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Roland Leistner-Mayer – eine Würdigung zu seinem 80. Geburtstag

Roland Leistner-Mayer, der am 20. Februar sein 80. Lebensjahr vollendet, kann mittlerweile auf ein Schaffen von 159 Opuszahlen zurückblicken, hinter denen sich Werke unterschiedlichster Gattungen und Besetzungen, von einminütigen Miniaturen für Soloinstrumente bis zur abendfüllenden Chorsymphonie, verbergen. So vielgestaltig dieses Gesamtwerk ist, eines bleibt in ihm immer konstant: die hohe Qualität der Kompositionen. Man kann sich ein beliebiges Stück Leistner-Mayers heraussuchen, und man wird auf ein Meisterwerk stoßen, auf eine mit echter Hingabe geschaffene Arbeit, in welcher der Komponist hinter jedem Ton steht, den er geschrieben hat. Kurz vor Eintritt in sein neuntes Lebensjahrzehnt hat Leistner-Mayer mit seinem Streichquartett Nr. 8 aufs schönste bestätigt, dass er zu den schätzenswertesten Tondichtern unserer Zeit gehört. Das Werk wurde am 27. Januar 2025 durch das Sojka-Quartett Pilsen im Jüdischen Gemeindezentrum Regensburg uraufgeführt und am folgenden Tag im Sudetendeutschen Haus in München ein zweites Mal gespielt. Dort hörte es der Komponist zum ersten Mal.

Roland Leistner-Mayer studierte in München bei Harald Genzmer und Günter Bialas, ohne dass einer dieser Lehrer einen nachhaltigen Einfluss auf ihn ausübte. Eine gewisse Nähe zu Bialas lässt sich in seinem Frühwerk wohl feststellen, doch wurde sein Kompositionsstil schließlich durch ganz andere Eindrücke entscheidend geprägt. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs im böhmischen Graslitz an der Grenze zu Sachsen geboren (heute Kraslice in Tschechien), hatte Leistner-Mayer die Heimat seiner Eltern bereits als Kleinkind verlassen müssen. Tschechien wurde für ihn zu einem Sehnsuchtsort, den zu bereisen ihm erst als Erwachsener möglich war. Er lernte die Musik Leoš Janáčeks kennen, die ihn mit elementarer Kraft in ihren Bann zog und seitdem nicht mehr losgelassen hat. „Wahrheit“ lautet das Wort, mit dem Leistner-Mayer auf die Frage antwortet, was ihm Janáček bedeute. Stets skeptisch gegenüber vorgefertigten Kompositionssystemen und der Idee, der Wert eines musikalischen Werkes lasse sich an seinem „Materialstand“ ablesen, fand Leistner-Mayer in Janáček den künstlerischen Rückhalt, der ihm den endgültigen Durchbruch zu seinem persönlichen Idiom ermöglichte.

Leistner-Mayers Musik lebt von der Einfachheit der tonalen Grundspannungen. Die Melodik basiert auf diatonischen Skalen, die aber selten reines Moll oder Dur sind und in der Regel durch modale Wendungen, häufig phrygische, angereichert werden. Von demonstrativer Handwerkskontrapunktik, hat Leistner-Mayer stets Abstand gehalten, dennoch ist er ein polyphon denkender Komponist, für den sich die Harmonik aus dem Aufeinandertreffen der Stimmen, nicht aus einem System von Akkordfunktionen, ergibt. Seine dissonanten Akkorde erhalten ihre Wucht dadurch, dass sich in ihnen lineare Bewegungen der Stimmen zum gleichzeitigen Erklingen zusammenballen. Der „eingefrorene Vorhalt“ ist fester Bestandteil seines Stiles. An eine Haupttonart fühlt sich Leistner-Mayer häufig nicht gebunden. Es gibt Stücke, die tonal zu ihrem Ausgangspunkt zurückfinden – so kann die Zweite Symphonie als Werk in as-Moll, das Zweite Streichtrio als in d-Moll stehend gelten –, doch meist wechselt das tonale Zentrum im Verlauf des Werkes. Diesen Prozessen hat Leistner-Mayer viel Aufmerksamkeit gewidmet und jedem seiner großen, zyklischen Werke diesbezüglich ein individuelles Erscheinungsbild gegeben. So wird etwa im Siebten Streichquartett eine gewisse Geschlossenheit erzielt, indem beide Ecksätze in Fis schließen. Das Werk beginnt allerdings in C. Eine weitere Spezialität Leistner-Mayers besteht darin, Tonarten anzudeuten, ohne dass sich die Musik entscheidet. Der Kopfsatz des Zweiten Streichquartetts schwankt zwischen G und Es, wobei sich im Es-Bereich Dur und Moll mischen. Zwar wird G anfangs von Es nach wenigen Takten verdrängt, doch schließt der Satz letztlich in G.

Die spezifische Art der Harmonik Leistner-Mayers lässt seine Musik einerseits fest, hart und entschlossen klingen, doch ist dem immer ein melancholischer Gegensatz beigemischt. Sehr deutlich zutage treten die zwei Seiten seines Wesens in dem Streichquartett Nr. 6, das aus Sieben untapferen Bagatellen besteht. In diesen kurzen Sätzen münden kraftvolle Klänge regelmäßig in Zweifel und Unentschiedenheit. Hier findet sich eine künstlerische Gestaltung des Scheiterns, wie sie nur ein großer Formkünstler unternehmen kann. Dass Leistner-Mayer im Übrigen die Kunst, ein Werk zum Ende hin energisch zu steigern, glänzend beherrscht, hat er in zahlreichen seiner Finalsätze eindrucksvoll bewiesen. Überhaupt ist er ein Meister des Allegros, wie sie heutzutage selten sind. Er schreibt Musik, die sich – in schnellen wie in langsamen Tempi und häufig unter Verwendung unregelmäßiger Metren und Rhythmen – tatsächlich bewegt und die immer eine nachvollziehbare Handlung besitzt. In diesem Sinne waltet in seinem Schaffen ein klassischer Geist.

Wie gesagt, umfasst Leistner-Mayers Schaffen Kompositionen zahlreicher Gattungen und Besetzungen. Mit seinen Werken für großes Orchester hat der Komponist weniger Erfolg gehabt als man angesichts ihres offenkundigen Wertes glauben möchte. Zwar existieren Rundfunkproduktionen seiner drei Symphonien, aber keines dieser Werke hat in den letzten 30 Jahren eine weitere Aufführung erlebt. Die Dirigenten und Konzertveranstalter, die diese Zeilen hier lesen, seien deshalb ausdrücklich auf Leistner-Mayers symphonisches Schaffen aufmerksam gemacht. Die ersten beiden Symphonien sind rein instrumentale Stücke von jeweils etwa 23 Minuten Spieldauer. Die Erste op. 14 (1975) besteht aus einem großen Satz, in welchem deklamatorische Themen mehrfach zu heftigen Ausbrüchen gesteigert werden. Die Zweite op. 31 (1984) ist zweisätzig. Nach einem forsch vorandrängenden Kopfsatz beginnt der zweite Satz zunächst langsam, lässt aber dann einen lebhaften Schlussteil folgen, der die Klänge des ersten Satzes aufgreift. Was die Behandlung des Orchesters betrifft, zieht Leistner-Mayer den schroffen Kontrast dem geschmeidigen Mischklang vor. Die Dritte Symphonie op. 81 (1994) kommt als Werk für Sopran- und Bariton-Solo, Chor und Orchester (mit einem prominenten Altsaxophon-Solo, geschrieben für den großen Saxophonisten John-Edward Kelly) einem Oratorium nahe. Auf einen Text Rudolf Mayer-Freiwaldaus komponiert, trägt sie den Titel Das weiße Requiem. Die Farbe weiß symbolisiert dabei die Sphäre der Seligen, mit deren Tanz – im Kontrast zum eröffnenden schwarzen Tanz des Todes – das achtsätzige Werk nach etwa 70 Minuten schließt. Die Vokalstimmen, die im Laufe der Handlung die Toten, die Diesseitigen, die Überirdischen, die Überlebenden und die Seligen verkörpern, sind durchweg präsent, dennoch ist der Stil der Komposition, ähnlich anderen großen Chorsymphonien wie Schostakowitschs Dreizehnter, Petterssons Zwölfter oder Eliassons Quo Vadis, mit denen Leistner-Mayers Werk die Gegenüberstellung nicht zu scheuen braucht, echt symphonisch. Es gibt übrigens mit der Musik für Kontrabass und Orchester op. 38 und dem Konzert für Flöte, Harfe und Streichorchester op. 137 zwei gewichtige Kompositionen Leistner-Mayers, die noch ihrer Uraufführung harren. Welche Musiker möchten sich die Ehre erwerben?

Am stärksten im Schaffen des Komponisten vertreten ist die Kammermusik. Die Vielfalt der Kombinationen, für die Leistner-Mayer geschrieben hat, ist kaum zu überblicken. So hat er mittlerweile acht Streichquartette, drei Streichtrios, ein Nonett für Bläser und Streicher, jeweils ein Quintett für Klavier, Gitarre, Klarinette und Streichquartett, ein Bläserquintett, ein Flötenquartett, ein Quartett für vier Hörner, verschiedene Trios für Klavier in Kombination mit Streichern und/oder Bläsern komponiert. Unter den Duos finden sich große Sonaten für Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass, Klarinette, jeweils mit Klavier. Dazu kommen unzählige kleinere Werke vom Solo bis zum Quartett. Eine gesonderte Gruppe stellen die bislang zehn Poeme dar, kleine Tondichtungen in freier Form für verschiedene Besetzungen. Mit Ausnahme von Nr. 10, die für Violine, Horn und Klavier geschrieben ist, handelt es sich um Duos. Im siebten und achten dieser Stücke ist das Hackbrett zu hören. Mit diesem Instrument verbindet Leistner-Mayer, der mit der Hackbrett-Virtuosin Heidi Ilgenfritz verheiratet ist, eine besondere Beziehung. Für seine Frau hat er eine ganze Hackbrett-Literatur verfasst: Solostücke, Duos für zwei Hackbretter, Kammermusik für ein, zwei oder vier Hackbretter mit anderen Instrumenten, sowie ein Konzert für Hackbrett und Streichorchester. Jedes dieser Werke beweist, dass das Hackbrett ein vollwertiges Konzertinstrument ist, dessen klangliches Potential in hochpoetischer Musik trefflich entfaltet werden kann.

Von zahlreichen kammermusikalisch oder kammerorchestral besetzten Werken Leistner-Mayers liegen CD-Aufnahmen vor, von denen die meisten beim Verlag Vogt & Fritz erschienen sind, der auch den Großteil seiner Partituren veröffentlicht hat. Sie sind entweder vom Verlag oder beim Komponisten selbst zu beziehen. In den vergangenen Jahren hat auch TYXart drei CDs mit Kammermusik Leistner-Mayers herausgebracht. Die erste ist ganz seinem Schaffen gewidmet und enthält die Streichquartette Nr. 5–7, gespielt vom Sojka-Quartett. Die beiden anderen kombinieren jeweils eines seiner Werke mit Stücken anderer Komponisten. So sind auf dem Album des Duos Maiss-You (Burkhard Maiss, Violine und Viola, und Ji-Yeoun You, Klavier) neben Leistner-Mayers Sonate für Viola und Klavier noch Violinsonaten von Béla Bartók (Nr. 2) und Leoš Janáček zu hören. Das Deutsche Streichtrio präsentiert als Streichtrios aus Böhmen Leistner-Mayers Streichtrio Nr. 3 gemeinsam mit dem Trio Nr. 2 von Bohuslav Martinů und stellt diesen beiden modernen Stücken Trios aus dem 18. Jahrhundert von Johann Baptist Vanhal und Vaclav Pichl gegenüber. Alle drei Alben sind nicht nur dazu geeignet, den Kompositionen Leistner-Mayers, sondern auch den anderen Werken Freunde hinzuzugewinnen, und können wärmstens empfohlen werden.

Wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag ist nun Leistner-Mayers jüngstes Werk in die Öffentlichkeit getreten, das Streichquartett Nr. 8 op. 159. Wie man aus einer Notiz des Komponisten im Programmheft der Münchner Aufführung vom 28. Januar erfahren konnte, nennt er es Das Wirbelquartett. Der Titel greift die Bemerkung eines ungenannten Komponistenkollegen auf, der meinte, im Finalsatz des Werkes würden die Taktarten „ganz schön durcheinander wirbeln“, denn jeder Takt steht in einer anderen. Mit etwa 35 Minuten Spieldauer ist das viersätzige Werk nicht nur das bislang umfangreichste Streichquartett Leistner-Mayers, sondern auch eines seiner ausgedehntesten zyklischen Werke überhaupt. (Die meisten sonatenartigen Stücke des Komponisten dauern zwischen 15 und 30 Minuten. Die Dritte Symphonie ist eine Ausnahme.) Der äußeren Ausdehnung entspricht das innere Gewicht des Quartetts. Der erste Satz ist ein unruhiges, nervös gespanntes Stück, das ständig zwischen langsamen und raschen Tempi hin und her wechselt. Ihm schließt sich ein Scherzo feurig-tänzerischen Charakters an. Der langsame Satz schlägt in der Stimmung die Brücke zum den Kopfsatz. Ungefähr die Mitte zwischen einer Elegie und einem Trauermarsch haltend, steigert er sich zu einem machtvollen Höhepunkt und verklingt schließlich still. Das bereits erwähnte „Wirbel“-Finale bildet den Abschluss: ein energisch voran stürmender Satz, der Leistner-Mayers Fähigkeit, auch bei ständig wechselnden Takten die Musik in Fluss und Schwung zu halten, das beste Zeugnis ausstellt. Dem Sojka-Quartett (Martin Kos, Martin Kaplan, Tomáš Hanousek und Hana Vítková), das in dem zuvor gespielten Beethoven-Quartett op. 18/4 etwas schwächelte, namentlich im zu rasch genommenen Finale, gelang in diesem Werk eine Darbietung, die von den Qualitäten der Komposition vollends überzeugen konnte. Ist es vermessen zu hoffen, dass auch dieses neueste Streichquartett von Roland Leistner-Mayer bald in einer angemessenen Wiedergabe den Weg auf den Tonträger finden möge? Quartett-Ensembles, die nach guter zeitgenössischer Musik für ihre Konzerte suchen, sollten jedenfalls nicht an ihm vorüber gehen. Erschienen ist es bei edition 49, über welchen Verlag mittlerweile auch die bei Vogt & Fritz publizierten Werke zu beziehen sind.

Dem Komponisten sei zu seinem bald anstehenden 80. Geburtstag gewünscht, dass ihm seine kräftig fließende Inspiration möglichst lange erhalten bleibe, auf dass er der stattlichen Reihe seiner Werke noch zahlreiche Meisterstücke hinzufügen kann. Seine Musik, die sich nie der Mode gebeugt hat und Ausdruck einer leidenschaftlichen, empfindsamen Seele ist, wird schwerlich veralten können und – die Prognose möchte ich wagen – in ferner Zukunft noch so frisch und unverbraucht dastehen wie heute die Musik seines Vorbilds Janáček. Die Musiker brauchen nur hineinzugreifen in diese Fülle.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2025]

Zum 150. Geburtstag von Erkki Melartin und Walter Courvoisier

Wie neulich schon im Zusammenhang mit Emil Mattiesen erwähnt, fallen in das laufende Jahr die 150. Geburtstage einer Vielzahl hervorragender Komponisten. Gleich zwei sind am 7. Februar 1875 zur Welt gekommen: der Finne Erkki Melartin und der Schweizer Walter Courvoisier.

Erkki Melartin (1875–1937)

Erkki Melartin, um 1900

Die Rezeption Erkki Melartins zeigt beispielhaft, dass man ein hochbegabter Künstler sein und dennoch aufgrund einer ungünstigen historischen Konstellation ins Hintertreffen geraten kann. Nicht dass Melartins Karriere erfolglos verlaufen wäre – ganz im Gegenteil: Er war eine feste Größe im finnischen Musikleben seiner Zeit, seine Werke wurden regelmäßig gespielt, er genoss Ansehen als Dirigent und Pädagoge und leitete von 1911 an 25 Jahre lang, bis kurz vor seinem Tod, das Konservatorium in Helsinki. Dennoch stand Melartin stets im Schatten des ein knappes Jahrzehnt älteren Jean Sibelius, der zu dem Zeitpunkt, als der jüngere Kollege sich in seiner Heimat zu etablieren begann, gerade im Begriff stand, Weltruhm zu erwerben und in Finnland zur nationalen Identifikationsfigur aufzusteigen. Melartin hat die Stellung des älteren durchaus akzeptiert. Sein eigenes Schaffen zeugt davon, dass auch er zu Sibelius aufsah: Ausladende Melodiebögen mit modalen Wendungen, markante Rhythmen in flüssiger Diktion, dazu die „nordischen“ Lichteffekte in der Instrumentation – jene typisch sibelianischen Stilelemente finden sich auch in Melartins Musik. Er war einer der ersten finnischen Komponisten, die durch die Pflege jener Stilmerkmale dazu beitrugen, dass der Sibeliussche Personalstil zum Inbegriff des „Finnischen“ in der Musik wurde. Damit war zugleich die Rangfrage hinsichtlich des öffentlichen Ansehens geklärt.

Es wäre allerdings grundfalsch, Melartin als einen bloßen Sibelius-Epigonen abzutun. Dazu finden sich in seinem Schaffen zu viele Elemente, die bei Sibelius kein Gegenstück haben. Anhand der sechs Symphonien Melartins zeigt sich exemplarisch, wie unterschiedlich sich beide Komponisten bei ähnlicher Ausgangslage entwickelt haben. Für Sibelius wird die Arbeit mit fest umrissenen Themen immer unwichtiger. Die thematischen Konturen lösen sich immer mehr in Bewegung auf, mit ihnen der klassisch-akademische Tonsatz und die überkommenen Sonatenformen. Dass Kopfsatz und Finale seiner Ersten Symphonie mit dem gleichen Thema beginnen, ist bereits der größte Tribut, den Sibelius dem Konzept der zyklischen Thematik in der Symphonik je erstattet hat. Für Melartin ist diese Idee, die namentlich auf Franz Liszt und César Franck zurückgeht, stets wichtig geblieben. In dieser Hinsicht war er gerade kein Sibelius-Nachfolger. In seinen Symphonien verliert die thematische Arbeit nie ihren Stellenwert. Auch begegnen wir Themen, die sich als Leitgedanken durch mehrere Sätze eines Werkes ziehen. Auf die Idee, das Finale einer Symphonie als Quadrupelfuge zu gestalten, wie es Melartin in seiner Fünften tut, wäre Sibelius gleichfalls nie gekommen. Ein gewisser Einfluss Gustav Mahlers, dessen Musik Melartin 1909 als erster in Finnland zu Gehör brachte, zeigt sich in einer Vorliebe für marschartige Themen und Blechbläsersignale. In Melartin deswegen eine Art „finnischen Mahler“ sehen zu wollen, wäre allerdings verfehlt. Melartins Symphonien sind mit ihren Spieldauern zwischen 26 und 45 Minuten viel kürzer als jede Symphonie Mahlers. Als Musik, die „wie die Welt“ alles umfassen soll, sind sie gleichfalls nicht gedacht.

Melartin begann mit zwei knappen, weniger als halbstündigen Symphonien in c-Moll (1902) und e-Moll (1904), die er offenbar als Werkpaar betrachtete und unter der gemeinsamen Opuszahl 30 zusammenfasste. Ihnen folgten die deutlich längeren, rund dreiviertelstündigen Symphonien Nr. 3 F-Dur op. 40 (1907) und Nr. 4 E-Dur op. 80 (1912). Hebt sich die Dritte durch ein langsames Finale von den übrigen ab, so wartet die Vierte, die den Beinamen Sommer-Symphonie trägt, mit drei wortlosen Frauenstimmen im langsamen Satz auf. Melartin hat seine 1916 vollendete Fünfte Symphonie op. 90 Sinfonia brevis genannt. Allerdings ist dieses Werk, in dessen Kopfsatz sich ein „sibelianisches“ und ein „mahlerisches“ Thema schroff gegenüberstehen, nicht viel kürzer als die beiden vorangegangenen Symphonien und länger als die ersten beiden. Möglicherweise ist das „brevis“ als programmatische Abkehr von der spätromantischen Opulenz zu sehen. Die originellste Symphonie Melartins ist zweifellos die 1924 komponierte Sechste op. 100. Die vier Sätze dieses Werkes sind von den vier Elementen inspiriert und setzen Erde, Wasser, Luft und Feuer in Musik. Verglichen mit den früheren Symphonien gibt es hier keine einheitsstiftende Haupttonart. Das Werk beginnt in c-Moll und endet in Es-Dur. In der Instrumentation herrschen dunkle Farben vor, besonderes Gewicht kommt den Blechbläsern zu, wodurch die Härten der Harmonik noch hervorgehoben werden. Beschließt Sibelius zur gleichen Zeit die Reihe seiner Symphonien in apollinischer Heiterkeit, so entwickelt sich Melartin am Ende seines Weges als Symphoniker zum Expressionisten. Wohin dieser Weg Melartin in seiner Siebten, Achten und Neunten Symphonie geführt hätte, lässt sich leider kaum sagen. Der Komponist hatte für diese Werke bereits Opusnummern reserviert, schaffte es aber nur noch, einen Entwurf zum Kopfsatz der Siebten Symphonie zu beenden. Alles übrige blieb im Stadium unterschiedlich weit gediehener Skizzen.

Dass Melartin aus dem Schatten von Sibelius nicht herauskam, liegt nicht zuletzt an der Tatsache, dass er wesentlich weniger Glück mit Verlegern hatte. So blieben, mit Ausnahme der Sechsten, alle seine Symphonien zu Lebzeiten ungedruckt. Lange standen für Aufführungen nur schlechte Kopien der Manuskripte zur Verfügung. Die Dritte Symphonie musste es sich gefallen lassen, jahrzehntelang nur in zusammengestrichener Gestalt zu erklingen. Erst Anfang des 21. Jahrhunderts wurden im Auftrag der Erkki-Melartin-Gesellschaft die Manuskripte des Komponisten gesichtet und kritische Editionen aller Symphonien erstellt. Die Partituren dieser und weiterer Werke können auf der Seite der Gesellschaft angesehen werden.

Die Symphonien Melartins sind wohl der bedeutendste, aber zahlenmäßig nur ein kleiner Teil eines riesigen Gesamtwerks, das weit über 500 Einzeltitel in nahezu allen Gattungen umfasst. So schrieb Melartin außerdem die Oper Aino, das Ballett Die blaue Perle, Bühnenmusiken, vier Streichquartette und weitere Kammermusikwerke für verschiedene Besetzungen, zahlreiche Klavierstücke und Chorwerke. Besonders geschätzt wird sein reiches Liedschaffen, in welchem sich Vertonungen finnischer, schwedischer, deutscher und französischer Texte finden.

Walter Courvoisier (1875–1931)

Starb Erkki Melartin, der zeitlebens unter einer schwachen Gesundheit litt, bereits eine Woche nach seinem 62. Geburtstag, so erreichte der ebenfalls am 7. Februar 1875 geborene Walter Courvoisier nicht einmal dieses Alter: Im Dezember 1931 fiel er mit 56 Jahren der Tuberkulose zum Opfer.

Walter Courvoisier, um 1929

Courvoisiers Lebensweg begann und endete in der Schweiz, zum Hauptwirkungsort wurde ihm aber München, wo er schließlich zum angesehensten Musikpädagogen Süddeutschlands aufstieg. Eine musikalische Karriere war Courvoisier nicht vorgezeichnet. Als Sohn eines Chirurgen wurde von ihm erwartet, die väterliche Tradition fortzusetzen. So studierte er Medizin, wurde mit einer Arbeit über Prostatakrebs zum Dr. med. promoviert und praktizierte kurze Zeit als Assistent seines Vaters in der Basler Chirurgie. In seiner Freizeit beschäftigte er sich autodidaktisch mit Komposition und hatte bereits größere Kammermusikwerke komponiert, als er sich entschloss, dem Rat des bedeutenden Basler Komponisten Hans Huber zu folgen und ein geregeltes Musikstudium aufzunehmen. Courvoisier erbat sich eine Auszeit vom medizinischen Dienst, ging nach München, um bei Ludwig Thuille zu studieren – und kehrte nie zum Arztberuf zurück. In München wurde Courvoisier bald zu Thuilles Lieblingsschüler und wuchs wie von selbst in die Rolle seines Nachfolgers hinein, als der er sich nach dem frühen Tod des Lehrers glänzend bewährte. Unter seinen Schülern finden sich illustre Namen wie Dora Pejačević, Max Butting, Roberto Gerhard, Paul Ben-Haim, Willy Burkhard, Hermann Reutter und Heinrich Sutermeister.

Courvoisier war ein sehr selbstkritischer Komponist, der in späteren Jahren bedauerte, einige seiner Frühwerke in den Druck gegeben zu haben. Auch zog er das einzige größere Orchesterwerk, das er einer Opuszahl würdig befand, den Symphonischen Prolog zu Carl Spittelers Olympischer Frühling, letztlich zurück. In seinem Nachlass finden sich mehrere aufführungsfertige Werke, die einmal ihren Platz in der offiziellen Liste seiner Kompositionen hatten, dann aber durch andere Stücke ersetzt wurden. Dieser Selbstkritik ist es wohl auch zuzuschreiben, dass Courvoisier große Formen in der Instrumentalmusik weitestgehend mied. Es gibt keine Symphonie von ihm, und aus seiner Reifezeit kein mehrsätziges, sonatenförmiges Kammermusikwerk. Zum Schwerpunkt seines Schaffens wurde die Liedkomposition. Auf diesem Gebiet, das letztlich auf über 200 Einzelstücke anwuchs, ist Courvoisier einer der Großen seiner Zeit gewesen. Seine Lieder leben von der Ausgewogenheit zwischen feiner Ausdeutung des Textes und formstrenger musikalischer Gestaltung. Der Klaviersatz ist motivisch dicht gearbeitet und verrät den meisterhaften Kontrapunktiker. Die Möglichkeiten der nachwagnerischen, spätromantischen Harmonik setzt Courvoisier sehr gezielt ein, um Textworte hervorzuheben oder formale Eckpunkte zu kennzeichnen. Ein Schwelgen um des Schwelgens willen ist ihm ebenso fremd wie stimmliche Virtuosität als Selbstzweck. Den Gipfel seiner Liedkunst markieren wohl die geistlichen Lieder op. 27 und 29, in denen er seine Harmonik mit archaisierenden, modalen Wendungen anreichert und dadurch zu besonders innigem, leidenschaftlichem Ausdruck gelangt. Gerade die als Gebet angelegten Stücke sind von einer Intensität, der man sich schwerlich entziehen kann. Die Lieder sind für Klavierbegleitung geschrieben, eignen sich aber auch für den Vortrag mit Orgel, etwa in kirchlichen Konzerten, wunderbar.

Die Instrumentalmusik Courvoisiers besteht im wesentlichen aus zwei Gattungen: Variationen für Klavier und Suiten für Solostreichinstrumente. Auf beiden Gebieten zeigt sich der Komponist als ein Künstler, der die knapp bemessenen musikalischen Räume der jeweiligen Sätze aufs Reichste auszugestalten vermag. Gerade die sechs Suiten für Violine op. 31 und die zwei Suiten für Violoncello [op. 32] sollte sich kein Violin- oder Cellospieler, der nach wertvollem Solorepertoire sucht, entgehen lassen. Nur Achtungserfolge konnte Courvoisier mit seinen Opern erringen, dem Musikdrama Lanzelot und Elaine und dem Lustspiel Die Krähen, denen sich noch eine nie aufgeführte Eichendorff-Vertonung Der Sünde Zauberei anschloss. Vielleicht könnte man sie einmal konzertant probieren, schlechte Musik enthalten sie gewiss nicht. Unbedingt in die Konzertsäle zurückgeholt werden sollte allerdings Courvoisiers Hauptwerk, die abendfüllende Kantate Auferstehung, eine Gedenkkomposition für die Opfer des Ersten Weltkriegs, die mit der Stimme eines einsamen Rufers beginnt („O Tod, wie bitter bist du“) und mit einer gewaltigen Doppelfuge endet.

[Norbert Florian Schuck, Februar 2025]

Der Liedermeister Emil Mattiesen – ein Beitrag zu seinem 150. Geburtstag

1875 war ein exzellenter Komponisten-Jahrgang, weswegen wir 2025 die 150. Geburtstage einer ganzen Reihe hervorragender Tondichter feiern dürfen. Der Ehrentag Reinhold Gliéres (11. Januar) liegt bereits hinter uns. In den nächsten Monaten stehen – die Liste ist unvollständig, ich bitte um Ergänzung in der Kommentarspalte – folgende an:

Erkki Melartin und Walter Courvoisier (7. Februar)

Richard Wetz (26. Februar)

Maurice Ravel (7. März)

Franco Alfano (8. März)

Donald Tovey (17. Juli)

Samuel Coleridge-Taylor (15. August)

Paul Scheinpflug (10. September)

Mikalojus Ciurlionis (22. September)

Cyril Rootham (5. Oktober)

Emil Mattiesen (1875-1939)

Auch der heutige Tag kennt einen Jubilar: Emil Mattiesen. Mattiesen gehört zu jenen Komponisten, auf welche die Redakteure der zweiten Auflage des Lexikons Die Musik in Geschichte und Gegenwart meinten verzichten zu können. So strichen sie den ihm in der ersten Auflage gewidmeten Artikel ersatzlos. Das Ansehen, das der Komponist Mattiesen zu Lebzeiten und noch einige Zeit nach seinem 1939 erfolgten Tode genoss, war jedoch größer als es die Einschätzung jener Musikhistoriker vermuten lässt. Auf einem ganz anders gearteten Gebiet ist Emil Mattiesen allerdings ein klassischer Autor: Seine Bücher Der jenseitige Mensch (1925) und Das persönliche Überleben des Todes (3 Bände, 1936–1939) sind bis heute die umfangreichsten deutschsprachigen Veröffentlichungen zur Parapsychologie geblieben.

Mattiesen war ein vielseitig interessierter Mann. Am 23. Januar (nach dem damals im Russischen Reich noch gebräuchlichen Julianischen Kalender am 11. Januar) 1875 in Dorpat geboren, wuchs er im intellektuell anregenden Klima dieser bedeutendsten baltischen Universitätsstadt auf, die auch heute noch, unter dem Namen Tartu, das wichtigste Bildungszentrum Estlands ist. Von Anfang an standen Musik, Philosophie und Naturwissenschaften gleichermaßen im Zentrum seines Interesses. Sein wichtigster Musiklehrer war Hans Harthan, ein Schüler Joseph Gabriel Rheinbergers. Mit 17 Jahren legte Mattiesen das Abitur ab und studierte anschließend in Dorpat und Leipzig. 1896 wurde er in Leipzig mit einer Arbeit Über philosophische Kritik bei Locke und Berkeley zum Doktor der Philosophie promoviert. Nach einem kurzen Intermezzo als Redakteur bei der Nordlivländischen Zeitung in Dorpat, heuerte er 1898 als Matrose auf einem Segelschiff an, das ihn nach Java, Sumatra, Borneo und China brachte. 1899 kam er nach Japan, wo er Vorlesungen an der Deutschen Universität in Kyoto hielt. Bereits 1900 setzte er seine Reisen fort und besuchte die Vereinigten Staaten, Mexiko, Indien, Myanmar und Tibet. Er lernte mehrere asiatische Sprachen und betrieb Forschungen zu indischen Religionen. 1904 ließ er sich in England nieder und lebte bis 1908 als Privatgelehrter in Cambridge. Anschließend zog er nach Deutschland und nahm in Berlin seinen Wohnsitz. Erst ab dieser Zeit trat seine musikalische Tätigkeit gegenüber der wissenschaftlichen stärker in den Vordergrund. Nachdem er von 1922 bis 1925 in Fürstenfeldbruck bei München gelebt hatte, fand er in Gehlsdorf, heute Ortsteil von Rostock, seine endgültige Bleibe. 1929 nahm er einen Lehrauftrag für Kirchenmusik an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock an und bekleidete somit im Alter von 54 Jahren erstmals in seinem Leben ein musikalisches Amt. Daneben war er auch als Universitätsorganist und Leiter der akademischen Musiken, sowie als Musikkritiker beim Rostocker Anzeiger tätig. In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte er sich vorwiegend mit Parapsychologie und versuchte durch Zusammentragen zahlreicher Fälle das Weiterleben der Seele nach dem Tode empirisch zu beweisen. Emil Mattiesen starb am 25. September 1939 an Leukämie.

Als Komponist war Mattiesen ein ausgesprochener Spezialist. Sein veröffentlichtes Schaffen umfasst ausschließlich Werke für Gesang und Klavier. Dazu kommen laut MGG1 ein Streichquartett, mehrere Chorwerke, Orgelstücke und Bühnenmusik zu Ernst Barlachs Schauspiel Sintflut, die aber sämtlich ungedruckt blieben. Es folgt eine Übersicht über die veröffentlichten Werke, die alle im Verlag C. F. Peters erschienen, zu dessen Inhaber Henri Hinrichsen der Komponist auch privat in freundschaftlicher Verbindung stand:

  • Fünf Balladen vom Tode für Singstimme (vorzugsweise Bariton oder Mezzosopran) und Klavier op. 1 (1910)
  • Zwölf Gedichte für Singstimme und Klavier op. 2 (Heft I, Nr. 1–6: mittel und hoch; Heft II, Nr. 7–12: tief) (1913)
  • Acht Lieder und Gesänge für Singstimme und Klavier op. 3 (Heft I, Nr. 1–4: mittel und hoch; Heft II, Nr. 5–8: mittel und tief)
  • Willkommen und Abschied nach Johann Wolfgang von Goethe für Tenor und Klavier op. 4
  • Künstler-Andachten, Heft I (Nr. 1–4) für hohe und mittlere Singstimme und Klavier op. 5 (1920)
  • Künstler-Andachten, Heft II (Nr. 5–8) für mittlere und tiefe Singstimme und Klavier op. 6 (1920)
  • Vier heitere Lieder für hohe und mittlere Singstimme und Klavier op. 7
  • Sieben Gesänge nach Gedichten von Ricarda Huch für Singstimme und Klavier op. 8 (Heft I, Nr. 1–3: hoch; Heft II, Nr. 4–7: mittel und tief) (1920)
  • Zwölf Liebeslieder des Hafis in Georg Friedrich Daumers Nachdichtung für Singstimme und Klavier op. 9 (1920)
  • Balladen von der Liebe für Singstimme und Klavier op. 10 (1920)
  • Stille Lieder, Heft I op. 11 (1922)
  • Stille Lieder, Heft II op. 12 (1922)
  • Zwiegesänge zur Nacht für eine weibliche und eine männliche Mittelstimme mit Klavierbegleitung op. 13 (1925)
  • Vom Schmerz. Fünf Gedichte für Singstimme und Klavier op. 14 (1930)
  • Überwindungen. Sieben Gedichte für Singstimme und Klavier op. 15
  • Der Pilger. Ein Lieder-Zyklus für Singstimme und Klavier op. 16 (1928)
  • Acht zärtliche Lieder für Singstimme und Klavier op. 17 (1927)

Die Konzentration auf Lieder und Gesänge erinnert nicht von ungefähr an Hugo Wolf, mit dessen Schaffen Mattiesen durch den Wiener Liedkomponisten Theodor Streicher bekannt gemacht wurde. Sowohl hinsichtlich der genauen Deklamation des Textes, als auch im Bezug auf den motivisch durchdrungenen Klaviersatz und die postwagnerische Harmonik hat Wolf bei Mattiesen deutliche Spuren hinterlassen. Sein Debüt mit einer Balladensammlung brachte Mattiesen das Etikett eines ausschließlichen Balladenkomponisten ein, doch fallen nur zwei weitere seiner Veröffentlichungen (op. 4 und op. 10) in dieses Spezialgebiet der Liedkunst. Dennoch hat Mattiesens „reiche Lyrik“, so Hans Joachim Moser in seinem Standartwerk Das Deutsche Lied seit Mozart, „zweierlei von der Ballade gelernt und übernommen: die Freude am Illustrativen und die wirksamen Schlüsse, was beides der Wirkung seiner Lieder im Konzertsaal gewiß nicht abträglich war.“ Mattiesens Liedschaffen bietet eine Vielfalt an Stilen, Stimmungen und Formen. Altertümelndes, wie der sich in barockisierendem Kontrapunkt und bachischer Singstimmenführung ergehende Fröhliche Musikus (op. 7/2), steht neben schwelgerischer Jugendstilromantik (Nachtlied, op. 2/7) und kargen, konzentrierten Stücken, deren raue, dissonante Tonsprache bereits als expressionistisch bezeichnet werden kann (Herbstgefühl, op. 14/4). „[D]erselbe ernste Denker, der in op. 15 das Über ein Grab und Rückerts Stirb und Werde vertont hat, verfügte über drastische Komik im Huhn und Karpfen und bei Storms Von Katzen; sonnigen Humor beweisen die Vertonungen von G[ottfried] Kellers Berliner Pfingsten und von Mörikes Jedem das Seine […]“ (Moser). Kritisiert wurde mitunter Mattiesens Klaviersatz, der gerade in den Frühwerken durch quasi-orchestrale Klangfülle die Pianisten vor große Herausforderungen stellt. Allerdings macht sich in späteren Gesängen eine „wachsende Verfeinerung“ (Moser) in der Behandlung des Klaviers bemerkbar. Die Gesänge op. 17 zeichnen sich durch eine „Rückkehr zur Schlichtheit der Mittel“ (Dieter Härtwig, MGG1) aus.

Mattiesen geriet keineswegs mit seinem Tode in Vergessenheit. Noch Jahrzehnte später führten namhafte Sänger einzelne seiner Lieder im Repertoire. So existieren Aufnahmen Mattiesenscher Gesänge durch Richard Bonelli, Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Kurt Moll und Harald Stamm (zwei Duette aus op. 13) sowie Ulf Bästlein. Es lässt sich freilich nicht leugnen, dass Mattiesen von der Wiederentdeckungswelle, von welcher zahlreiche vernachlässigte Komponisten gerade des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts profitierten, bislang kaum erfasst wurde. Der Grund ist weniger in der Qualität seiner Werke als in seiner Konzentration auf das Klavierlied zu sehen, lag der Schwerpunkt der Wiederentdeckungen in unseren Tagen doch vor allem auf symphonischer und Kammermusik. Eine ganz Emil Mattiesen gewidmete Tonträgeredition ist im Jahr seines 150. Jubiläums immer noch Desiderat. So sei also unseren Sängerinnen und Sängern dieses reiche Liedschaffen herzlich empfohlen. Sie werden darin manches Juwel zu Tage fördern können.

[Norbert Florian Schuck, Januar 2025]

Feuer ohne Rauch, Rauch ohne Feuer

Der Rezensent möchte um Nachsicht dafür bitten, dass in diesem Text weder Orchester, noch Dirigent, beide sehr bekannt, noch Ort und Zeit des Konzerts beim Namen genannt werden können, denn das Konzert war auf eine sehr grundsätzliche, beispielhafte, besondere und eigenartige Weise unmusikalisch, und Namen spielen für diese Betrachtung am Ende keine Rolle; Spekulationen hierüber sind müßig, denn sie gehen am Kern der Sache vorbei. Und vielleicht können die richtigen Worte dafür auch gar nicht gefunden werden. Diese Zeilen sind also ein Versuch.

Unmusikalität ist schwer zu greifen. Im Konzert waren Symphonien aus der Wiener Klassik zu hören, und das Orchester hat individuell und als Kollektiv das informiert-gängige Alphabet der Effekte und Artikulationen tief verinnerlicht. In diesem Fall ging das so weit, dass jeder Moment von jedem Orchestermitglied als Effekt perfekt, und innerhalb der Gruppen äußerst präzise artikuliert wurde.

Diese Art des Abspielens von formelhaften Elementen kann zu verschiedenen Resultaten führen, jedenfalls ist sie keine Garantie für das Entstehen von Musik. Kommt dazu eine, wie in diesem Fall eine fast als Monstranz präsentierte „So spielt man das“-Überzeugung hinzu, so ist die Gefahr groß, dass das Mittel der informierten Artikulation bereits der Endzweck ist, zumal wenn der ernste Eifer der einzelnen Musizierenden deren Sinn für die Gesamtheit der klanglichen Erscheinung übersteigt, was zu Momenten unfreiwilliger Komik führte.

Diese amüsanten Nebenerscheinungen beiseite gelassen, lebt Musik aber doch vom Zusammenhang. Effekte und Floskeln, ebenso Musizierende eines Orchesters oder Ensembles sind aber zunächst nur Einzelerscheinungen, die sich erst miteinander verbinden müssen, um als musikalische Einheit erscheinen und wahrgenommen werden zu können und nicht als Augenblicksmanierismen zu verfliegen. Verbleiben Artikulationen aber als bloße Effekte, so ist die entstehende Einheit keine musikalische, sondern nur Darstellung von Gewusstem und Erlerntem, ein Zusammenhang entsteht nicht.

Würde diese Spielhaltung zu einer Musizierhaltung führen, wäre es etwas anderes, so aber, letzten Endes als Imitation des Einstudierten, führt eine daraus resultierende Klanghomogenität nicht zu musikalischer Homogenität oder gar zu musikalischem Zusammenhang.

Der musikalische ist hier durch den instrumental-rhetorischen Akt abgelöst, der der Musik, jede mögliche musikalisch erlebbare Perspektive ersetzend, keine Chance zum Atmen lässt. Es klingt spontan, ist es aber nicht, denn Spontaneität setzt vor allem eine gewisse Freiheit des Musiziermoments voraus, und diese notwendige Freiheit kann weder imitiert noch aus dieser Art von Einstudiertheit entstehen, da sie sich nur perfekt vorgetragenen Floskeln orientiert.

In jedem Moment geschieht dann etwas Interessantes um seiner selbst Willen, aber es verbindet sich nicht zu einem musikalischen Ganzen, jedes noch so brillant artikulierte Detail steht allein für sich und ist im nächsten Moment sofort vergessen, annulliert durch die nächste Interessantheit, symphonische Leere verkleidet als Inspiration.

Die Bedingungen, unter denen Musik entsteht, sind nicht einfach zu definieren, meist hören und spüren wir eher, wenn keine Musik entsteht. Man kann vielleicht beobachten, dass Musik in Gegenwärtigkeiten von einer gewissen Dauer erscheint, tönende Erscheinungen, die sich zu einer erlebbaren Gegenwart verbinden; so wird dann aus dem Präsens der singulären Erscheinung musikalische Präsenz von einer gewissen Dauer. Nicht aber hier, wo es nur auf den Tupfer für die Dauer eines Wimpernschlags ankommt.

Musikalischer Geist bleibt hier abwesend, und so demaskiert sich der Auftritt von Dirigent und Orchester zum Tod jeder Kunst, zu Selbstkopie und leerer Pose, die mit stärkster Einbildung, das Richtige zu tun, musikalisch vollkommen scheitert.

Das böse Wort der dem klassischen Musikbetrieb gerne – allerdings weitgehend grundlos – vorgeworfenen sozialen Selbstvergewisserung (die es schließlich in jedem soziokulturellen Geschehen gibt, im Theater, in der Oper, bei allen anderen Konzerten jeden Genres, und was anderes ist denn das Rauschen der Masse in einem Fussballstadion!) kommt hier tatsächlich aufgrund der nicht stattfindenden Musik zum Vorschein, obwohl sie eigentlich ein ganz unwichtiges Nebenprodukt eines Konzerts ist: das Publikum vergewissert sich seiner selbst am Bühnengeschehen, das Orchester am Dirigenten, und der Dirigent am Orchester, und alle an sich selbst. Mehr war nicht drin.

So funktioniert dann aber das Missverständnis der Elitisierung der klassischen Musik: hier wird Gegenwärtigkeit durch Interessantheit und intellektuelles Dazugehören nur vorgegeben, und die Idee des Konzerts vollkommen missverstanden.

Es bleibt davon gar nichts, und der fast greifbare Brustton der eigenen Überzeugung des Orchesters und das routinierte Posieren des Dirigenten klingen nirgendwohin fort und mutieren zur künstlerischen Farce. In die Jahre gekommen sind sie, die Musikerinnen und Musiker des Orchesters, und die falsche Frische kündet nur von der Vergangenheit.

Ästhetisierung einer Spielweise ist noch lange keine musikalische Spielkultur. Sollte es eine Krise in der Musik geben, wovon der Rezensent keineswegs überzeugt ist, so ist dies hier sicherlich nicht der Ausweg. Kunst ist schon Vermittlung, schreibt Goethe, aber er meinte damit: Kunst.

Analytische Beiträge zu Felix Mendelssohn Bartholdys „Ouvertüre für Harmoniemusik“ und „Trompeten-Ouvertüre“

Die folgenden Beschreibungen der beiden frühen Ouvertüren Mendelssohns verdanken sich Arbeiten zu einem Buchprojekt über den Komponisten, dessen Veröffentlichung am Ende nicht zustande kam. Die erneute Durchsicht der Analysen (Jahre nach der Fertigstellung) ließ beim Autor den Wunsch entstehen, die Beiträge gleichsam nachträglich zu publizieren. Norbert Florian Schuck, dem Redakteur von The New Listener, sei daher dafür gedankt, den vorliegenden Text aufgenommen zu haben.

Dr. Kai Marius Schabram, Münster

Ouvertüre für Harmoniemusik (Militair Ouverture) C-Dur op. 24 („Nocturno“), MWV P 1

Die Entstehungshintergründe der Ouvertüre reichen zurück bis in den Sommer 1824, in dem Mendelssohn zusammen mit seinem Vater für etwa einen Monat in dem Kurort Bad Doberan in der Nähe von Rostock weilte. Offenbar wirkte die hier aufgeführte Harmoniemusik der Mecklenburgischen Hofkapelle inspirierend auf den jungen Felix, der sich noch vor Ort an den Entwurf eines „Nocturno“ machte. Die Uraufführung des Stücks erfolgte wohl noch in Bad Doberan durch das Kurorchester. Die ursprüngliche Partitur des „Nocturno“ ist verschollen. Mendelssohn sollte die Ouvertüre zwei Jahre später erneut in Angriff nehmen und überarbeiten – das Autograph datiert vom 27. Juni 1826. Die letzte Fassung des Werks stammt aus dem Jahre 1838. Mendelssohn erweiterte den Orchesterapparat dabei wesentlich und ergänzte ihn um mehrere Holz- (Kontrafagott, zwei Bassetthörner, Klarinettenpaar, Piccoloflöte) und Blechbläser (drei Posaunen, Trompete, Hornpaar) sowie um ein Schlagwerk (kl. + gr. Trommel, Becken, Triangel). Nicht zuletzt diese klanglichen Änderungen veranlassten den Komponisten zu einer Neubetitelung – aus dem „Nocturno“ wurde eine „Ouvertüre“ mit der Opuszahl 24. Damit verließ das Werk „die musikalische Sphäre von der Kammermusik zur öffentlichen Militärmusik“ (Diergarten 2016, 148). In der brieflichen Korrespondenz Mendelssohns firmierte das Stück zumeist als „Militair Ouverture“. Der Erstdruck des Werks erfolgte 1839 bei Simrock in Bonn; eine Partitur erschien erst 1852, worin Felix Diergarten „einen Hinweis auf die Beliebtheit des Werkes“ (2016, 148) nach dem Ableben Mendelssohns erkennt.

Die Ouvertüre op. 24 (1838) ist formal in zwei Großabschnitte gegliedert: in eine langsame Introduktion (Andante con moto, T. 1–67) und einen belebten Sonatenhauptsatz (T. 68–226). Aus einer düsteren Anfangsszenerie der Hörner und Fagotte entspinnt sich ab T. 7 m. A. eine elftaktige Melodielinie der Klarinette (A), deren aufwärtsstrebender Vordersatz sich durch eine Reihung charakteristischer Terzpendel auszeichnet, wohingegen der Nachsatz mit chromatischen Intervallschritten und einer erweiterten Kadenzgeste aufwartet:

Es schließt sich eine kurze Überleitung an, deren Sekundmotivik für den Mittelteil der Einleitung relevant sein wird (T. 15ff.). Daraufhin wiederholt Mendelssohn den melodischen Einfall der Klarinette, überantwortet ihn aber – unter Einbezug der Flöten und Oboen – mehreren Orchesterstimmen. Im B-Teil der Introduktion (T. 26–40) wird zunächst über das Horn eine neue melodische Prägung exponiert, die einerseits auf die kurze Überleitung aus T. 15ff. rekurriert, andererseits die Pendelmotivik des Vordersatzes aus A übernimmt (T. 30ff.). Nachdem die Melodie nochmals eine stimmliche Auffüllung erfährt (T. 36ff.), kehrt der Verlauf wieder zur Ausgangsthematik der Einleitung zurück (A’, ab T. 41 m. A.).

Die verhältnismäßig lange Überleitung zum zweiten Hauptteil der Ouvertüre (T. 48–67) erinnert mit ihren fallenden Sekundlinien zunächst an die Bewegungen des B-Teils. Diese werden jedoch konfrontiert mit auffälligen Signalklängen der Trompeten (Oktavfall + punktierter Rhythmus), die bereits die Stimmungssphäre des Allegro-Teils antizipierte. Damit generiert Mendelssohn latente Beziehungen zwischen den großformalen Abschnitten bei gleichzeitiger Komplementarität ihrer klanglichen wie temporalen Charakteristik:

Das Allegro vivace setzt mit dem Tutti-Einsatz im forte und seiner rhythmischen Synchronizität einen belebt-kraftvollen Kontrast zur insgesamt getragen-verhaltenen Stimmungswelt der Introduktion. Im Gegensatz zum Einleitungsgeschehen wartet das markante Hauptthema des Allegro nicht nur mit charakterlicher Vitalität, sondern auch mit periodischer Gleichförmigkeit auf (4 + 4 T.):

Erst die Überleitung (T. 76–84) bietet einen direkten Rekurs auf die langsame Einleitung, indem sie die punktierten Oktavfälle der Trompete als Überraschungseffekte im ff bringt. Diese Reminiszenzen zeichnen auch den Seitensatzbeginn aus (ab T. 85). Die verspielte Sprungmotivik des zweiten Themas, die mehrmals wiederholt wird, führt schließlich in eine Fortspinnungspassage, die wiederum direkte Beziehungen zur Überleitung der Takte 79f. herstellt. Die Motivik des Hauptthemas wird rahmenbildend dann nochmals in der Schlussgruppe gebracht, bevor die Exposition wiederholt wird – eine Ausnahme innerhalb der Ouvertüren Mendelssohns.

Der Durchführungskomplex der Ouvertüre weist eine insgesamt vierteilige Anlage auf. Der erste Abschnitt (T. 113–124) schließt an die traditionelle Formdramaturgie klassisch-romantischer Sonatenhauptsätze an, da er das Expositionsgeschehen (vgl. Seitenthema ab T. 85) in der Mollvariante der Tonika, c-Moll, aufgreift. Im Unterschied zur Exposition präsentiert Mendelssohn den Themenkopf des Seitensatzes hier in imitatorischen Einsätzen, die jedoch keine wirkliche Entfaltungsmöglichkeit erhalten, sondern zwei Mal durch das punktierte Signalmotiv im Oktavfall aus der Introduktion unterbrochen werden. Erst unter Rückgriff auf den treibenden Rhythmus des Hauptthemas im überleitungsartigen zweiten Durchführungsabschnitt (T. 125–128) wandeln sich die Signalmotive zu Begleitgesten und verlieren dadurch ihre zuvor intermittierende Funktion. Diese Neukonstellation bildet die Voraussetzung dafür, dass der Kopf des Seitenthemas, der ab T. 129 erneut einsetzt und damit den dritten Abschnitt der Durchführung eröffnet (bis T. 137), nun die Möglichkeit erhält, seine melodischen Qualitäten zu entfalten. Die punktierten Signalmotive sind zwar auch hier wieder präsent, provozieren hingegen (wie im ersten Abschnitt) keine Abbrüche und Neueinsätze, sondern fügen sich in den imitatorischen Prozess ein:

Mit Erreichen des vierten und letzten Durchführungsteils (T. 138–149) wird ersichtlich, dass Mendelssohn abwechselnd auf Seiten- und Hauptsatzmaterial Bezug nimmt, denn abschließend greift der Satzverlauf – im entfernten Des-Dur – sowohl auf den militärischen Rhythmus als auch die Wellenmotivik des Hauptthemas zurück. Der Schluss der Durchführung spiegelt dramatische Züge wider: Im Zuge der Abspaltung des Militärrhythmus und seiner Kombination mit der Signalmotivik der Hörner (auf dem Dominantgrundton g) entsteht bei gleichzeitiger Forcierung der Dynamik ( ff) ein Steigerungskomplex, der sein Ziel mit dem Eintritt der Reprise ab T. 150 findet.

Die Reprise (bis T. 192) weist nur geringfügige Modifikationen im Vergleich zur Exposition auf. Eine fulminante Coda (T. 193–226) sorgt für eine finalwirksame Steigerung des Geschehens, ohne dabei (wie etwa in der Trompeten-Ouvertüre) nochmals Durchführungsfunktionen zu übernehmen. Vielmehr liegt die Aufgabe der Coda in der Bestätigung vertrauter Ereignisse – vor allem des militärischen Hauptthemenrhythmus.

Dass der für seine Selbstkritik bekannte Mendelssohn die Ouvertüre op. 24 zeitlebens nicht verwarf, sondern mehrmals der Überarbeitung für würdig empfand, zeugt von der kompositorischen Qualität sowie Popularität dieses frühen Gattungsbeitrags, dessen ausspielender Vergleich mit den späteren Konzertouvertüren wenig gerechtfertigt erscheint. Auch wenn der damalige Wiener ,Kritikerpapst‘ Eduard Hanslick bereits an diesem Rezeptionsstrang in Form eines differenziellen Abgleichs partizipierte, fasste er doch die Stellung der Ouvertüre in Mendelssohns Schaffen treffend zusammen: „Hervorragende Bedeutung, etwa neben den vier Concert-Ouverturen, kann man dieser Composition freilich nicht beilegen, aber sollte ein hier noch unbekanntes Orchesterwerk von Mendelssohn nicht schon aus diesem Titel allein den Versuch einer Aufführung verdienen? Hat auch Mendelssohn die C-dur-Ouverture nicht mit dem vollen Aufgebot seiner Phantasie, dem ganzen Reichthum seines Kunstvermögens geschaffen, so waltet doch unverkennbar seine Meisterhand in dem klaren, stattlichen Bau und dem feinen Schliff des Ganzen. Mendelssohn gab nichts aus der Hand, was nicht in seiner Art fertig und vollkommen dastand. Die Ouverture mit ihrem süßen, ruhigen Wohllaut im Andante und der fröhlichen Lebendigkeit im Allegro muß jeden Hörer frisch und liebenswürdig anmuthen. Diese bescheidene und doch wirksame Modulation, diese Klarheit und gesunde Fröhlichkeit erinnert manchmal an Mozart, der bekanntlich auch nicht immer ,bedeutend‘ schrieb.“ (Hanslick 1870, 419f.)

Ouvertüre C-Dur („Trompeten-Ouvertüre“) op. 101, MWV P 2

Im Gegensatz zu den vor 1826 entstandenen Ouvertüren Mendelssohns (1820: Die Soldatenliebschaft, 1821: Die beiden Pädagogen, 1823: Die beiden Neffen), die allesamt als Einleitungsstücke zu Bühnenwerken konzipiert waren, entstand die „Trompeten-Ouvertüre“ als eigenständiges Werk und ohne jeglichen Programmbezug. Die früheste Datierung der Komposition stammt vom 4. März 1826; sie wurde erstmals im halböffentlichen Rahmen der Berliner Gartensaalkonzerte aufgeführt, die in der Leipziger Straße 3 – dem Wohnhaus der Mendelssohns – sonntäglich stattfanden. Hier erhielt die Ouvertüre auch ihren Titel, wie Eduard Devrient in seinen Erinnerungen berichtet: „Wir nannten diese die Trompeten-Ouverture wegen der das Stück dominierenden Trompetenrufe. Er [Mendelssohn] führte sie noch einmal im großen Gartensaale des Hauses auf, wo nun die Sonntagsmusiken heimisch wurden […] und obschon sein Vater so große Vorliebe für das Stück hegte, daß er mir sagte: er möchte es in seiner Sterbestunde vernehmen – fand Felix es nicht zur Veröffentlichung reif“ (Devrient 1869, 26f.). Mendelssohns Skrupel spiegeln sich auch in der Reaktion des Lehrers Carl Friedrich Zelter wider, der offenbar mehreren Aufführungen des Werks beigewohnt hatte. In einem Brief vom 18. September 1826 äußert Zelter – bei aller Wertschätzung für das gleichsam szenische Arrangement der musikalischen Gedankenfülle – differenzierte Kritik an der formalen Dimension des Stücks: „Es würde zu lang seyn wenn es zu etwas Anderem gehörte; Sehe ichs als ein Opus für sich alleine an; so nehme ich mir die Zeit es anzuhören und bin befriedigt.“ (Zit. nach Mendelssohn 1997, 74).

Die erste öffentliche Aufführung der Ouvertüre fand am 18. April 1828 anlässlich der Eröffnung der Albrecht-Dürer-Gedächtnisfeier im Saal der Berliner Singakademie statt. Die Allgemeine Musikalische Zeitschrift widmete dem Ereignis eine Besprechung, in der erneut der Vorwurf einer zu großen Länge erhoben wurde. Zudem äußerte der Rezensent den Wunsch, der „geniale Jüngling“ Mendelssohn möge sich zukünftig stärker von historischen Vorbildern und dem „Einfluss strenger Schularbeiten“ emanzipieren, um nicht „im Zauberkreise fremder Ton-Gewalten“ festgehalten zu werden (AMZ 22, 364). Ein Blick auf das Autograph der Aufführungspartitur zeigt, dass Mendelssohn offensichtlich auf die Kritiken reagierte, indem er die Ouvertüre durch das Streichen ganzer Formteile erheblich kürzte.

Erst rund fünf Jahre später sollte Mendelssohn die Ouvertüre als Musikdirektor in Düsseldorf erneut aufführen – dieses Mal aus Anlass des 15. Niederrheinischen Musikfestes am 26. Mai 1833, wo das Werk (wiederum in überarbeiteter Fassung) als Einleitung zu Händels Oratorium Israel in Egypt fungierte. Nur gut sechs Wochen später feierte das Stück am 10. Juni 1833 unter der Leitung Henry R. Bishops Premiere in London. Auch für diesen Anlass sollte Mendelssohn nochmals Änderungen an der Partitur vornehmen. Die Erstveröffentlichung erfolgte im Jahre 1867 unter Angabe der posthumen Opuszahl 101.

Der Formverlauf der Ouvertüre folgt dem Modell des Sonatensatzes, weist jedoch insofern eine Besonderheit auf, als Mendelssohn sowohl dem Haupt- als auch dem Seitensatzkomplex der Exposition (T. 1–136) jeweils zwei Themen zuweist. Dieser Reichtum an thematischen Prägungen hat maßgebliche Konsequenzen für die formale Dramaturgie des Werks. Die Ouvertüre beginnt mit einer Einleitung (T. 1–28), die mit ihren fanfarenhaften Einsätzen der Bläser und den vorhangartigen Streicherfiguren Grandiosität und Pracht verströmt. Die Bläsersignale, die jeweils drei Mal hintereinander erscheinen, bilden eine konstante Klangfläche, über der sich die Streicher zunehmend individualisieren und – in Synchronisation mit den Holzbläsern (ab T. 22) – melodische Konturen annehmen:

Dieser Prozess findet sein Ende mit einer abrupten Kadenz, die in das quirlig-sprunghafte Hauptsatzthema (a) der Exposition überleitet (T. 28–43). Ab T. 44 exponiert Mendelssohn ein zweites Themengebilde (b), welches sich durch eine imitatorisch-polyphone Ausgestaltung zwischen Bläsern und Streichern auszeichnet:

Das Kopfmotiv des Themas b, das eine Akzentsetzung auf unbetonter dritter Zählzeit aufweist, erhält im folgenden Verlauf eine Art Signalfunktion, die vor allem für die Durchführung von Relevanz sein wird. In T. 60 erfolgt dann – in der formalen Funktion einer Überleitung zum Seitensatz – der erste materielle Rekurs auf die Fanfarenmotivik der Einleitung, wodurch eine binnenzyklische Rahmung des bisherigen Satzverlaufs entsteht.

Es schließt sich ein (erster) Seitensatzgedanke (T. 71–87) in G-Dur (c) an, der aufgrund seiner unruhigen Charakteristik weniger als ergänzender Kontrast als vielmehr Fortsetzung der hektisch vorbeiziehenden Hauptsatzereignisse wirkt. Erst das zweite Seitenthema (d) ab T. 88 bringt erstmalig eine gesangliche Linie im Unisono der 1. und 2. Violinen, die den Formprozess nicht nur um eine melodische Couleur bereichert, sondern den kurzweiligen Szenenwechsel vorübergehend bremst:

Die Schlussgruppe (T. 110–136) wird wiederum mit Themenmaterial aus a (T. 110ff.) und b (T. 129ff.) bestritten. Aufgrund der Vielfalt und Dichte des thematischen Materials fungiert jeder Formteil der Exposition gleichsam als Bedeutungsträger späterer Entwicklungen. Leerstellen ohne motivisch-thematisch relevantes Materials kennt der Satzverlauf nicht. Eine Expositionswiederholung ist konsequenterweise nicht vorgesehen – vielmehr wird der Beginn der Durchführung umstandslos über eine Sequenz des Themenkopfs b erreicht (T. 137). Exposition und Durchführung sind zunächst substanzgemeinschaftlich miteinander verbunden, denn die amorphen Holzbläserklänge der Takte 137ff. und 141ff. etc., welche die Rastlosigkeit der gleichsam szenischen Wechsel phasenweise suspendieren, entpuppen sich als augmentierter Kopf des zweiten Hauptsatzgedankens b:

Die hierzu kontrastierenden Einsprengsel der Streicher (T. 139ff. + 143ff.) bilden wiederum Reminiszenzen des Seitensatzes c:

Das Expositionsmaterial aus Haupt- und Seitensatz wird somit im ersten der insgesamt vier Durchführungsabschnitte (bis T. 174) neu disponiert. Nach dieser Durchführungseröffnung modifiziert Mendelssohn den charakteristischen Seitensatzgedanken c in eine wellenartige Begleitmotivik der Streicher (ab T. 147). Über dieser Klangfläche lassen die Holzbläser in regelmäßigen Abständen den augmentierten Kopf von b erklingen. Die 28 Takte umfassende Passage verströmt reine Klanglichkeit und bildet mit ihrer motivisch-thematischen Statik einen ergänzenden Kontrast zur Hektik des Expositionsgeschehens. Einen Modus begründeter Schließung scheinen die Klangbewegungen nicht vorzusehen. Auch die zuvor stabile Harmonik wird nun zugunsten wechselnder Tonstufen (B, F, D, E, A) verlassen.

Erst mit dem zweiten Abschnitt des Mittelteils (T. 175–221) gewinnt der Satz wieder mehr thematisches Terrain, indem Mendelssohn hier den imitatorischen Hauptsatzgedanken b einführt, der nun mit seiner augmentierten Form gemeinsam auftritt. Dabei wird der wellengleiche Begleitapparat anfänglich beibehalten, verlagert sich jedoch ab T. 185 in die Oboen und Klarinetten. Ab T. 198 nimmt die Dichte der imitatorischen Einsätze von b in den Streichern deutlich zu. Die polyphone Arbeit des Satzes wird zudem mit ersten verkürzten Fanfaren-Anklängen angereichert (T. 210ff.), bevor in T. 221 m. A. die einleitenden Signalrufe der Blechbläser ertönen und an frühere Ereignisse erinnern. Mendelssohn verzichtet in diesem dritten Durchführungsteil (bis T. 247) indes nicht auf die imitatorischen Qualitäten des b-Gedankens, die insgesamt für Impulsivität und Bewegung des Satzverlaufs sorgen, sondern kombiniert ihn mit den Fanfaren der Introduktion. Diese Neudisposition von Einleitungs- und Hauptsatzmaterial erscheint in mehrfacher Sequenz, bis die Streicher ab T. 236 von dem Wiederholungsmodell abrücken und sich zu einer bedrohlichen, chromatisch aufwärtsstrebenden Geste wandeln. Ziel dieser Entwicklung, mit der zugleich der vierte und letzte Durchführungsabschnitt erreicht ist (T. 248–285), bildet die Rückkehr zum Beginn des Mittelteils bzw. zum ersten Teil der Durchführung (Klangfläche + augmentierter b-Gedanke). Die Durchführung erfährt damit ebenfalls eine zyklische Rahmung. Die Rückkehr zur Reprise weist schlusswirksam eine letzte Neukombination vertrauten Materials auf: Nicht nur rekurriert Mendelssohn auf die wellenartige Szenerie des Durchführungsbeginns (T. 147ff.), sondern verknüpft den Abschnitt mit den Fanfarenrufen der Introduktion, die nun mit jedem Neuansatz an dynamischer Stärke gewinnen (marcato, pp  f). Die Bläser rufen gleichsam motivisch zur Ordnung und zeigen nun auch auf harmonischer Ebene den irreversiblen Rückgang zur Ausgangstonart C-Dur an.

Die Reprise (T. 286–314) verkürzt die thematische Ereignisdichte abermals, indem sie bereits ab T. 294 das Hauptthema a mit Einsprengseln des Themenkopfs b konfrontiert. Der weitere Verlauf entspricht weitgehend dem Expositionsgeschehen. Erst nach dem Erklingen der Seitensatz-Kantilene (d) und einem kürzeren Überleitungsabschnitt setzt die Ouvertüre ab T. 350 zu einer Art zweiten Durchführung an. Mendelssohn lässt an dieser Stelle erneut den letzten Durchführungsabschnitt erklingen, der mit einer Kombination von Introduktion (Fanfare) und Expositionsmaterial (augmentierter b-Kopf + Klangfläche von T. 147ff.) aufwartet:

Der Rekurs auf die klangmalerische Stimmungswelt des Mittelteils, die einen charakterlichen Kontrast zur hektischen Ereignisdichte des Expositionsgeschehens bildete, findet seine Ablösung durch den erneuten Eintritt des sanglichen Seitensatzthemas (d) in G-Dur. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie flexibel die einzelnen thematischen Prägungen in ihrer formalen Disposition eingesetzt werden. Der Eindruck einer kaleidoskopischen Reihung drängt sich auf, die weniger einer an der Sonatensatzform orientierten Dramaturgie als vielmehr der spontanen Logik eines komplementären Stimmungskontrasts folgt, der für Einheit in der Mannigfaltigkeit sorgt. Entsprechend hatte es Zelter in seiner brieflichen Mitteilung an Mendelssohn erfasst, in der er einen programmatischen Ablauf des Werks entwarf und dabei u. a. auch auf die Vielfalt der thematischen Ereignisse zu sprechen kam: „Um ihn [den Hauptgedanken a] her versammelt sich auf dem Rufe der Trompete die Menge, eilend, stürzend. Es ordnet sich, fügt sich; eine Masse, ein Ganzes ist da, in lebendigster Bewegung.“ (Zit. nach Mendelssohn 1997, 74)

In der Coda (T. 396–433) führt Mendelssohn den Hörer in Form eines letzten Steigerungseffekts zyklisch zurück zur Introduktion. Erneut ertönen in Verbindung mit den ff-Bläsersignalen die vorhangartigen Streicherkaskaden, die zunehmend verkürzt, dynamisch intensiviert und in die hohen Lagen (Spitzenton: a3, T. 411) geführt werden:

Die zuvor öffnenden Gesten der Streicher werden nun zu schließenden Wendungen modifiziert. Zwar entstand die Ouvertüre zunächst ohne jeglichen Programmbezug; dass das Werk aber auch als Einleitungsmusik intendiert war und später als solche fungieren sollte, wie etwa anlässlich der Düsseldorfer Aufführung von Händels Israel in Egypt (26. April 1833), veranschaulichen die Schlusstakte des Stückes, die Mendelssohn mit der devisenartigen Fanfarenmotivik der Blechbläser gestaltet. Zusammen mit dem Finalakkord der Violinen in Quart-Sext-Lage enden die Trompeten, Hörner und Posaunen auf der Terz e, wodurch der Schlussklang einen deutlichen Verweischarakter auf Kommendes erhält. Im Programmverständnis von Zelter trat hier finalwirksam nochmal der „Held“ auf – einem „bewegliche[n] Pfeiler“ gleichend, der die gesamte „Aktion […] triumphierend“ beschließt. (Zit. nach Mendelssohn 1997, 74)

Wiederum war es Hanslick, der bei aller Kritik an der motivisch-thematischen Fülle der Ouvertüre (bzw. dem „emsigen, ihr Wissen und Können erprobenden Arbeit“) doch eine frühe Meisterschaft Mendelssohns im Umgang mit der tradierten Form und orchestralen Gestaltung konstatiert: „Die ,Trompeten-Ouverture‘ […] ist ein interessanter Beitrag zur Entwicklungsgeschichte Mendelssohn’s und eine freundlich überraschende Gabe für Jeden, der mit bescheidenen Erwartungen herantritt. Neben der Klarheit und Logik des musikalischen Gedankens, welche Mendelssohn überall auszeichnen, weist die Ouverture eine Beherrschung der Form und der Orchestermittel auf, wie sie so früh nur wenige Meister errungen haben. Sie rauscht in einem ununterbrochenen Allegrozug schmuck und festlich dahin. Was sie zu sagen hat, ist freilich nicht von besonderer Neuheit oder Bedeutung, sie sagt es auch mit ziemlich vielen Worten.“ (Hanslick 1870, 421)

Literatur

– Allgemeine Musikalische Zeitung, Jg. 22 (1828).

– Devrient, Eduard: Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Briefe an mich, Leipzig 1869.

– Das verborgene Band. Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel. Ausstellung der Musikabteilung der Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz zum 150. Todestag der beiden Geschwister. 15. Mai bis 12. Juli 1997, Wiesbaden 1997.

– Hanslick, Eduard: Aus dem Concertsaal. Kritiken und Schilderungen aus den letzten 20 Jahren des Wiener Musiklebens, Wien 1870.

[Kai Marius Schabram, Februar 2024]

Welche Form hat der Kopfsatz von Busonis Klavierkonzert?

Zwei einander widersprechende Aussagen bringen mich dazu, der Frage nachzugehen, wie der erste Satz des Klavierkonzerts op. 39 von Ferruccio Busoni eigentlich aufgebaut ist.

Federico Celestini: „Von einem symphonischen Konzert im Sinne Brahms[´] unterscheidet sich Busonis Werk durch das Fehlen der Sonatenform und die Verwendung zahlreicher Themen.“

(Federico Celestini: „Zu Ferruccio Busonis Poetik: Das ‚Klavierkonzert mit Männerchor‘ op. 39“, in: Das Klavierkonzert in Österreich und Deutschland von 1900–1945 (= Studien zu Franz Schmidt XVI), hrsg. von Carmen Ottner, Wien 2009, S. 204.)

Robert Simpson: „The large classical concerto scheme with ritornello was never attempted by Nielsen: very few composers have felt inclined to risk it since Brahms and Dvořák. Elgar’s violin concerto […] attacks the problem, and the first movement of Busoni’s enormous piano concerto, together with Reger’s hugely comprehensive works for pianoforte and violin, are perhaps the most important examples of this difficult form since Brahms.“

(Robert Simpson: Carl Nielsen Symphonist, London 2009, S. 137.)

Wer es mit dem Wortlaut genau nimmt – und warum sollte man das nicht tun! – wird feststellen, dass in beiden Zitaten unterschiedliche Begriffe verwendet werden. Der Widerspruch wird erst deutlich, wenn wir dem Begriff des „large classical concerto scheme with ritornello“, von dem Simpson schreibt, auf den Grund gehen. Dies führt uns zu den erhellendsten Texten über die Formen konzertanter Musik des 18. Jahrhunderts. Sie stammen von Donald Francis Tovey, dessen Terminologie Simpson übernimmt. Zum einen handelt es sich um den Artikel „Concerto“ in Toveys Buch The Forms of Music, zum andern um den Aufsatz „The Classical Concerto“, der als Einleitung zum dritten Band seiner Essays in Musical Analysis dient, in welchem eine Anzahl Konzerte vorgestellt wird. Der letztere dieser beiden Texte befasst sich, wie es unmissverständlich durch eine Zwischenüberschrift deutlich gemacht wird, vorrangig mit „The Sonata-Form Concerto“, was nichts anderes ist als das, was Simpson meint. Man beachte freilich, dass Tovey den Begriff „sonata form“ in diesem Kontext sehr vorsichtig gebraucht. Im Artikel aus The Forms of Music scheint er mit Absicht vermieden zu sein, und auch in der Einleitung zu den Essays III wird er, kaum aufgekommen, sofort zu „sonata forms“ und „sonata style“ erweitert, nämlich so: „The best way to avoid a tiresome abstract of ordinary sonata form will be for us to base our analysis on the difference between the sonata forms and those of Bach. The cardinal difference between sonata-style movements and those of the time of Bach is that the sonata movement changes on dramatic principles as it unfolds itself, whereas the older forms grow from one central idea and change only in becoming more effective as they procede. You cannot, indeed, displace a bar without upsetting the whole; but the most experienced critic could not tell from looking at a portion out of its context whether it came from the beginning, middle, or end of the work. Yet almost any sufficient long extract from the first movement of a sonata by Mozart or Beethoven would give a competent musician abundant indications of its place in the scheme.“ Sonatenform ist also kein starres, abstraktes Modell, sondern das klingende Resultat einer bestimmten Kompositionsweise, des Sonatenstils. Diesen beschreibt Tovey stets als ein „dramatisches“ Prinzip in dem Sinne, dass der Wechsel von einer Tonart in die andere wie ein dramatisches Ereignis herausgestellt wird, sodass der Weg zurück zur Ausgangstonart nicht anders als durch weitere dramatische Ereignisse erreicht werden kann: „Johann Christian, the ‚London‘ Bach, initiated the all-important method of emphasizing a change of key so that it became a dramatic event irreversible except by other dramatic developments“, heißt es in The Forms of Music. Das klassische Konzert, wie wir es in vollkommenster Ausprägung bei Mozart finden, ist mithin das Ergebnis der Einwirkung des neuartigen Sonatenstils auf die ältere Konzertsatzpraxis, Orchesterritornelle und solistisch dominierte Passagen einander abwechseln zu lassen. Das „large classical concerto scheme with ritornello“ übernimmt vom barocken Konzertsatz die orchestrale Einleitung, welche in der Haupttonart verbleibt. Der Sonatenstil kommt in dem Abschnitt zum Tragen, der mit dem Einsatz des Soloinstruments anhebt. Hier entwickelt sich ein tonales Geschehen wie in der Exposition eines Sonatensatzes, welches zum Wechsel in die Kontrasttonart führt. Die anschließenden Abschnitte des musikalischen Verlaufs entsprechen dem zweiten Teil eines Sonatensatzes mit Durchführung und Reprise. Die Anfangsabschnitte eines solchen Konzertsatzes werden zuweilen als „doppelte Exposition“ bezeichnet. Dies mag dadurch gerechtfertigt erscheinen, dass das thematische Material des Tutti-Ritornells mit dem des Solos weitgehend übereinstimmt, ist letztlich aber doch irreführend, denn für den harmonischen Verlauf des Satzes erfüllen beide Abschnitte verschiedene Funktionen. Die Ähnlichkeit zu Expositionswiederholungen, wie sie in den Kopfsätzen klassischer Symphonien vorkommen, ist zufällig. Möchte man eine Bezeichnung für die Eröffnung des Kopfsatzes eines klassischen Konzerts vergeben, die mit der gängigen Terminologie für den Sonatensatz übereinstimmt, so schlage ich zwei Möglichkeiten vor:

1. Man bezeichnet das Orchesterritornell und den Abschnitt vom Einsatz des Soloinstruments bis zum Beginn der Durchführung gemeinsam als „Exposition“.

2. Man bezeichnet das Orchesterritornell als „Einleitung“, den Abschnitt vom Einsatz des Soloinstruments bis zum Beginn der Durchführung als „Exposition“.

(Ich werde im Folgenden beide Definitionen benutzen, je nachdem es zur Erfassung der Sache günstiger erscheint. Der Leser wird bemerken, was in welchem Fall wie gemeint ist.)

Wie verhält es sich nun mit Busoni? Liegt im Kopfsatz seines Klavierkonzerts eine Sonatenform vor? Oder fehlt sie, wie Celestini meint?

(Die nachfolgende Analyse basiert auf der bei Breitkopf & Härtel erschienenen Erstdruckpartitur des Werkes, die im Netz auf IMSLP zu finden ist.)

Zunächst fällt auf, dass Busoni sein Werk mit einer langen Einleitung eröffnet, in der das Soloinstrument schweigt. Es handelt sich, ganz wie Simpson schreibt, um ein Ritornell nach Art der Wiener Klassiker, denn Busoni achtet, so abwechslungsreich er die Harmonik auch gestaltet, sorgfältig darauf, die Haupttonart C-Dur nicht in Frage zu stellen. Sie ist über die ganzen viereinhalb Minuten, die die Einleitung dauert, nie weit entfernt. Nirgends wird eine Kontrasttonart etabliert. Alle Ausweichungen dienen nur dazu, die Rückkehr nach C-Dur umso interessanter zu gestalten. In diesem Orchesterritornell lassen sich drei verschiedene Themen unterscheiden: das Anfangsthema, eine Fanfare, die zuerst leise auf S. 4 in Klarinetten und Hörnern erklingt, und ein weiteres Thema, das aus einer Variante des Anfangsthemas abgeleitet wurde und das zuerst bei Ziffer 4 auf S. 11 auftaucht. Es sei aufgrund seines Anfangs auf starker Taktzeit das „abtaktige Thema“ genannt.

Das Klavier setzt bei Ziffer 5 auf S. 14 mit Akkordbrechungen ein, die es von den Streichern übernommen hat, welche zuvor die Fanfare untermalten. Im Bass erklingen Motive ähnlich der Fanfare, die sich allmählich als weit ausladender Gesang entpuppen, wie es auch oft bei Liszt vorkommt. Zweimal spielen Blasinstrumente dazu ein signalartiges Thema aus den Tönen eines subdominantischen Akkords (S. 17 und 18). Während das Klavier noch seine auf und ab wogenden Akkordbrechungen spielt, erklingen in den Bläsern punktierte Rhythmen und Sechzehntelfolgen, die das Klavier schließlich übernimmt (S. 19). In den Bläsern erklingt der Kopf des Anfangsthemas (S. 20), dann in den Streichern derjenige des abtaktigen Themas (S. 21, Ziffer 8). Wenn dieser vom Klavier in Triolen aufgelöst wird (S. 22), ereignet sich die Überleitung nach E-Dur, denn in der Zwischenzeit ist das passiert, was in klassischen Konzerten nach Einsatz des Soloinstruments zu passieren pflegt: Die Musik hat moduliert, die Haupttonart wurde verlassen, nun mündet sie in die Kontrasttonart ein. Busoni entscheidet sich für das vier Quinten über der Haupttonart liegende, mit ihr in mediantischer Beziehung stehende E-Dur und befindet sich damit in der guten Gesellschaft zahlreicher Komponisten seit Franz Schubert, die sich nicht mehr mit Dominant- oder Paralleltonarten für die Seitensätze ihrer Sonatenformen begnügen, sondern der Haupttonart entferntere Tonarten gegenüberstellen wollen.

Auf S. 23 beginnt Busoni nun den Seitensatz seiner Exposition, in E-Dur und mit einem Thema, das rhythmisch viel mit den bisher erklungenen Themen gemeinsam hat, nichtsdestoweniger aber neu ist. Es wird überwiegend von den hohen Holzbläsern, teilweise auch von den Hörnern vorgetragen. Der akkordische Satz geht auf S. 27 in ein Oboensolo über. Die Musik bleibt nicht in E-Dur, sondern moduliert weiter bis nach Fis-Dur, das auf S. 35 bei Ziffer 10 über eine Kadenz erreicht wird. Hier setzen die punktierten Rhythmen und Sechzehntelfiguren wieder ein: kurzatmige Floskeln, wie sie für Schlussgruppen von Expositionen bezeichnend sind. Einen deutlichen formalen Einschnitt möchte Busoni aber nicht, sondern moduliert weiter und lässt die Musik nach wenigen Takten durchführungsartigen Charakter annehmen. Es entfaltet sich auch nun ein Abschnitt, der nicht anders denn als Durchführung angesprochen werden kann.

Schauen wir zurück, so überblicken wir rund 9 Minuten Musik, deren Verlauf auffallend viel mit den Anfangsabschnitten Mozartscher Konzerte gemeinsam hat: Das Verweilen der Orchestereinleitung in der Haupttonart, das Modulieren nach Einsatz des Soloinstruments, die Vorstellung neuer Themen und Motive nach Einsatz des Soloinstruments bis hin zu einem Seitensatz, dessen Thema sich in der Einleitung nicht findet. Natürlich hat Busoni im Einzelnen Manches anders gemacht als Mozart, aber das Grundprinzip der musikalischen Formung ist das gleiche! Wir haben also in Busonis Konzert eine Konzertsatzexposition ganz nach klassischer Art gehört.

Die Durchführung genauer zu betrachten, ist hier nicht nötig. Es genügt für die Klärung unserer Frage festzustellen, dass sie vorhanden ist. Gibt es aber bei Busoni eine Reprise? Mozart pflegt in den Kopfsätzen seiner großen Klavierkonzerte alle Stränge in den Reprisen zusammenzuführen. Themen aus der Orchestereinleitung erklingen wieder, die seit Einsatz des Soloinstruments nicht mehr verwendet wurden, aber auch die vom Klavier eingeführten Themen sind präsent. Thematische Ungleichgewichte zwischen Einleitung und Exposition werden ausgeglichen. Im Kopfsatz des Busoni-Konzerts findet sich nichts dergleichen. Stattdessen führt Busoni den Hörer mit nahezu Haydnschem Humor aufs Glatteis, ohne dabei die ernste Miene zu verziehen: Über einem Dominantorgelpunkt kündigt er in mächtiger Steigerung mittels der Fanfare die Rückkehr nach C-Dur an (S. 57–61). Man kann es niemandem verübeln, der nun erwartet, das Anfangsthema setze in voller Pracht ein und eröffne eine möglicherweise in aller Ausführlichkeit gestaltete Reprise. Doch auf S. 61 wechselt die Dynamik plötzlich vom forte ins piano, dadurch die Erwartungen an einen machtvollen Repriseneintritt sofort zunichte machend. Statt des Anfangsthemas erklingt das abtaktige Thema, wenn auch „korrekt“ in der ausführlich vorbereiteten Haupttonart C-Dur. Das ist die ganze Reprise! Ihr folgen als Coda nur noch ein paar Fragmente des Anfangsthemas und der Fanfare, dann ist der Satz zu Ende. Zwischen dem Wiedereintritt der Haupttonart und dem Schlussakkord sind lediglich eineinhalb Minuten vergangen – ein extremes Ungleichgewicht zur neunminütigen Exposition des Satzes, die dadurch rund drei Fünftel seiner Spieldauer einnimmt!

Harmonisch ist der Satz komplett: Er ist von C-Dur ausgegangen, hat als Kontrasttonart E-Dur erreicht, nach einer Kadenz in Fis-Dur ausgiebig moduliert und ist am Ende, nach ausgiebiger Vorbereitung, wieder in C-Dur angekommen. In thematischer Hinsicht hat er extreme Schlagseite, denn es werden in der Exposition Themen vorgestellt, die im ganzen Satz nicht wieder zu hören sind. Wo bleibt das Thema des E-Dur-Seitensatzes, wo die Klavierkaskaden, wo das darüber gelegte Bläsersignal? Busoni hat in diesem Satz ein musikalisches Paradoxon auskomponiert: Er ist gleichzeitig vollständig und unvollständig. Die Antwort auf die Frage, warum das so ist, findet sich im letzten Satz, der Männerchorhymne aus Aladdins Wunderhöhle. Alles, was in der Reprise des Kopfsatzes fehlte, tritt hier erneut auf und erscheint durch den Gesang auf eine höhere Stufe gehoben. Es wurde nicht vergessen, sondern nur aufgespart, um in neuer Gestalt umso stärker zu wirken. Bezeichnenderweise beginnt der Chor mit dem Seitensatzthema in dessen originaler Tonart E-Dur und findet am Ende zum C-Dur des Anfangs zurück. Alle Widersprüche lösen sich harmonisch auf.

Um ein letztes Mal zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Ist der Kopfsatz von Ferruccio Busonis Klavierkonzert op. 39 in Sonatenform geschrieben? Diese Frage ist unbedingt zu bejahen! Die Tatsache dass seine Reprise extrem verkürzt ist – ein Umstand, der sich aus dem Zusammenhang des ganzen Werkes heraus erklärt –, mag freilich manchen Betrachter in die Irre führen. Die wesentlichen Merkmale eines „large classical concerto scheme with ritornello“ sind aber nichtsdestoweniger vorhanden, womit der Satz getrost als Sonatensatz angesprochen werden kann.

[Norbert Florian Schuck, Oktober 2023]

Busonis Größe – ein Artikel von Heinrich Pfitzner

Der nachfolgende Artikel ist ein historisches Dokument, das hier zum ersten Mal in deutscher Sprache veröffentlicht wird. Er entstammt der US-amerikanischen Zeitschrift The Midwestern Magazine, in deren April-Ausgabe des Jahres 1911 er erschienen ist (S. 101f.). Anlass war ein Konzert Ferruccio Busonis in Des Moines, der Hauptstadt des Bundesstaates Iowa. Heinrich Pfitzner, der Autor des Artikels, war der ältere Bruder Hans Pfitzners. Er wurde 1867 in Moskau geboren, wuchs in Frankfurt am Main auf, wo er an Dr. Hoch’s Konservatorium studierte, und lebte seit 1891 in den Vereinigten Staaten, nur unterbrochen von kurzen Lehrtätigkeiten in Koblenz 1893 und am Stern’schen Konservatorium in Berlin von 1898 bis 1901. Er erwarb sich in Amerika den Ruf eines vortrefflichen Pianisten und Musikpädagogen, arbeitete teils als Professor an verschiedenen Bildungseinrichtungen, teils als selbstständiger Klavierlehrer und gründete 1907 in Des Moines ein eigenes Konservatorium. Seine Spur verliert sich 1935 in Tupelo, Mississippi. Spätestens 1940 muss er gestorben sein, da im US-Zensus dieses Jahres seine Ehefrau als verwitwet geführt wird. Heinrich Pfitzners Artikel über Busonis Größe dokumentiert nicht nur den überwältigenden Eindruck, den dieser große Musiker auf einen „Mann vom Fach“ ausgeübt hat, sondern fasst in Kürze grundlegende Bedingungen musikalischer Darbietungskunst zusammen. Er ist ein zeitloses Dokument und sei als solches nun der Leserschaft deutscher Zunge erstmals präsentiert. (D. Red.)

Alle veröffentlichten Berichte über Busoni beschreiben ihn übereinstimmend als größten Interpreten der Gegenwart, wenn nicht aller Zeiten; aber seit ich ihn am 6. März [1911] zum ersten Mal gehört habe, kann ich nicht umhin festzustellen, dass der grundlegende und krönende Faktor seiner Überlegenheit nie erwähnt worden ist. Und gerade dieser eine Punkt ist von äußerster Wichtigkeit – nicht nur, um dem Künstler gerecht zu werden, sondern auch im Interesse der Kunstwelt. Es ist ganz richtig, dass Busonis technische Fertigkeit sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht wunderbar und wohl unerreicht ist; wobei ich hinzufügen möchte, dass seine Technik sich besonders durch das erfolgreich angewandte Prinzip auszeichnet, „auf den Punkt zu kommen“, dass sie von einem „Zielbewusstseins“ durchdrungen ist, das sich in einer meisterhaften Sparsamkeit der Kräfte und in einer völligen Abwesenheit all jener schauspielerischen Manierismen äußert, denen sich so viele der besten Darsteller hingeben. Es ist auch wahr, dass diese großartige Technik gekrönt wird (denn die Tonerzeugung ist nichts anderes als das Endergebnis – die Blüte – der Technik) durch die vollkommenste Modulation des Anschlags; das bedeutet die Fähigkeit, mit gleicher Vollkommenheit jede Art von Ton zu erzeugen, sowohl in Bezug auf die Farbe als auch auf die Stärke; ganz zu schweigen von bestimmten einzigartigen Tricks des Pedalspiels, die eine gründliche Kenntnis des Klaviers als Mechanismus zeigen, aber nichts mit Talent, Genie oder sogar Technik zu tun haben. Ferner ist es auch wahr, dass Busoni sogar in Bezug auf die musikalische Phrasierung ein Altmeister ist, der, wie von vielen Kritikern erwähnt wurde, „das Klavier zum Sprechen bringen kann“ und „musikalische Beredsamkeit besitzt“ wie kein anderer; in welcher Hinsicht niemand außer ihm selbst (nach dem, was ich durch Lektüre und mündliche Überlieferung weiß) mit Liszt persönlich verglichen werden kann. Nicht zuletzt ist es wahr, dass seine bloße Persönlichkeit jeden als die eines wahren Genies beeindruckt; wozu ich noch hinzufügen darf, dass bei all seiner beherrschenden Präsenz eine herzergreifende Aufrichtigkeit und Einfachheit an ihm ist, die das Kennzeichen wahrer Größe ist; und dass diese Eigenschaften ihn wie keinen anderen befähigen, seine Zuhörer alles über die Tatsache vergessen zu lassen, dass da ein Mensch am Klavier sitzt. Alle diese Eigenschaften, in solcher Vollkommenheit und Kombination, genügen gewiss, um Busoni zu einem phänomenalen Künstler zu machen; aber sie machen ihn noch nicht zu dem wirklich unvergleichlichen Busoni, der er ist; denn er besitzt noch eine andere und viel bedeutendere Eigenschaft, die ihm seine überragende Stellung auf diesem Gebiet verschafft; und das ist: seine einzigartige Gabe der konzentrierten genialen Auffassung, verbunden mit der Kraft, diese in die Tat umzusetzen. Das bedeutet: Busoni begreift eine musikalische Komposition in ihrer Gesamtheit, als eine Einheit („platonische Idee“ wäre zur Charakterisierung gewissermaßen der geeignetste Begriff), und er behandelt sie dementsprechend; jedes Teilchen der Komposition, vom größten Bestandteil bis hinunter zum einzelnen Ton, erhält seinen passenden Platz im Rahmen des Tonbildes; keinem von ihnen wird auch nur ein Quäntchen mehr oder weniger Bedeutung zugemessen, als es vom Standpunkt der perfekten Proportion und der eigentümlichen Konzeption der gesamten Komposition aus zulässig ist. Das Ergebnis ist eine unvergleichliche Wirkung auf den Zuhörer, sie sei bewusst oder unbewusst. Am Ende der Wiedergabe erschließt sich ihm die Komposition in ihrer Gesamtheit, die ihr zugrunde liegende Idee in toto; so wie man ein Bild sehen würde, von dem ein Schleier allmählich weggezogen wurde, bis es ganz freigelegt ist; oder, um ein vielleicht beredteres Gleichnis zu gebrauchen: während der Wiedergabe steigt man unablässig einen Berghang hinauf, und am letzten Ton steht man auf dem Gipfel des Berges und überschaut – mit einem Blick zurück – aus der Vogelperspektive die gesamte Strecke, die man zurückgelegt hat. Es ist diese Fähigkeit des konzentrierten, genialen Erfassens einer Komposition als Einheit, verbunden mit der Kraft, sie zur Geltung zu bringen, was Busoni wirklich unvergleichlich macht, denn gerade diese besondere Eigenschaft (und nicht die bloße Meisterschaft in Technik, Anschlag, Schattierung und Phrasierung, von Pedaltricks ganz zu schweigen) ist sein hervorstechendes Merkmal und zugleich der höchste Wert des ausführenden Künstlers. Die Kultivierung und Ausnutzung dieser Qualität bedeutet nichts weniger als den höchsten Triumph der Kunst der Wiedergabe und eine Demonstration ihrer einzig wahren Theorie – was sie auch sein muss, denn sie steht in vollkommener Übereinstimmung mit dem Wesen der Kunst, des Genies und der genialen Schöpfung, wie diese schon von den größten Denkern der Menschheit beschrieben worden sind: Platon, Kant und Schopenhauer.

[Heinrich Pfitzner, April 1911]

Gordon Sherwood zum 10. Todestag

Der Lebenslauf Gordon Sherwoods darf mit Fug und Recht als einer der ungewöhnlichsten gelten, die sich in der Musikgeschichte finden lassen. Frühzeitig preisgekrönt und mit einer Aufführung an exponiertester Stelle ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, anschließend in jahrelangen Aufbaustudien bei besten Lehrern ausgebildet, entschied sich der 1929 geborene US-Amerikaner schließlich gegen eine Laufbahn im etablierten Musikbetrieb und zog jahrzehntelang rastlos kreuz und quer über den Globus. Er sah über 30 Länder auf fünf Kontinenten und durchstreifte als Künstler die Musikkulturen der Welt ebenso wie das klassische Erbe der abendländischen Musik. Den Entbehrungen eines strapaziösen Wanderlebens zum Trotz schuf er, unablässig weiter komponierend, ein sich auf nahezu alle Gattungen der Instrumental- und Vokalmusik erstreckendes Gesamtwerk von bemerkenswerter stilistischer Vielfalt. Vor zehn Jahren, am 2. Mai 2013, endete dieses abenteuerliche Leben im oberbayerischen Peiting. Anlässlich seines Todestages sei hiermit ausführlich an Gordon Sherwood erinnert!

Gordon Holt Sherwood kam am 25. August 1929 in Evanston nahe Chicago zur Welt. Seine musikalische Begabung zeichnete sich früh ab, doch legten seine Eltern keinen Wert darauf. Stattdessen ließen sie ihn zwischen seinem zwölften und fünfzehnten Lebensjahr in Kadettenanstalten unterbringen. Der Drang des empfindsamen Jungen zur Musik wurde durch den militärischen Drill, den er über sich ergehen lassen musste, aber nur gesteigert. Nachdem er 1944 zum ersten Mal Beethovens Siebte Symphonie gehört hatte, stand für ihn fest, dass er Komponist werden würde. 1950 nahm er ein Musikstudium an der Western Michigan University in Kalamazoo auf, das er 1953 mit dem Bachelor of Music abschloss. Ab 1954 studierte er an der University of Michigan in Ann Arbor und erwarb dort 1956 den Master of Music. Bereits während seiner Studienzeit gewann er 1955 den 1. Preis beim nationalen Wettbewerb für junge Komponisten der National Federation of Music Clubs. Während seines Studiums erschloss sich Sherwood die Vielfalt der zeitgenössischen und historischen Kompositionsstile abendländischer Musik. Die stärkste Wirkung übte das Schaffen Johann Sebastian Bachs auf ihn aus, doch beschäftigte er sich intensiv auch mit allem anderen, was ihm an Musik begegnete, bis hin zu Bartók, Stravinsky, Schönberg und den Nachkriegsavantgardisten. Aus einer Prüfungsaufgabe heraus entstand seine Erste Symphonie op. 3, deren letzte beide Sätze er als „Introduction and Allegro“ 1957 zum 12th Gershwin Memorial Award einreichte. Sherwood erhielt den Preis, wobei die Stimme von Dimitri Mitropoulos den Ausschlag gab, der das Werk anschließend mit dem New York Philharmonic Orchestra in der Carnegie Hall uraufführte. Dies schien der Beginn einer vielversprechenden Karriere zu sein. Sherwood konnte sich in Tanglewood kurzzeitig bei Aaron Copland weiterbilden, und, mit Stipendien ausgestattet, den Sprung über den Atlantik wagen. Seine Studienaufenthalte an der Hamburger Musikhochschule bei Philipp Jarnach und in Rom an der Accademia Santa Cecila bei Goffredo Petrassi krönte er 1967 mit einem weiteren Kompositionspreis.

Den scheinbar folgerichtigen Schritt, sich mit diesen optimalen Voraussetzungen um eine feste Position im öffentlichen Musikleben zu bemühen, tat Sherwood jedoch nie. Anstatt in Europa oder Amerika eine abgesicherte Existenz, etwa als Kompositionsprofessor, zu führen, ging er gemeinsam mit seiner Ehefrau Ruth, einer Sängerin aus Hamburg, in den Nahen Osten. Zunächst zogen sie nach Kairo, wo Sherwood die Musik zu Fatin Abdel Wahabs Spielfilm Ard el Nifaq (Land der Heuchelei) komponierte. Von 1968 bis 1970 hielten sie sich in Beirut auf – damals, vor den Verheerungen des Libanesischen Bürgerkriegs, weithin als „Paris des Nahen Ostens“ gerühmt – und verdienten ihren Lebensunterhalt u. a. durch gemeinsame Auftritte in Hotels. Als Bar- und Kinopianist entdeckte Sherwood während dieser Zeit die Welt des Blues, Ragtime und Boogie-Woogie für sich. Nach einem weiteren Aufenthalt in Ägypten und einer Reise durch Griechenland, wandten sich die Sherwoods 1972 nach Kenia und ließen sich in Nairobi nieder, wo sie, unterbrochen durch kürzere Aufenthalte in Mombasa und Nakuru, acht Jahre lang lebten. Hier begann Gordon Sherwood ein Studium in Kisuaheli, das er mit Diplom abschloss. Er bemühte sich um eine Förderung durch die Familie des Staatspräsidenten Jomo Kenyatta, doch letztlich ohne Erfolg. Zunehmende Ehekonflikte und das Auslaufen der Aufenthaltsgenehmigung ließen ihn 1980 einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben ziehen. Er trennte sich von Ruth und begab sich, vom Buddhismus begeistert, auf eine Reise durch Südostasien. Mit seinem letzten Geld flog er von Singapur nach Oslo, von wo man ihn nach London abschob. Nachdem er dort erstmals gebettelt hatte, wurde er in die USA ausgewiesen und fand sich schließlich in einem New Yorker Obdachlosenheim wieder. Nach kurzzeitiger finanzieller Unterstützung durch seinen früheren Studienkollegen George Crumb ging Sherwood 1982 nach Paris.

Zunächst versuchte er dort an ein Geschäftsmodell anzuknüpfen, das er bereits während seiner Zeit im Libanon praktiziert hatte: seine Kompositionen an Passanten zu verkaufen. Bald allerdings merkte er, dass er mehr Geld verdienen konnte, wenn er die Leute direkt um Almosen bat. So entschied er sich für ein Leben nach dem Vorbild buddhistischer Bettelmönche und wurde „Selbst-Sponsor“. Seine Zeit teilte er dabei streng ein: Einen Teil des Jahres widmete er dem Gelderwerb auf der Straße; war er finanziell gut genug abgesichert, zog er sich in Domizile zurück, die ihm Freunde zur Verfügung stellten, um ungestört zu komponieren, oder ging auf Reisen, um sich in fernen Ländern zu eigenem Schaffen inspirieren zu lassen, stets mit einem Diktiergerät und einer Stimmgabel im Gepäck. Vom offiziellen Musikleben mittlerweile völlig abgeschnitten, als Komponist nur einer Anzahl kreuz und quer über die Welt verstreuter Eingeweihter bekannt, wurde er 1995 durch Erdmann Wingerts Filmportrait Der Bettler von Paris einem deutschen Publikum vorgestellt. Die in Deutschland lebende russische Pianistin Masha Dimitrieva sah die Dokumentation zufällig im Fernsehen und nahm sofort Kontakt mit Gordon Sherwood auf, der sich zu dieser Zeit bevorzugt in Costa Rica aufhielt. Ihrem begeisterten Einsatz für sein Schaffen verdanken nicht nur mehrere Kompositionen Sherwoods ihre Entstehung, es gelang ihr auch 2004 dem fast 75-jährigen Komponisten zu seinem CD-Debüt zu verhelfen: Für cpo hatte das Bayerische Landsjugendorchester unter der Leitung Werner Andreas Alberts neben der Ersten Symphonie die Sinfonietta op. 101 und, mit Masha Dimitrieva als Solistin, das Klavierkonzert op. 107 aufgenommen. Nachdem bereits im Jahr 2000 sein in Zusammenarbeit mit der Weltmusikgruppe Die Dissidenten entstandenes, oratorienartiges Werk Memory of the Waters op. 113 (Das Gedächtnis des Wassers, die originale Gattungsbezeichnung lautet „Dokumentar-Oper“) in Berlin erfolgreich uraufgeführt worden war, konnte Sherwood schließlich noch erleben, wie seine Musik allmählich bekannt zu werden begann. Seit 2005 lebte er in der diakonischen Kolonie Herzogsägmühle in Peiting, wo man sein Gesamtwerk digitalisierte. Solange es seine Gesundheit zuließ, unternahm er auch von dort noch Reisen. Er starb 2013, kurz nachdem er die Zusage zur Uraufführung seiner Dritten Symphonie op. 118, der Blues Symphony, erhalten hatte.

Gordon Sherwood war ein unabhängiger Künstler, der ausschließlich Musik schuf, die seinen eigenen Vorstellungen von Schönheit und künstlerischer Vollendung entsprach. So wenig es ihn reizte, auf das Rücksicht zu nehmen, was er einmal als Tagesmode oder Konvention erkannt hatte, so breit gestreut waren seine musikalischen Interessen: Indische Ragas, japanische Tempel- und arabische Volksmusik konnten ihn genauso in ihren Bann schlagen wie Johann Sebastian Bach und die Wiener Klassiker; Thomas „Fats“ Waller und Thelonious Monk nicht weniger als Arnold Schönberg, Béla Bartók und Paul Hindemith. Abneigungen hegte er lediglich gegen primitive Militärmusik und die sentimentalen Lieder Stephen Fosters, die ihn an die traumatischen Erfahrungen seiner Jugendzeit erinnerten und ihm als klingende Entsprechungen materialistischer Weltsicht und entseeltem Funktionierenmüssens erschienen. Reizte ihn dagegen ein klingendes Phänomen zur künstlerischen Auseinandersetzung, so reagierte er darauf ohne Berührungsängste, sei es Musik von der Straße oder Beethovens op. 111.

Eine Entwicklung von einem „Früh-“ zu einem „Spätwerk“ lässt sich bei Sherwood nicht feststellen. Er ist bereits in seinen ersten gültigen Werken ein ebenso stilsicherer wie technisch virtuoser Komponist. Die Vorliebe für kontrapunktischen Tonsatz, dissonanzreiche Harmonik, chromatische Melodik, markante Rhythmen, unregelmäßige Metren und konzise Formung aus tonalen Spannungen heraus lässt ihn als Vertreter einer für die USA der 1950er Jahre typischen Stilrichtung erscheinen, die der Musikhistoriker Walter Simmons als „Modern Traditionalism“ bezeichnet hat. Sherwood pflegte dieses Idiom sein ganzes Leben lang gewissermaßen als seinen „Grundstil“. Die von Blues und Jazz inspirierten Werke bauen ebenso darauf auf wie die folkloristischen. Lediglich wenn er streng auf den Spuren der Wiener Klassiker oder Johann Sebastian Bachs wandelt, beschränkt sich der Komponist auf die Kunstmittel der traditionellen Funktionsharmonik, handhabt diese allerdings auf so charakteristische Weise, dass bei aller Anlehnung an die Vorbilder ein „echter Sherwood“ entsteht.

Sherwood war sich sicher, dass sich seine persönliche Ausdrucksweise in jeder seiner Kompositionen zeige, gleich welchen Aufgaben er sich in dem jeweiligen Stück gestellt hatte. Es störte ihn folglich auch nicht, dass sein Werk für manchen Beobachter eklektisch, ja auf den ersten Blick betont uneinheitlich wirken musste. Dabei lag ihm kaum etwas ferner als ein ungefüges Nebeneinander disparater Elemente. Überblickt man sein Gesamtschaffen, so fällt im Gegenteil auf, dass er ganz genau abwog, welche Stile er in seinen Kompositionen wie zusammenbrachte. Das scheinbar ungefilterte Einströmen verschiedenster akustischer Reize gibt es bei ihm sehr wohl. In der autobiographischen Beggar Cantata op. 99, in der er seine Zeit auf den Straßen von Paris thematisiert, dient es ihm als Mittel zur Darstellung des großstädtischen Chaos, mit dem sich der Held des Werkes herumzuschlagen hat. Auf ähnliche Weise lässt er im Gedächtnis des Wassers, ganz unterschiedliche Musikidiome aufeinander treffen, um das kulturelle und historische Erbe der Donauregion zu verdeutlichen. Doch sind dies programmatisch motivierte Einzelfälle. Im Übrigen liegt den Sherwoodschen Kompositionen die Grundidee der Synthese zugrunde: Der Komponist spürt im musikalischen Material Verbindungen auf, um Einheit zwischen verschiedenen Musiksphären zu stiften. Sein Gespür für tonale Zusammenhänge – in klassischem Dur-Moll wie im Blues, im modern-dissonanten Tonsatz wie in nichtabendländischen Volksmusikmodi – ist ihm dabei ein zuverlässiger Kompass. Stets formbewusst, sorgt Sherwood in allen seinen Werken für eine wohlproportionierte Entfaltung der jeweiligen musikalischen Gedanken und tendiert eher zur Kürze als zur Länge. Die meisten seiner sonatenförmigen Instrumentalwerke dauern deutlich weniger als eine halbe Stunde.

Sherwood hinterließ ein Gesamtwerk von 143 Opuszahlen, darunter drei Symphonien, ein Klavierkonzert, mehrere Dutzend Kammermusikwerke vom Solo bis zum Oktett, vier Klaviersonaten und zahlreiche kleinere Klavierstücke, Chormusik von der A-cappella-Motette bis zur symphonischen Kantate und über 80 Lieder. Zehn Jahre nach seinem Tode liegt nur ein kleiner Teil dieses Schaffens gedruckt vor. Fünf Werke (der Klavierzyklus Boogie Canonicus op. 50, die Sonata in Blue für Klavier zu vier Händen op. 66, 4 Duos für Flöte und Viola op. 102, die Blues Symphony op. 118 und 10 Stücke für Altsaxophon solo op. 125) sind bei Ries & Erler erschienen. Die Beggar Cantata und die 3 Stücke für Chor a cappella op. 35 können vom Verlag Sonus Eterna erworben werden. Letzterer hat auch den Großteil der bislang erschienenen Sherwood-CDs veröffentlicht. Unter Federführung Masha Dimitrievas, der Verwalterin des künstlerischen Nachlasses Sherwoods, entstanden bislang jeweils zwei CDs mit Klavierwerken und Liedern (gesungen von Felicitas Breest). In absehbarer Zeit wird sich ihnen eine Aufnahme der Orgelkompositionen, eingespielt von Kevin Bowyer, anschließen. Von Sherwoods Orchestermusik kann man sich durch das bereits erwähnte cpo-Album mit der Symphonie Nr. 1, dem Klavierkonzert und der Sinfonietta ein Bild machen. Für Telos Music haben Matthias Veit und Henning Lucius die Sonata in Blue aufgenommen. Die 4 Stücke für Harfe op. 135 gibt es auf einer Eigenproduktion der Harfenistin Xenia Narati zu hören, das Posaunenquartett op. 87 auf dem Album „Trombonismos“ von Trombones de Costa Rica. Die Dissidenten haben den Uraufführungsmitschnitt von Memory of the Waters herausgebracht. Bei Archipel erschien 2022 die Aufführung des Finales der Ersten Symphonie durch das New York Philharmonic unter Dimitri Mitropoulos aus dem Jahr 1957.

Für weiterführende Informationen stehen Masha Dimitrieva und der Verlag Sonus Eterna zur Verfügung.

[Norbert Florian Schuck, Mai 2023]

„Musik, Politik und Krieg“ – Boris Yoffes zurückgewiesener Beitrag für Musik & Ästhetik

Im September 2022 schrieb der Komponist und Essayist Boris Yoffe auf Anfrage der Zeitschrift Musik & Ästhetik einen Text für ihre Rubrik „Forum“. Als Thema wurde ihm „Musik, Politik und Krieg“ mitgeteilt. Die Zeitschrift akzeptierte Yoffes Statement und teilte dem Autor mit, es werde unter dem von einem Redakteur vorgeschlagenem Titel „Zwischen Mythos und Metaphysik“ zusammen mit einer kurzen Biografie Yoffes veröffentlicht werden. Ende Oktober jedoch erhielt Yoffe eine E-Mail von einem anderen Redakteur, in der es hieß, der Beitrag sei abgelehnt worden als dem Thema „Krieg in der Ukraine“ nicht entsprechend. Auf die Bemerkung Yoffes, das Thema sei ursprünglich ganz anders formuliert worden, kam seitens Musik & Ästhetik keine Antwort. Über die Gründe der plötzlichen Absage soll hier nicht spekuliert werden. Mittlerweile ist Heft 105 von Musik & Ästhetik, das Yoffes Text enthalten sollte, erschienen. Das „Forum“, bestehend aus acht Texten von Alla Zagaykevych, Ludmilla Yurina, Luigi Gaggero, Dániel Péter Biró, Ričardas Kabelis, Agnes Krumwiede, Friedrich Geiger und Gerhard R. Baum kann auf der Seite der Zeitschrift kostenlos heruntergeladen werden (siehe hier). The New Listener ergänzt diese Textsammlung nun um den zurückgewiesenen Beitrag Boris Yoffes. (D. Red.)

Meines Erachtens handeln Menschen weitgehend irrational; man glaubt an bestimmte Mythen und gestaltet sein Leben als ein System von Ritualen, die die Glaubwürdigkeit der entsprechenden Mythen untermauern sollen. Dabei spielt das Ästhetische die zentrale Rolle; das Glänzen einer Uniform, die laute Marschmusik und die flammenden patriotischen bzw. den Feind dämonisierenden Reden gehören zum Rituellen, und ich fürchte, dass das Zerstören, Vernichten, das Foltern und Morden auch eine Art sadistischer Rituale sind, die sich mit einer Ideologie bzw. Mythologie ohne Weiteres rechtfertigen lassen.

Ich erlaube mir hier an die wunderbaren, bewundernswerten Meisterwerke Beethovens und Generationen von Romantikern zu erinnern, die einen ethisch ambivalenten, wenn nicht zu sagen naiven, bis zur Lächerlichkeit reichenden Heroismus-Mythos verkörpern. Auch die Kunst der Moderne wurde weitgehend von den dualistischen Vorstellungen eines Kampfes des Guten mit dem Bösen geprägt.

Das Ethische ist leider grundsätzlich eher sekundär und lässt sich relativieren, je nach Profit, Spaß oder Überlebensstrategie. Die hohe Kunst, die sich mit den zentralen existenziellen Fragen auseinandersetzt, und zwar auf einer unmittelbaren, intuitiven Ebene – jenseits von Kalender, Reisepass und Bankkonto – wie eine praktische Metaphysik –, kann die Menschheit beeinflussen, ja grundsätzlich verändern, weil sie eben das Ästhetische (u. a. im Kern der Persönlichkeit) unmittelbar behandelt. Aber nur so… Das Schaffen Wagners wäre das naheliegendste Beispiel dafür, wie die radikalen Veränderungen im kulturellen Mythos – und die sind nicht mit Manifesten zu erreichen, sondern nur durch die unmittelbare Kraft der Kunst, des Ästhetischen – die Geschichte lenken: weg vom Christentum zu den esoterischen Strömungen (die übrigens keinen Krieg gescheut haben) und zur sexuellen Revolution…

Dass ein Künstler sich als Mensch, als Bürger sozial oder unter Umständen auch politisch engagieren kann, ist jedoch selbstverständlich und steht hier gar nicht zur Debatte.

[Boris Yoffe, September 2022]

Boris Yoffe, 1968 in Leningrad (Sankt Petersburg) geboren und seit 1997 in Deutschland wohnhaft, ist nach dem Urteil seines Kompositionslehrers Wolfgang Rihm „eine der begabtesten und eigenwilligsten Erscheinungen unter den Komponisten seiner Generation“ und beschreibt sich selbst als „Einzelgänger – zwischen Kulturen (deutsch, jüdisch, russisch), Gebieten (Musik, Philosophie, Religion, Wissenschaft), zwischen Sakralem und Absurdem, strenger Konsequenz und eigenwilliger Unvorhersehbarkeit.“ Seine von polyphonen Strukturen geprägte Musik, in welcher immer wieder die intensive Auseinandersetzung des Komponisten mit der Renaissance, dem Barock und der Klassik zu spüren ist, verzichtet auf äußerliche Effekte und versteht sich als „eine individualistische Auseinandersetzung mit Ästhetischem, die keinen Anspruch auf Innovation erhebt und dabei etwas Befreiendes mit sich bringt“. Es ist eine zeitlose Kunst von zerbrechlicher Schönheit und hoher Konzentration. Yoffe schrieb u. a. die drei Kammeropern Die Geschichte von dem Rabbi und seinem Sohn (2002), Esther de Racine (UA Basel 2006) und Madame Lenine (UA Freiburg 2017), eine Symphonie für Gitarre, Gambe, Violoncello und Stimme, eine Messe für Chor a cappella sowie zahlreiche Vokal- und Kammermusikwerke in verschiedensten Besetzungen. Als sein Hauptwerk betrachtet er sein Quartettbuch, ein seit 1995 ununterbrochen fortgesetztes musikalisches Tagebuch, bestehend aus tausenden kurzer Stücke für Streichquartett. Yoffe ist auch als Autor philosophischer und musikhistorischer Bücher hervorgetreten. Besondere Aufmerksamkeit erregte seine monumentale Geschichte der sowjetischen Symphonik Im Fluss des Symphonischen (Hofheim 2014). Weitere Buchveröffentlichungen: Musikalischer Sinn (Hofheim 2012), ABCH, Ambivalente Strukturen bei Bach und ihre Semantisierung (Nordhausen 2021), Bruckner in Venedig / Bruckner a Venezia (Nordhausen 2022).

[Norbert Florian Schuck, Januar 2023]

Musik zur Weihnachtszeit: Reinhard Schwarz-Schilling

Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985), Komponist der von Gott und Mensch, Mysterium, Passion und Gebet handelnden Kantate Die Botschaft, der Missa In Terra Pax, einer der großen A-cappella-Messen des 20. Jahrhunderts, sowie zahlreicher kleinerer kirchenmusikalischer Werke, war ein sakraler Künstler durch und durch. Wie Anton Bruckner, dem er größte Verehrung entgegenbrachte, und Heinrich Kaminski, der sein wichtigster Lehrmeister war, zählt er zu jenen musikalischen Schöpfernaturen, die sich auch dann in einer geistlichen Sphäre bewegen, wenn sie nicht explizit für kirchliche Anlässe komponieren oder einen religiösen Text vertonen. Ein feierlicher Grundton prägt sein gesamtes Schaffen, verdichtet sich zu innigster mystischer Versenkung oder steigert sich in hymnisch-ekstatische Verkündigung hinein; stets auf Grundlage einer Polyphonie, die keine akademische Handwerksarbeit ist, sondern ein von blühendstem Leben durchdrungenes gegenseitiges Umranken selbstständig geführter Stimmen, die immer singen, das Werk sei vokal oder instrumental.

Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass Schwarz-Schilling im Laufe seines Lebens auch wiederholt Musik mit Bezug zum Weihnachtsfest geschrieben hat. Der gemeinsamen Thematik zum Trotz handelt es sich bei den entsprechenden Kompositionen um Werke sehr unterschiedlichen Charakters. Das Thema „Weihnachten“ wird von Schwarz-Schilling musikalisch gleichsam aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet.

Aus dem Jahr 1947 stammt eine schlicht Weihnachtsmusik (WV 79) betitelte Sammlung aus zwölf Choral- und Liedsätzen. Sie enthält folgende Titel:

  • Ave Maria zart
  • Ein Kind geborn zu Bethlehem
  • Gott sei Dank durch alle Welt
  • Herbei o ihr Gläubigen
  • In dulci jubilo
  • Kommet ihr Hirten
  • Kommt und lasst uns Christum ehren
  • Mein Herz will ich Dir schenken
  • Singet frisch und wohlgemut
  • Vom Himmel hoch o Englein kommt
  • Was ist für neue Freud
  • Wie schön leuchtet der Morgenstern

Diese zwei- und dreistimmigen Sätze, die gleichermaßen von Singstimmen wie von Instrumenten ausgeführt werden können, sind wunderbare Beispiele edler Einfachheit. Die Spieler und Sänger finden hier handwerklich feinstgearbeitete weihnachtliche Miniaturen vor, ohne vor unüberwindliche Herausforderungen gestellt zu werden. Ohne Weiteres können die Stücke zum häuslichen Musizieren oder als gottesdienstliche Musik verwendet werden.

Eine Schallplattenaufahme aus dem Jahr 1960 (Cantate, T 72719 K/1960) zeigt sehr schön das Potential der vielfältigen Besetzungsmöglichkeiten. Unter der Leitung von Wilhelm Ehmann musizieren hier Maria Friesenhausen und Rotraut Pax (Sopran), Frauke Haasemann (Alt), Rosemarie Lahrs (Violine), Hanni Hennig (Violine und Viola), Heinrich Haferland (Violoncello) und Arno Schönstedt (Orgel) eine Auswahl von acht Stücken der Sammlung, die teils a cappella, teils rein instrumental, teils gemischt erklingen und in der gewählten Anordnung wie eine kleine Kantate klingen. Die Weihnachtsmusik, die der Komponist 1977 einer Revision unterzog, ist in der Edition Merseburger erschienen.

1958 komponierte Schwarz Schilling im Auftrag des RIAS eine Adventskantate für Sopran oder Tenor, zweistimmigen Frauen- oder Männerchor, Violine, Viola und Orgel über das Lied O Heiland reiß die Himmel auf (WV 61). Die Melodie aus dem Rheinfelßischen Gesangbuch von 1666 wird in sämtlichen neun Teilen des etwa zehnminütigen Werkes streng als Grundlage festgehalten, sodaß in rein musikalischer Hinsicht eine Art Variationszyklus entsteht. Dem kleinen Ensemble entlockt der Komponist durch Wechsel in der Besetzung und Satztechnik, nicht zuletzt durch kontrastreiche Charakterisierung der einzelnen Liedstrophen ein Maximum klanglicher Vielfalt.

In einem kurzen Vorspiel für die Orgel allein wird die Melodie des Liedes angedeutet, bevor sie in Orgel und Streichinstrumenten vollständig erklingt. Bereits hier werden ihre einzelnen Abschnitte imitatorisch verarbeitet. Anschließend singt der Chor, dezent von den Instrumenten begleitet, die erste Strophe. Die zweite Strophe wird vom Solosopran vorgetragen, wobei die Streichinstrumente leise bebende, rezitierend anmutende Tonwiederholungen spielen. Der sehr sanfte Charakter dieses Abschnitts korrespondiert mit dem „Tau“, den Gott in dieser Strophe aufgefordert wird vom Himmel zu gießen. In belebterem Rhythmus verdeutlicht der Chor das Ausschlagen der „Blümlein“ aus der Erde. Die Fragen und Bitten der nächsten Strophe („Wo bleibst Du, Trost der ganzen Welt?“, „O komm, ach komm vom höchsten Saal“) lässt Schwarz-Schilling echoartig versetzt vom Chor vortragen. Dem sorgenvollen Ton dieses Teiles antwortet der Sopran in höchster Lage, unterstrichen vom Strahlen der Violine: „O klare Sonn, du schöner Stern.“ In imitatorischem Satz klagt der Chor ein letztes Mal: „Hier leiden wir die größte Not.“ Dann wird das Stück von einer Choralbearbeitung nach traditioneller Art beschlossen, die das innere Gleichgewicht wieder herstellt und dem Ganzen ein zuversichtliches Ende gibt: „Da wollen wir all danken Dir, unserm Erlöser für und für.“ O Heiland reiß die Himmel auf ist wie die Weihnachtsmusik bei Merseburger erschienen und wurde auf derselben Schallplatte aufgenommen wie diese. Beide Aufnahmen erschienen nach dem Tode des Komponisten in einer 5 CDs umfassenden Privatedition der Familie Schwarz-Schilling, die nicht für den Handel bestimmt war, sich aber in einigen Musikhochschulbibliotheken finden lässt.

Bereits unter Schwarz-Schillings Jugendwerken findet sich ein weihnachtlich konnotiertes Stück. Es handelt sich um die Variationen über ein Weihnachtslied, die im Januar und Februar 1920 entstanden, als der Komponist im 16. Lebensjahr stand und noch seinen ursprünglichen Namen Reinhard Schwarz trug. Ihnen liegt das Lied „Menschen, die ihr wart verloren“ zugrunde. Zwar sind sie für Klavier gedacht, dürften sich aber auch für die Orgel eignen und in weihnachtlichen Aufführungen verwenden lassen. Mit der komplexen Polyphonie der späteren Werke Schwarz-Schillings wartet diese frühe Arbeit noch nicht auf, zeugt aber bereits von der Phantasie des Komponisten als Harmoniker und von seinem Sinn für tonale Entwicklungen: Die letzte Variation steht in Des-Dur, bevor die Coda zum C-Dur des Themas zurückkehrt. Mit zwei weiteren frühen Klavierstücken zu einem Band vereinigt, sind diese Variationen in der Reihe Beyond the Waves bei Musikproduktion Jürgen Höflich erschienen.

[Norbert Florian Schuck, Dezember 2022]

Eine griechische Tragödie…

Sony Classical 19439888252; EAN 0194398882529

Das Jahr 2022 war hinsichtlich der Veröffentlichung von Tonträgern nicht weniger interessant und ergiebig als die vorangegangenen Jahre. Wenn nun also das große Fest des Verschenkens und Beschenktwerdens vor der Tür steht, dann gibt es so einiges, was in Frage kommt: die sensationellen Ersteinspielungen der Streichquartett-Symphonie von Gavriil Popov (Quartet Berlin Tokyo auf eigenem Label) und der Quartette Nr. 3 und 5 von Conrado del Campo (Quatuor Diotima im Vertrieb von outheremusic); Celibidache und die Münchner Philharmoniker mit Sibelius’ 5. Symphonie und Stravinskys Feuervogel-Suite von 1919 (Eigenlabel der Philharmoniker) oder Karel Ančerl mit einer großen Vermächtnis-Box mit vielen wunderbaren Raritäten (Supraphon); einiges weitere fällt mir noch ein, doch editorisch steht der Höhepunkt des Jahres fest, und dies nicht nur, weil vieles bisher nicht Greifbare erstmals zu bekommen ist, sondern überhaupt, weil es sich um eines der ganz großen Vermächtnisse des vergangenen Jahrhunderts handelt: sämtliche kommerziellen Aufnahmen von Dimitri Mitropoulos, dem überragenden Genie der griechischen Musik.

Nicht nur seit Beginn der Digital-Ära, nein: seit mehr als 60 Jahren warten die Verehrer von Dimitri Mitropoulos auf eine Anthologie seiner durchweg US-amerikanischen Studio-Aufnahmen, die er zwischen Dezember 1938 und Februar 1958 fast ausschließlich in New York und Minneapolis machte: in den 1940er Jahren als Chefdirigent des Minneapolis Symphony Orchestra (des heutigen Minnesota Symphony), in den 1950er Jahren als Chefdirigent des Philharmonic Symphony Orchestra von New York (des heutigen New York Philharmonic) und als erster Gastdirigent an der Metropolitan Opera. Warum hat das so lange gedauert – während die meisten anderen legendären Chefdirigenten der großen US-Orchester wie Arturo Toscanini, Fritz Reiner, Pierre Monteux, George Szell, Charles Munch, John Barbirolli, Eugene Ormandy, Jean Martinon oder Leonard Bernstein längst mehrfach abgefeiert und auch Serge Koussevitzky oder der unglaublich vielseitige Leopold Stokowski mit einer unüberschaubaren Zahl von Editionen bedacht wurden?

Manchmal sind es die Nachwehen einer großen Tragödie, die auch dann noch ihre Echos aussenden, wenn die Nachgeborenen die einstigen Ereignisse längst nicht einmal mehr vom Hörensagen kennen. Und in diesem Fall ist es auch noch eine griechische Tragödie…

Dimitri Mitropoulos in den 1950er Jahren.
Quelle: The New York Public Library Digital Collections

Geboren 1896 in Athen, wuchs Dimitri Mitropoulos in einer Familie auf, deren hochbegabte junge Männer meist Priester wurden. Zugleich war seine musikalische Begabung früh offensichtlich, und der belgische Komponist Armand Marsick – einst Schüler von Ropartz und d’Indy sowie Freund von Saint-Saëns und Ysaÿe, bis zum Ausbruch des griechisch-türkischen Krieges Direktor des Athener Konservatoriums – nahm ihn unter seine Fittiche. Mitropoulos wollte seine beiden Lebensadern unter einen Hut bringen und erbat die Aufnahme ins orthodoxe Klosterleben unter Beibehaltung seines Musikerstatus. Die Absicht scheiterte am Verbot des instrumentalen Musizierens, sonst wäre aus ihm vielleicht eine Art griechischer Parallelerscheinung des piemontesischen Priester-Komponisten Lorenzo Perosi geworden. Also begleitete er Marsick nach Rom und wurde zu einem lebenslangen Anhänger der Lehren des San Francesco d’Assisi. Dessen Ideal einer nicht-hierarchischen, jedem Mitglied gleichen Rang gewährenden Gemeinschaft wollte er als Musiker verwirklichen, und als sich herausstellte, dass er vor allem Dirigent sein würde, übertrug er diese Haltung auf seine Orchester, wofür ihn seine Musiker liebten, was ihm aber letzten Endes auch zum Verhängnis werden sollte.

Doch zunächst verstand er sich noch primär als tiefschürfender Komponist und brillanter Pianist. Er ging nach Berlin zu Ferruccio Busoni, der ihm auf einen Schlag das austrieb, was man damals in fortschrittlichen Kreisen als romantische Flausen ansah. Mitropoulos, der von seiner Grundveranlagung her immer rückhaltlos aus tiefster Seele schöpfen musste, war als Komponist auf sich selbst zurückgeworfen. Schnell zeigte sich seine immense dirigentische Begabung, 1921–25 wirkte er als Assistent unter Erich Kleiber an der Berliner Staatsoper, also bei genau dem richtigen Mann, um den Pionier der Moderne in ihm heranreifen zu lassen. Dann folgte er einem Ruf zurück nach Athen, wo er sich in der muffigen, von Eifersucht vergifteten musikalischen Provinz unter widrigsten Bedingungen als begnadeter Orchestererzieher emporarbeitete. Eine gigantische Sensation war dann sein Debüt 1930 bei den Berliner Philharmonikern: Egon Petri, der allseits beglaubigte Statthalter der Busoni-Schule, sagte im letzten Moment als Solist in Prokofieffs 3. Klavierkonzert ab, und Mitropoulos fragte zuerst bescheiden nach, ob das akzeptabel sei, um dann in diesem horrend herausfordernden Werk am Klavier einzuspringen. Er dirigierte vom Instrument aus, lieferte eine fulminante Vorstellung ab und frappierte die etablierte musikalische Welt. Fortan stand seiner internationalen Karriere nichts Wesentliches mehr im Wege, und überall wurde er mit seinem eine Sensation garantierenden Prokofieff-Wunderkonzert eingeladen.

1936 debütierte er beim Boston Symphony Orchestra, wo er sofort als Kronprinz von Serge Koussevitzky gehandelt wurde, und als er im folgenden Jahr wiederkehrte, lud man ihn auch nach Minnesota ein, wo das Orchester gerade – nach dem Weggang Eugene Ormandys nach Philadelphia – nach einem neuen Leiter Ausschau hielt. Ormandy hatte übrigens 1934–35 in Minneapolis für RCA als Recording Pioneer erstaunliche Einspielungen gemacht, darunter Mahlers Zweite und Bruckners Siebte, die auf unzählige Schellacks verteilt wurden und soeben sämtlich in einer 11-CD-Box bei Sony Classical verfügbar gemacht worden sind. Man kann, wenn man beispielsweise die damals so populäre Hary-János-Suite von Kodály hört, sehr eindrücklich den Unterschied zwischen dem frischen, charmant entspannten Musikanten Ormandy in seiner wohl besten Zeit und dem Existenzialisten Mitropoulos hören. (Auch Schönbergs Verklärte Nacht und Jaromír Weinbergers robust zündende Polka und Fuge aus Schwanda der Dudelsackpfeifer laden zum direkten Vergleich ein.)

Jedenfalls nahm Mitropoulos die Herausforderung in Minneapolis im Sturm, und auch die Fortführung der RCA-Aufnahmen übernahm er, nachdem er seine Musiker zu nie dagewesenem Glanz geführt hatte. Er leitete die Geschicke dieses Orchesters, das plötzlich von einem provinziellen Klangkörper zu einem der angesehensten der USA wurde, durch die schweren Jahre des II. Weltkriegs und machte Minneapolis zu einer musikalischen Bastion des Unerhörten und Modernen. Ab 1946 US-amerikanischer Staatsbürger, war er auf die Musikszene in seiner Heimat kaum besser zu sprechen als später sein Kollege Sergiu Celibidache auf das Musikleben im kommunistischen Rumänien unter Ceaușescu. 1950 wurde er, nach mehreren umjubelten Arbeitsphasen am Big Apple, von den New Yorker Philharmonikern abgeworben. Im ersten Jahr teilte er sich die Leitung mit Leopold Stokowski, der zu jener Zeit durch eine schwere persönliche Krise ging, und im darauffolgenden Jahr war er alleiniger Chefdirigent des prestigeträchtigsten Orchesters jenseits des Atlantiks.

Diese Position klingt nach künstlerischer Allmacht, wird jedoch in ihrer Autorität überschätzt. Vom Management wurde ihm schnell signalisiert, dass er sich in der Repertoireauswahl mehr am etablierten Werkkanon und den berühmten Solisten – also am immer noch lebendigen Vorbild Toscaninis – zu orientieren habe, und so focht er bis zum Ende einen leidenschaftlichen Kampf für alles Neue und Unbekannte. In seiner Auswahl findet sich kein Anzeichen ideologischer Scheuklappen, jedoch natürlich ein Schwerpunkt US-amerikanischer Musik, worunter ihm Zeitgenossen wie Morton Gould, Peter Mennin, Roger Sessions, Howard Swanson oder auch David Diamond besonders am Herzen lagen. Im Laufe der Jahre wurde er allerdings zur Zielscheibe der New Yorker Kritik, die auf die zunehmenden Unruhen und Beschwerden aus dem Orchester reagierte und ihn letztlich – in Person des neuen Chefkritikers der New York Times, Howard Taubman – abschoss. Er wollte Gleicher unter Gleichen sein, was er – nicht bereit, offenkundig sich gegen ihn verhaltende Musiker abzustrafen – mit dem Messer im Rücken bezahlte. Zu jenem Zeitpunkt, 1957, hatte er schon seinen ersten Herzinfarkt hinter sich, doch dachte er nicht an Schonung und verausgabte sich weiterhin komplett im Dienst an der Kunst. Mittlerweile war er zudem zum Favoriten der MET avanciert, wo auch die Kritik nicht anders konnte, als seine umwerfend dramatischen, vom ersten bis zum letzten Ton fesselnden Aufführungen zu bejubeln. Und als Orchesterdirigent wandte er sich nun zurück nach Europa, wo er nach dem Tode des in vielem geistesverwandten Wilhelm Furtwängler schnell der Lieblingsdirigent der Wiener Philharmoniker wurde. Vor allem seine Aufführungen der Symphonien Gustav Mahlers und von Werken von Richard Strauss und Franz Schmidt machten ihn zum Gegenstand einer kultischen Verehrung, die aufgrund der vielen erhaltenen Live-Aufnahmen unverändert anhält. Mitropoulos starb – wie es sich gehört, kann man in seinem Fall sagen – am 2. November 1960 während einer Probe für Mahlers Dritte in der Mailänder Scala an seinem dritten Herzinfarkt. Das Bergsteigen, das er so sehr liebte, hatte er längst aufgeben müssen, doch Kettenraucher war er nach wie vor. Er hat alles, auch die komplexesten neuen Werke, auswendig dirigiert und kannte die Musik bis ins kleinste Detail besser als die versiertesten unter den Komponisten, die das Glück hatten, von ihm aufgeführt zu werden. Leider gibt es von ihm nur ganz wenige Aufnahmen von Werken der Klassiker, und da hat viel Neid und üble Nachrede dazu geführt, seine Leistungen zu marginalisieren. Mitropoulos war im Leben ein Asket, manche haben ihn sogar als Masochisten bezeichnet, in der Musik hingegen von unwiderstehlicher Strahlkraft mit seinem alles und jeden in Bann ziehenden Lebenswillen, seiner unaufhaltsam pulsierenden Entdeckungsfreude und einer Intensität ohnegleichen.

Nun also wird die weltweite Mitropoulos-Gemeinde für ihr 60jähriges Warten entschädigt, indem Sony Classical sämtliche RCA- und Columbia-Aufnahmen des bedeutendsten griechischen Musikers des 20. Jahrhunderts in einer luxuriös ausgestatteten 69-CD-Box veröffentlicht. Das hat so lange gedauert, da die Plattenfirma in diesem Unternehmen vom New York Philharmonic – wo Mitropoulos seit Bernsteins Zeiten bis heute ein ähnlicher Interimsstatus zugeschrieben wird, wie ihn die Berliner Philharmoniker unter Karajan gegenüber Celibidache als Image etablierten – kaum nennenswerte Unterstützung erfuhr. Und in Minneapolis hatte man einfach nicht die Ressourcen, um dies ambitionierte Vorhaben entsprechend mit voranzutreiben. Dass Mitropoulos ein Genie – dies nicht nur als Dirigent, sondern auch als Pianist und (was man erst heute allgemein anzuerkennen beginnt) als Komponist – war, stand stets außer Zweifel, und mit genau dieser Etikettierung warb die Columbia schon damals für seine New Yorker Aufnahmen. Doch zugleich war es seine kompromisslos auf die Angelegenheiten der Musik konzentrierte Hingabe, die ihn für Fragen des Prestiges und der Macht blind sein ließ. Er agierte selbstlos als Dirigent, bezahlte oft Projekte, die nicht die nötige Unterstützung erhielten, aus der eigenen Tasche, half auch jedem anderen Bedürftigen großzügig mit seinem Geld aus, bis er selbst keines mehr hatte; und diese Selbstlosigkeit erwartete er zugleich von seinen Mitstreitern, was dazu führte, dass er von der Columbia keine besseren Bedingungen forderte und daher schlechter behandelt wurde als beispielsweise die Kollegen aus Philadelphia unter ihrem viel oberflächlicheren, jedoch sehr auf gute Politur bedachten Chefdirigenten Eugene Ormandy. Nicht nur hatte Ormandy wie auch Bruno Walter und George Szell bei der Auswahl des Repertoires überwiegend freie Hand, es wurde dort auch weitaus großzügiger mit den zur Verfügung gestellten Aufnahme-Sessions verfahren. In New York unter Mitropoulos hingegen wurden alle Beteiligten auslaugende Mammut-Sessions anberaumt, die heute schlicht absurd überfordernd wirken, und man kann sich nur wundern, wie es unter derart desaströsen Bedingungen überhaupt zu solchen Leistungen kommen konnte. So wurden am 2. November 1952 Borodins 2. Symphonie (eine der großartigsten Mitropoulos-Einspielungen), 4 Tänze von de Falla und von Mendelssohn drei Ouvertüren und die Symphonien Nr. 3 und 5 aufgenommen. Und am 11. November 1957, als das gemeinsame Schiff schon im Sinken begriffen war, brachte man nach Star Spangled Banner Mussorgskys Nacht auf dem kahlen Berge, eine umfangreiche Suite aus Prokofieffs Romeo und Julia sowie Tschaikowskys Slawischen Marsch und – zum Schluss – die Pathétique unter Dach und Fach. Wie sollte der Tschaikowsky da noch so passioniert gespielt werden können wie der Prokofieff? Und wie hätten die Mendelssohn-Symphonien noch jene Frische haben können, die sie im Konzert hatten? Ganz abgesehen davon, dass es auch kaum Zeit für Nachkorrekturen gab und möglichst alles sofort reibungslos zu klappen hatte. Es ist also ein schlichtes Wunder, dass die meisten dieser Einspielungen trotzdem zum Fesselndsten und Mitreißendsten gehören, was je auf Schallplatte gebannt wurde. Die Mendelssohn-Symphonien beispielsweise genießen bis heute Referenzstatus. Und die legendäre Aufnahme des Schönberg-Violinkonzerts mit Mitropoulos’ Freund Louis Krasner wurde – wie Krasner ausführlich geschildert hat – in der letzten halben Stunde eines ganztägigen Aufnahmeprojekts spontan eingeschoben, ohne die Gelegenheit zu auch nur einer minimalen Nachkorrektur.

Wir können daran sehen, wie widrigste Bedingungen die Menschen über sich selbst hinaus wachsen lassen, wie sie aber auch der langfristigen Stabilität einer Beziehung im Wege stehen und die Strahlkraft und Begeisterung auch großartigster künstlerischer Erlebnisse allmählich aushöhlen. Mitropoulos und sein Orchester haben sozusagen Übermenschliches geleistet, und am Ende hat man ihn dafür verflucht und sich seinem Zögling Leonard Bernstein, der ihn letztlich auch verriet, an die Brust geworfen. Zumal Bernstein das damals so gefährliche Thema seiner Homosexualität mit einer glanzvollen Heirat kaschierte, wogegen Mitropoulos, der stets lebte wie ein Mönch, wegen seiner homosexuellen Veranlagung ins Gerede geriet. Insofern ist die nun vorliegende CD-Anthologie nicht nur ein später Triumph seiner unnachahmlichen Kunst, sondern auch ein Akt dessen, was man Wiedergutmachung nennt.

Es ist nicht einfach, Highlights aus dieser Sammlung zu benennen. Viele, darunter die Opernaufnahmen wie Bergs Wozzeck, Barbers Vanessa, Mussorgskys Boris Godunov oder Verdis Maskenball – allesamt mit Traumbesetzungen –, wie seine Berlioz-, Scriabin-, Prokofieff- oder Schostakowitsch-Einspielungen, Schönbergs Erwartung mit Dorothy Dow oder das 5. Beethoven-Konzert mit Robert Casadesus galten sofort als maßstabsetzend und sind es bis heute geblieben. Andere sind weniger bekannt geworden, und unter diesen möchte ich besonders die hinreißende Aufnahme von Tschaikowskys 1. Orchestersuite erwähnen, mit ihrem frappierend fugierenden Kopfsatz, der zu seinen symphonischen Gipfelleistungen zählt und hier mit maximaler Differenzierung, Spannkraft und bezwingend organischer Geschlossenheit dargeboten wird; eine feine, in ihrer erfüllten Unschuld besonders berührende Aufnahme des 3. Beethoven-Konzerts mit dem jungen Jean Casadesus; Dukas’ Zauberlehrling und die Schumann-Symphonien. Oder die nur mit Hilfe unabhängiger Funds eingespielten Symphonien Nr. 2 von Roger Sessions und Nr. 3 von Peter Mennin sowie das Symphonic Allegro des jungen Roy Travis. Besonders Mennins Dritte – vom meines Erachtens bedeutendsten Symphoniker, den die USA hervorgebracht haben – ist auf die Fähigkeiten Mitropoulos’ geradezu ideal zugeschnitten: unaufhaltsames Momentum in den Ecksätzen, dabei ständig in vollem Auskosten der Sensitivität der Tonbeziehungen, von flammendem Leben erfüllt. Und verinnerlichter Fluss, Palestrina-artiges Verständnis des kontrapunktischen Gewebes in modernem Harmoniegewand im lyrischen Mittelsatz. Da findet man auch die Verbindung zum Komponisten Mitropoulos, wie sie in der lyrischen Ekstase des 19jährigen im Orchesterstück Taphé (Begräbnis) mitzuerleben ist, von welchem bei YouTube eine wunderbar einfühlsam disponierte Aufführung unter Ioannis Protopapas vorhanden ist. Oder in seinem letzten Orchesterwerk, dem gnadenlos über Stock und Stein jagenden, quasi den mittleren Bartók vorwegnehmenden Concerto grosso von 1928, welches unlängst in einer Neuaufnahme bei Bridge Records veröffentlicht wurde. Wie sehr bedaure ich, dass Mitropoulos selbst sich nicht mehr um seine eigenen Kompositionen kümmerte, wie dies Furtwängler und de Sabata gelegentlich und selbst Celibidache bei einer Gelegenheit getan haben. Doch das Vermächtnis Mitropoulos’ ist – auch wenn er kaum Skalkottas dirigiert hat und seine Aufführungen großer Werke seiner Landsmänner Perpessas und Petrides nicht ins Aufnahmestudio mitbrachte – eine gigantische Lebensleistung, und was in dieser Anthologie von den von ihm so geliebten Meistern Mahler, Strauss, Schönberg, Krenek oder Schnabel fehlt, kann man großenteils in seinen Live-Aufnahmen nacherleben. Und es steht außer Zweifel, dass – wenn man die Entstehungsbedingungen der Columbia-Aufnahmen in Betracht zieht – der Unterschied zwischen Konzert- und Studioaufnahmen bei ihm nicht größer war als etwa bei Celibidache die Differenz zwischen Konzerten und Aufnahmen in den Rundfunkstudios. Es ist eigentlich immer live, wie es die Musik ihrem Wesen nach seit jeher ist.

[Christoph Schlüren, Dezember 2022]

Musikalischer Chronist der ukrainischen Geschichte – Jewhen Stankowytsch zum 80. Geburtstag

Holodomor, Babyn Jar, Tschernobyl – den Schreckensereignissen der ukrainischen Geschichte hat Jewhen Stankowytsch eindringliche Mahnmale in Tönen errichtet. In den folkloristischen Traditionen seiner Heimat tief verwurzelt, steigerte er deren Elemente zu einem scharf profilierten Personalstil und schuf zahlreiche Orchester-, Kammermusik-, Vokal- und Bühnenwerke. Das Friedensgebet mit dem er seine 2015 entstandene Kammersymphonie Nr. 12 schloss, blieb bis heute unerhört. In einem vom Krieg erschütterten Land beging Jewhen Stankowytsch, einer der großen Komponisten unserer Zeit, am 19. September 2022 seinen 80. Geburtstag.

Jewhen Fedorowytsch Stankowytsch (zur Zeit der Sowjetunion auch in der russischen Form seines Namens als Jewgenij Fjodorowitsch Stankowitsch bekannt, in englischen Veröffentlichungen Yevhen Stankovych geschrieben) stammt aus der Oblast Transkarpatien, dem ethnisch gemischten Grenzgebiet der Ukraine zu Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. Er kam 1942 in Swaljawa als Sohn einer Lehrerfamilie zur Welt. Im Alter von zehn Jahren erlernte er das Spiel auf dem Bajan (dem osteuropäischen Knopfakkordeon) und versuchte sich bald in der Komposition. An der Musikhochschule der Oblasthauptstadt Ushhorod studierte er Violoncello, bevor er 1961 ans Konservatorium nach Lemberg wechselte, wo er ersten Kompositionsunterricht von Adam Sołtys erhielt. Nach mehrjähriger Unterbrechung durch den Militärdienst setzte er seine Studien 1965 am Kiewer Konservatorium, der heutigen Nationalen Musikakademie der Ukraine P. I. Tschaikowskyj, fort. Sein wichtigster Lehrer war dort Borys Ljatoschynskyj, der herausragende ukrainische Symphoniker seiner Zeit. Nach dessen Tod 1968 schloss Stankowytsch seine Komponistenausbildung bei Myroslaw Skoryk ab.

Stankowytsch wuchs in ein sowjetisches Musikleben hinein, für das Dmitrij Schostakowitsch bereits ein Klassiker war. Auch waren die ersten Regungen eines westlich orientierten Avantgardismus spürbar geworden. In der Ukraine hatte namentlich Walentyn Sylwestrow während der 1960er Jahre mit Kompositionen, die sich der Zwölftonmethode bedienten, für Aufsehen bzw. bei den Kulturbehörden für Unmut gesorgt. Nach wie vor waren in der staatlich geförderten Musikpublizistik jene Stimmen beherrschend, die den „Sozialistischen Realismus“ als ästhetische Richtlinie für das kompositorische Schaffen propagierten. In diesem Umfeld erfuhren Stankowytschs Frühwerke gleichermaßen Zustimmung wie Ablehnung. Einerseits erhielt er Preise, sein Ruf als eines der hervorragendsten Nachwuchstalente der ukrainischen Musik festigte sich, anderseits musste er heftige Kritik über sich ergehen lassen. Die Kulturfunktionäre wussten nicht recht, wie sie ihn einzustufen hatten. Teils erschienen ihnen seine Werke als zu modern, teils als zu – folkloristisch! So wurde seine erste Oper Wenn der Farn blüht 1979 unmittelbar vor der bereits angesetzten Uraufführung verboten (sie kam erst 2017 in Lemberg auf die Bühne). Zwar basiert die Musik des Stückes auf originalen ukrainischen Volksgesängen, doch wurde der Inhalt, der keinerlei Bezüge zur sowjetischen Gegenwart aufweist und stattdessen Kulte der heidnischen Frühzeit und die Lebenswelt der Saporoger Kosaken beschreibt, zum Anlass genommen, das Werk unter dem Vorwurf des Nationalismus aus dem Programm zu verbannen. Auch entfaltet Stankowytsch, der sich nach eigener Aussage vom „Melos der Zentral-Ukraine bzw. von der einzigartigen Mehrstimmigkeit des Saporoger Sitsch, also des Kosakentums, einerseits und von Karpaten- oder Huzulen-Folklore anderseits“ inspirieren ließ, hier mit betont archaisierender Harmonik und dem Einsatz zahlreicher Schlaginstrumente ein Folklorepanorama, dessen Eigenart sich kaum mit Begriffen wie „traditionell“ oder „modernistisch“ erfassen lässt.

Ein Avantgardist ist Stankowytsch in der Tat nie gewesen. Die formbildende Kraft der Tonalität hat er in seinem Schaffen nie verleugnet und auch in der Wahl der Gattungen stets die Anbindung an die Tradition gesucht. Einer bestimmten Stilrichtung oder Schule lässt er sich allerdings kaum zurechnen. Charakteristisch für Stankowytschs Komponieren ist sein breites Spektrum harmonischer Stilmittel. Die Einfachheit der heimatlichen Folklore und des orthodoxen Kirchengesangs fungieren als ein gedachtes Zentrum, von dem ausgehend er zu komplexen Harmoniegebilden gelangt, die jedoch stets die Beziehung zum Ursprung wahren. Von der Diatonik zum Cluster ist es für Stankowytsch nur ein kleiner Schritt – vor allem ein Schritt, bei dem die Richtung klar ist. Seine Fähigkeit zur musikalischen Synthese zeigt sich in seinen Werken besonders dann, wenn er originale Volksmelodien verarbeitet. Sie fügen sich nahtlos in den Kontext einer dissonanzgesättigten modernen Harmonik ein, die letztlich auf den gleichen Grundlagen aufbaut wie die Diatonik der Folklore. Viele Werke Stankowytschs gewinnen ihre Spannung aus der Gegenüberstellung scharf kontrastierender Gedanken. Elementare, grobkörnige Kurzmotive wechseln mit ausgedehnten elegischen Kantilenen. Auch instrumentatorisch werden diese Kontraste hervorgehoben. Überhaupt ist Stankowytschs Einfallsreichtum als Instrumentator schier unerschöpflich. Man höre sich einmal seine zwischen 1973 und 2003 entstandenen sechs Symphonien an, die sich in ihren Besetzungen deutlich voneinander unterscheiden. In Nr. 1 und Nr. 4, der Sinfonia larga und der Sinfonia lirica, verlangt er nur nach 15 bzw. 16 Solostreichern, denen er eine solche Vielfalt an Klängen abgewinnt, dass man mitunter meint, ein vollbesetztes Symphonieorchester zu hören. Nr. 2, die Heroische, und Nr. 6 sind seine einzigen Symphonien für eine „gewöhnliche“ Besetzung. Bei Nr. 3, Ich bestärke mich selbst, handelt es sich um eine Symphoniekantate für Soli, gemischten Chor und Orchester nach Gedichten von Pawlo Tytschyna. Nr. 5, die Symphonie der Pastoralen, nähert sich durch Verwendung einer Solovioline dem Konzertanten. Besonders intensiv hat sich Stankowytsch der Kammersymphonie zugewandt und gehört mit mittlerweile 15 Werken zu den produktivsten Komponisten auf diesem Gebiet. Offensichtlich reizt es ihn besonders, sich auf ein kleines Instrumentarium zu beschränken, um diesem einen maximalen Reichtum an Klängen zu entlocken. Jede der Kammersymphonien ist für eine andere Besetzung geschrieben. Wiederholt weist er einem bestimmten Instrument solistische Aufgaben zu (Nr. 3 Flöte, Nr. 5 Klarinette, Nr. 6 Horn, Nr. 9 Klavier). Das eigentliche Fach der konzertanten Musik hat Stankowytsch mit zwei Viola-, zwei Violoncello- und sieben Violinkonzerten ebenfalls reich bedacht.

Stankowytschs freier Umgang mit traditionellen Formkonzepten lässt sich exemplarisch anhand seiner Zweiten Symphonie studieren. Das Werk besteht aus drei Sätzen, die ohne Pause aufeinander folgen. Der erste stellt einem trotzigen, dreitönigen Streichermotiv ein melodiebetontes Thema in den Bläsern gegenüber und steigert beide in der Durchführung zu apokalyptischen Bildern. Der zweite, langsame Satz beginnt leise und polyphon in den Streichern, nimmt bald das Volkslied O schau, Mutter, schau auf und verarbeitet es auf vielfältige Weise. Er mündet, allmählich lebhafter werdend, nahtlos in das kurze Finale, das weniger ein eigenständiger Satz als eine gemeinsame Coda beider erster Sätze ist und mit Elementen beider die Symphonie zum kräftigen Ausklang führt.

Wiederholt hat Stankowytsch in seinen Werken Ereignisse der ukrainischen Geschichte gestaltet. Die Oper Wenn der Farn blüht, mit ihrer Thematisierung der Frühgeschichte und des Saporoger Kosakenstaates, wurde bereits erwähnt. Seine Taras-Passion (2013) behandelt das Schicksal des Nationaldichters Taras Schewtschenko (1814–1861), der wegen seiner als revolutionär eingestuften Gedichte zehn Jahre in die Verbannung nach Zentralasien geschickt wurde, wo ihm auf ausdrücklichen Befehl des Zaren verboten war, sich künstlerisch zu betätigen. Das 1992 komponierte Requiem für die Opfer der Hungersnot ist dem Gedächtnis der Toten des Holodomor gewidmet, der von der sowjetischen Regierung während der 1930er Jahre zur Schwächung des Bauernstandes gezielt ins Werk gesetzten Hungersnot, die in der Ukraine zu mehreren Millionen Toten führte. Diesem Werk voran ging 1991 das 2006 neu gefasste Kaddisch-Requiem „Babyn Jar“, das der Ermordung von 33.000 Kiewer Juden durch die SS im Jahr 1941 gedenkt. 2011, 25 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, komponierte Stankowytsch das Oratorium Die Mutter von Tschernobyl. Eines der jüngsten Werke dieses musikalischen Chronisten der Ukraine, das auf historische Geschehnisse Bezug nimmt, ist die 2015 entstandene Zwölfte Kammersymphonie. Es handelt sich hierbei um die kammerorchestrale Fassung zweier im Jahr zuvor, nach dem Ausbruch des ukrainischen Bürgerkriegs, komponierter Stücke für Violine und Klavier: Fresko des Maidans und Gebet für den Frieden.

Bis zum heutigen Tage ist Jewhen Stankowytsch, der seit 1988 als Kompositionsprofessor an der Nationalen Musikakademie der Ukraine lehrt und von 2005 bis 2010 als Vorsitzender des Nationalen Komponistenverbands der Ukraine amtierte, ungebrochen schöpferisch tätig. Neben den genannten Kompositionen umfasst sein Werkverzeichnis noch zahlreiche weitere Orchester-, Kammermusik-, Vokal- und Bühnenwerke, die es rechtfertigen, von ihm als dem hervorragendsten unter den lebenden ukrainischen Komponisten zu sprechen. Eine weitere Verbreitung seiner Werke auch außerhalb seiner Heimat erscheint gerade anlässlich seines 80. Geburtstages sehr wünschenswert.

[Norbert Florian Schuck, September 2022]

NB: Der Verfasser dankt Holger Sambale und Christoph Schlüren für wertvolle Hinweisungen und Korrekturen.

Roy Travis zum 100. Geburtstag

Die bei RCA erschienene Dimitri-Mitropoulos-Edition, die auf 69 CDs sämtliche Aufnahmen umfasst, die der große Dirigent für RCA und Columbia eingespielt hat, ist eine veritable Schatzkiste. Nicht zuletzt dokumentiert sie Mitropoulos‘ Einsatz für die zeitgenössische Musik der Vereinigten Staaten: Roger Sessions, Peter Mennin und Gunter Schuller sind mit Symphonien vertreten, Leon Kirchner mit seinem Klavierkonzert Nr. 1, Morton Gould und Elie Siegmeister mit kleineren Orchesterwerken und Samuel Barber mit der Oper Vanessa. Als mich kurz nach der Veröffentlichung (April 2022) ein guter Freund mit dieser Wunderschachtel bekannt machte, fanden wir beide Gefallen an einem weiteren US-amerikanischen Stück, dessen Komponist uns bislang völlig unbekannt geblieben war: dem Symphonic Allegro von Roy Travis. Eine kurze Suche im Netz ergab, dass die Edition genau rechtzeitig zum 100. Geburtstag des 2013 gestorbenen Komponisten erschienen ist, und dass es sich bei Travis offenbar um einen vielseitigen Künstler handelt, der stärkere Aufmerksamkeit verdiente als ihm in den letzten Jahren seines Lebens zuteil wurde. Widmen wir Roy Travis anlässlich seines Jubiläums das folgende Gedenkblatt!

Roy Elihu Travis, geboren am 24. Juni 1922 in New York City, gehört zu denjenigen Komponisten, die als Gewinner des Gershwin Memorial Contest, eines 1945 ins Leben gerufenen Wettbewerbs für Orchesterwerke junger Autoren, erstmals in der Öffentlichkeit von sich reden machten. Andere Beispiele sind etwa der gleichaltrige Peter Mennin, an den der Preis 1945 zum ersten Mal vergeben wurde, und der etwas jüngere Gordon Sherwood, der ihn 1957 erhielt. Anhand dieser drei Komponisten, die alle von jener Stilrichtung ausgehen, die Walter Simmons in seinem Buch Music of Stone and Steel als „Modern Traditionalism“ charakterisiert hat, zeigt sich, welch unterschiedliche Karrieren den Gershwin-Preisträgern bevorstehen konnten: Mennin wurde erst zum führenden US-Symphoniker seiner Generation und schließlich Präsident der Juilliard High School. Sherwood stürzte sich in dem Moment, als ihm im Musikbetrieb Amerikas alle Türen offen gestanden hätten, geradezu fluchtartig in eine abenteuerliche Vagabundenexistenz, konnte aber, nach jahrzehntelanger Vergessenheit, als über 70-Jähriger seine spektakuläre Wiederentdeckung erleben. Roy Travis‘ Leben verlief dagegen allem Anschein nach weniger aufsehenerregend. Nachdem sein Symphonic Allegro 1951 mit dem Gershwin Memorial Award ausgezeichnet und von den New Yorker Philharmonikern unter Mitropoulos eingespielt worden war, studierte er, unterstützt durch ein Fulbright-Stipendium, ein Jahr lang bei Darius Milhaud in Paris und wurde nach seiner Rückkehr selbst Musikpädagoge. Er unterrichtete in New York an der Columbia University (1952/53) und an der Mannes School of Music (1952–1957), bevor er 1957 an die Musikfakultät der University of California in Los Angeles wechselte. Dort wirkte er, seit 1968 Professor, bis zu seiner Pensionierung 1991.

War Travis also nur einer von vielen handwerklich beschlagenen Komponisten, die ihr Dasein als Lehrer fristeten, ohne außerhalb ihres engeren Wirkungskreises sonderlich bekannt zu werden? Offensichtlich nicht! Ein genauerer Blick auf sein Schaffen verrät, dass es sich bei ihm keineswegs um einen Akademiker handelte, der sich mit einmal verinnerlichten Konventionen begnügte. Tatsächlich gehört Travis in eine Reihe mit John Foulds und Walter Kaufmann, Komponisten, die sich mit wahrer Leidenschaft in Musiktraditionen außerhalb des abendländischen Kulturkreises vertieften, daraus mannigfaltige Anregungen für das eigene Schaffen gewannen und zu Pionieren des musikalischen Austauschs zwischen Ost und West wurden. Wie Foulds und Kaufmann beschäftigte sich auch Travis mit den Modi und rhythmischen Modellen der indischen Musik. Eine wenigstens ebenso große Bedeutung erlangte für ihn die traditionelle Musik des westlichen Afrika, mit der er sich auseinanderzusetzen begann, nachdem er in den 60er Jahren die Bekanntschaft des ghanaischen Meistertrommlers Robert Ayitee gemacht und an den von diesem an der University of California veranstalteten Kursen teilgenommen hatte. Travis transkribierte Tonaufzeichnungen ghanaischer und anderer westafrikanischer Lieder und Tänze und erlangte dadurch ein profundes Wissen über die Strukturen, die dem Musizieren der betreffenden Völker zugrunde liegen. Die erste künstlerische Frucht dieser Beschäftigung war seine Zweite Klaviersonate, die African Sonata, in deren vier Sätzen er auf Tanztypen der in Ghana bzw. Mali ansässigen Ashanti, Ewe und Bambara zurückgriff. Später begann der Komponist afrikanische und indische Instrumente mit abendländischen zu kombinieren. So existiert aus seiner Feder ein Konzert für Violine, Tabla (indische Trommel) und Orchester. Sein Werk Switched-On Ashanti basiert auf Tonbandaufzeichnungen des Meistertrommlers Kwasi Badu, die Travis mit einem Synthesizer bearbeitete. Diese werden im Konzert den Klängen einer Quer- bzw. Piccoloflöte gegenübergestellt. Travis umfangreichstes Werk, in welchem abendländische und afrikanische Traditionen verschmolzen werden, ist die abendfüllende Oper The Black Bacchants, nach den Bakchen des Euripides, deren Instrumentalensemble ein großes Symphonieorchester samt einer Vielzahl westafrikanischer Instrumente umfasst. Daneben entstanden weiterhin Kompositionen für konventionelle abendländische Besetzungen. Roy Travis starb am 19. Oktober 2013 im Alter von 91 Jahren über der Arbeit an seiner dritten Oper Hamlet.

Diskographie

(Von den nachfolgend aufgezählten LP-Aufnahmen ist bislang nur Mitropoulos‘ Einspielung des Symphonic Allegro auf CD wiederveröffentlicht worden.)

  • Symphonic Allegro (Columbia, 1952): New York Philharmonic, Dimitri Mitrpoulos (Dirigent).
  • Collage for Orchestra (Cri, 1970): Royal Philharmonic Orchestra, Arthur Bennett Lipkin (Dirigent).
  • Zwei Szenen aus der Oper The Passion of Oedipus (Orion, 1973): William Du Pré (Oedipus), Maureen Lehane (Jocasta), Joy Mammen (Oracle), John Robert Dunlap (Laios), Robert Lloyd (Corinthian Envoy), Richard Hale (Old Shepherd), The Royal Philharmonic Orchestra and Chorus, Jan Popper (Dirigent).
  • Duo Concertante, African Sonata, Switched-On Ashanti (Orion, 1973): Isidor Lateiner (Violine), Edith Grosz (Klavier), Richard Grayson (Klavier), Kwasi Badu (ghanaische Trommeln), Gretel Shanley (Flöte).
  • Symphonic Allegro, Songs and Epilogues, Piano Concerto (Orion, 1975): Harold Enns (Bass), Royal Philharmonic Orchestra; Irma Vallecillo (Klavier), Utah Symphony Orchestra; Jan Popper (Dirigent).

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]

Das Christus-Mysterium von Felix Draeseke

Das Fest der Auferstehung Jesu Christi ist ein idealer Anlass, auf das umfangreichste geistliche Werk hinzuweisen, das die Chorliteratur deutscher Sprache besitzt: Felix Draesekes Christus. Ein Mysterium in einem Vorspiele und drei Oratorien.

Felix Draeseke (1835–1913) gehört zu den herausragenden Kirchenkomponisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Dass er der geistlichen Musik einen wesentlichen Stellenwert in seinem Schaffen beimessen würde, schien ihm geradezu in die Wiege gelegt, waren doch sein Vater und beide Großväter hochrangige protestantische Kirchenmänner. Zwar stand für Draeseke spätestens seit seinem 17. Lebensjahr, als er Wagners Lohengrin zum ersten Mal gehört hatte, fest, dass er entgegen der Familientradition Musiker werden wollte, doch verfügte er aufgrund seiner Herkunft über ausgezeichnete Bibelkenntnisse, die sich durchaus mit denen eines Fachtheologen messen konnten.

In jungen Jahren fiel Draeseke nicht mit geistlichen Komposition auf. Er schloss sich als Schüler des Leipziger Konservatoriums dem Kreis der „Zukunftsmusiker“ um Franz Brendel an und wurde bald als „ultraradikaler“ Vertreter der später „Neudeutsche Schule“ genannten Richtung in Nachfolge Franz Liszts und Richard Wagners bekannt. Seine Aufmerksamkeit galt damals vor allem germanischen Stoffen (Oper König Sigurd, Ballade Helges Treue op. 1, Kantate Germania an ihre Kinder). Dass er sich zu dieser Zeit theoretisch mit kirchenmusikalischen Fragen beschäftigte, geht jedoch daraus hervor, dass er 1859 ankündigte, auf der Gründungsversammlung des Allgemeinen deutschen Musikvereins in Leipzig einen Vortrag über „Die protestantische Kirchenmusik und die Gründung einer festen Form für dieselbe, analog der katholischen Messform“ zu halten. (Den Vortrag sagte er damals kurzfristig ab, publizierte die darin enthaltenen Gedanken aber 1885 in dem Aufsatz „Kirchenmusikalische Zeitfragen“, erschienen in den Kirchlichen Monatsschriften).

In den 1860er Jahren machte Draeseke während eines längeren Aufenthalts in der Schweiz eine stilistische Metamorphose durch. Er ging auf Distanz zu seinen Frühwerken und betrieb intensive kontrapunktische Studien. 1870 wurde mit dem Lacrimosa op. 10 zum ersten Mal ein Kirchenmusikwerk Draesekes aufgeführt. Ihm folgten 1878 das Adventlied op. 30 (nach Friedrich Rückert) und 1881 das Requiem h-Moll op. 22, in welches das Lacrimosa eingearbeitet wurde. Diese Werke bildeten den Auftakt zu einem im Hinblick auf Gattungen, Besetzungen und Textwahl vielseitigen geistlichen Schaffen. Draeseke war zwar bekennender Protestant, sah allerdings in den festen Formen der katholischen Gottesdienstmusik ein nachahmenswertes Vorbild. Er vertonte die katholische Messe und das Requiem jeweils einmal mit Orchesterbegleitung, einmal a cappella, und schrieb mehrere lateinische A-cappella-Motetten. Daneben entstanden in deutscher Sprache drei Psalmen (opp. 56, 59, WoO 31), eine Sammlung geistlicher Lieder mit Klavierbegleitung (op. 75), die Osterszene nach Goethes Faust op. 39, und als bei weitem umfangreichste Arbeit das Mysterium Christus, dessen vier Teile die Opuszahlen 70 bis 73 umfassen.

Felix Draeseke, 1905

Die ersten Ideen zum Christus reichen bis in eine Zeit zurück, als Draeseke noch gar nicht mit geistlichen Werken öffentlich in Erscheinung getreten war. In diesem Sinne steht Christus sogar am Beginn seiner Laufbahn als Kirchenkomponist. Bis 1864 stellte der Komponist zusammen mit seinem Schwager, dem Pastor Adolf Schollmeyer, aus Bibelstellen den Text zusammen, doch dauerte es ganze drei Jahrzehnte, ehe er sich an die Vertonung wagte. Eine wesentliche Stütze bei dieser Arbeit war ihm seine Ehefrau Frieda, die er 1894 geheiratet hatte, und die als seine ehemalige Schülerin über große musikalische Sachkenntnisse verfügte. Ihren fortgesetzten Ermutigungen dankte Draeseke es, dass es ihm gelang, das riesige Projekt innerhalb von viereinhalb Jahren (zwischen Ostern 1895 und dem 15. September 1899) zum Abschluss zu bringen. In einem Brief an den Musikkritiker Eugen Segnitz, der für das Musikalische Wochenblatt eine Einführung schreiben wollte, äußerte Draeseke sich am 4. Februar 1903 ausführlich zur Entstehung des Christus:

Die Idee fasste ich schon im Anfang der [18]60er Jahre, zu welcher Zeit ich mit meinem Schwager, Pastor Schollmeyer zusammen das Textbuch fertig stellte. Aus dieser Zeit stammen auch einige grosse Themen, die ich nie aufgeschrieben, aber auch nicht vergessen habe, und später dann verwendete. 1864, als der später verschiedenartig umgeänderte Text vor mir lag, war ich mir klar dass ich das Werk auf meinem damaligen Standpuncte nicht bewältigen konnte und sehr grosse contrapunctische Vorarbeiten vorhergehen mussten, ehe daran zu denken war. Ausser dem Requiem [op. 22] waren es besonders die 6, 7 und 8stimmigen bei Kistner erschienenen Canons (op. 37) die mir jene Freiheit gaben, den Contrapunct genau so wie den freien Styl zu gebrauchen, sodass ich zu Zeiten mich in den Banden des Contrapunctes behaglicher gefunden habe, als wenn ich auf ihn verzichtete. – Aber es grauste mir lange vor der grossen Arbeit, die ich in meinem öden Junggesellendasein wol nicht geleistet hätte, und die unternommen und bis zum Ende geführt zu haben, ich im wesentlichen meiner lieben Frau verdanke. Als sie Ostern 1895 in die Kirche gegangen war hatte ich den Text des letzten (9ten) Oratorienteils, der mit der Auferstehung beginnt, aufs Clavier gelegt und den Chor der Grabeswächter geschrieben. Meine Frau bat mich gleich in dieser Weise fortzufahren und so war bis Himmelfahrt der Teil, soweit ich ihn vorläufig fertigstellen wollte (mit Ausnahme der Himmelfahrt und des grossen Schluss-Chores), vollendet worden. Im Mai 1899 ist dann das ganze Werk in Partiturschrift abgeschlossen worden; die Clavierauszüge habe ich nebenher und bald nachher auch persönlich gefertigt. Um das schwierigste und weniger dankbare zuerst zu versuchen machte ich mich an das zweite Christi Lehrtätigkeit umfassende Oratorium, und dann, als ich gefunden, dass es mir nicht so schwer angekommen sei, damit fertig zu werden, als ich erwartet hatte, an die zweite Abteilung des ersten Oratoriums, in der mich besonders die Versuchung durch Satan, […], sehr reizte. Da ich immer das ganze vor Augen hatte, sorgte ich dann für den Rahmen indem ich den Schluss des letzten Teiles ausführte: Himmelfahrt und Endgesang des ganzen Werkes welchem ich sofort den Anfangschor desselben folgen liess mit dem daran sich anschliessenden Vorspiel. Ein dritter grosser Höhepunct war schon der Schluss-Chor des IIten Oratoriums, IIte Abteilung, nach Auferstehung des Lazarus geschaffen worden, […]. Dann machte ich mich an die Passion, und schliesslich an den Johannes den Täufer vor dem ich mich am meisten fürchtete, der aber, wie ich hoffe den andern Teilen nicht nachsteht. –

Das ganze ist entschieden aus religiösem Bedürfnisse hervorgegangen und ich habe die angenehme Genugtuung gehabt, dass speciell positiv christlich gesinnte Hörer mir kundgegeben haben, dass sie und ihr religiöses Empfinden woltuende Eindrücke vom ‚Christus‘ empfangen haben. Nach der musicalischen Seite hin waren mir diese Bekenntnisse deswegen so sehr wertvoll, weil ich, […], mich durchaus als moderner Musiker gerirt und unbedenklich die Ausdrucksmittel meiner Zeit zur Darlegung meiner Gedanken in Anspruch genommen habe. Mit irgendwelchem Academismus wäre da nichts lebenvolles zu erzielen gewesen und gerade die Behandlung des Contrapunctes die hier zu Tage tritt dürfte sich wol in vollem Einklange befinden mit den in der Einleitung meines […] theoretischen Buches [Der gebundene Styl, Hannover 1902] stehenden Worten: Anschauungen nach welchen der Contrapunct ein unveränderliches Ansehen bewahren müsse und die Verehrung einer alten wohlconservierten Mumie in Anspruch zu nehmen habe, werden von der belehrenden Luft der Gegenwart rettungslos fortgeweht werden.“

Draesekes Christus ist nicht der erste Oratorienzyklus, der das Leben Christi zum Thema hat. Bereits Jahrzehnte zuvor hatten Sigismund Neukomm und Friedrich Schneider ähnliche Vorhaben verwirklicht. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen Kompositionen und Draesekes Mysterium besteht in der streng zyklisch angelegten musikalischen Gestaltung des letzteren. Zwar besteht Christus aus „einem Vorspiel und drei Oratorien“, doch werden diese vier Teile durch gemeinsame Leitmotive miteinander verknüpft, sodass das ganze Mysterium nicht als Folge von vier Werken, sondern tatsächlich als ein einziges großes Werk erscheint. Diese Idee ist ohne Richard Wagner nicht zu denken, den Komponisten, dessen Musik Draeseke einst dazu brachte, die Musikerlaufbahn einzuschlagen, und der ihm bis zuletzt als „einzig maßgebender“ unter den neueren Tonsetzern erschien. Der Einfluss Wagners zeigt sich auch in der Anlage des Textes: Es gibt bei Draeseke keinen Evangelisten, der in der dritten Person das Geschehen erzählt. Stattdessen haben der Komponist und sein Schwager die Bibel konsequent dramatisiert. Eine szenische Aufführung wurde von Draeseke allerdings stets abgelehnt. Er betrachtete Christus nicht als geistliche Oper, sondern als genuines Stück Kirchenmusik, wenn auch in modernster Gestalt.

Wer aber an das Mysterium herangeht in der Erwartung, es mit einer Art geistlichem Ring des Nibelungen zu tun zu haben, und entsprechend ein stilistisch Wagner sehr nahes Stück vermutet, wird wohl enttäuscht werden. Bei aller Verehrung, die er dem älteren Meister entgegenbrachte, griff er nur in begrenztem Maße auf dessen Stilmittel zurück. Vor allem fällt auf, dass Draesekes Musik kleingliedriger ist als diejenige Wagners, dass er die für Wagner insbesondere ab Tristan und Isolde charakteristischen außerordentlich langsamen Zeitmaße nicht für sich übernommen hat. Auch hat Draeseke kein Geheimnis daraus gemacht, dass ihm an klaren tonalen Zentrierungen sehr gelegen war. Es müssten, schrieb er 1907 in einem Aufsatz namens „Was tut der heutigen musikalischen Produktion not?“, „gewisse Töne als Haupttonarten für eine zeitlang festgehalten, darf besonders die Ruhe der Themen nicht durch flatternde Modulationen erschüttert werden, […]. Bereichern mag man die Haupttonart so viel man wünscht und durch Hereinziehen selbst der fremdesten Töne, – aber für eine gewisse Zeit und besonders in den Themen sie festhalten, vergesse man ebenfalls nicht, soll die Verständlichkeit des Ganzen nicht leiden und die Einheit der Schöpfung nicht in Gefahr geraten.“ Draeseke ist ein außerordentlich einfallsreicher Harmoniker mit einer auffallenden Vorliebe für subdominantische Wendungen (die Doppelsubdominante hat in seinem Vokabular einen festen Platz), doch vermeidet er mehrdeutige Harmonien, wie sie im Gefolge von Wagners Tristan-Akkord aufkamen. Ein festgefügtes harmonisches Fundament ist Draeseke nicht zuletzt deshalb wichtig, da seine Musik im Allgemeinen stärker auf kontrapunktische Techniken gegründet ist als diejenige Wagners. In der Vorrede zum Christus heißt es:

Gewissen Anschauungen gegenüber, nach welchen der Contrapunkt in der Kirchenmusik sehr zu beschränken, womöglich gar zu verbannen wäre, steht der Komponist auf dem alten Standpunkte, in dem ihm genanntes Kunstmittel für den kirchlichen Stil absolut so nötig dünkt, wie das Brot fürs tägliche Leben.“

Alle großen geistlichen Werke Draesekes sind nach diesem Grundsatz entstanden. Das Hauptgewicht liegt immer auf den Singstimmen, die sämtlich selbstständig geführt werden. Das Orchester, wenn vorhanden, lässt Draeseke betont zurückhaltend agieren. Über weite Strecken stützt es den Chor durch Colla-parte-Spiel. Der virtuose Instrumentator, als den man Draeseke aus seinen Symphonien und Tondichtungen kennt, zeigt sich auch in den kirchlichen Werken, stellt seine Kunst aber hier völlig in den Dienst der Hervorhebung melodischer Linien. Umso frappierender wirken die sicher angebrachten koloristischen Effekte in bestimmten herausgehobenen Momenten. Das Christus-Mysterium stellt aufgrund seines enormen Umfangs von etwa fünf Stunden einen besonderen kontrapunktischen Kraftakt dar, der auch von den Ausführenden als solcher bewältigt werden will. Solisten und Chorstimmen müssen es verstehen, sich als Teil eines Ganzen zu begreifen und gut aufeinander zu hören. Der Dirigent muss ein sicheres Gefühl für Polyphonie besitzen, um alle Feinheiten des „gebundenen Styls“ in Chor und Orchester zur Geltung zu bringen. Kapellmeister, die lediglich die jeweilige Oberstimme hervorzuheben und die übrigen als undifferenzierte Begleitung zu behandeln pflegen, stehen in diesem Werk auf verlorenem Posten.

Der Christus gliedert sich in vier Hauptteile, die Leben und Wirken Christi von der Geburt bis zur Auferstehung schildern:

Vorspiel: Die Geburt des Herrn op.70

Erstes Oratorium: Christi Weihe op.71

Zweites Oratorium: Christus der Prophet op.72

Drittes Oratorium: Tod und Sieg des Herrn op.73

Jeder dieser Hauptteile übertrifft den vorangegangenen an Länge. Das Vorspiel dauert ungefähr 35 Minuten und eignet sich deshalb zu einer Aufführung mit dem etwa einstündigen Ersten Oratorium an einem Abend. Zweites und Drittes Oratorium sind dagegen mit rund anderthalb bzw. zwei Stunden abendfüllend. Der Komponist hat ausdrücklich betont, dass nicht nur jedes einzelne Opus der Tetralogie separat aufgeführt werden kann, sondern auch einzelne Abteilungen daraus. Insgesamt besteht das Mysterium aus neun Abteilungen, die jeweils einem Opernakt entsprechen. Das Erste Oratorium umfasst zwei, die beiden anderen jeweils drei, das Vorspiel ist eine Abteilung für sich. Aus dem Kontext gelöst, ergeben sich auf diese Weise neun Kantaten, die zu verschiedenen kirchlichen Anlässen verwendet werden können. Der Zusammenhang aller Teile miteinander wird freilich nur in einer Gesamtaufführung deutlich. Auch erschließt sich auf diese Weise die Bedeutung der drei Leitmotive besser, die das Werk durchziehen. Zwei davon sind Christus zugeordnet. Das erste Christus-Motiv, das wichtigste Motiv des Werkes, ist eine dem gregorianischen Choral entlehnte, im Rahmen einer Quarte ab- und wieder ansteigende Melodielinie:

Das zweite verdeutlicht Christus den Erlöser. Es handelt sich um eine auf Dreiklangstönen basierende Fanfare:

Diesen beiden Christus-Motiven steht das Satans-Motiv gegenüber, das nicht nur während des einzigen tatsächlichen Auftritts Satans (Oratorium I, Abteilung 2) erklingt, sondern auch andere Gegenspieler Jesu charakterisiert und sie damit als Satans Verbündete kennzeichnet. Im Gegensatz zu den Motiven Christi, ist das Satans-Motiv durch den Tritonusabstand zweier Moll-Harmonien in sich gespannt:

Draesekes Christus erregte seinerzeit große Aufmerksamkeit im Musikleben Deutschlands, doch kam es zunächst aufgrund der großen Ansprüche, die das Werk an die Ausführenden stellt, jahrelang nur zu Aufführungen einzelner Oratorien oder Abteilungen des Mysteriums. Erst 1912, verteilt auf den 6., 13. und 20. Februar, fand im Großen Saal der Berliner Musikhochschule durch den Bruno-Kittel-Chor und das Blüthner-Orchester unter Leitung von Bruno Kittel die erste Gesamtaufführung statt. Die Titelrolle sang der Bariton Albert Fischer. Kurz darauf, am 5., 12. und 16. Mai, folgte eine zweite Wiedergabe des kompletten Werkes in Dresden, der Heimatstadt des Komponisten. Auch hier dirigierte Bruno Kittel seinen Chor, der durch zwei Dresdner Vereine verstärkt wurde. Den Christus sang Karl Perron, die Instrumentalbegleitung übernahm die Städtische Kapelle Chemnitz. Als Reaktion auf diese Konzerte wurde Draeseke die Ehrendoktorwürde der Berliner Universität verliehen, und die Stadt Dresden gestand ihm einen jährlichen Ehrensold von 3000 Mark auf Lebenszeit zu. Von letzterem konnte der Komponist nur noch die erste Zahlung in Empfang nehmen, da er wenige Monate später starb.

Auch wenn Teile des Christus weiterhin gelegentliche Darbietungen erfuhren, erklang das Werk in voller Länge erst 1990 wieder, als Udo-Rainer Follert es in Speyer dirigierte. Ein Jahr später folgte unter Hermann Rau in Heilbronn die vierte Gesamtaufführung. Draesekes Christus ist ein langes, ungemein anspruchsvolles Werk, aber auch das erklärte Magnum Opus eines Großmeisters der Chorpolyphonie. Dirigenten, Sängern, Instrumentalisten, die ein besonderes Vergnügen daran haben, vielstimmig ineinander verflochtene Linien zum klingenden Leben zu erwecken, bietet sich in dieser Tetralogie ein Schatz gewaltigsten Ausmaßes. Ihn gewinnt, wer ihn zu heben versteht!

Aufnahme und Noten

Von der Speyerer Aufführung 1990 existiert ein Mitschnitt, der bei Bayer Records auf fünf Cds veröffentlicht worden ist. Er stellt bislang das einzige Tondokument des Christus dar:

Bayer Records, BR 100 175–179; EAN: 4011563101758

Phillip Langshaw (Christus, Bariton), Carola Bischoff (Sopran), Adelheid Vogel (Sopran), Elvira Dreßen (Alt), Karl Markus (Tenor), Bernd Kämpf (Bass), Jürgen Sonnenschmidt (Orgel), Evangelische Jugendkantorei der Pfalz, Heilbronner Vokalensemble, Pfälzische Kurrende, Staatliche Philharmonie Breslau, Udo-Rainer Follert (Dirigent)

Eine vorläufige Edition des Notentextes aller vier Hauptteile hat die Internationale Draeseke-Gesellschaft auf imslp zur Verfügung gestellt (siehe hier).

Zu Lebzeiten Draesekes wurden nur das Vorspiel und das Dritte Oratorium als Partitur veröffentlicht. Nachdrucke dieser Ausgaben sind bei Musikproduktion Jürgen Höflich, München, erhältlich.

[Norbert Florian Schuck, April 2022]

Freie Tonalität in stringenter Fortschreitung

Ein Portrait des Komponisten Josef Schelb (* 14. März 1894 in Krozingen; † 8. Februar 1977 in Freiburg im Breisgau)

Überblickt man den Lebensweg von Josef Schelb (1894–1977), reflektiert dieser an mancher Stelle beinahe exemplarisch das Schicksal vieler Tonkünstler des 20. Jahrhunderts, zeugt von großen Visionen und herben Rückschlägen. Schelb stand über Jahrzehnte im Licht der Öffentlichkeit, wohl aber ohne jemals als einer der „Stars“ der Szene zu gelten. Dabei steht außer Frage, dass er eine wahre Künstlernatur gewesen ist, die sich mit Talent und unermüdlichem Fleiß bis zuletzt aufopfernd in den Dienst der Musik stellte. Mehr denn je ist es an der Zeit, sein Schaffen aufblühen zu lassen, um es vor der Vergessenheit zu retten.

Geboren wurde er als Christian Albert Joseph Schelb am 14. März 1894 in Krozingen, heute Kurort, nahe Freiburg in einem interessiert laienmusikalischen Haushalt. Sein erster wichtiger Lehrer wurde der Pianist und als Symphoniker bedeutende Hans Huber (1852–1921), zu dem Schelb nach Basel pendelte. Nach seinem Abitur zog er zum Studieren nach Genf, wo der damals populäre Liszt-Schüler Bernhard Stavenhagen (1862–1914) ihm Unterricht gab; daneben besuchte er die Kontrapunktklasse von Otto Barblan (1860–1943). Zwanzigjährig erhielt er das „Diplôme de Virtuosité avec Distinction“, etablierte sich schon während des Ersten Weltkrieges als Pianist und lehrte über seinen Wehrdienst hinaus zwischenzeitlich am Freiburger Konservatorium.

Im Jahr 1924 erhielt Josef Schelb eine Anstellung am Konservatorium in Karlsruhe, die er (mit Unterbrechung in den 40er-Jahren) bis 1958 innehatte. Die vielfältigen Berichte aus dieser langen Epoche seines Lebens lassen schlussfolgern, dass Schelb ein gewissenhafter wie bemühter Lehrer war, der jedoch immer das Künstlerische dem Pädagogischen vorzog. Er beteiligte sich rege an Lehrerkonzerten und brachte eine Vielzahl seiner Kompositionen in den Veranstaltungen der Ausbildungsstätte unter, doch durch seine intensiven Konzertvorbereitungen und seinen kompositorischen Fleiß kam es oftmals zu Zeitkonflikten: Über die Jahre verteilt finden sich mehrere Beschwerden, da er oft zu spät erschien oder bei wichtigen Institutsveranstaltungen fehlte. Schelb versuchte mehrfach, seine Mindestunterrichtszeit zu senken, um mehr Zeit fürs Komponieren und Üben zu haben. Ein früher Höhepunkt seiner Karriere war eine dreimonatige Amerikareise mit dem Violinisten Juan Manén (1883–1971).

Am 21. Juli 1936 heiratete Josef Schelb die 1915 geborene Sängerin Lotte Schuler, die vor ihrer Gesangsausbildung Schelbs Klavierklasse besuchte. Lotte Schelb hob die meisten der Vokalwerke ihres Mannes aus der Taufe. 1938 erlangte das Konservatorium in Karlsruhe staatliche Anerkennung, wodurch auch Schelb eine angemessenere Vergütung zuteil wurde; im Folgejahr wurde er verbeamtet und zum „Dozentenführer“ ernannt, was aber hauptsächlich lästige Pflichten ohne künstlerische Mitsprachen mit sich brachte.

Während eines Fliegerangriffs 1942 wurden große Teile des Konservatoriums zerstört und auch Schelbs Wohnung fiel den Bomben zum Opfer, wobei große Teile seiner bisherigen Kompositionen unwiederbringlich verbrannten. Schelb nutzte den Einschnitt, um sich vorläufig für ein Jahr beurlauben zu lassen, damit er sich aufs Konzertieren konzentrieren konnte: Aufgrund der „Wichtigkeit der Wehrmachtsbetreuung während des Krieges durch gute Konzerte“ wurde ihm die Abwesenheit gewährt. Josef Schelb verlängerte seine Beurlaubung jährlich bis Kriegsende. Für den letzten Volkssturm wurde er eingezogen, er setzte sich jedoch vor dem Einsatz ab.

Wegen seiner hohen kulturellen Stellung besonders als Dozentenführer sowie seines allgemeinen Ansehens während der NS-Zeit (er war 1933 – eigenen Aussagen zufolge aus Zwang – Mitglied der NSDAP geworden) hatte es Josef Schelb in der Zeit nach dem Krieg schwer. Er wurde trotz vielfacher Stellungnahmen und Empfehlungsschreiben durch Kollegen, welche ihm unpolitische bis systemkritische Haltung attestierten, nach mehreren Verhandlungen erst 1947 als Mitläufer gegen Geldstrafe entnazifiziert. Im Februar 1948 erlangte er seine alte Stellung zurück. Schelb hielt sie bis Ende 1958, als er sich aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig pensionieren ließ.

In den letzten knapp zwanzig Jahren wirkte Josef Schelb als freischaffender Komponist, der bis zuletzt mit ungebrochenem Eifer neue Werke schrieb. Seine Musik genoss durchaus Ansehen, wurde im Rahmen großer, öffentlichkeitswirksamer Konzerte und Festivals uraufgeführt; besonders die Musica Viva profilierte sich durch eine Vielzahl an Premieren. Dabei muss angemerkt werden, dass Schelbs kompositorische Präsenz im Konzertleben in erster Linie auf die unermüdlich neuen Uraufführungen zurückzuführen ist, denn nur die wenigsten der Werke wurden Zeit seines Lebens wiederholt.

1976 erlitt Schelb einen Schlaganfall, von dem er sich nie mehr ganz erholte. Am 7. Februar 1977 starb er in Freiburg, wo er im Familiengrab beigesetzt wurde.

Die Musik Josef Schelbs beweist sich durch Eigenständigkeit. Am einfachsten fasslich zeigt sie sich durch ihren formalen Sinn, denn die Werke wie deren einzelne Sätze sind in klassischen Formschemata errichtet, die recht streng eingehalten werden. Halt gibt ebenfalls die motivische Arbeit, die stringent durch die Werke navigiert und ein Gefühl vermittelt, wo im Werk man sich befindet. Modern hingegen ist der Inhalt, der sich kaum an harmonische Gesetzmäßigkeiten hält, sondern frei durch den Tonraum mäandert. Interessanterweise nutzt Schelb dabei vergleichbar wenige chromatische Verläufe, sondern erlaubt sich, neue Zwischenzentren auch sprunghaft zu erreichen, wodurch er die Dichte der Kontraste zur ständigen Verfügung hat, im Umkehrschluss Abwechslung durch rasche Änderungen bezüglich Dynamik, Artikulation und Tempo schaffen muss, was nicht zuletzt die Musik auszeichnet.

Exemplarisch sollen an dieser Stelle drei Werke aus dem Bereich der Kammermusik kurz vorgestellt werden, deren Noten bereits veröffentlicht vorliegen und von denen entweder bereits eine Aufnahme existiert oder sich zumindest auf dem Wege der Publikation befindet.

Das früheste der hier zu nennenden Werke ist das Zweite Klaviertrio von 1954, ein lebendiges, keck sprunghaftes Werk, das seine packende Energie aus dem regen Zusammenspiel der Instrumente zieht. Motorische Begleitfiguren treiben nach vorne, während die melodischen Stimmen kontrapunktisch kommunizieren, sich in den Verschiedenheiten ergänzen. Die ersten zwei Sätze erscheinen wie aus einem Guss, wobei das Vivace leggiero die Wucht des Kopfsatzes noch potenziert, dabei Motive aus diesem neu entwickelt. Das Adagio basiert auf einer Zwölftonreihe, die aber einerseits verschiedene Dreiklangbrechungen beinhaltet und somit Ausgangspunkt für die harmonische Entwicklung bildet, andererseits nicht durch dodekaphone oder gar serielle Fortspinnung weitergeführt wird, sondern als klar erkenntliches Thema behandelt wird. Dies nimmt Schelb als ein in vielen Werken vergleichbar erscheinendes Prinzip. Auch das Finale beginnt mit einer Zwölftonreihe, doch hier auseinandergerissen in zwei getrennte Motive plus den Auftakt zur Fortführung des Materials.

Während das Trio durch seine heitere Kurzatmigkeit und den musikalischen Scherz lebt, kommt im Quartett für Violine, Horn, Cello und Klavier aus dem Jahr 1962 mehr Dramatik auf. Das Werk ist ungemein dichter konzipiert und weist größere Flächen auf, die dabei für ein freitonales Werk bewundernswert orientierungsbewusst durchschritten werden. Schelb verwendet das Horn gerne für Haltenoten und das Klavier für motorisch gleichförmige Figuren, während sich die Streicher rhythmisch geladen ergänzen. Allgemein nutzt er prägnante Rhythmik für innermusikalischen Zusammenhalt wie auch Wiedererkennbarkeit seiner Motive, meißelt gerade durch dieses Element die Gesamtstruktur heraus.

Im späten Klavierquintett von 1970 sucht Josef Schelb vermehrt die Einheit und Ausgewogenheit. Die vier Sätze weisen annähert gleiche Länge auf, tarieren die ruhigeren und drängenderen Momente untereinander aus; auch die Instrumente wirken weniger kontrapunktisch gegeneinander, sondern entfalten Einklang. Die Tonsprache, vor allem aber die Rhythmik wirkt gesetzter, weniger sprunghaft und mehr auf große Bögen konzentriert. Im Quintett kehrt sich Schelb vermehrt zu polytonalen Strukturen, die dafür untereinander klarere Verläufe besitzen. So heben die drei hier angeführten Werke gänzlich unterschiedliche Aspekte der Musik Josef Schelbs hervor, legen eine klare Entwicklungslinie frei und entfalten parallel eine durchgehend wiedererkennbare Handschrift.

[Oliver Fraenzke, April 2022]