein Stück zu schreiben, in dem das von der Klarinette angebotene Klangmaterial wenn nicht der herausragende Parameter, so doch der rote Faden des Ausgleichs und der Überbrückung zwischen unterschiedlichen Elementen der Kompostion sein würde. Die Klarinette hatte mir schon in vorherigen Werken ausgezeichnete Dienste geleistet, bei all meinen Studien der Klangerweiterung, das Hörbarmachen der Obertöne neben den Grundtönen, durch Stimme und Klang gleichzeitig oder unabhängig voneinander, die unendlich große Anzahl der Anblasmöglichkeiten, der Tonproduktion, der Dynamiken… Ich hätte leicht ein Stück für einen Solisten mit einfacher Begleitung schreiben können, aber bei alldem, und auch angesichts eines denkbaren Solostücks, war die Vorgabe, ein Klarinettenstück mit Begleitung zu schreiben, reiner Vorwand. Die Kraft und Lebendigkeit dieser Klarinettentechnik kann zu der irrigen Annahme verführen, dass das Instrument mit einer Solistenmentalität eingesetzt worden wäre; in Wahrheit beschränkt es sich jedoch darauf, Module auf der Basis von Verbindung und Konzentration von Gruppen, zwischen denen es eine korrespondierende Logik der Kontinuität und des Bruches mit dem Vorhergehenden gibt, vorzustellen und auszuarbeiten.

Formas y Fases war ein resoluter Beginn, 1970 mit dem Ziel verfasst, dieses Werk beim Béla Bartók-Preis – anlässlich des 90. Geburtstags des Komponisten – in Ungarn vorzustellen. Strukturelle Strenge und aleatorische Freiheit der Interpretation sind hier zusammengeführt.

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Jesús Villa-Rojo: „Tiempos“. Ed. Editio Musica Budapest

„Die Freiheit erlaubt eine Klangestaltung, welche sich mittels des Klangexperiments der musikalischen Phantasie bemächtigt, die sich ihrerseits in erweiterter Spieltechnik manifestiert und somit neue Kommunikationsmöglichkeiten schafft. Tremolo-Flatterbogen, unregelmäßige Vibrati, col legno (Spiel mit dem Holz des Bogens), sul ponticello, Pizzicati usw. schaffen ein Klima der Kontraste und erweitern die Idee des Instruments.“

Meine Interessen für Nationales haben mich dies alles nie als etwas Persönliches erleben lassen – bis zu meinem Cantar con Federico. Die kommunikative Kraft der Abstraktion, die über die Zeiten und Kulturen hinweg tragen kann, ohne in diese einzutauchen, war mir immer bewusst. Als die Welt sich jedoch 1986, anlässlich des fünfzigsten Todesjahres, Federico García Lorcas erinnerte, begann ich, die Musikalität seiner Gedichte – die einen populär, die anderen konzeptionell und surrealistisch – zu studieren, und ich glaube, dass dieses Studium meine Haltung und mein Verantwortungsgefühl unseren eigenen Wurzeln gegenüber verändert hat.

„Passacaglia y Cante verfolgt einen offenen Weg, auf welchem der imaginäre paso-Schritt von beschwörenden zeremoniellen oder phantastischen Mythen gelenkt wird. Es handelt sich um ein Fortschreiten, eine Evolution oder Transformation, die aus einer rein metaphysischen Perspektive heraus versucht, sich von der Materie zu lösen. Ein Fortschreiten des menschlichen Geistes in sich selbst.
„Progression – Prozession, Passacaglia, wandernd – Wanderer.
Gibt es einen Weg…?
Ein Wandern durch den Klang. Luigi Nono wanderte. Die Leidenschaften Lorcas erscheinen im „cante-Gesang“. Er liebt die Leidenschaften mit ihrem menschlichen Angesicht.

Lorca – Nono.

Prozession – wandernd, singend der Weg, sich entwickelnd die Leidenschaften.
Der Weg wandert.
Der „cante-Gesang“ entwickelt sich. Es gibt keinen Weg!
Der Weg wird erwandert, Wanderer!
Der Klang wandert, entwickelt sich.
Lorca – Nono – wanderten. Sie erwanderten einen Weg.
Damals… Ja, es gibt einen Weg!
Sie schufen einen Weg.
Der Weg wird erwandert, Wanderer!“

Passacaglia y Cante wurde vom CDMC für das internationale Festival zeitgenössischer Musik in Alicante in Auftrag gegeben und dem Andenken Federico García Lorcas und Luigi Nonos gewidmet.

Die wohlgemeinten und ehrgeizigen Versuche des musikalischen Schaffens im 20. Jahrhunderts kombinierten Instrumente und kleine Kammermusikgruppen. Sie beabsichtigten damit, das historische Format des Quartetts mit attraktiven und originellen Ideen, welche die Möglichkeiten eines Großteils der konventionellen Instrumente bereicherten, zu assimilieren. In Wahrheit jedoch behauptete die Jahrhunderte alte Form des Quartetts ihre technische und ästhetische Leistungsfähigkeit und ihre Wesensart, die dem Komponisten alle nur erdenklichen, dem Hörer alle nur möglichen aktuellen und originellen Perspektiven und Erfindungen zu erleben und zu erschaffen erlaubt.

Béla Bartók wusste das und schuf so die beste Serie von Streichquartetten des 20. Jahrhunderts. Auch Antonio Moral, Direktor des Centro Nacional de Música de Madrid, verstand dies und initiierte eine Streichquartett-Konzertreihe, genau wie jetzt das Instituto Cervantes de Múnich mit den hervorragendsten Ensembles, auch Bartok’scher Provenienz als Grundlage, jedoch bereichert und weitergeführt mit Aufträgen für den Konzertzyklus an weitere Komponisten.

Auch mein III Cuarteto-III. Streichquartett ist in dieses interessante Projekt einbezogen.  Es ist eine Auftragsarbeit für das CNDM und besteht aus drei Sätzen: Allegro impetuoso – Lento e misterioso – Allegro vivace. Ausgehend von der Verschmelzung der Elemente im ständigen dynamischen und rhythmischen Kontrast, eröffnen sich räumliche Perspektiven, die auf seine verborgene Harmonie hinweisen. Die Verräumlichung lässt weitere Nuancen hervortreten, wie die Fragmentierung der Tonabstände in die Mikrointervallik der Vierteltöne. Dies wiederum erlaubt, auf Tonalität anzuspielen, ohne jedoch wirklich tonal zu werden. Wir befinden uns also eher in der Nähe der Tonalität, oder besser des Wohlklanges, denn in einer freitonalen Gestaltung. Die erwünschte Nähe zum Bartók’schen Idiom erlaubt das Zusammenwirken von modernen, zeitgenössischen Verfahren, frei von Anforderungen seriellen oder strukturellen Denkens. Die Möglichkeiten der Entfaltung 1+1 (1=4), 4+4 (4=1), vervielfältigt die räumlichen und expressiven Potentiale des Instruments.

Das Quartett als „Instrument“ stellt sich ganz natürlich in den Dienst der Schaffung heller und dunkler Farben, ohne dass dadurch die leuchtende Expressivität der schönsten Panoramen in Gefahr geriete. Gleiches gilt für die Dramatik, welche sich ebenso natürlich mit dem Witzigen und Lustigen verbinden lässt. Diese Qualitäten haben Eingang in meine Kompositionsidee gefunden. Dadurch ist es nötig, dass in der Erinnerung eine Art von Fern-Nähe in aktuelle Wirklichkeit verwandelt wird. Dies gibt uns Ausblick auf einen künstlerischen Horizont, der das Gestern und das Heute zugleich umschließt. Wir müssen nicht immer Ort, Tag und Uhrzeit kennen. Es geht vor allem um das Heute und dessen Chancen. Mein drittes Streichquartett mit seinen drei Sätzen ist – metaphysisch gesprochen – jenseits aller Gebrauchswerte. Was es zu sein oder wem es zu ähneln scheint, sollte uns deshalb nicht interessieren. Wir sollten unsere Phantasie eher auf seine natürlichen Qualitäten lenken, denn sie sind es schließlich, die das Zusammentreffen in der Zeit und über die Zeiten sinnlich und geistig ermöglicht haben.

[Jesús Villa-Rojo: aus dem Spanischen von Manfred Bös]

München, Juni 2016
ARTIKEL FÜR DAS INSTITUTO CERVANTES MÜNCHEN

Zwischen den Welten – Der Pianist und Komponist David Ianni

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David Ianni (Foto: Vito Labalestra)

Seine musikalische Heimat liegt außerhalb der uns heute geläufigen Kategorien – und ist doch tief in Traditionen und Genres verwurzelt: Der Pianist und Komponist David Ianni.

Der 1979 in Luxemburg als Sohn eines italienischen Vaters und einer luxemburgischen Mutter geborene Musiker genoss früh eine klassische Musikausbildung und schloss bereits mit 15 Jahren sein Klavierstudium ab, worauf er mit Liszt 2. Klavierkonzert debütierte. Noch vor seinem zwanzigsten Geburtstag nahm er zwei klassische Alben auf, wonach er sich allerdings von der Öffentlichkeit zurückzog, in eine Sinnkrise geriet und seine wahre musikalische Identität suchte. Dies brachte Ianni unweigerlich zum Komponieren, das ihn seit seinen frühesten musikalischen Studien in den Bann zog. Er stellte fest, dass das Schaffen einer eigenen Kunst seine eigentliche Aufgabe darstellt und nicht das bloße Wiedergeben bereits existierender Werke. Seitdem schrieb er weit über einhundert mit Opuszahlen versehene Werke, wobei dem Klavier eine zentrale Rolle zufällt, und auch der geistlichen Chormusik. Ein Oratorium und eine Kinderoper entstammen seiner Feder. Zwei CDs seiner Klaviermusik und zwei CDs mit Bearbeitungen gregorianischer Choräle für Chor und Klavier sind mittlerweile erschienen.

„Die Sehnsucht nach einer Musik, die ich nicht bei anderen finden konnte, hat mich von Anfang an angetrieben, meine eigene Musik zu schreiben“, erzählt David Ianni. Und tatsächlich ist seine Musik eine vollkommen eigene, die sich von traditionellen Stilvorgaben bewusst absetzt. Die Musik existiert zwischen den Welten, zwischen den klassischen wie romantischen Idealen einerseits und der aktuellen Populärmusik und Filmmusik andererseits, wobei teilweise auch weitere Elemente wie etwa Jazz oder Minimal Music hinzu kommen. Von den klassisch-romantischen Traditionen entstammt die spieltechnisch diffizile Virtuosität und Komplexität, außerdem lassen sich Einflüsse großer Instrumentalkomponisten wie Frédéric Chopin, von Meistern der Wiener Klassik oder russischen Komponisten finden. Die Harmoniegestaltung ist allgemein recht vielseitig und interessant, es begegnen einem bewusst eingesetzte Dissonanzen und plötzliche, unerwartete harmonische Umschwünge. All dies wird durch typische Elemente der Populärklaviermusik für die heutige Zeit aufbereitet, so treten etwa durchgehende repetitive Begleitfiguren auf, die Musik ist klar an der Taktstruktur ausgerichtet und „groovt“, die Akkordik schwankt durchgängig zwischen Dur und dazugehörigem Moll, was dem Ganzen den leicht fasslichen Pop-Anstrich verpasst. Leichtigkeit und Melancholie gehen in dieser Musik Hand in Hand. Doch die Einengung als reine Populärmusik wäre keineswegs zutreffend, Begleitfiguren und Melodiebögen sind länger und komplexer, außerdem ist die Musik spürbar anspruchsvoller für den ausführenden Musiker als etwa in stilistisch vergleichbarer Filmmusik üblich. Somit hebt Ianni die Pop-Sphäre auf ein außergewöhnlich anspruchsvolles Niveau, welches Klassikanhänger wie die Freunde entspannten Nebenbei-Hinhörens gleichermaßen ansprechen kann, er bringt die sonst einander so fremden Welten zum Verschmelzen. Nicht zuletzt in seinen Titeln ist das sichtbar, so komponiert David Ianni kurze „Songs“ ebenso wie großformatige „Sonaten“ – zentrale Werkformen beider Herkunft vereint er gleichberechtigt in seinen Konzertprogrammen und spielt sie mit einer angenehm fesselnden minimalistischen Schlichtheit und lichten Klarheit, ohne jedoch je musikalisch einförmig beziehungsweise undifferenziert zu werden. Die für seine Musik so typischen raschen und pianistisch anspruchsvollen Figuren präsentiert David Ianni am Klavier mit spielerischer Leichtigkeit. Komposition und Aufführung sind bei ihm absolut untrennbar und übereinstimmend im Ausdruck, als ein tänzerisches Gesamtkunstwerk.

Seine ihm selbst gestellte Aufgabe vor Augen, die Tiefe und Schönheit der menschlichen Existenz mit musikalischen Mitteln zum Ausdruck zu bringen, motiviert den luxemburgischen Pianisten immerzu, weitere neue Musik zu schreiben und seinem Ideal dabei jeweils ein Stück näher zu kommen. Wohin diese Reise führen wird, lässt sich nicht sagen, doch wird sie weiterhin die Grenzen der Stile sprengen, die Welten verbinden und neue Gefilde entdecken. Für den Zuhörer ist diese Gratwanderung schon jetzt ein zugleich spannendes wie entspannendes Erlebnis, außerdem eine harmonisch berührende, dem absoluten Schönklang verpflichtete Entdeckung, die man nur empfehlen kann. Musik, die jeder verstehen kann, die dabei kein bisschen primitiv ist und immer ihr subtiles Geheimnis bewahrt.

[Oliver Fraenzke, Januar 2016, München]
Erschienen in der „Slam!“ Luxemburg im März 2016

Stellungnahme der Redaktion

Liebe Leserinnen und Leser,

mit großer Freude und Genugtuung haben wir den Sturm der Entrüstung über die Kritik von Josef Rottweiler zum Konzert am 22. April im Freien Musikzentrum München zur Kenntnis genommen. Die Forderung, den Artikel doch bitte von der Seite zu nehmen, können wir sehr gut verstehen, und wir stimmen Ihnen zu, dass der persönlich beleidigende, tendenziöse Tonfall auch dem Image von the-new-listener.de in der Öffentlichkeit Schaden zufügen kann.

Auch wir wollten diese Kritik zunächst nicht veröffentlichen. Doch dann haben wir uns nach eingehender Beratung – auch angesichts jüngst vorgekommener Vorfälle, die sehr bedenklich sind und sich zur Staatsaffäre ausweiteten – entschieden, keine Zensur auszuüben, also auch keine Unterdrückung selbst in einem so gravierenden Fall von ehrverletzender Attacke, sondern auch diese Ansichten, so subjektiv sie sein mögen, öffentlich zur Diskussion zu stellen. Wir stimmen mit Ihnen darin überein, dass der Autor (in seinem Debüt-Artikel für the-new-listener.de!) seine Angriffe unter der Gürtellinie ausgeführt hat (oder auch, wie einige schrieben, hinterrücks und feige). Das Gute daran ist, dass der Autor daran unmittelbar erfahren kann, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung unmittelbar mit dem Recht auf öffentliche Hinterfragung und Entlarvung der Motive verbunden ist, und wir hoffen, dass er daraus seine Lehren zieht. Er wurde darüber belehrt, dass dies keine angemessene Haltung für eine Kritik ist, und wir werden sehen, ob er in Zukunft zu unterscheiden lernt zwischen sachlicher Polemik und unsachlichem Austoben von wie auch immer begründeten Abneigungen. Wir bitten Sie jedoch auch um ein gewisses Verständnis, dass hier eben manches öffentlich stattfindet, was sonst vielleicht nur hinter verschlossenen Türen gesprochen würde. Umso größer eventuell die Chance, dass daraus gelernt wird.

Die Redaktion distanziert sich ausdrücklich von Teilen des Inhalts der Kritik von Josef Rottweiler, und jeder Leser kann sich seine eigene Meinung darüber bilden, warum das so ist, indem der Artikel auch weiterhin in dieser Form verfügbar bleibt. Wir sind in diesem Fall sogar so weit gegangen, den hauptsächlich kritisierten Künstler zu fragen, ob er ein Problem damit hat. Er ließ uns wissen, dass er grundsätzlich keine Zensur wünscht und sich freut, wenn die daraus entstehende Dynamik zu einer grundlegenden Debatte über die Werte der Kritik und die Frage konstruktiv beiträgt, inwieweit diese sich darauf berufen kann, subjektive Meinungsäußerung zu sein. (Vielleicht machen wir demnächst ein Interview mit ihm darüber.) Er ließ uns aber auch wissen, dass er sich anders verhalten hätte, wären die am Konzert direkt beteiligten Musiker unter derartigen Beschuss gekommen, und dass er kein Verständnis für die pauschal vernichtende Beurteilung der von uns allen sehr geschätzten Musik von Douglas Lilburn hat. Er hätte es mutiger gefunden, wenn der Autor sich derart an Beethoven vergangen hätte, und dem dürften sicher einige von Ihnen zustimmen.

Sie sind also alle eingeladen, hier vorbehaltlos zum Ausdruck zu bringen, wie Sie zu den Inhalten unserer Seite stehen.

Einen schönen Sonntag noch und herzliche Grüße an alle Leserinnen und Leser,

[Lucien-Efflam Queyras de Flonzaley & Oliver Fraenzke]

Norwegische Impressionen

Das Reisen in andere Länder ist immer auch eine kulturelle Bereicherung, wenn man sich nur darauf einlässt. So war es für mich ein großer Gewinn, eine Rundreise durch eines der für mich schönsten und vielfältigsten Länder zu starten und dort alles nur Mögliche an musikalischen Impressionen in mich aufzunehmen, was sich einem als einfachem Touristen so bietet – in diesem Fall in Norwegen.

Die Musikgeschichte in diesem Land unterscheidet sich grundlegend von der aller anderen Länder. Norwegen ist ein absoluter Sonderfall. Zentraler Grund dafür ist die lange Unterdrückung des heutigen eigenständigen Königreichs zuerst unter dänischer Herrschaft von 1380, als der dänische König Olav Håkonsson Norwegen erbte, bis 1814, und anschließend bis 1905 in Personalunion mit Schweden. Dies hatte zur Folge, dass sich keine höfische Kunstmusik entwickeln konnte, dafür aber die Volksmusik sich wie an kaum einem anderen Ort ausprägen konnte. Natürlich gab es auch Kunstmusik vor der Besatzungszeit; die norwegische Musikgeschichte beginnt nachweisbar ca. 1500 vor Christus, wie Funde von Bronzehörnern zeigen, und auch Lieder aus der Wikingerzeit sind uns heute bekannt, doch herrschte ebenso hier in jüngerer Zeit ausländischer Einfluss vor: 1030 wurde Norwegen christianisiert und der gregorianische Choral eingeführt, der jedoch sehr bald ein nordisches Sonderleben zu führen begann, was im Choralsatz in parallel geführten Terzen ersichtlich ist statt wie auf dem Kontinent in Quint- und Quartparallelen. Während der Personalunion mit Dänemark war der Musikerberuf hauptsächlich ausländischen Stadtmusikanten vorbehalten, die selbstverständlicherweise ihre Musik importierten. So verwundert auch nicht, dass Norwegens frühestes Stück eines namentlich bekannten Komponisten, des Caspar Ecchienus (ca. 1550 – ca. 1600), im niederländisch-polyphonen Stil verfasst ist. Die Volksmusik beschritt einen gänzlich anderen Weg; seit dem Mittelalter finden sich aus sämtlichen Epochen Stoff und Gattungen, von Kæmpeviser – Kampfweisen (heroischen Balladen) – bis zu religiösen Liedern, von Hirtengesängen bis zu ersten dichterischen Formen in etwas späterer Zeit, findet sich alles in den Wurzeln der Volksmusik. Ausländischer kontinentaler Volksliedtanz wurde recht bald verdrängt von noch heute existierenden Tänzen, unter denen die wohl berühmtesten Springar  oder Springdans genannt, Halling und Gangar sind. Besonders für den Solotanz der Männer, den Halling, gibt es heute etliche Wettbewerbe und sogar nordische Meisterschaften, in denen die Tänzer ihre akrobatischen Künste inklusive den so genannten Hallingkast, das Herunterschlagen eines Huts von einer hochgehaltenen Holzstange mit dem Fuß, unter Beweis stellen müssen. Begleitet werden sie dabei von dem urtypischen Instrument Hardingfele (Hardangerfiedel) – einer geigenartigen Fiedel, die neben den vier zu spielenden Saiten auch Resonanzsaiten besitzt, die ihr einen kernigen und bordunhaften Ton verleihen. Ein weiteres typisch norwegisches Instrument ist die Langeleik, übersetzt in etwa Langes Spiel, eine Brettzither mit einer Melodieseite mit Bünden auf dem Griffbrett, sowie mehreren Bordunsaiten, die nur leer angespielt werden können.

1Troldhaugen, Wohnstätte von Edvard Grieg, dahinter rechts der Konzertsaal

Und in diese unvergleichliche Musiktradition verschlägt es mich nun! Die Reise beginnt in Bergen, der zweitgrößten Stadt des Landes und zentralen Hochburg der norwegischen Kunstmusik. Als Geburtsstadt von Norwegens herausragenden Komponisten Edvard Grieg (1843-1907), Ole Bull (1810-1880), Harald Sæverud (1897-1992) und dessen Sohn Ketil Hvoslef (geb. 1939) ist Bergen singulär. Ole Bull war der Revolutionär der Transkription norwegischer Volksmusik – die bereits Ende des siebzehnten Jahrhunderts durch Hinrich Meyer begann – und der „gute Engel“ Edvard Griegs: dem damals fünfzehnjährigen empfahl er als eine der größten musikalischen Autoritäten des Landes das Studium in Leipzig. Edvard Grieg ist seither international berühmt durch sein Klavierkonzert a-Moll, seine Suite aus Holbergs Zeit, seine Peer-Gynt-Suiten und einige seiner Lyrischen Stücke für Klavier, ist aber auch Autor hervorragender Kompositionen wie einer Klavier-Ballade und eines Streichquartetts (beide in g-Moll), von drei Violinsonaten, einer Cello- und einer Klaviersonate, und etlicher Bearbeitungen nordischer Weisen, die somit kunstmusikalisch geadelt im Konzertsaal ihren Platz finden. Bedauerlicherweise hat im letzten Jahrhundert Harald Sæverud noch nicht die Bekanntheit seines weltweit beliebten Vorgängers erreicht, doch hat auch er eine Peer-Gynt-Bühnenmusik geschaffen und gilt durch seine insgesamt neun höchst eigentümlichen Symphonien als größter Symphoniker Norwegens. Sæveruds Sohn Ketil Hvoslef schließlich beschritt ganz andere Wege und etablierte sich als Komponist einer großen Zahl vor allem von Solokonzerten und Kammermusikwerken im Grenzbereich von fast improvisatorisch wirkender, kontrollierter Spontaneität. Die Wohnhäuser der ersten drei genannten Komponisten sind heute als Museen zugänglich, doch leider erlaubte die Zeit nur einen Besuch in Troldhaugen, der Villa von Edvard Grieg. Unter Leitung seiner Witwe Nina wurde ein Teil des Mobiliars 1928 an die richtigen Plätze zurückgestellt und der Besucher kann einige fast unverfälscht wiederhergestellten Räume besichtigen und sich zurückversetzt fühlen in Griegs Lebzeiten. Der für den nur gut 1,50 Meter großen Edvard Grieg extra tiefgelegte Flügel, die dicken Bände mit Beethovensonaten, auf die er sich zum „Heraufreichen“ an die Tasten eines normalen Klaviers oft setzte, sowie seine Komponierhütte mit idealem Blick auf den Fjord bleiben hier besonders eindrücklich in Erinnerung. Auch die Grabstätte des Ehepaars unterhalb des Hauses ist einen Besuch wert, und hier scheint die Zeit stillgestanden zu haben. Neben dem Haus findet sich ein kleiner Konzertsaal, der zwar von außen mit seinen Betonmauern nicht gerade in die Idylle passt, aber von innen wahrlich eindrucksvoll erscheint und hinter dem Flügel durch eine Glasfassade den Blick auf das kleine rote Komponierhäuschen des Nationalromantikers freigibt. In dieser kleinen Halle werden immer wieder lange Abendkonzerte und halbstündige Lunsjkonserter (Mittagskonzerte) angeboten. Hier wurde auch ich erstmals mit norwegischer Pianistenpraxis vor Ort konfrontiert, Signe Bakke spielte Werke vom Meister. Als erstes Stück war der Kopfsatz seiner e-Moll-Sonate Op. 7 angekündigt, so kam die in Tracht fast ein bisschen an Nina Grieg erinnernde Pianistin auf die Bühne und spielte – den ersten Satz der Suite aus Holbergs Zeit Op. 40! Nun könnte man meinen, Signe Bakke habe einfach nicht genug Zeit gehabt, um die technisch delikate Sonate aufzupolieren, und genau diese Vermutung bestätigte sich auch anhand der oft verstolperten Perpetuum-Mobile-Sechzehntel im Prelude der Suite, die den gesamten Satz durchziehen. Glücklicherweise besserte sich die Ausführung in den folgenden Volksweisen aus Op. 17 und 52 sowie den Lyrischen Stücken aus Op. 43 und 71. Insgesamt war die Tendenz zu beobachten, dass das romantische Element bei Grieg viel zu sehr ins willkürliche Extrem gezogen wurde, zusammenhangslose Rubati und unbedachte sowie auch unsangliche Phrasierung war der Regelfall – ein Phänomen, dass mir mehrfach bei norwegischen Pianisten ins Auge stach! Doch plötzlich tat sich eine neue Welt auf, als Signe Bakke eine Stelle im Volksmusikcharakter authentisch wiedergab: Kurzzeitig machte sich der Eindruck breit, es spiele eine Hardingfele und kein Klavier mehr; so wurde jedes Volkslied und jeder Volkstanz zu einem einmaligen Erlebnis und der Springdans im berühmten Det var en gang (Es war einmal) avancierte zu einem hinreißenden Tanzcharakter von vollendeter Klangschönheit, wenn auch leider umgeben von einem überemotionalen und somit aufgesetzt wirkenden Andante-Rahmen, bei dem jede Auflösung, als sollte es absichtlich genau gegen die Natur sein, einen besonders starken Akzent erhielt. Nichts desto Trotz kann man hier lernen, wie die nordische Fiedelmusik auch auf dem Klavier einen stattlichen Charakter und Fülle entfalten kann.

2Das Instrumentenmuseum Ringve von außen

Trondheim hieß die nächste Station musikalischer Erfahrung, Heimatstadt von Ludvig Mathias Lindeman (1812-1887), der jahrelang durch Norwegen reiste und Volksmelodien sammelte, welcher er fürs Klavier gesetzt in den Ældre og nyere norske Fjeldmelodier publizierte, die als wichtigste Volksmusikquelle auch für Edvard Grieg dienten. Etwas außerhalb der Stadt befindet sich das Ringve Museum, eine ehemalige Landvilla, die von den kinderlosen Besitzern, leidenschaftlichen Instrumentensammlern, als Erbe für die Gemeinschaft zum Musikinstrumentenmuseum umfunktioniert wurde. Hier steht alles auf Musik, schon bei der Ankunft wurden wir begrüßt von schwedischen Volksweisen auf der Geige, und auch zu Beginn der Führung im Herrenwohnsitz genossen wir zu Ehren der russischstämmigen früheren Besitzerin gespielten Rachmaninoff auf dem historischen Flügel. Im Museum selbst befindet sich ein kleiner Konzertsaal, in dem die Entwicklung des modernen Klaviers vom Clavichord bis zum Konzertflügel anhand jeweils zeitgenössischer Stücke wirkungsvoll demonstriert wurde. Auch eine Kostprobe von Hardingfele und Langeleik wurden gegeben, was immer wieder aufs Neue verzaubert. Hier gibt es die nordische Musikkultur noch zum Anfassen! Weiter geht die Führung in die faszinierende Sammlung unzähliger teils noch nie gesehener Instrumente. Der erste Raum ist bestückt mit paneuropäischen Instrumenten, einheimische Sammlerstücke stehen neben kontinentalen Raritäten, so zum Beispiel wunderschön erhaltene Klavierinstrumente und sogar ein Harfenklavier. Ein Zimmer weiter wird es interkontinental, afrikanische Rhythmusinstrumente und amerikanische elektronische Gerätschaften locken den Besucher an, sie einmal auszuprobieren: Highlight hierbei unbestritten das spielbereite Theremin, bei dem durch Annäherung an zwei Antennen Tonhöhe und Dynamik bestimmt werden können, allerdings entgegen der unmittelbar instinktiven Assoziation derart, dass die Lautstärke mit wachsender Entfernung zunimmt und das Gerät bei der Berührung verstummt. Eine kleine zweite Ausstellung widmet sich hauptsächlich der norwegischen Musik, hier sind besonders rare Sammlerstücke und auch Trachtenkleidung ausgestellt. Die Führer im Ringve, überwiegend ausgebildete oder in Ausbildung befindliche Musiker, sind sehr kompetent und gerade im direkten Gespräch sehr offen für Hintergrundinformationen zu einzelnen Ausstellungsstücken. Alle können sie ihr Instrument spielen und lassen aus einem normalen Museumsbesuch ein akustisches Erlebnis werden mit einer solchen Vielzahl an unerhörten Klängen, wie man sie sonst wohl nirgends so hautnah und live zu hören bekommen dürfte.

        3       4       Die Eismeerkathedrale und Tromsø nach Mitternacht

Nicht vergessen werden darf auch ein Konzert in der zum Wahrzeichen gewordenen Eismeerkathedrale in Tromsø. Touristen wird hier ein Mitternachtskonzert geboten. Mitternacht auf der anderen Seite des Polarkreises ist allerdings etwas vollkommen anderes als in Deutschland: Während es im Winter grundsätzlich dunkel ist, geht nun im Spätsommer die Sonne erst gegen Mitternacht unter, ein heller Schimmer am Horizont verschwindet die ganze Nacht lang jedoch nicht. Zwischen prachtvollen gläsernen Front- und Rückwänden bieten die Sopranistin Berit Norbakken Solset, der Cellist Georgy Ildeykin und der Pianist Robert Frantzen ein gemischtes Programm nordischer Musik, darunter teilweise Folklore, dar, wobei auch zentraleuropäische und sogar samisch-einheimische Elemente Einzug finden. Neben eher selten gehörten Werken des Grieg-Vorgängers Halfdan Kjerulf und des Zeitgenossen Johan Mahtte Skum stehen auch Klassiker wir Griegs Lied Jeg elsker dig (Ich liebe dich) und erneut Det var en gang auf dem Programm. Auch hier geraten gerade die volksnahen Stücke zu einem besonders stimmungsvollen Ereignis, Solset bezaubert durch glänzendes Einfühlungsvermögen in die bäuerliche Tradition und lässt ihre fast etwas chansonartig wirkende Stimme in der Höhe brillieren. Ihre Mitstreiter können sich angemessen einfügen und unterlegen die dominierende Stimme mit stets passender Begleitung. Robert Frantzen präsentiert auch ein eigenes Duo-Stück für seine kleine Tochter mit dem Cellisten, ein gelungenes Werk mit neoromantischem Gestus. Ein wenig enttäuschend sind auch hier wieder die bekannten Programmpunkte: Bachs Prélude aus der Suite für Violoncello Nr. 1 in G-Dur BWV 1007 gerät strukturlos, wobei routinemäßig stets auf der Takteins ritardiert wird, Jeg Elsker Dig erfährt auch standardisierte Verzögerungen und extreme mechanische Betonungen der Spitzentöne, und Det var en gang ist hier ein formloses Stück überschäumender und offensichtlich äußerlich prätendierter Emotion. Doch will man Unbekanntes entdecken, so sei dieses Konzert trotzdem nachdrücklich empfohlen, denn gerade erst bei den fast vergessenen Werken blühten die Musiker richtig auf, und derart werden Volksweisen, samische Joiks und Lieder vergessener Komponisten zu kleinen, brillanten Meisterwerken, die in ungewohnt guter Qualität und optisch atemberaubendem Umfeld noch mehr an Wirkung gewinnen.

5Die malerische Landschaft im Trollfjord

Schon sehr lange Zeit hat besonders die norwegische Musik mein Herz gewonnen; diese im positiven Sinne naive Haltung, die Naturverbundenheit, dieses Gefühl von Freiheit, aber auch von Melancholie und archaischen Uremotionen der Menschen, die diese Musik enthält wie sonst nichts mir Bekanntes, hat mich von Anfang an nicht unberührt lassen können. Dies alles zum Ausdruck zu bringen ist eine ungeahnt diffizile Aufgabe für jeden Musiker, und viele scheitern an der idiomatisch angemessenen Ausführung selbst der leichtesten Werke von Edvard Grieg und anderen nordischen Komponisten. Oft habe ich den Eindruck, als flösse zu viel Künstelei und Falschheit in diese so schlichte und natürliche Quelle unbelassener Energie ein, anstatt dass der Künstler sich öffnet für die subtile Unmittelbarkeit und grundlegende Natürlichkeit, die alles durchströmt. Vieles ist mir klar geworden alleine durch den Anblick der Fjordlandschaften: Welch ein unbeschreibliches Gefühl es ist, mit dem Schiff in den Trollfjord hineinzufahren und zu spüren, wie hoch sich um einen herum die Berge auftun, zu erfahren, wie märchenhaft und fast unwirklich diese Landschaften wirken und wie sehr man sich zuhause fühlen kann in dieser Fantasielandschaft, die eine mysteriöse Art von Geborgenheit vermittelt. Jeder Augenblick gibt etwas Neues, nie kann man ermüden: Einfach nur zu schauen und zu spüren, wie sich Landschaften verändern, unzählige Erhebungen und Inseln vorüberziehen oder plötzlich Tiere vorbeihuschen. Genau das ist das Gefühl, was auch in nordischer Musik in Töne gebannt ist und welches es heraufzubeschwören gilt – nicht mit Professionalität alleine ist dies zu machen, sondern nur mit einem offenen, neugierigen Geist.

[Oliver Fraenzke, September 2015]