Für KKE Records macht die Hamburger Camerata unter der Leitung von Gustav Frielinghaus mit zwei Orchesterwerken Kurt Albrechts bekannt: der Symphonie für Streichorchester und Pauken und der Partita für Kammerorchester nach einem Motiv von Heinrich Schütz. Als Violinist spielt Frielinghaus im Duo mit dem Pianisten Jaan Ots eine Chaconne Albrechts.
Blättert man in Erich H. Müllers Deutschem Musiker-Lexikon von 1929, einer den damals lebenden Tonkünstlern gewidmeten Überblicksdarstellung, oder in der von Müller und seiner Ehefrau Hedwig von Asow als Kürschners Deutscher Musiker-Kalender 1954 herausgebrachten Neuauflage dieses Buches, so stößt man auf die Namen zahlreicher Komponisten, die weder zu Lebzeiten, noch danach sonderliche Berühmtheit erlangt haben, und deren Wirkungskreis weitgehend lokal geblieben ist. Manche von ihnen haben auf Nachfrage der Herausgeber ihr vollständiges Werkverzeichnis angegeben. Man liest von einer enormen Anzahl an Kompositionen, die diese „Stillen im Lande“ hinterlassen haben, Werke, die teilweise nie gedruckt, teilweise gar nicht aufgeführt worden sind. Zu Recht, zu Unrecht? Wer wagt es, den Stab über Musik zu brechen, die er nicht kennt?
Dass es sich sehr lohnen kann, entsprechende Nachlässe genauer anzusehen, belegt die vorliegende, bei KKE Records erschiene CD mit Musik Kurt Albrechts. Durch diese unter Leitung des Geigers und Orchesterleiters Gustav Frielinghaus zustande gekommene Einspielung lüftet sich nun ein wenig der Schleier über dem Schaffen eines Komponisten, der nicht einmal in den oben genannten Nachschlagewerken vertreten ist. Nach dem zu urteilen, was man über Albrechts Leben weiß, war er tatsächlich ein „Stiller“: „Selbstzeugnisse sind nur wenige überliefert. […] Das Erfinden von Musik war sein Weg, sich auszudrücken. Ins Rampenlicht hat es ihn dabei nie gedrängt“, heißt es im Begleittext. 1895 in Ricklingen bei Hannover geboren, wurde Albrecht frühzeitig von seinem Vater, einem Pastor, ans Orgelspiel herangeführt. Er lebte nach dem Ersten Weltkrieg in Berlin und ging 1925 als Organist nach Dresden. 1928 nach Stuttgart übergesiedelt, wirkte er dort vor dem Siegeszug des Tonfilms als Kinokapellmeister und ließ sich im Rundfunk regelmäßig an Orgel, Cembalo oder Klavier hören. Im Zweiten Weltkrieg wurde Albrechts Wohnung durch einen Luftangriff zerstört, wobei ein anscheinend nicht geringer Teil seiner Kompositionen verbrannte. 1971 starb der Komponist in Rommelshausen nahe Stuttgart.
Wie viel Musik Kurt Albrecht insgesamt geschrieben hat, lässt sich aufgrund der Kriegsverluste nicht mehr genau bestimmen. Es scheint aber glücklicherweise noch viel erhalten zu sein. Aufnahmen zweier Streichquartette, Nr. 2 und Nr. 3, brachte der Sohn des Komponisten nach dessen Tod als private LP-Pressung heraus (Wer sie antiquarisch findet, der greife zu!). Im Beiheft der neuen CD liest man von „zahlreichen kirchenmusikalischen Stücken“, einer Symphonie in f-Moll, die Albrecht 1948 mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Stuttgart aufnahm, sowie „Werken für großes Orchester“ aus seinen letzten Lebensjahren. Wann die drei für KKE Records eingespielten Kompositionen entstanden sind, weiß man nicht. Die Chaconne für Violine und Klavier trägt die Opuszahl 33, während die Symphonie für Streichorchester und Pauken ebenso unnummeriert geblieben ist wie die Partita für Kammerorchester über ein Motiv von Heinrich Schütz.
Dass Albrechts Musik größere Beachtung verdient als sie – aus welchen Gründen auch immer – zu Lebzeiten ihres Schöpfers gefunden hat, zeigt sich vor allem anhand der Streichersymphonie, einem viersätzigen Werk von 40 Minuten Dauer. Bereits in den ersten Takten zeigt sich, dass Albrecht bevorzugt polyphon denkt und die Stimmen mit Vorliebe in scharfe Dissonanzreibungen hineinsteuert. Im Verlauf des 17-minütigen Kopfsatzes kommt es zu schroffen Wechseln zwischen eruptiven und zurückhaltenden Abschnitten. Genau in der Mitte erklingt, gewissermaßen als Ruhepunkt, ein archaisierender Kantionalsatz. Die leise Musik des Anfangs leitet über zu einem kurzen, flackernd vorüberhuschenden Scherzo. Bezaubernd introvertiert klingt der langsame dritte Satz, dessen chromatische Kontrapunktik sich immer wieder in altmeisterliche Kadenzen und sprechende Pausen auflöst. Als Finale dient eine energisch voranschreitende Passacaglia.
Albrechts Vorliebe für barocke Satztechnik zeigt sich noch deutlicher in der Partita für Kammerorchester. Den sechs kurzen Sätzen, die zusammen nur 13 Minuten dauern, liegt sämtlich ein Motiv aus Heinrich Schützens Lukas-Passion zugrunde, das Albrecht den typischen Charakteren barocker Suitensätze gemäß variiert und durchführt. Auf ein Präludium in der Art einer französischen Ouvertüre folgen Allemande, Courante, Sarabande, Gavotte und Gigue. Stilistisch ist das Werk der Streichersymphonie nahe verwandt, doch zeigt sich Albrecht hier von seiner humorigen Seite.
Die zehnminütige Chaconne op. 33 für Violine und Klavier komponierte Albrecht „nach einem Motiv von Dr. K. Kremers“, einem befreundeten Chemiker, der ein begabter Amateurgeiger gewesen sein muss. Verglichen mit den beiden Orchesterkompositionen fällt die kaum alterierte d-Moll-Tonalität auf, was die Frage aufwirft, ob es sich bei der Chaconne um ein Frühwerk handelt. Vielleicht hat Albrecht, wie der gleichaltrige Hindemith, nur in jungen Jahren eine Opuszählung verwendet? Es wäre auch vorstellbar, dass der Komponist auf einen hausmusikalischen Rahmen Rücksicht genommen hat, oder dass er den Einfall Dr. Kremers‘ möglichst stilrein verarbeiten wollte. Jedenfalls handelt es sich auch bei dieser Chaconne um ein hörenswertes Stück. Ihr Thema ist ungewöhnlich lang, die Zahl der Variationen entsprechend klein. Am Ende klingt sie beruhigt in Dur aus.
Gustav Frielinghaus bewährt sich gleichermaßen als Geiger im Duo mit dem Pianisten Jaan Ots, wie als Konzertmeister der ohne Dirigenten spielenden Hamburger Camerata. Angesichts der fehlenden Aufführungstradition der dargebotenen Werke ist es sehr erfreulich, dass sie hier in qualitativ durchweg hochstehenden Einspielungen erstmals auf Tonträger gebannt worden sind. Möge diese CD dazu ermutigen, dem Schaffen des Komponisten Kurt Albrecht weiterhin Aufmerksamkeit zu schenken!
Ars Produktion Schumacher, ARS 38 312; EAN: 4 260052 383124
Drei Sonaten in A von Franz Schubert werden durch die Pianistin Elena Margolina für die Ars Produktion eingespielt. Sie beginnt mit der Klaviersonate a-Moll D 784 aus dem Jahr 1823, kontrastiert mit der pastoralen A-Dur-Sonate D 664 (1819) und schließt mit der umfangreichen, weitschweifenden a-Moll-Sonate D 845, die Schubert 1825 den Weg wies in Richtung seiner monumentalen, bedauerlicherweise letzten Sonaten.
Wer unbefangen dem Klavierschaffen von Franz Schubert gegenübersteht, mag zunächst verdutzt sein von den weiten Formen, dem scheinbar kontrastlosen Themengebrauch und den damit verbundenen teils eigenwillig erscheinenden Proportionen. Die Noten wirken geradezu kahl, wenn man Mozart und Beethoven gewohnt ist. So verwundert nicht, dass die bedeutenden Werke dieses Meisters erst im 20. Jahrhundert voll zur Blüte kamen, im großen Stile vor allem entdeckt durch die Pianisten Eduard Erdmann und Artur Schnabel, die zudem mit die vollendetsten Aufnahmen schufen. Und bis heute werden die meisten der Werke nur selten gespielt, höchstens die Impromptus und die letzten drei Sonaten finden regelmäßigeren Einzug in Konzertprogramme; von den pianistisch größtenteils undankbaren, schwer greifbaren und noch schwieriger auswendig zu lernenden früheren Sonaten halten die meisten Abstand.
Alfred Brendel nannte Schubert einen komponierenden Schlafwandler, was die formalen Konstruktionen durchaus griffig beschreibt: anders als Beethoven, der ein architektonisches Gerüst schuf und mit den Kontrasten jonglierte, scheint sich Schubert in seinen Kompositionsprozess zu verlieren, prozessiert sein Material immer weiter durch und führt es geradlinig fort. Mit Willkür hat das Konzept dabei nichts zu tun, die Musik schreitet geradlinig und zusammenhängend voran, spannt dabei große Bögen und wirkt in der Gesamtheit doch stimmig ausproportioniert. Nichtsdestoweniger stellt eine Adäquate Darbietung dieser Werke eine enorme Herausforderung dar: schnell können die, wie Schumann es bezeichnete, „himmlischen Längen“ langatmig wirken oder die aneinandergereihten Elemente auseinanderfallen. Schuberts Werke erscheinen als epische Erzählungen, die in die Ferne blicken und doch jedes Detail würdigen. Dies pianistisch umzusetzen, geht an die Grenzen des mental Erfassbaren.
Elena Margolina widmet sich schon lange dem Klavierschaffen Schuberts und brachte bei der Ars Produktion bereits mehrere Alben mit dessen Musik heraus. Entsprechend vertraut wirkt sie in dieser Aufnahme nicht nur mit den Stücken an sich, sondern mit der allgemeinen Stimmung und der doppelbödigen Aura, die Schuberts Musik umgibt. So handelt es sich allgemein um eine wirklich gelungene Einspielung der drei Sonaten in A, welche die Formen bewältigen und den erzählerischen Gestus stimmig vermitteln.
Eine bei Schubert komplexe Frage ist die nach den Expositionswiederholungen: Selbst bin ich der Auffassung, der vorwärtstragende Duktus und die melodiöse Geradlinigkeit verweigern das erneute Beginnen von vorne, unterstrichen durch die enorme harmonische Fortschreitung. (Den Extremfall stellt die letzte Sonate, in B-Dur, dar, bei welcher Schubert für die Wiederholung eine viele Takte umspannende Rückführung komponieren musste, um harmonisch zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Es darf die Behauptung aufgestellt werden, diese Takte inklusive der Wiederholung dürfen getrost weggelassen werden, da sie nur dem Formideal der auslaufenden Wiener Klassik geschuldet sind und sich Schubert schlicht nicht traute, dieses auf dem Papier zu durchbrechen, während seine Musik doch nach ganz anderen Wegen schrie. Ausschließlich in den Impromptus wagte er, angespornt von der hierin erlangten formellen Freiheit, den Ausbruch.) Die munter-spritzige A-Dur-Sonate D 664 erlaubt es durchaus, die Exposition zwei Mal zu spielen, schwieriger wird es bei der umfangreicheren Sonate a-Moll D 845, wo durch die Wiederkehr ein deutlicher Bruch entsteht. Klar erscheint es schließlich bei der Sonate a-Moll D 784, die zum Ende der Exposition so weit prozessiert ist, dass eine Umkehr wie fehl am Platz wirkt: Hier hätte Elena Margolina eher das Tempo (Moderato!) ein kleines Stück herunterfahren, vom Alla Breve auf den vorgeschriebenen 4/4-Puls zurückkehren, und dafür die Form durch Auslassen der Wiederholung straffen können.
Den Kopfsatz der Sonate D 784 nimmt Margolina rasch und lebendig, behält stets die drohenden Elemente im Hinterkopf und bringt so eine intensive Darbietung hervor. Die Kontraste lässt sie durchaus aufklaffen, ohne dabei – und dies sei besonders hervorgehoben – im Anschlag Härte zu zeigen. Zu keiner Zeit lässt sie die Akkorde und selbst die Akzente knallen, sondern behält immer eine weiche Note, die Schuberts von der menschlichen Stimme herrührender Kompositionsweise entspricht. Schubert sprach selbst aus: „[W]eil ich das vermaledeyte Hacken, welches auch ausgezeichneten Clavierspielern eigen ist, nicht ausstehen kann.“ Damals wie heute wahre Worte, und so erfreut Elena Margolinas abgerundete Tongebung umso mehr. Auch ihr Pianissimo, namentlich gegen Ende des Kopfsatzes und im Mittelsatz, überzeugt durch lyrische Klanggestaltung und vielschichtige Dynamikabwägung. Das Finale braust voran und auf, Elena Margolina nimmt es als stürmisch-unruhige Fantasie und nimmt sich einige kleine Freiheiten, die aber der Musik sehr zugute kommen. Einzig stört die durch Pausen unterbrochene Linie nach den Fortissimo-Doppelläufen: denn sie wirkt wie auf den Taktschwerpunkt komponiert und nicht, wie in den Noten steht, eben dagegen. Gleiches fällt teils in der anderen a-Moll-Sonate auf. Solch synkopische Wendungen sind freilich nur schwerlich umzusetzen, dafür frappieren sie dann umso mehr.
Die späteste der drei hier zu hörenden Sonaten, die in a-Moll D 845, besticht unter den Fingern von Elena Margolina durch unerbittlichen Zug nach vorne ohne Rast und Halt, was eine enorme Wirkung erzielt. Besonders die brodelnden Crescendopassagen seien hervorzuheben, die sich nie voll entladen, sondern in voluminöse Forti und Fortissimi münden, was den Ausdruck unterstreicht. Der Andantesatz singt förmlich und wirkt auch in den virtuosen Variationen schlicht und zärtlich. Innerlich aufwühlend braust das Scherzo auf, das uns packt und bis zum Ende nicht mehr loslässt, obgleich es mit siebeneinhalb Minuten Spielzeit ein für das knappe thematische Material recht langer Satz ist. Ein finales Rondo rundet die Sonate ab, auch dieses drängt nach vorne, basiert auf rein introvertiertem Effekt ohne jegliche Äußerlichkeit. Elena Margolina nimmt es in einem großen Zug, spannt einen einzigen Bogen.
Gegenüber den beiden düsteren Mollsonaten fungiert die A-Dur-Sonate wie ein versöhnlicher Gegenpol: eines der ganz wenigen wirklich durchgehend friedlichen Werke Schuberts. Ein unscheinbarer Moment muss an dieser Stelle erwähnt werden, nämlich die Oktavenpassage des Kopfsatzes, die selten so stringent und lyrisch zu hören ist wie in dieser Einspielung Elena Margolinas.
Fabrizio Chiovetta hat für Aparté die drei letzten Klaviersonaten Ludwig van Beethovens (E-Dur op. 109, As-Dur op. 110, c-Moll op. 111) aufgenommen.
Nachdem er in den letzten Jahren je eine CD mit Werken Bachs, Mozarts und zeitgenössischer osteuropäischer Komponisten vorgelegt hatte, widmet sich der schweizerische Pianist Fabrizio Chiovetta mit der vorliegenden Einspielung erstmals dem Schaffen Ludwig van Beethovens. Das Programm besteht aus den um die Jahreswende 1821/22 kurz hintereinander entstandenen drei letzten Klaviersonaten opp. 109–111.
In den Sonaten op. 109 und op. 110 gelingen Chiovetta sehr ausgewogene Kopfsätze, was nicht zuletzt an seiner Fähigkeit zu kantablem Spiel liegt. Sein Anschlag ist nie grob, auch die kraftvoll vorzutragenden Abschnitte wahren die Noblesse. Die langen Melodiebögen im Moderato des op. 110 entfalten sich unter seinen Händen ungezwungen und ganz natürlich. Im Kopfsatz des op. 109 begreift er Beethovens Tempowechsel zwischen Vivace (Anfangsthema) und Adagio (Seitensatz) völlig zurecht nicht als Aufforderung, dem Stück ein zerrissenes Erscheinungsbild zu verleihen. So richtet er die Eingangstakte gezielt derart aus, dass sie im Beginn des Seitensatzes ihren Höhepunkt finden, und hält in den Adagio-Takten die Spannung aufrecht, indem er das metrische Schwer-Leicht-Gefälle hörbar macht. Chiovettas dezente Rubati verwischen nie das jeweilige Grundtempo und wirken im Kontext stets geschmackvoll. Die raschen Mittelsätze beider Sonaten haben den nötigen Schwung. Zu Beginn des Allegro molto von op. 110 ließe sich der „Frage-und-Antwort“-Effekt noch etwas stärker herausgearbeitet denken. Dafür überzeugt der rezitativische Beginn des Schlusssatzes der gleichen Sonate umso mehr. In der Fuge behält Chiovetta durchweg die Übersicht über das polyphone Geschehen.
Angesichts der andernorts so trefflich eingesetzten Gesanglichkeit verwundert die Art ein wenig, mit der Chiovetta die Themen der finalen Variationssätze von op. 109 und op. 111 vorträgt. Beide wirken vergleichsweise statisch, da dem Pianisten die einzelnen Zählzeiten der Takte offenbar wichtiger sind als die Gewichtung der Takte untereinander. Allerdings verschwindet in beiden Sätzen dieser Eindruck sofort mit der ersten Variation, wenn der Komponist beginnt, die Melodie mit stärkerer Binnenbewegung zu füllen. Ansonsten lässt sich über Chiovettas Darbietung der Variationen nur Gutes sagen. Dies gilt auch für den ersten Satz des op. 111. Im Bezug auf die Einleitung ist namentlich der Spannungsaufbau in der zweiten Hälfte samt zielgerichteter Überführung ins Allegro zu nennen. Im Allegro selbst zeigt sich der Pianist erneut als meisterhafter Tempogestalter, der die sanfteren Episoden bruchlos in ein ansonsten unwiderstehlich stringentes Gesamtgeschehen einzufügen weiß.
Im Großen und Ganzen bietet Fabrizio Chiovettas Auseinandersetzung mit den letzten Beethoven-Sonaten also sehr erfreuliche Ergebnisse. Die Anfang 2020 aufgenommene und im Herbst desselben Jahres erschienene CD gehört ohne Zweifel zu den gelungenen Beiträgen zum Beethoven-Jubiläum.
Hinter dem Titel „Skylla und Charybdis“ steckt eine Aufnahme von Kammermusikwerken des Komponisten und Cellisten Graham Waterhouse. Zu hören sind seine Rhapsodie Macabre für Klavier und Streichquartett, Bei Nacht op. 50 für Klaviertrio, Trilogy für Klavierquintett, Bells of Beyond für Klaviertrio, Kolomyjka op. 3a und Skylla und Charybdis je für Klavierquartett. Es spielen Katharina Sellheim am Klavier, David Frühwirth und Namiko Fuse an den Violinen, Konstantin Sellheim an der Viola und der Komponist selbst am Violoncello.
Die Kammermusik spielte für den 1962 in London geborenen und in Deutschland lebenden Komponisten und Cellisten Graham Waterhouse seit dem Beginn seiner Laufbahn eine wichtige Rolle. Die wechselnden Verhältnisse der Stimmen, das Changieren von Führungsrollen, die gegenseitige Orientierung und das generelle Wachsen aneinander inspirieren ihn zu Werken unterschiedlichster Ausrichtung. Mit dem Titel der CD „Skylla und Charybdis“ thematisiert er sein eigenes Ringen um den Kompositionsprozess. Hinter den Namen verbergen sich die Meeresungeheuer aus der Odysseus-Sage der griechischen Mythologie, zwischen denen der Seefahrer hindurchschiffen muss, ohne einem dieser zu nahe zu kommen und dadurch von ihnen in die Tiefe gerissen und verschlungen zu werden. Als Redewendung etablierte sich „Du hast die Wahl zwischen Skylla und Charybdis“ als „Du musst dich für eines von zwei Übeln entscheiden“. Für Graham Waterhouse stehen diese beiden bedrohlichen Ufer für verschiedene, jeweils gegensätzliche Aspekte des Komponierens in der heutigen Zeit: Tradition und Fortschritt, Tonalität und Atonalität, Regel und Freiheit. Wie Odysseus schifft er nun zwischen den gewaltigen Ungeheuern und bahnt sich seinen Weg. Dabei arten seine Werke vollkommen unterschiedlich aus, jedem Werk verleiht er eine andere Richtung und geht vollkommen unbefangen an es heran. Seinem facetten- und farbenreichen Kompositionsstil entspringen so ganz verschiedenartige Werke voll Frische und Lebendigkeit, die das Hören nie ermüden lassen.
Durch seine eigene rege Konzerttätigkeit als Cellist kommt Graham Waterhouse auch viel in Kontakt mit führenden Musikerinnen und Musikern, was die (für eine CD mit zeitgenössischer Musik erstaunlich) prominente Besetzung erklärt: David Frühwirth, seit diesem Monat Violinprofessor in Wien, ist ein gefragter Geigensolist und brachte durch Konzerte und Aufnahmen immer wieder auch seltenes Repertoire zu den Hörern. Die Geschwister Katharina und Konstantin Sellheim treten regelmäßig als Duo in Erscheinung, spielen altes wie neues Repertoire für Viola und Klavier; Katharina Sellheim ist zudem eine renommierte Liedbegleiterin. Namiko Fuso spielt zweite Geige bei den Münchner Philharmonikern und tritt ebenso als Kammermusikerin in Erscheinung, vor allem als Mitglied des Parnass-Quartetts.
Die CD beginnt mit der fünfsätzigen Rhapsodie Macabre, einer Art „Dialog-Klavierkonzert“ mit Streichquartett. In der Konzeption dieses Werks spiegelt sich Waterhouses Fahrt durch die Meerenge der Ungeheuer wider: Er sieht sich einerseits als Bestandteil der Tradition der Totentanzkomponisten inklusive des Einwebens der berühmten Dies-Irae-Melodie, andererseits beschreitet er innerhalb dieser gänzlich neue Wege. Als Grundelement dienen markante Motive und auch Klangfarben, die Waterhouse gegeneinander ausspielt, dynamisch auflädt und kulminieren lässt. Ein treibend rhythmisches Element zieht in seinen Bann. Interessanterweise wirkt der Tod bei aller Wildheit und Ungezügeltheit selten furchteinflößend, sondern bisweilen gar sympathisch; er scheint schelmisch zu lachen und sich diabolisch zu amüsieren.
Umso düsterer erscheint Bei Nacht op. 50, das mit dem Genre der Nocturne nichts mehr gemein hat. Inspiriert durch Kandinskys Ölgemälde DieNacht mit deren gespenstischen Figuren schafft Graham Waterhouse eine imaginäre, furchteinflößenden Szenerie. Nicht eine Sekunde kommt Ruhe oder gar Behaglichkeit in der dunklen Landschaft auf, immer wieder überraschen flüchtige, unstete Figuren den Hörer und treiben durch ihre Unregelmäßigkeit die Spannung trotz der niedrigen Grunddynamik und der durchgehenden Introversion auf die Spitze.
Ein aufheiterndes Zwischenspiel stellt Trilogy für Klavierquintett dar, in welchem Graham Waterhouse anlässlich eines deutsch-französischen Galakonzerts die Nationalhymnen dieser beiden Länder als Material verwendet und sie in ein einträchtiges Miteinander verschmelzen lässt. Und plötzlich funkt auch die Hymne seines Heimatlandes England mit hinein und ergänzt das Stück zu einer Trilogie, einem harmonischen Zusammenspiel dreier Länder.
Bells of Beyond (Glocken des Jenseits) komponierte Waterhouse zum Angedenken an Dafydd Llywalyn, der 2013 verstarb. Es handelt sich um ein misteriös-gruseliges, dabei flächig schwebendes Werk, das die Schwingungen von Glockenklängen zum Stillstand zu zwingen scheinen. Obgleich es durch erweiterte Spieltechniken und geräuschhafte Passagen als „stilistisch modernstes“ Werk dieser Einspielung wirkt, basiert es auf melodiös-thematischem Material und führt auch die Klangflächen wie Themen durch. Erneut begibt sich Graham Waterhouse auf den schmalen Pfad zwischen den beiden Polen, zwischen Skylla und Charybdis.
Ein zweites Intermezzo stellt Kolomyjka op. 3a dar, bereits 1980 komponiert, als Graham Waterhouse gerade einmal 18 Jahre alt war. Im direkten Kontrast zu Bells of Beyond ist dies das tonalitätsgebundenste Werk dieser Einspielung, beschwingt durch seine heitere Stimmung und den tänzerischen Duktus, der die Stimmung eines polnisch-ukrainischen Tanzes evoziert.
Das titelgebende Werk Skylla und Charybdis für Klavier und Streichtrio steht an finaler Stelle dieser CD. Obgleich dem viersätzigen (jedoch in Einheit ohne Pausen vorzutragenden) Werk kein Programm zugrunde liegt, tun sich allein aufgrund des Titels sogleich abstrakte Bilder auf: Als Hörer sieht man das abgrundtiefe Meer, die sich schlängelnden Ungeheuer aufbäumen und um Vorherrschaft ringen, spürt die Gischt auf der Haut und die Furcht der Seefahrer aufwühlen. Jenseits dieser Bilder ist es vor allem die Bewegung, die den Höreindruck ausmacht; die Musik steht nie still, sondern kriecht, schlängelt, richtet sich auf, stürzt hinab, in stetigem Fluss. Dabei wägte Waterhouse präzise die Proportionen ab und schuf ein in sich völlig stimmiges, kompaktes Werk von überbordender Wirkung.
Das Facettenreichtum der Stücke spiegelt sich auch im Spiel der Musiker wider, die hingebungsvoll auf den vielseitigen Personalstil von Graham Waterhouse eingehen. In sämtlichen zu hörenden Konstellationen vom Trio bis zum Quintett agieren die Musiker im einheitlichen Atem und klanglich wohl austariert. Besonders die Rhapsodie Macabre und das Titelstück stellen das Zusammenspiel aufgrund der stetigen Führungswechsel und der vertrackten Dialogbeziehung zwischen den einzelnen Instrumenten auf eine harte Probe, welcher die fünf Instrumentalisten jedoch spielend gewachsen sind. Gerade das Klavier mischt sich fein mit dem kontrastierenden Streicherklang. Und auch die Streicher verlassen sich nicht rein auf einen homogenen Klang, sondern nutzen gerade die verschiedenartige Physionomie der Instrumente zur Herausmeißelung feinster Kontraste, die das Vielseitige im Einheitlichen hervorheben.
Erneut hat sich der amerikanische Komponist Frederic Rzewski (*1938) in einem großen Klavierzyklus mit Liedern des politischen Protests auseinandergesetzt. Die 2016 entstandenen sieben „Songs of Insurrection“ knüpfen bei allen Unterschieden doch klar an Rzewskis Erfolgsstück „The People United Will Never Be Defeated!“ an und bieten immer auch ausdrücklich Raum für Improvisation. Die Ersteinspielung des in Los Angeles wirkenden Pianisten Thomas Kotcheff ist meisterhaft, auch wenn die „Improvisationen“ zweifelsfrei im Vorhinein einstudiert waren.
Frederic Rzewski, 1938 in Massachusetts geboren, hatte als schon in jungen Jahren ausgezeichneter Pianist ein Faible für die Avantgarde; so war er auch einer der ersten, die regelmäßig Stockhausens Klavierstück X im Konzert spielten. Als Komponist bei keinen Geringeren als Walter Piston, Roger Sessions und Milton Babbitt ausgebildet, wurde er allerdings kein dogmatischer Serialist, sondern hat – geprägt durch sein Interesse für Philosophie und die starke Empathie für alles gegen Unterdrückung Aufbegehrende – nicht selten auch weitgehend tonale Musik geschrieben, die dann selbst bei eher konservativem Publikum ihre unmissverständlichen, politischen Botschaften herüberbringen konnte. Musterbeispiel hierfür sind sicher seine gewaltigen, hochvirtuosen 36 Variations on „The People United Will Never Be Defeated!“ (1975) – mittlerweile ein vielgespielter Klassiker des modernen Klavierrepertoires. Die hatte er über einen damals – und mit den unterschiedlichsten Textierungen bis heute – hochaktuellen Song des chilenischen Straßenprotests gegen die Pinochet-Diktatur für die Pianistin Ursula Oppens komponiert: als Programm-Ergänzung zu Beethovens Diabelli-Variationen auf Augenhöhe!
Doch auch ohne Rückgriff auf Fremdmaterial finden sich bei Rzewski immer wieder Zeugnisse politischen Protests: etwa in Stop the War! (Mile 61 aus „The Road“) die spontan ausgedrückte Wut über den 2003 angezettelten Irak-Krieg. Der 2016 komponierte und 2017 vom belgischen Pianisten Daan Vandewalle aus der Taufe gehobene Zyklus Songs of Insurrection knüpft insofern wieder mehr an The People United… an, als dass hier erneut – zumindest in den jeweiligen Ursprungsländern auch sehr bekannte – historische Lieder des Widerstands eindrucksvoll nicht nur künstlerisch überhöht werden: Vielmehr werden sie durch Rzewskis intelligentes Vorgehen, das vom neobarocken Kontrapunkt, Atonalität, amerikanischem Blues und Jazz, akkordischem Choral bis hin zur reinen Improvisation stilistisch immer passende, auf alle Fälle äußerst wirkungsvolle Verarbeitungsvorgänge findet, gewissermaßen zu allgemeinverständlichen Symbolen menschlichen Freiheitsdrangs.
Das verwendete Material reicht quasi um den gesamten Globus: Von den Moorsoldaten politischer Gefangener des NS-Konzentrationslagers Börgermoor führt uns Rzewski zu Katjuscha, das die russischen Soldaten im Kampf gegen die Wehrmacht anfeuerte, aber auch von italienischen Antifaschisten gesungen wurde, über das Spiritual Ain’t Gonna Let Nobody Turn Me Around der US-Bürgerrechtler, Foggy Dew aus dem Osteraufstand der irischen Republikaner von 1916, dem vom portugiesischen Salazar-Regime verbotenen Grândola, Vila Morena und Los Cuatros Generales des spanischen Widerstands bis zu Oh Bird, oh Bird, oh Roller des koreanischen Bauernaufstandes von 1894. Anders als in The People United…, wo der Komponist nur nach den 36 Variationen als Kadenz eine Improvisation vorschlägt, gibt es hier in jedem der sieben Stücke Raum dafür – meist gegen Ende. Nun fordert Rzewski, dass das Improvisieren optional ist und niemals geplant werden sollte, einschließlich der „Entscheidung, zu improvisieren oder es zu lassen.“
Der junge US-Pianist Thomas Kotcheff(Jahrgang 1988) nutzt diese Improvisationsangebote recht unterschiedlich; von ganz kurzen Überleitungen von kaum 15 Sekunden bis hin zu ausufernden „Eigenkompositionen“ – gut vier Minuten Blues im Spiritual (No. 3), und gar 6 Minuten im abschließenden Stück, wo Rzewski auch ausdrücklich eine längere Impro samt der Verwendung von Vogelstimmen wünscht. Das passt alles blendend, ist häufig auch pianistisch eindrucksvoll virtuos – aber, wie so oft in solchen Fällen (inklusive Stücken, wo Komponisten Aleatorik, also Zufallsentscheidungen fordern), sind das keine „echten“ Improvisationen: Wie der Vergleich der CD-Aufnahme vom Februar 2020 mit einem Live-Konzert des Pianisten vom März 2019 zweifelsohne beweist, spielt Kotcheff beide Male fast „wörtlich“ dasselbe, hat seine „Gewürze“ wohl brav auswendig gelernt. Wie sagte doch bereits der erste deutsche Fernsehkoch: „Da hab‘ ich schon mal was vorbereitet…“.
Sei’s drum – nicht nur dies gerät Kotcheff äußerst geschmackvoll, sondern die Intensität seines Spiels insgesamt, das Verständnis für die musikalischen Prozesse, auch sein Sinn für die Passagen, wo nicht auf der Tastatur gespielt wird, sondern Saiten gezupft oder Holz bzw. Metallverstrebungen im Flügel bearbeitet werden – auch so ein Markenzeichen Rzewskis – ist wunderbar entwickelt. Die Musik des neuen Zyklus ist zwar nicht so vordergründig virtuos wie in ThePeople United…, dennoch pianistisch höchst anspruchsvoll. Klanglich gelingt Kotcheff stets, die großen, oft abrupten Dynamikunterschiede als besondere Spannungsmomente zu genießen. Und immer schwingt die Empathie nicht nur für die Musik, sondern auch für deren ursprüngliche Schöpfer in krisenhaften Situationen mit – das ist mehr als nur schön, sondern von tiefem Humanismus geprägt, der sich so unmittelbar dem Hörer vermittelt.
Die Zukunft wird zeigen, ob Rzewski mit seinen Songs of Insurrection abermals ein Klassiker gelungen ist. Von der Wirkung her haben die Stücke durchaus das Zeug dazu; darüber hinaus kann man sie sicher auch einzeln aufführen, obwohl praktisch alle Widerstandslieder – sicher nicht zufällig – unter anderem als kleine, aber sehr auffällige Gemeinsamkeit einen zum Ausgangston zurückkehrenden Quartsprung abwärts beinhalten, der den Zyklus zudem als Ganzes irgendwie zusammenhält. Kotcheffs Ersteinspielung kann jedenfalls schon mal überzeugen; dazu muss man übrigens absolut kein „Avantgarde-Hörer“ sein; diese Musik ist sofort verständlich.
Ars Produktion Schumacher, ARS 38 582; EAN: 4 260052 385821
Das Flötistenehepaar Ana Oltean und Kaspar Zehnder nimmt gemeinsam mit dem Cembalisten Vital Julian Frey Triosonaten von Johann Sebastian Bach auf. Auf dem Programm stehen die Sonaten in G-Dur BWV 1039, C-Dur BWV 1037, d-Moll BWV 1036, D-Dur BWV 1028 und g-Moll BWV 1029, als Intermezzi fungieren die Sinfonia 13 in a-Moll BWV 799 und das Präludium h-Moll BWV 869.
Die Triosonate gehörte zu den beliebtesten Gattungen der Barockära: Sie ließ sich im hausmusikalischen Rahmen aufführen, bot den Komponisten die Gelegenheit in reiner Dreistimmigkeit ihr kontrapunktisches Geschick zu zeigen, und ermöglichte den Aufführenden die Zurschaustellung ihrer Virtuosität. Trotz der Popularität des Genres komponierte Johann Sebastian Bach erstaunlich wenige solcher Trios. Tatsächlich ist nur eine der hier zu hörenden Sonaten als Triosonate belegt: BWV 1039. Und selbst ihr steht eine dreistimmige Gambensonate (BWV 1027) als Schwesterwerk nebenan, die der selben kompositorischen Quelle entspringt. Welches der beiden Werke das frühere ist, lässt sich nicht belegen, vermutlich entstanden sie zeitgleich. Andere der Triosonaten könnten Schülerwerke gewesen sein, denen Bach jedoch zumindest assistierend beistand, vielleicht ihnen sogar den entscheidenden Schliff verlieh. So geht die Forschung davon aus, die Sonate BWV 1036 entstamme eigentlich der Feder seines Sohnes Carl Philipp Emanuel Bach und die folgende BWV 1037 derjenigen Johann Gottlieb Goldbergs, welchen man heute hauptsächlich durch die postum entstandene und fälschliche Benennung der „Goldberg-Variationen“ kennt (Zur Entstehungszeit der Aria mit verschiedenen Veränderungen war dieser nämlich gerade einmal dreizehn Jahre alt). Die Sonaten BWV 1028 und 1029 komponierte Bach jeweils für die Gambe. Doch erlaubt es Bachs Schreibweise in den meisten Fällen, die Werke auch für andere Besetzungen zu adaptieren, was auf dieser Aufnahme geschieht und der Qualität der Musik keinen Abbruch tut.
Die hier zu hörende Einspielungen durch Ana Oltean, Kaspar Zehnder und Vital Julian Frey strotzt vor Lebendigkeit und Vitalität. Die Musiker spielen auf historischen Instrumenten, lassen sich jedoch nicht dazu hinreißen, stur auf die historische Informiertheit zu vertrauen und die Werkdarbietung an bloßen Theorien auszurichten. Statt dessen projizieren sie die Musik in die Jetztzeit und erlauben sich durchaus subtile Freiheiten, um ihr den nötigen Schwung zu verleihen. So behält der Klang seine motorische Stringenz und den markanten Klang, den man mit der Bach-Epoche verbindet, tönt jedoch auch mal lyrisch, zögernd, innig oder gar verhalten. Ob Bach diese Emotionen in seine Musik einband? Einen Beweis hören wir hier.
Wie von der Ars Produktion Schumacher gewohnt, überzeugt die Aufnahme durch luziden und doch vollen Instrumentenklang, angenehme Abstimmung des Halls und prägnanten, greifbaren Sound. Für diese Besetzung allerdings scheint der Klang in manchen Passagen etwas zu direkt, besonders das Cembalo dröhnt teils zu stark in den Höhen hervor; beim Flötenansatz nimmt der Hörer dafür recht viel Luftdruck wahr. Doch dies ist nur ein kleines Manko, welches auch nicht auf jeder Anlage auffällt, besonders angesichts der überragenden Qualität der Musiker.
Ana Oltean und Kaspar Zender sind ein hörbar eingespieltes Team, das nicht nur jahrzehntelang auf der Bühne, sondern auch privat ein Paar bildet und in perfekter Harmonie agiert. Sie wirken wie ein einziges, zweistimmiges Instrument, das durch den gleichen Atem und den selben Puls angetrieben wird.
Aufsehen erregt das Spiel des Cembalisten Vital Julian Frey, der seinem Instrument unerhörte Klangfarben und Möglichkeiten zu entlocken weiß. Wer denkt, das Cembalo könne nur zupfen und klinge immer gleich, der solle sich diesen Musiker anhören. Durch geschicktes und stets wandelbares Arpeggieren erhält jeder Akkord eigenständigen Zusammenklang und individuellen Nachhall; die Stimmen gestaltet er auf eine im Bezug zu den eigentlichen Möglichkeiten der Tongebung magisch anmutende Weise ebenso sanglich aus. Im Zusammenspiel liefert Frey nicht nur eine solide Continuo-Basis für die beiden Melodieinstrumente, sondern agiert selbst als vollwertige dritte Melodiestimme.
Das Trio Montserrat, bestehend aus Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Violoncello), hat für Aldilà Records eine Anthologie kontrapunktischer Meisterwerke für Streichtrio eingespielt. Es erklingen drei Fugen aus Johann Sebastian Bachs Wohltemperiertem Clavier, arrangiert und mit Einleitungen versehen von Wolfgang Amadé Mozart, Paul Büttners Triosonate in sieben kanonischen Sätzen, die Kammersonate von Heinz Schubert und das Streichtrio von Reinhard Schwarz-Schilling.
Wer die Veröffentlichungen von Aldilà Records aufmerksam verfolgt hat, wird gemerkt haben, daß das Werk Johann Sebastian Bachs ebenso zu den Schwerpunkten der verdienten Münchner Musikproduktion gehört wie die Erkundung der Spuren, die die Beschäftigung mit Bach im Schaffen späterer Komponisten hinterlassen hat. Letztere hat erfreulicherweise zu einer Anzahl Einspielungen (z. T. Ersteinspielungen) von Werken Heinrich Kaminskis (1886–1946) und seiner beiden wichtigsten Schüler Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985) und Heinz Schubert (1908–1945) geführt, und auf diese Weise einen nicht zu unterschätzenden Beitrag dazu geleistet, der musikalischen Öffentlichkeit den Wert dieser drei hochbedeutenden Komponisten und ihrer expressiv-kontrapunktischen Musik ins Gedächtnis zurückzurufen. So erschien 2018 Hugo Schulers Einspielung der Goldberg-Variationen gekoppelt mit Klavierwerken Kaminskis und Schwarz-Schillings. Christoph Schlürens 2019 mit den Salzburg Chamber Soloists entstandene Aufnahme der Kunst der Fuge enthielt auch Schwarz-Schillings dreistimmige Studie über B-A-C-H. 2020 wurde das Solo-Album Gateway Into the Beyond des Geigers Lucas Brunnert veröffentlicht, auf welchem Bachs a-Moll-Sonate BWV 1003 von Werken des 20. Jahrhunderts umrahmt wird, darunter Heinz Schuberts Phantasie für Geige allein. Die nun vom katalanischen Trio Montserrat vorgelegte Streichtrio-Anthologie German Counterpoint schließt nahtlos an diese Reihe an: Wieder bildet Bach den Ausgangspunkt der Programmgestaltung, und wieder ist, mit Heinz Schubert und Reinhard Schwarz-Schilling, der Kaminski-Kreis vertreten (von Kaminski selbst existiert kein Streichtrio); hinzu kommt mit Paul Büttner ein Meister aus einer anderen deutschen Kontrapunktiker-Tradition, der Schule Felix Draesekes.
Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Violoncello) beginnen die Vortragsfolge mit drei der Fugen aus dem Wohltemperierten Clavier (I: es-Moll, II: Fis-Dur und fis-Moll), die von Wolfgang Amadé Mozart für Streichtrio gesetzt und mit langsamen Einleitungen versehen wurden. Mozart, der die Fugen aus einer Auswahl-Abschrift kannte, die die originalen Präludien nicht enthielt, ging seine Aufgabe gewissenhaft an, bemüht den Meisterstücken Bachs jeweils ein ihnen würdiges Vorspiel voranzustellen. Das Resultat ist höchst reizvoll, denn Mozart ist selbst eine so in sich gefestigte Künstlerpersönlichkeit, dazu auch zu sehr von anderen Ausgangsbedingungen geprägt, als dass ihm eine völlige stilistische Angleichung an Bach gelingen würde. So stehen hier zwei Meister verschiedener Epochen einander Auge in Auge gegenüber, ihre Zuhörer zu aufmerksamem, stilvergleichendem Hören einladend.
Dass der nächste Programmpunkt Paul Büttner gewidmet ist, dessen Geburtstag sich im Dezember 2020, wenige Tage vor dem Beethoven-Jubiläum, zum 150. Male jährte, ist zunächst schon allein deswegen erfreulich, da Büttner bislang auf CD nur durch eine einzige Veröffentlichung mit historischen Aufnahmen seiner Vierten Symphonie und der Heroischen Ouvertüre (Sterling) repräsentiert war. Mit der Einspielung seiner Triosonate wurde nun nicht nur zum ersten Mal eines seiner Kammermusikwerke auf Tonträger vorgelegt, sondern überhaupt erstmals eine Komposition Büttners direkt für die CD aufgenommen. Man kann nur wünschen, dass dies ein Anfang ist, denn die geringe Anzahl der bisherigen Veröffentlichungen steht in eklatantem Missverhältnis nicht nur zur Qualität der Büttnerschen Musik, sondern auch zu dem Ansehen, dass der Komponist zu Lebzeiten nachweislich genoss: Zwischen 1915 und 1933 waren seine vier Symphonien in ganz Deutschland regelmäßig zu hören, berühmte Dirigenten wie Arthur Nikisch, Paul Scheinpflug, Carl Schuricht, Fritz Busch und Paul van Kempen setzten sich für ihn ein. Dass diese Rezeption jäh abbrach, hat politische Gründe: Als Sozialdemokrat und Ehemann der jüdischen SPD- bzw. ASPS-Politikerin Eva Büttner wurde Paul Büttner nach jahrelanger Tätigkeit als künstlerischer Direktor des Dresdner Konservatoriums, Kompositionslehrer, Musikkritiker und Arbeiterchorleiter von den Nationalsozialisten aus allen Ämtern gedrängt. In erzwungener innerer Emigration starb er 1943. Nach dem Krieg bewahrte ihm die DDR zwar ein ehrendes Andenken, seine Werke wurden noch gelegentlich in Ostdeutschland aufgeführt, doch galt er als altmodischer Spätromantiker, als nicht mehr „zeitgemäß“; auch eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Leben und Werk des Komponisten setzte damals nicht ein.
Wer Büttner von der Sterling-CD her als hervorragenden Gestalter groß dimensionierter symphonischer Architektur kennt, wird vielleicht angenehm überrascht sein, ihn in der Triosonate von einer ganz anderen Seite kennen zu lernen, nämlich als ebenso meisterlichen Miniaturisten. Es handelt sich weder um ein barockisierendes oder bachisierendes Stück, noch um eines in traditioneller Sonatenform, sondern um „Kanons mit Umkehrungen im doppelten Kontrapunkt der Duodezime“, wie der Komponist im Untertitel vermerkt. Die Bezeichnung „Sonate“ ist dahingehend zu verstehen, dass die sieben kurzen Sätze (sie dauern zwischen 39 Sekunden und 3 ¾ Minuten) keine Sammlung darstellen, sondern einen Zyklus bilden – was durch dezente Anspielungen untereinander ebenso bestätigt wird wie durch die tonale Gruppierung um das Zentrum G. Mit diesem Werk demonstriert Büttner, welch souveränes kontrapunktisches Handwerk er sich als Meisterschüler Felix Draesekes erworben hat, und legt ein Kabinettstück vor, dem man durchaus in der Geschichte des „deutschen Kontrapunkts“ einen Ehrenplatz zugestehen darf. Allen Sätzen liegt das gleiche Prinzip zugrunde: Zwei Stimmen spielen im Kanon, die dritte ergänzt freie Töne. Aber es herrscht nicht akademische Prinzipienreiterei in diesem Werk, sondern die Phantasie eines großen Künstlers. Zunächst zeigt sich diese in den verschiedenen Charakteren der einzelnen Sätze und der geschickten Ausnutzung der klanglichen Möglichkeiten der Streichinstrumente. Für Abwechslung sorgen weiterhin technische Kunstgriffe wie Stimmentausch oder Änderung des Einsatzintervalls. Noch wichtiger erscheint jedoch, dass Büttner die Sätze unterschiedlich streng anlegt. Stellt etwa in Nr. 2 und Nr. 4, worin die Imitation im Abstand eines Taktes erfolgt, die kanonische Konstruktion den entscheidenden musikalischen Gedanken dar, so erscheint sie in den beiden langsamen Sätzen Nr. 3 und Nr. 5 beinahe zu einem bloßen Wandern der sich über mehrere Takte erstreckenden Melodien von Stimme zu Stimme gemildert und tritt an Bedeutung gegenüber dem „vollen Gesangston“ (Vortragsanweisung im dritten Satz) zurück. Auch tragen die nicht-kanonischen Takte und die freie dritte Stimme Wesentliches zum Gesamteindruck bei.
Wenige Jahre trennen Büttners wahrscheinlich um 1930 entstandene Triosonate von der zwischen 1934 und 1937 komponierten Kammersonate des eine Generation jüngeren Heinz Schubert. Formal und stilistisch unterscheiden sich beide Werke stark. Lässt sich Büttners Stück insgesamt als heiter und extravertiert charakterisieren (der Freund des werktätigen Volkes lässt es sich auch im strengen Stil nicht nehmen, gelegentlich volkstümliche Töne anzuschlagen), so wirkt in Schuberts Sonate jeder Ton von der Welt abgewandt. „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“ bildet in chromatischer Verschärfung die Grundlage für den chaconneartigen Mittelsatz. Ob es sich um einen Kommentar zu den gesellschaftlichen Verhältnissen der Entstehungszeit des Werkes handelt? Es fällt jedenfalls auf, dass Schubert später in seinem zu Beginn des Zweiten Weltkriegs komponierten Hymnischen Konzert ausgerechnet die „Heerscharen“ (Sabaoth) des Te-Deum-Textes nicht vertont und seinem Ambrosianischen Konzert für Klavier und Orchester, dem letzten Werk, das er vor seinem Kriegstod vollendete, der Choral „Verleih‘ uns Frieden gnädiglich“ zugrunde liegt.
Am Anfang der Kammersonate steht ein Stück, das wie eine Improvisation anhebt, präludierende Figurationen wechseln mit Tonrepetitionen ab, wie sie auch Schuberts Vorbild Heinrich Kaminski häufig verwendet. Während sie allerdings bei Kaminski in der Regel an das ehrfürchtige Stammeln eines verzückten Beters erinnern, stellt sich dieser Eindruck hier nicht ein; eher möchte man an das Atemholen eines zutiefst Erschütterten denken. Wie Schubert in diesem Satz, ohne irgendwelchen vorgefertigten Schemata zu folgen, mittels polyphoner Interaktion der Stimmen das Geschehen immer weiter verdichtet und der Musik zunehmende Stringenz verleiht, ist schlicht faszinierend. Eine strenge, unablässig vorangetriebene Introspektion scheint hier Musik geworden zu sein. Am Schluss des Werkes steht eine Fuge, deren Thema während des Verlaufs variiert wird, wobei das Tempo allmählich zunimmt. Der Schluss berstet schier vor Ausdruckskraft. Schuberts Harmonik basiert auf einfachen tonalen Grundverhältnissen, er erkundet in seinem Schaffen jedoch ausgiebig die Möglichkeiten dissonanter Linienführung. Eine diesbezüglich besonders aufschlussreiche Passage aus der finalen Steigerung wurde zur genaueren Veranschaulichung noch einmal separat und und in Zeitlupentempo aufgenommen und dem eigentlichen CD-Programm als Anhang beigegeben. Auch wurden die entsprechenden Noten im Beiheft abgedruckt.
Im Gegensatz zu Heinz Schubert war es Reinhard Schwarz-Schilling vergönnt, ein Spätwerk schaffen zu können, zu welchem sein 1983, zwei Jahre vor seinem Tod, komponiertes Streichtrio gehört. Es besteht nur aus zwei Sätzen, einer mäßig bewegten Rhapsodie und einem langsamen Notturno, die zusammen etwa 10 Minuten dauern. Sie gehören zum Edelsten und Abgeklärtesten, das sich in der Kammermusik des 20. Jahrhunderts finden lässt. Kein Ton ist zuviel, keiner zu wenig. Alles klingt hier entrückt, als ob das Stück sich gar nicht darum zu kümmern schiene, ob jemand zuhört oder nicht. Gelassen und vollkommen in sich ruhend entfaltet es seine klingenden Phänomene. Die stilistischen Grundlagen sind ganz ähnliche wie in Schuberts Kammersonate, doch wie anders klingt diese späte Musik Schwarz-Schillings!
Die drei Musiker des Trio Montserrat sind einander perfekte Partner. Technisch ist ihnen nichts zu schwer, wie man etwa an der makellosen Ausführung der raschen Flageoletts im Vierten Satz des Büttner-Trios hören kann. Zugleich ist sich jeder der Bedeutung seiner Stimme völlig bewusst, was gerade für das Streichtriospiel von essentieller Wichtigkeit ist, kommt es ja hier noch stärker auf jeden einzelnen Ton an als beim Musizieren in Quartett- und größeren Besetzungen, in denen die Vielstimmigkeit von den Ausführenden zwangsläufig erfordert, zwischen „Vordergrund“- und „Hintergrund“-Geschehen zu unterscheiden. Dieses Gespür für das Zusammenwirken der Stimmen ermöglicht dem Trio Montserrat nicht nur ein tadelloses Zusammenspiel, die Musiker bedenken offenbar auch in jedem Moment den Gesamtverlauf der einzelnen Stücke. Sie entwickeln zielstrebig die Phrasen auf die tonalen Schwerpunkte hin – besonders schön zu hören in den Mozart-Präludien –, wodurch sich die jeweilige musikalische Handlung ganz ungezwungen, wie von selbst entfaltet. Keiner der hier zu hörenden Komponisten betrachtete Kontrapunkt als bloße akademische Disziplin. Er war ihnen allen Stilmittel poetischen Ausdrucks, etwas Natürliches, das selbstverständlich zur Kunst dazu gehört. Das Trio Montserrat bringt diese Natürlichkeit zum Klingen.
Ausgehend von der polyphonen Kunst von Altmeister Johann Sebastian Bach in einer Bearbeitung von Wolfgang Amadeus Mozart (KV 404a) von 1782 spielen die drei katalanischen Musiker Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Violoncello) Stücke dreier deutscher, ziemlich unbekannter Meister des 20. Jahrhunderts:
Eine Trio-Sonate des Dresdner Komponisten Paul Büttner (1870–1943) von 1930,
Eine Kammersonate in drei Sätzen von Heinz Schubert (1908–1945), 1934-1937 geschrieben,
und ein Streichtrio von Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985) aus dem Jahr 1983.
Das Programmheft von Christoph Schlüren weist mit Recht darauf hin, dass gerade diese Besetzung dem Komponisten ein Höchstmaß an Können und Intuition abverlangt, steht doch außer den drei verschiedenen Tönen eines Akkords kein vierter zur Verfügung, wenn die Dreistimmigkeit als gegeben vorausgesetzt wird. Dass dabei die Polyphonie dennoch ein gegebenes Kompositions-Mittel der Wahl ist, demonstriert das Trio Monserrat auf hervorragende Weise.
Für mich am leichtesten zugänglich – abgesehen von den drei Kompositonen von Bach/Mozart, die der „normalen“ Tonalität am verbundensten sind – ist die Musik von Paul Büttner, an dem mich immer wieder sein unerschöpflicher melodischer Erfindungsreichtum begeistert. Obwohl doch die Melodie im 20. Jahrhundert ausgedient zu haben schien. Nicht nur bei diesen Stücken, in denen Büttner mit der Form des Kanons spielt, auch bei seinen Symphonien ist die melodische Komponente verblüffend und faszinierend. Auch die Tonalität hat, bei aller Polyphonie, noch lange nicht ausgedient, was natürlich im damaligen Mainstream nicht zum Ansehen der Büttner’schen Musik betrug. Namhafte Dirigenten wie Arthur Nikisch oder Fritz Busch, die sich seiner Werke annahmen, konnten daran nur wenig ändern. So ist und bleibt Paul Büttner einer, dessen Musik noch immer zu entdecken ist. Wozu diese CD ihren dankenswerten Beitrag leistet.
Heinz Schubert, leider viel zu jung gestorben, ist sicher der, dessen Musik am weitesten und kompromisslosesten in die Zukunft wies. Auch wenn sein Nachname sich bis heute als eine allzu schwere Bürde erweist, ist sein Genie unbestreitbar, was auch bei dieser Kammersonate zu hören ist. Gerade bei der „Begrenzung“ auf das Streichtrio ist es verblüffend, welche neuartige Musik und neue Energien Violine, Viola und Violoncello hervorbringen. Vor allem dann, wenn diese von drei Meistern ihres Instruments „in statu nascendi“ gespielt werden. Beeindruckend die Intensität und das Zusammenspiel auch bei schwierigsten rhythmischen und harmonischen Verbindungen.
Heinrich Kaminski (1886–1946), der Lehrer von Reinhard Schwarz-Schilling, sah sich in seiner Musik sicher auch als legitimer Nachfahre des großen Bach. Diese Wertschätzung übertrug sich auf seinen Schüler, was im Streichtrio aus dessen vorletztem Lebensjahr deutlich zu hören ist. Insofern ist der Titel der CD „Deutscher Kontrapunkt“ mehr als gerechtfertigt. Alle drei Komponisten berufen sich in ihren Werken auf den großen Vorgänger Bach, der natürlich die Musik des ganzen 20. Jahrhunderts beeinflusste, direkt oder später auch via Cross-Over in den verschiedensten Formen.
Abgesehen von den merkwürdigen Strömungen der sogenannten 12-Ton Musik nach Schönberg, denen ja auch eine große Anzahl „ausgedachter“ Musik angehörte und noch immer angehört, ist die tonale oder auch die freitonale Musik z. B. eines Anders Eliasson (1947–2013) oder heute eines Robert Groslot (geb. 1951) allen „Seilschaften“ der „Neuen Musik“ zum Trotz eine nie versiegende Quelle der Musenkunst MUSIK. Quod erat demonstrandum.
Eine CD mit drei phänomenalen Streichtrios, zwei davon als Erstaufnahme, hat das Label Aldilà zu seinem zehnjährigen Bestehen herausgebracht: Die Triosonate von Paul Büttner, die Kammersonate von Heinz Schubert sowie den späten Gattungsbeitrag von Reinhard Schwarz-Schilling. Als Ausgangspunkt solcher kontrapunktischen Meisterschaft muss natürlich Bach gelten: Drei Bearbeitungen von Fugen aus dessen Wohltemperiertem Klavier durch Mozart (KV 404a) erweisen ihm anfangs die Referenz. Es spielt das Trio Montserrat.
Höchste Konzentration von den Ausführenden verlangen die beiden hier als Ersteinspielungen vorgestellten Streichtrios: die Triosonate des notorischen Sammlern allenfalls als Symphoniker bekannten Dresdner Komponisten Paul Büttner (1870–1943) sowie die Kammersonate des Kaminski-Schülers Heinz Schubert (1908–1945). Um es gleich vorwegzunehmen: Obwohl sich die drei spanischen Streicher Joel Bardolet (Violine), Miquel Córdoba (Viola) und Bruno Hurtado (Cello) für diese Entdeckungsreise mehr oder weniger spontan als Trio Montserrat zusammengefunden haben, kann man ihre Leistung nicht hoch genug loben. Bei dieser zwar tonalen, dabei kontrapunktisch enorm komplexen Musik benötigt allein die richtige Intonation ein derart perfektes Verständnis des momentanen harmonischen Geschehens, dass man nur staunen kann, wie vollkommen natürlich hier alles gelingt, wie man sich in Sekundenbruchteilen entsprechend anpasst, aber auch insgesamt die Übersicht für die großen Zusammenhänge und die innere Logik behält, und wie dezidiert die drei Musiker mit Hingabe zu einem sprechenden Ausdruck finden, der jeden Hörer berühren muss.
Büttner war der bedeutendste Schüler Felix Draesekes, kam erst relativ spät – ab ca. 1915 – als Symphoniker zu durchschlagendem Erfolg, war aber nach 1933 als bekennender Sozialist faktisch mit einem Berufsverbot belegt. Seine Musik wurde in der DDR zwar ein wenig gepflegt – die einzige derzeit greifbare CD-Aufnahme einer seiner Symphonien auf Sterling stammt von 1967; auf YouTube findet man zum Glück etwas mehr. Wie bei vielen Komponisten, deren rein tonale Musik vielleicht schon vor dem Zweiten Weltkrieg als ein wenig aus der Zeit gefallen erschien, liegt sein Werk heute zu Unrecht im Dornröschenschlaf. Die um 1930 entstandene Triosonate, bestehend aus sieben Miniaturen von insgesamt nur 16 Minuten Dauer, konnte also erst posthum gedruckt werden. Hier werden – oberflächlich betrachtet – vor allem kontrapunktische Finessen des frühen 19. Jahrhunderts wiederbelebt; sozusagen unter der Motorhaube werkelt jedoch elaboriertes Kunsthandwerk vom Feinsten. Zugleich gelingen Büttner hinreißend direkte Charakterstudien, die dann gar nicht so untypisch für die Zeit zwischen den Weltkriegen sind – jede für sich eine kleine Preziose! Faszinierend etwa, wie im gerade mal halbminütigen 4. Satz eine Glasharmonika imitiert wird.
Die eigentliche Überraschung der Veröffentlichung ist ohne jeden Zweifel die Kammersonate des viel zu jung 1945 im Oderbruch gefallenen Heinz Schubert. Der Dessauer studierte 1926–29 in München bei Siegmund von Hausegger und Joseph Haas und brachte es als Dirigent bis zum Rostocker Musikdirektor – was die Nazis nicht hinderte, ihn im „Volkssturm“ zu opfern. Seine offensichtliche Inspirationsquelle war jedoch die hochverdichtete Linearität Heinrich Kaminskis. Wer dessen Chorwerke kennt, weiß, dass diese einen absoluten Höhepunkt einer langen historischen Entwicklung tonalen Kontrapunkts markieren. Heinz Schuberts Kammersonate von 1934/37 setzt hier aber fast noch eins drauf und erweist sich als echtes Meisterwerk: „Die Dichte der essenziellen Ausdruckskraft, die energetische Aufladung von Struktur und Ausdruck drängt beständig danach, die Grenzen des Fasslichen zu überschreiten“ schreibt Christoph Schlüren, dem wir auch als Produzent diese staunenswerte Wiederentdeckung zu verdanken haben, in seinem vorzüglichen Booklettext. Was für eine starke Musik, die das Trio Montserrat auch emotional absolut überzeugend herüberbringt!
Als Alterswerk des engsten Schülers Kaminskis muss sich das Streichtrio (1983) von Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985) naturgemäß nichts mehr beweisen. Abgeklärtheit und eine überragende Klangvorstellung kennzeichnen ein Stück, das nochmal die Hochphase großartiger Kammermusik des Komponisten in Erinnerung ruft.
Schlüren begründet zwar, warum zu Beginn des Programms drei Bearbeitungen von Fugen aus Bachs Wohltemperierten Klavierdurch Mozart 1782 stehen: quasi als Visitenkarte. Dafür komponierte dieser statt der zugehörigen Präludien jeweils langsame Einleitungen. Der Rezensent hätte sich vielleicht eher ein Stück gewünscht, das die deutsche Kontrapunkttradition weise ironisiert: z.B. die in Theresienstadt entstandene Passacaglia und Fuge von Hans Krása – der in Schlürens Aufzählung zahlreicher Komponisten, die für Streichtrio geschrieben haben, keineswegs vergessen wurde.
Gerade, weil sich hier wohl für die meisten gänzlich Unbekanntes als musikalischer Hochgenuss herausstellen dürfte, bekommt dieses frühe Kammermusik-Highlight des Jahres 2021 sofort einen Extraplatz im Regal. Die CD wird nicht nur der Rezensent ganz sicher noch öfters hören: eindeutige Empfehlung!
Artur Schnabel war der erste Pianist, der Aufführungen sämtlicher Klaviersonaten Ludwig van Beethovens auf Schallplatte festgehalten hat. Oliver Fraenzke, Gründer unseres Magazins, Herausgeber der Kammermusik-Reihe Beyond the Waves im Verlag Musikproduktion Jürgen Höflich und selbst Pianist, stellt diese diskographische Großtat in der zweiten Folge unseres Kleinen Beethoven-Vademecums vor und legt dar, warum sie nach wie vor für die Darbietung Beethovenscher Klaviermusik Referenzstatus besitzt. (d.Red.)
Betrachtet man Beethovens Klavierwerk, so kommt man kaum um die Aufnahmen Artur Schnabels herum, die weit oben in der Liste der Referenzaufnahmen stehen, als Zyklus betrachtet wohl sogar mit an deren Spitze. Sicherlich gibt es zahlreiche andere großartige Aufnahmen von Beethovens Tastenwerk, so beispielsweise durch Eduard Erdmann oder Arturo Benedetti Michelangeli, doch kaum einer von den Pianisten diesen Ranges näherte sich dem Komponisten derart systematisch in der Gesamtheit seines Schaffens. Aus den 1920er-Jahren existieren Konzertprogramme Schnabels, die zyklische Aufführungen aller Beethoven-Sonaten belegen; in den 1930er-Jahren empfand Schnabel schließlich die Aufnahmetechnik als ausreichend gereift, um mit den Sonaten, Klavierkonzerten, den Diabelli- und den Eroicavariationen und einigen anderen Werken ins Studio zu gehen, wobei er die Abbey Road Studios in London für das Großprojekt auserkor.
In der Auswahl seines Repertoires galt Artur Schnabel als unerbittlich: Ausschließlich die Werke nahm er auf, die laut eigener Aussage besser sein, als ein Mensch sie spielen könne. Dies führte dazu, dass er beinahe ausschließlich Werke der Epoche um die Wiener Klassik spielte, inklusive Brahms und Schubert. Letzteren entdeckte Schnabel gemeinsam mit Eduard Erdmann wieder und konzertierte als einer der ersten mit dessen Sonaten, die zuvor wenig verstanden waren. Der Fokus auf die vergleichbar alte Musik mag vor allem deshalb verwundern, da Schnabel auch als Komponist in Erscheinung trat und dort zu den Neuerern zählte. Beeinflusst vom Durchbrechen der Tonalität und den Ideen Schönbergs schloss Schnabel sich den Fortschrittlern an, bewegte sich in den Kreisen von Ernst Křenek, Philipp Jarnach und Hans Jürgen von der Wense, der zweifelsohne zu den radikalsten Tonsetzern der Zeit zählte und in seiner ganzen Art sowie seinem vielseitigen Wirken revolutionierte. Schnabel betitelte seine Werke allgemein mit klassischen Bezeichnungen wie Sonate, Quartett oder Symphonie, doch inhaltlich hatten sie zumeist wenig mit diesen Gattungen gemein.
Geboren wurde Artur Schnabel am 17. April 1882 in Kunzendorf, Galizien, das heute zum südöstlichen Teil Polens gehört. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen als jüngstes von drei Kindern einer jüdischen Textilhändler-Familie auf. Er zog noch als Kind mit der Mutter und seinen Geschwistern nach Wien, wo er 1890 als Pianist debütierte und dort wohnhaft blieb, selbst als seine Familie vier Jahre später wieder in die Heimat zurückzog. Er wurde Schüler von Anna Jessipowa, die als „Madame Essipoff“ bekannt war, und nach deren Scheidung Schüler ihres Exgatten Theodor Leschetizky, einer der namhaftesten Lehrer der Zeit und Mitbegründer der heute sogenannten russischen Klavierschule. Eusebius Mandyczewski unterwies Artur Schnabel in Musiktheorie und gab ihm Kompositionsunterricht; durch ihn kam er auch in Kontakt mit einigen der großen Komponisten der älteren Generation wie unter anderem Johannes Brahms, wobei scheinbar wenig Austausch zwischen den etablierten Meistern und dem jugendlichen Aufsteiger stattgefunden hat. Um die Jahrhundertwende zog Schnabel nach Berlin und heiratete 1905 Therese Behr. Therese Behr-Schnabel wirkte als Altistin, trat oft auch mit ihrem Ehemann auf. 1909 kam Karl Ulrich auf die Welt, der sich selbst als Pianist einen Namen machte und gemeinsam mit seinem Vater einen Großteil des vierhändigen Repertoires einspielte, 1912 folgte Stefan Artur, welcher in Amerika Schauspieler wurde. (Bereits 1899 war Schnabel Vater einer vorehelichen Tochter geworden, Elisabeth Rostra.) Nach Hitlers Machtergreifung 1933 flüchtete die Familie in Vorahnung unmittelbar nach England, verbrachte die Sommer jedoch in Tremezzo. Als der Krieg unausweichlich schien, emigrierten die Schnabels 1939 in die USA, die Schwestern folgten – die Mutter blieb in Österreich, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und kam dort im gleichen Jahr zu Tode. Nach dem Krieg kehrte die Familie nach Tremezzo zurück, Artur verlebte dort seine letzten Jahre und starb am 15. August 1951 in Morschach in der Schweiz.
Die für seine Entwicklung bedeutsamsten Jahre dürften nach der fundamentalen Ausbildung in Wien wohl diejenigen in Berlin gewesen sein, wo Schnabel in regem künstlerischen Austausch mit einigen der bedeutendsten Komponisten und Musikern gewesen ist sowie den Durchbruch als konzertierender Pianist errang. Einer der wahrscheinlich zentralsten Einflüsse dürfte der durch den vierzehn Jahre jüngeren Eduard Erdmann gewesen sein: die beiden lernten sich vermutlich 1920 kennen, als Erdmann sich gerade als einer der zentralsten Vertreter der Szene Neuer Musik etablierte, mit Aufführungen u.a. seines Lehrers Heinz Tiessens, Scherchens, Bergs, Schönbergs etc. von sich Reden machte. Erdmann sah Schnabel gewissermaßen als eine Art Lehrer, befolgte insbesondere seine Lebensratschläge und nahm wichtige Anschauungen Schnabels an. Und doch handelte es sich um ein Verhältnis auf Augenhöhe. Schnabel schätzte Erdmann besonders auch als Darbieter seiner eigenen Werke und übernahm als Komponist seinerseits musikalische Inspirationen von seinem Kollegen. Schubert entdeckten sie gemeinschaftlich wieder und zurückblickend schuf sogar Erdmann die tiefgründigeren Aufnahmen dessen Klavierwerks (insbesondere der letzten Sonaten und der Impromptus). Zu Beethoven bemerkte Erdmann allerdings, dass keiner dessen Sonaten so verstand, wie Schnabel es tat, und er selbst nichts hinzuzufügen hätte. Aus diesem Grund weigerte sich Erdmann, Beethovens Sonaten aufzunehmen, solange Schnabel lebte: erst 1953 spielte er, bereits als von der Kriegszeit gezeichneter Mann mit schwindender manueller Technik, nicht aber geistiger Durchdringung, die Pathétique ein.
Schnabels Beethoven-Aufnahmen entstammen seinen reifen Jahren: Die meisten fallen in die Zeit seiner frühen 50er, als sich die Erfahrungen seiner bereits über 40 Jahre währenden Karriere längst in einem gesetzten, bewussten und ausgeglichenen Spiel manifestiert haben. Schnabel blieb durch den regen Austausch in Berlin frisch und lebendig und stand den musikalischen wie technischen Neuerungen gegenüber stets offen. Jede der Aufnahmen zeugt von intensiver und vor allem präzise detailverliebter Beschäftigung mit ausnahmslos einem jeden dieser Werke. Schnabel vertrat genaue Werktreue und so setzte er die Partituren minutiös um. Dabei spielte er allerdings nüchterner, distanzierter, als es beispielsweise Erdmann tat. Nichtsdestoweniger fehlt auch die emotionelle Seite der Werke nicht und die Musik funkelt vor Lebendigkeit und Frische. Als Zyklus betrachtet zeugen die Einspielungen vor allem von einem: umfassender Menschlichkeit. Schnabel stellt Beethoven nicht als wilden, zerzausten Berserker da, der die Regeln brach und als Raptus das Aufsehen auf sich zog, so wie man es von neueren Einspielungen viel zu leidlich kennt, sondern zeigt ihn als vielschichtige, ausgeglichene Persönlichkeit, dessen kompositorische Ausbrüche stets integriert werden in ein komplexeres Ganzes. Beethoven wird uns sympathisch.
Technisch stechen besonders Schnabels Feinheiten des Anschlags hervor, seien es die schimmernden Läufe oder die geräuschhaft schnellen Triller, vor allem aber stockt einem der Atem, sobald Schnabel Pianissimo spielt. Über lange Strecken bannt der Pianist den Höher durch sein weltfremdes, gedämpftes Spiel in den ruhigsten Passagen, hält die Spannung bis zum Zerreißen in der Schwebe und bringt die Zeit zum Stillstand. Mit dieser Basis spannt er große Kontraste und eröffnet ein gewaltiges Spektrum an Farben und Möglichkeiten, die zu einem unerhört formbezogenen Spiel führen, was uns selbst die weiten Flächen der letzten Sonaten mühelos nachvollziehen lassen.
In keiner Sekunde buhlt Schnabel dabei um Aufmerksamkeit, sondern spielt lediglich für den Komponisten, für die Noten und für den verständigen Hörer, der nicht geblendet werden will, sondern der Musik zuliebe hört. Entsprechend könnten Hörer, die sich an den Effekt neuerer Aufnahmen gewöhnt sind, irritiert werden von der Leichtigkeit, Lebendigkeit und unprätentiösen Herangehensweise an diese Werke.
In den Beethovenaufnahmen seien besonders die getragenen Sätze hervorzuheben, die Schnabel enorm langsam nimmt, dabei aber zu keiner Zeit schleppt, so dass in der Wirkung die Zeit still zu stehen scheint und dennoch in gemächlichem Maße prozessiert. Seine beachtliche Fingertechnik stellt der Pianist nie zur Schau, kehrt sie im Gegenteil teils sogar unter den Tisch, um umso mehr Platz für musikalische Ausgestaltung zu gewinnen. Natürlich gibt es kleinere Fehler oder Ungenauigkeiten im Vergleich zum neueren (auch Live-)Aufnahmen, was ich jedoch nicht als Manko sehe, denn auch sie stehen für die menschliche Seite der Musik. Zudem nimmt man sie gerne in Kauf für solch ein durch und durch musikalisches, ausgewogenes und formbewusstes Spiel, das auch die längsten Sätze als Ganzes erfasst.
In den frühen, Beethovens Lehrer Haydn gewidmeten Sonaten vollzieht Schnabel den Stilentwicklungsprozess pianistisch nach, stellt sie in Haydn’scher Feinheit des Spiels dar. Schon in der beginnenden f-Moll-Sonate sticht sein brillantes Staccato-Spiel hervor, durch das die Noten zwar sehr kurz, aber dennoch mit Hall und Volumen kommen. Auch die Sforzati wägt Schnabel sauber ab, bezieht sie stets auf die aktuelle Grunddynamik. Im Adagio hören wir bemerkenswerte Pedalisierung, das Finale gestaltet er etwas freier. Die folgende A-Dur-Sonate beginnt ausgesprochen fröhlich und locker geradlinig, was den ganzen Satz durchgeht, der in dieser Heiterkeit verweilt – hier wirken neuere Darbietungen doppelbödiger und zwiegespaltener, doch Schnabel setzt seine Ansicht stimmig um. Das Largo gestaltet er herrlich zweischichtig, nimmt die Melodie als reinen Gesang mit einer Art Streicherbegleitung. Das Finale erscheint wenig virtuos, dafür umso sanglicher mir subtilen Freiheiten, das Grazioso hären wir so wörtlich wie selten sonst. Die umfangreichere C-Dur-Sonate nimmt Schnabel klassisch fein und ausdrucksstark, intensiviert die Kontraste. Sehr sympathisch erscheint mir, dass selbst Schnabel mit der Trillerbewegung im Thema zu kämpfen hat: hieran dürfen sich alle Pianisten erfreuen, die selbst um dieses Detail gerungen haben. Im Adagio erleben wir, wie laut Pausen sprechen können und schmerzlicher rufen als die Noten an sich; der Mollteil changiert zwischen Zweifel und Hoffnung, Aufbegehren und Resignation: Momente der Gänsehaut. Das Scherzo springt gelöst herum, dabei wirkt vor allem das Trio völlig unprätentiös, was angesichts des Notensatzes einem Wunder gleicht – dafür fokussiert Schnabel sich auf die Bassführung. Wieder leichtfüßig kehrt das Finale ein, wobei Schnabel jedes der Motive in klaren Bezug setzt und so einen roten Faden durch den vielgliedrigen Satz zieht.
Schreiten wir etwas zügiger durch die darauffolgenden Sonaten, konzentrieren uns nur auf ein paar besonders auffällige Stellen. Aus der siebten Sonate op. 10/3 sticht der Largo-Mittelsatz hervor, der so enorm langsam gespielt wird, dass Schnabel jede einzelne Note mit Bedeutung füllen muss. Er setzt sie um wie eine Cellostimme; die Qualität jeden Anschlags übersteigt hierbei, so meint man zumindest, die physikalischen Möglichkeiten eines Klaviers. Im Rondo glänzt die Unterstimme, flächig klangmalerisch unterstreicht sie die Melodie, bleibt dabei in jeder Note verständlich. Die Pathétique weitet erneut die Kontraste, das Fortissimo findet seine Grenze an Robustheit und Lärmen, ohne dabei hart oder geschlagen zu wirken. Im Hin und Her, Drängen und Zurückhalten des Beginns intensiviert Schnabel die Spannung, löst sie erst im Allegro, wo er unerbittlich nach vorne zieht und ein ewiges Precipitato-Gefühl evoziert. Der Mittelsatz trumpft wieder durch seine Kantabilität auf, präsentiert romantischen Flair in klassischem Gewand. Das Finale gewinnt schließlich die lang ersehnte Leichtigkeit und Gelöstheit, auf die die ganze Sonate abzielt, beruhigt das Gemüt nach der enormen Spannung der Vorausgegangenen. Eines der wenigen Details, die mir in Schnabels Darbietungen unverständlich erscheinen, finden wir im Finale der E-Dur-Sonate op. 14/1: warum beschleunigt Schnabel auf das Crescendo? Dies unterminiert die geradlinige Fröhlichkeit des Satzes. In der folgenden G-Dur-Sonate besticht einmal mehr der Mittelsatz, trotz der kurzen Staccati hebt Artur Schnabel die Melodie in den Vordergrund und gestaltet sie kompromisslos aus. Das Scherzo avanciert zu einer aufsehenerregenden Gradwanderung zwischen operettenhafter Stimmung und düster-gespenstischem Satz, in der Kürze der Motive beinahe fragmentarisch wirkend.
Die stilistische Auswägung der mittleren Sonaten ist allgemein erwähnenswert. So ist beispielsweise die sogenannte „Mondschein“-Sonate überhaupt nicht so romantisierend gespielt, wie man sie heute viel zu oft hören muss, sondern besticht durch gehaltenes, dabei durchgängiges Tempo, das die Wirkung auf die Spitze bringt und über lange Strecken die eiserne Spannung aufrechterhält. Umso vorwärtsdrängender das Finale, welches beinahe aggressiv aufstößt und die Sforzati wie Aufschreie hervorblitzen lässt. Die folgenden Sonaten integrieren zusehends mehr orchestrale Farben in das Klavier: während das Andante der „Pastorale“ wieder einen Beweis für brillante Zweistimmigkeit mit feinsinnigem Staccato liefert, erscheint das Adagio der G-Dur-Sonate op. 31/1 bereits völlig orchestral mit Holzbläserstimmen als Melodie und dichter Streicherbegleitung. Im Finale der Pastoral-Sonate denken wir dafür, eine Harfe zu hören. In der 31/1 ist noch der Beginn zu erwähnen, der fast wie ein Scherzo daherkommt, keck virtuos, und doch ohne jegliche Form der Zurschaustellung. Wie bereits bei der Sonata quasi una fantasia, so nimmt Schnabel auch die „Sturm“-Sonate op. 31/2 keineswegs klischeehaft romantisch, er treibt die Spannung nicht durch Rubato unnötig in die Höhe, sondern lässt die Noten durch Präzision und ausgewogenen Anschlag durch sich sprechen. Das Finale stellt den bisherigen Höhepunkt von Schnabels vielseitiger Staccatokultur dar. Die Es-Dur-Sonate op. 31/3 gehört zu den Sonaten, die unbedingt mehr zu entdecken sind. Schnabel setzt sie in unendlicher Schönheit um mit augenzwinkernden Details, in springender Heiterkeit mit wohl dosierten Proportionen. Die technischen Anforderungen des Scherzos stellt er vollends in den Dienst der musikalischen Ausgestaltung; das Presto nimmt er rasend schnell, bleibt fein und technisch unscheinbar. In der „Wandstein“-Sonate op. 53 gilt es, sich die Ressourcen einzuteilen, um die Form zu bewältigen, was Schnabel durch langes Beharren in den unteren Dynamikstufen und graduellen Aufbau realisiert und so den gesamten Bogen des Satzes musikalisch ausfüllt. Im Adagio zählt dagegen jeder Ton, jede subtile Wendung wird adäquat unterstrichen, ohne sie überzubetonen. Der Beginn des Rondos schwebt förmlich über allen Wolken, so surreal wirkt das Pianissimo in Schnabels Händen.
In den späten Sonaten spreizen sich die Kontraste bis zum Zerbersten auf, dabei wird die Aussage auf ihre Weise kompakter. Ich würde mich hüten, diese Werke einer „Epoche“ zuzuordnen, denn dieser Stil ist ausschließlich später Beethoven und nichts sonst. Jede Sonate steht monumental für sich alleine in der Musikgeschichte und verlangt nach unbefangenem Herangehen, enormem Bewusstsein und musikalischer Imaginationsgabe. Schnabel blüht hier voll auf und kreiert einen Höhepunkt der Klavierkunst. Besonders die langsamen Passagen wirken wie Wunder, vollendeter Tastengesang und unendlich fein abgestufte Dynamiknuancen bereiten den Weg, die „himmlischen Längen“ zu bewältigen, die durch seine facettenreiche Artikulation und die überirdischen Pianissimopassagen (besonders -triller) bis ins Letzte ausgestaltet werden. Die flirrenden Begleitungen raunen orchestral ausgestaltet, während die Oberstimme schwebt, stets im Bewusstsein über Form und Proportion.
Die Klavierkonzerte Beethovens nahm Artur Schnabel gemeinsam mit dem London Symphony Orchestra und dem London Philharmonic Orchestra unter Leitung Malcolm Sargents auf. Das Klavier erscheint dabei auf das Orchester klanglich abgestimmt, verliert dabei nicht seine Distanz und seinen individuellen Klang, wirkt entsprechend wie ein wohl dosierter Kontrapunkt. Schnabel übernimmt eine reiche Palette an Orchesterfarben aufs Klavier, nutzt ebenso aber die rein klavierspezifischen Klangfarben, um das Zusammenspiel durch unterschiedliche Facetten zu bereichern.
Diese im Musikverlag Müller & Schade erschienene CD präsentiert mit einer Klaviersonate, zwei Liedern und einer Violinsonate den Großteil des heute noch bekannten Schaffens von Adolphe Veuve (1872–1947), einem Schweizer Komponisten, dessen Nachlass nach seinem Tode spurlos verschwand. Es musizieren und singen: die Pianisten Simon Bucher und Alexander Ruef, die Sopranistin Maya Boog und der Geiger Stefan Meier.
„Die toten Meister heben ihre Hände, / Sie rufen aus dem Grabe: ‚Rette, rette, / Ach, wer errettet unsere Musik? / […] / Mit unsern Werken schwindet unsre Seligkeit!‘ / Lässt Euch das auch in Ruh’?“ So fragt in Pfitzners Palestrina der Kardinal Borromeo den Titelhelden, ihm die drohende Entsorgung des Notenbestands der päpstlichen Kapelle vor Augen führend. Jedes Mal, wenn ein Kunstwerk unwiederbringlich verloren geht, stirbt mit ihm ein Teil seines Schöpfers den zweiten Tod. Namentlich aus älterer Zeit wissen wir von vielen Werken selbst hochbedeutender Meister nur noch, dass es sie einst gegeben hat. Es sind freilich genug Fälle bekannt, in denen ein Werk nach jahrzehntelanger, ja jahrhundertelanger Verschollenheit wieder ans Licht kam. Man denke etwa daran, wie Joseph Haydns C-Dur-Cellokonzert vor 60 Jahren aus dem Reiche der Totgeglaubten ins Leben zurückkehrte.
Es darf also auch im Falle des Schweizers Adolphe Veuve (* Cernier, 7. Dezember 1872; † Lausanne, 5. August 1947) gehofft werden. Bis vor kurzem war Veuve ein völlig vergessener Komponist, einer von jenen, die nur noch eine papierene Existenz in alten Quellen zu führen scheinen. Aus diesen kann man erfahren, dass er zu den Gründern des Conservatoire de Neuchâtel gehörte, zu Lebzeiten einer der angesehensten Pianisten der Suisse Romande war und seit 1926 auch Rundfunkkonzerte gab (von denen sich kein Mitschnitt erhalten hat). Bekannt ist, dass er wenigstens ein Klavierkonzert (sein letztes Werk), ein Streichquartett, eine Klaviersonate, mehrere Violinsonaten, Orchestersuiten, Klavierstücke, Lieder und Chorwerke komponierte. Vier dieser Opera sind durch Drucke auf die Nachwelt gekommen: die Klaviersonate d-Moll op. 2, Trois Morceaux pour piano op. 3 (Ignacy Jan Paderewski gewidmet), Deux Mélodies op. 4 und eine Gavotte für Klavier ohne Opuszahl. Von den Manuskript gebliebenen Werken tauchte jedoch bislang nur die Erste Violinsonate C-Dur op. 5 wieder auf. Was aus den restlichen Stücken wurde, ist unbekannt. „All seine Kompositionen sind von Originalität und manchmal einer sehr modernen Inspiration geprägt, obwohl mit sehr großem Respekt vor den Formen entworfen“, heißt es in einem Nachruf, der kurz nach dem Tode des Komponisten in einer französischsprachigen Neuenburger Zeitung erschien.
Der Berner Musikverlag Müller & Schade, der auch den Erstdruck der Violinsonate op. 5 herausbrachte, hat mit der vorliegenden CD nahezu eine Gesamtaufnahme des verfügbaren Schaffens von Adolphe Veuve veröffentlicht. Lediglich die vier kürzeren Klavierstücke fehlen (aus Platzgründen? Die CD dauert 60 Minuten). Die Violinsonate, das einzige datierte Werk, entstand laut Manuskript 1915/16, womit angesichts der Opuszahlen im Falle der anderen Stücke eine frühere Entstehungszeit anzunehmen ist. Wenn der Autor des Nachrufs Veuve als „sehr modernen“ Komponisten charakterisiert, so muss man sich in Erinnerung rufen, dass damals durchaus noch Musik, die man heute „spätromantisch“ nennen würde, als „modern“ gelten konnte. Veuve ist, den bekannten Werken nach zu urteilen, jedenfalls kein „Impressionist“, „Expressionist“ oder „Neoklassizist“. Dass er sich bemühen würde, im Stile bestimmter Vorbilder zu schreiben, kann man nicht sagen. Wenn der Einführungstext zur CD seiner Tonsprache eine „eigene Prägung“ attestiert, so ist das keine Floskel. Er schließt sich weder deutschen, noch französischen Traditionen ganz an, hat aber offensichtlich von beiden gelernt. So mag etwa der kompakte Klaviersatz zu Beginn der Sonate op. 2 mit seinen Dreiklangsbrechungen und Oktavierungen an Brahms gemahnen, die Deux Mélodies op. 4 erinnern dagegen eher an französische Meister der Franck-Schule. Veuves Stärke liegt vor allem im Harmonischen. Er liebt es, Harmonien schrittweise durch chromatische Stimmführung zu verwandeln, was in Verbindung mit den gern verwendeten synkopischen Rhythmen den Eindruck einer starken Verdichtung der musikalischen Ereignisfolge hervorruft. Der oben erwähnte Respekt vor den Formen sorgt dafür, dass das Geschehen stets überschaubar bleibt. Die viersätzige Klaviersonate dauert etwa so lang wie Beethovens op. 7 oder op. 22, die dreisätzige Violinsonate überschreitet die Dimensionen einer Brahms-Sonate nicht. Simon Buchers Aufführung der Klaviersonate zeichnet sich durch feine Abstufung der Dynamik, sicheres Gespür für den Rhythmus und ausgeprägten Sinn für die große Form aus. Bucher ist genau der richtige Musiker, diesem Werk neues Leben einzuhauchen. Er ist auch in den beiden Liedern zu hören, die Maya Boog sehr expressiv vorträgt. Das dunkle Timbre der Sopranistin passt zudem gut zur melancholischen Stimmung dieser Gesänge. Weniger gut gelingt die Aufführung der Violinsonate. Zwar steht die Leistung des Pianisten Alexander Ruef derjenigen Buchers nicht nach, doch scheint sich Violinist Stefan Meier weniger gut in seiner Stimme zurechtzufinden als sein Partner am Klavier. Die Phrasen der Violine wirken zu oft bloß aneinandergereiht, große Entwicklungszüge bleiben aus, Steigerungen geraten zu mühsam. Am besten gelingt insgesamt der letzte Satz, dessen Hauptthema liedhaft schlicht anhebt.
Trotz diesen Einschränkungen handelt es sich um eine empfehlenswerte CD. Es ist schön zu sehen, dass hiermit einem sympathischen Komponisten, der fast gänzlich verschollen schien, wieder eine Stimme gegeben, und damit auch ein weiteres Schlaglicht auf die Musikgeschichte der französischsprachigen Schweiz geworfen wurde. Gleichermaßen sollte sie dazu ermahnen, sich auf die Suche nach den verschwundenen Kompositionen Adolphe Veuves zu machen. Der Fund der Violinsonate nährt immerhin die Hoffnung, dass auch die weiteren ungedruckten Werke nicht endgültig verloren sind.
Die Violin-Geschwister Marie-Luise und Christoph Dingler treten gemeinsam als „The Twiolins“ auf und präsentieren „Eight Seasons Evolution“ mit den vier Jahreszeiten von Antonio Vivaldi und einer gemischten Auswahl an Tangos von Astor Piazzolla, jeweils arrangiert für zwei Violinen von Christoph Dingler.
Die Idee, Piazzolla und Vivaldi zu kombinieren, ist nicht neu; die Konstellation liegt auch nahe angesichts dessen, dass Piazzolla selbst Vier Jahreszeiten komponierte und diese mit thematischem Material aus Vivaldis Violinkonzerten versah. In dieser Konstellation wurden die „Acht Jahreszeiten“ auch mehrfach eingespielt, wobei ich besonders die tief empfundene, innig jubilierende Einspielung Liv Midgals mit dem Deutschen Kammerorchester Berlin wie auch die rassige, triumphierend groovende Aufnahme Lavard Skou Larsens mit den Salzburg Chamber Soloists schätze, die beide 2016 erschienen sind.
Doch da The Twiolins sich auf das Banner schrieben, neudenkerisch zu sein, können sie die vorhandenen Werke nicht so stehenlassen, sondern ersetzen Piazzollas Jahreszeiten durch elf Tangos, die je zwischen die Vivaldi-Sätze geklemmt werden. Zudem arrangierte Christoph Dingler Vivaldi für ihre Besetzung.
Das Thema Evolution wird ansonsten nicht weiter tangiert. Die Aufnahmen sind nämlich keineswegs sonderlich eigenwillig, neumodisch oder individualistisch, sondern im Gegenteil glatt gebügelt ohne sonderliche Ausreizung der Kontraste oder der schon bei Vivaldi abenteuerlichen Klangeffekte. Einen Grund für die Modernisierung dieser Meisterwerke würde ich ohnehin nicht sehen, da schließlich kaum jemand überhaupt die Modernität des Originals näher zu betrachten scheint: Die bereits erwähnte Aufnahme Lavard Skou Larsens gehört zu den ganz wenigen, die die für damalige Zeit nahezu futuristisch anmutenden Klangeffekte stimmig zu vermitteln weiß. Diese fehlen jedoch vollkommen in der Darbietung der Twiolins. Und auch ansonsten findet sich nicht viel, was bemerkenswert oder spannend wäre, die Aufnahme tröpfelt recht ereignislos vor sich hin, fasern die Form in thematische Abschnitte auf und stützen sich beinahe ausschließlich auf die berühmten Melodien und einige ruppigere Abschnitte. Piazzolla mag ebenso wenig begeistern, es kommt kein Groove auf und jede Art des Temperamentvollen, tänzerisch Beschwingten fehlt. Piazzolla beweist in seinen Kompositionen beachtliches Gespür für ausgewogenen Klang, der in jeder Besetzung umsetzbar ist, wägt die aufkommenden Stimmungen wohl ab und weiß, diese am richtigen Moment aufzubrechen. Die Essenz des Tangos bewahrend, bezieht er Elemente der zeitgenössischen Musik mit ein, moderne Effekte und herbere Dissonanzen, neue Modalitäten und formale Gestaltungsweisen. Dies musikalisch zu erkunden ist eine Gradwanderung zwischen Bewusstsein und Intuition, Fokus und Befreiung, Andacht und Schwung – kurzum, eine besondere, vielseitige Beschäftigung erscheint als zwingend notwendig. Was The Twiolins in dieser Einspielung hören lassen, stützt sich jedoch lediglich auf die oberflächlichen Klangeffekte und die lateinamerikanische Rhythmik, die geradlinig umgesetzt wird. Die Noten werden befolgt.
So verstehe ich das Motto der CD nicht, welche das Duo ins Booklet schreibt: „Um nicht in einer einfachen Kopie zu verharren, war uns klar, dass sich die Eight Seasons weiterentwickeln mussten, durch eine eigene Inperpretation, eine Transformation und Wachstum. Kurz: Eine Evolution war notwendig.“ Ich zumindest entdeckte keine, abgesehen der Arrangements.
Über die musikalische Behandlung hinaus darf jedoch nicht das präzise aufeinander abgestimmte Zusammenspiel verschwiegen werden: Fein aufeinander abgehört und vollkommen d’accord in ihrer Klangvorstellung agieren Marie-Luise und Christoph Dingler in perfekter Harmonie, im gleichen Puls.
Die zu hörenden Arrangements Christoph Dinglers zeugen von guter Kenntnis der Möglichkeiten und Grenzen der Besetzung. Die Stimmverteilung wirkt stimmig. Ob der Notwendigkeit solch einer Bearbeitung für zwei Violinen von Vivaldis Violinkonzerten darf hingegen diskutiert werden, zumal die Tiefen des Basso Continuos fehlen, die doch entscheidend sind für den erdigen, stellenweise beinahe naturalistischen Klang, der den Konzerten innewohnt.
Unterstützt von Luna Martina Pracht (Klangschalen), Annette Winker (Fagott) und Katharina Uzal (Violoncello) führt Ute Schleich (Blockflöten) auf diesem bei conditura records erschienenen Album die Vielfalt der Minimal Music wie des Blockflötenklangs vor Ohren.
„Colors of Minimal Music“ präsentiert die Blockflötistin Ute Schleich auf ihrer gleichnamigen CD. Der Titel ist trefflich gewählt, lässt er sich doch gleich auf mehrere Aspekte beziehen, die dem Programm und den Darbietungen ihr Gepräge geben. Zunächst einmal zeugt die Auswahl der Kompositionen von Ute Schleichs profunder Kennerschaft des Spezialgebiets Minimal Music. Es finden hier Stücke von insgesamt sieben zeitgenössischen Komponisten verschiedenen Alters zusammen. Zwar sind alle Werke mehr oder weniger von der Idee des reduzierten Tonsatzes und der repetitiven Melodik bestimmt, unterscheiden sich in ihrer jeweiligen individuellen Gestalt jedoch voneinander ziemlich stark. Dieses Programm lädt dazu ein, die Kompositionen vergleichend zu hören, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede nachzudenken. Ein breites Farbspektrum zeigt sich auch in den Besetzungen, die auf der CD zu hören sind. Die zahlreichen kürzeren Stücke sind Soli für Blockflöte, die drei längeren hingegen Duos, die die Blockflöte jeweils mit einem anderen Instrument zusammenbringen: Violoncello, Fagott und Klangschalen. Nicht zuletzt sorgt Ute Schleich mit den von ihr verwendeten Instrumenten für klangfarbliche Abwechslung: So erklingen in den 65 Minuten des vorliegenden Albums nicht weniger als neun verschiedene Blockflöten (1 Sopran, 5 Alt, 2 Tenor, 1 Bass).
Unter den Solowerken erscheinen die beiden Stücke Hin- und Her und Signale aus Frans Geysens Sammlung City of Smile (2001) am strengsten minimalistisch gestaltet. Sie basieren beide auf einfachsten diatonischen, regelmäßig getakteten Motiven, die ständig wiederholt und dabei nach und nach von Verzierungen umrankt werden – was einige reizvolle dialogische Effekte einschließt, die sich zwischen hohen und tiefen Lagen ergeben. Bei Hin- und Her verschiebt sich im Laufe dieses Prozesses auch der metrische Schwerpunkt. Philip Glass, einer der Gründerväter der Minimal Music, ist mit der Arabesque in Memoriam (1988) vertreten, einem kapriziösen Stück, das mit Ausweichungen in Nebenharmonien arbeitet, die die Grundtonalität unterschiedlich beleuchten. Während man hier aus den raschen Figurationen einen akkordischen Satz heraushört, beginnt das Yamamoto Perpetuo Nr. 1 von Michael Nyman mit einer langen Monodie. Es geht über in einen Tanz, der im Yamamoto Perpetuo Nr. 3 wieder aufgegriffen wird. Beide 1993 entstandene Stücke hat Ute Schleich aus der ersten Violinstimme des Vierten Streichquartetts von Nyman für die Blockflöte gewonnen. Nyman und Glass sind Widmungsträger der beiden hier zu hörenden Minimal-Preludes von Karel van Steenhoven (2010). Wer dem schlicht Glass betitelten Stück Vorbild gewesen ist, lässt sich anhand einer Gegenüberstellung mit Glass‘ Arabesque leicht feststellen. Den Bezug unterstreicht Ute Schleich übrigens dadurch, dass sie zum Vortrag dieser beiden Werke Altblockflöten mit einer Stimmung von a=415 hz verwendet, für die übrigen jedoch Instrumente, die auf a=440 hz gestimmt sind. Das Nyman gewidmete Just a Song zeigt sich in der Verarbeitung seines Hauptgedankens durch geschickte Andeutung mehrerer Stimmen barocker Sololiteratur verwandt.
Ute Schleich stellt in all diesen Stücken im wahrsten Sinne des Worten unter Beweis, über welch langen Atem sie verfügt. Man hört hier nicht bloße Abfolgen kurzer Motive in variierten und nicht variierten Wiederholungen, sondern Melodien, die sich auf minimalistische Weise entfalten. Schleichs Gespür für melodischen Zusammenhang, melodische Entwicklung erfüllt jede dieser Miniaturen mit Leben.
Dies kommt auch den drei Duos zugute, die sämtlich Ute Schleich die Anregung zu ihrer Entstehung verdanken. Klanglich von besonderem Reiz sind dabei Ulli Göttes images (2012) für die höchst seltene, wenn nicht einmalige, Besetzung Blockflöte und Klangschalen. In den beiden äußeren Abschnitten spielt die Flötistin eine Tenorblockflöte, wohingegen die beiden Mittelsätze eine Bass- bzw. Altblockflöte verlangen. Auch kommen im Verlauf des Stückes verschiedene Klangschalen zum Einsatz. Wie Luna Martina Pracht es versteht, die Tonerzeugung auf diesen Instrumenten stets spannungsvoll zu gestalten, verdient besondere Erwähnung. Die vier Sätze wirken sämtlich ritualhaft, doch hat Götte jedem durch melodische und rhythmische Eigenheiten ein charakteristisches Profil gegeben und den Dialog zwischen dem Blasinstrument und den Klangschalen abwechslungsreich zu gestalten gewusst. Im dritten Satz, einem zuerst verhalten, dann ausgelassen tänzerischen Stück, gibt es zudem eine Passage, in der die Blockflöte vom Klatschen der Hände begleitet wird.
Auch in seinen dialogen für Blockflöte und Violoncello (2016) komponiert Götte mit sehr schlichtem melodischem Material, nutzt aber die Möglichkeiten zur polyphonen Gestaltung, die ihm zwei Melodieinstrumente bieten, sehr wohl aus. Zwei rhythmisch pulsierende Tanzsätze, in denen die beiden Instrumente durchaus auch „aufstampfen“ dürfen, rahmen zwei langsamere, aber nicht unbedingt ruhigere Sätze ein. Gerade der dritte Satz, in dem Blockflöte und Violoncello in freien Imitationen ein in sich kreisendes Motiv durchführen, steckt voller Nervosität. Katharina Uzal am Violoncello ist Ute Schleich bei der Aufführung eine zuverlässige Partnerin, die dem Klang der Blockflöte gerade in den leiseren Passagen genügend Raum zur Entfaltung lässt. Als Duo sind beide trefflich aufeinander eingespielt.
Jens Josefs Duettino für Blockflöte und Fagott (2017/18) kann man als das konstruktivistischste Stück dieser Anthologie bezeichnen. Bereits zu Beginn wird deutlich, dass der Kontrapunkt hier eine deutlich größere Rolle spielt als in Göttes dialogen. Die Instrumente scheinen zunächst völlig unabhängig voneinander zu spielen. Im weiteren Verlauf ist es, als würden sie nach und nach einander bemerken und auf unterschiedliche Weise aufeinander reagieren. Teils gibt das Fagott, teils die Flöte die Impulse. Unter klanglichen Gesichtspunkten wirken diejenigen Passagen problematisch, in denen die Blockflöte in ihren tiefen Registern spielt, da sie hier kaum aus dem Schatten des tonstärkeren Fagotts zu treten vermag. Der Effekt mag allerdings beabsichtigt sein, um den Kontrast zum Schlussteil zu verstärken, in dem durchweg die oberen Register der Blockflöte zu hören sind. Den technischen Herausforderungen des Duettinos sind Schleich und ihre Partnerin am Fagott, Annette Winker, jedenfalls völlig gewachsen.
Ute Schleich beschließt dieses Programm aus Soli und Duos mit Louis Andriessens Ende (1981), das sie gleichzeitig auf zwei Altblockflöten spielt. Gleichermaßen Solo wie Duo ist dies der effektvolle Abschluss einer geglückten CD.
Für die Antes Edition spielt Anna Adamik Werke Ludwig van Beethovens ein. Auf dem Programm stehen die Sonaten Nr. 17 „Der Sturm“ op. 31/2 in d-Moll und Nr. 31 in As-Dur op. 110, die berühmte Bagatelle „Für Elise“ a-Moll WoO 59 sowie ein selten zu hörender Schatz: Zwölf Variationen A-Dur über den russischen Tanz aus dem Ballett „Das Waldmädchen“ von Paul Wranitzky WoO 71.
Kurz nach dem Jahreswechsel des Beethoven-Jahrs gibt es doch noch eine neue beglückende Beethoven-Aufnahme, gespielt von Anna Adamik. Sie glänzt in den berühmten Sonaten, doch der Höhepunkt bleibt die Einspielung der Waldmädchen-Variationen, ein gänzlich unbekanntes, charmantes Werk von 1796, also kurz nach den ersten publizierten Opera geschrieben. Das schlichte Thema Paul Wranitzkys verarbeitet Beethoven auf ganz heitere, kecke Art, changiert erstaunlich oft zwischen Dur und Moll und zieht aus den subtilsten Details größten Reiz. Besonders liebevoll behandelt er den unauffälligen Oktavsprung in der zweiten Themenhälfte, der ihn zur Verwendung größerer Intervalle in mehreren Abwandlungen verleitet. Obgleich virtuos, protzen die Variationen nicht durch technische Zurschaustellung, bestechen dafür durch Leichtigkeit, Beschwingtheit und Wechselhaftigkeit. Die einzelnen Variationen dauern je unter einer Minute, dafür beschließt Beethoven das Werk mit einer überdimensionalen Coda, die wie eine Phantasie das Thema auf die Probe stellt, bis es zuletzt einen friedlich-versöhnlichen Schluss findet.
Den für Beethoven geradezu untypisch lockeren, genießerischen Schwung kostet Anna Adamik in ihrer Aufnahme aus, streichelt die Tasten förmlich in den Pianissimo-Passagen und verleiht den Läufen bronzenen Glanz. Die Sprünge in den Variationen I und X schloss die Pianistin besonders ins Herz und füllt die großen Distanzen zwischen den Tönen musikalisch aus. Wie Kleinode behütet Adamik jede Variation für sich und holt ein Maximum an Leichtigkeit und Aussagekraft aus ihnen heraus in Mozart’sch verfeinerter Anschlagskultur.
Die späte As-Dur-Sonate nimmt Anna Adamik sanglich und gefühlsmäßig involviert, behält dabei die Feinheit der früheren Werke. Im Adagio findet sie enormen Tiefgang und lässt die Zeit stillstehen, die Fuge weiß sie gerade hinsichtlich der kontrapunktischen Stimmführung zu bewältigen, ohne aus ihrem geistig-emotionellen Fokus geworfen zu werden. Was ihrer Darbietung noch gut tun würde, wäre in diesem Spätwerk etwas Abgeklärtheit, möglicherweise sogar mit leichtem Hang zum Vergeistigten – denn noch wirkt die Sonate zu real und bodenständig für ihren übersinnlichen Gehalt.
Ein stetiges Hin und Her, Für und Wieder, Drängen und Innehalten durchflutet Anna Adamiks Aufnahme der Sturm-Sonate in d-Moll. Wellenförmig gestaltet die Pianistin den Strom im Kopfsatz aus, wägt die kontrahierenden Kräfte nuanciert ab und liefert so einen von vorne bis hinten stimmigen Gesamteindruck. Im Mittelsatz hält sie vollkommen inne und lässt jeden Klang für sich wirken, ohne dabei die Horizontale zu vernachlässigen: also steht die Sonate niemals still, während wir parallel jeden Akkord genießen können. Im Finale fasziniert die wiederkehrende Leichtigkeit und besonders das Staccato, das wie ein Streicher-Pizzicato die notwendige Kürze und die nachhallende Schwingung der Saiten verbindet und so orchestralen Effekt auf das Klavier zaubert.
So handelt es sich hier um eine vollkommen empfehlenswerte CD, die lediglich ein wenig hallig aufgenommen scheint, was allerdings nicht allzu sehr stören mag. Die Einspielungen überzeugen durch ihre Unbeschwertheit und ihren menschlichen Zugang, zeigen die unprätentiöse und entgegenkommende Seite Beethovens auf und zeugen so von intensiver und unbefangener Beschäftigung mit seiner Musik.
Das Duo Praxedis – Praxedis Hug-Rütti (Harfe) und Praxedis Geneviève Hug (Klavier) – legt bei Toccata Classics die erste Folge der sämtlichen Duos für Harfe und Klavier von John Thomas vor.
Der Waliser John Thomas (1826–1913) war einer der Großen in der Geschichte des Harfenspiels. Die in ihrer Ausführlichkeit vorbildliche Kurzbiographie, die Martin Anderson, der Gründer von Toccata Classics, nach Vorarbeiten der Harfen-Historikerin Ann Griffiths für die vorliegende Veröffentlichung geschrieben hat, lässt deutlich werden, welch vielseitige Künstlerpersönlichkeit Thomas gewesen sein, und welchen Eindruck er bei seinen Zeitgenossen hinterlassen haben muss. Der Sohn eines Schneiders und Amateurmusikers erlernte frühzeitig die Walisische Tripelharfe. Mit einem seiner ersten öffentlichen Konzerte zog er die Aufmerksamkeit der Mathematikerin Ada Lovelace, auf sich, deren finanzielle Unterstützung ihm mit 14 Jahren ein Studium an der Royal Academy of Music in London ermöglichte. Dadurch nun auch mit der Pedalharfe vertraut geworden, wurde er nach Abschluss seiner Ausbildung Harfenist an der Royal Italian Opera sowie am Theater Ihrer Majestät und unterrichtete selbst an der Akademie. Konzertreisen durch Österreich, Frankreich, Deutschland, Italien und Russland machten Thomas international bekannt. Kenner rühmten ihn wegen seiner in beiden Händen gleichermaßen gut entwickelten Technik – letztlich eine Folge seiner Herkunft von der Tripelharfe, die seitenverkehrt zur Pedalharfe gespielt wird. Ihren äußeren Höhepunkt erreichte seine Laufbahn, als ihn Königin Viktoria 1872 zum Hofharfenisten ernannte. Für Hector Berlioz stellte John Thomas schlichtweg das Ideal eines Harfenspielers dar. 1854 bekannte der Großmeister der Klangfarben in einem Zeitungsartikel, dass er, wäre er reich, sich den Luxus leisten würde, einen Virtuosen wie Thomas zu beschäftigen, dessen ebenso nobles wie leidenschaftliches Spiel ihn magnetisiert hatte. Nicht nur als Virtuose, Komponist, Bearbeiter und Pädagoge stellte Thomas sein Leben in den Dienst seines Instrumentes, sondern auch als Historiker: 1901 trat er mit einer History of the Harp: From the Earliest Period Down to the Present Day hervor.
Thomas‘ internationaler Ruhm, sein Wirken als Hofmusiker und Akademie-Professor – mithin als offizieller Repräsentant des institutionalisierten britischen Musiklebens –, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er zeit seines Lebens ein Grenzgänger zwischen zwei Welten blieb. Weder bei Hofe, noch in den mondänen Salons und Konzertsälen der Großstädte vergaß er je seine Wurzeln in der Volksmusik. Seine ersten Erfolge hatte er auf eisteddfodau, jährlichen Wettbewerben der walisischen Barden und Spielleute, errungen, und er ließ es sich auch nicht nehmen, sich auf den Musikfesten seiner alten Heimat hören zu lassen, als er schon längst in der „großen Welt“ lebte und wirkte. Auf dem eisteddfod von Aberdare 1861 wurde ihm schließlich den Titel eines Pencerdd Gwalia verliehen. Damit hatten ihn seine Kollegen ganz offiziell als Obersten Musiker von Wales anerkannt. Seine herausgehobene Stellung im englischen wie im walisischen Musikleben wusste er völkerverständigend einzusetzen. So kam es, dass in einer Zeit, als die Waliser von Seiten der dominierenden Engländer einem enormen Assimilationsdruck ausgesetzt wurden, welcher sich beispielsweise in einem gezielten Zurückdrängen der walisischen Sprache in den Schulen äußerte, der Londoner Hofharfenist und Professor John Thomas in England für die Verbreitung walisischer Volkslieder sorgte, die er in vier Bänden mit walisischem und englischem Text herausbrachte.
Ein großer Teil der Kompositionen von John Thomas ist für Harfe und Klavier geschrieben und stellt damit ideale Originalliteratur für das Duo Praxedis dar, das es sich seit gut zehn Jahren zur Aufgabe macht, Werke dieser Besetzung ins allgemeine Bewusstsein der musikalischen Welt zurückzurufen. Die Harfenistin Praxedis Hug-Rütti und ihre Tochter, die Pianistin Praxedis Geneviève Hug, haben nun die erste Folge einer Gesamtaufnahme der Thomasschen Duos bei Toccata Classics herausgebracht. Die aufgenommenen Stücke teilen sich in drei Gruppen: das Grand Duet, eine dreisätzige Sonate in es-Moll, mit knapp 20 Minuten Spieldauer das umfangreichste Werk, ist die einzige Komposition, in der Thomas nur eigene Melodien verarbeitet; dazu kommen Bearbeitungen von Beethovens Adelaide, einer Gigue aus Händels Wassermusik und Gounods Marche solenelle, sowie fünf Werke, in denen Thomas gleichermaßen Bearbeiter wie Komponist genannt werden kann. Souvenir du Nord, geschrieben nach einer Russland-Reise, besteht aus brillanten Variationen über Alexander Aljabjews beliebte Romanze Die Nachtigall, das Duett über Themen aus Bizets Carmen ist dem damals sehr beliebten Genre der Opernfantasien und -potpourris zuzuordnen. Bei den drei Welsh Duets handelt es sich um jeweils dreisätzige Suiten über walisische Volkslieder.
All diese Stücke sind Salonmusik, d. h. sie verdanken ihre Entstehung der Salonkultur des 19. Jahrhunderts. Und Salonkultur, auf die Musik bezogen, ist Vortragskultur. Schon die Strophenlieder Reichardts und Zelters, die ganz wesentlich von der Vortragskunst des Sängers leben, zeugen davon. Auch John Thomas denkt in seinen Duos eine bestimmte Anschlags- und Klangkultur immer mit. Zwar war Thomas ein technisch enorm beschlagener Virtuose, aber an allen hier eingespielten Werken zeigt sich, dass ihm Fingerfertigkeit nie Selbstzweck gewesen ist. Dass sein Ideal „Kantabilität“ hieß, kam nicht von ungefähr: Er entstammte einer Volksmusiktradition, die selbstverständlich auf dem Gesang gründete, und war später eng mit dem Opernbetrieb der Weltstadt London verbunden, wo er Gelegenheit hatte, große Sänger aus aller Welt zu hören. Seine Liebe zur Oper äußerte sich nicht zuletzt in mehreren eigenen Opernkompositionen.
An seiner intensiven Hinwendung zur Besetzung Harfe und Klavier mag der Umstand seinen Anteil haben, dass damals ein Klavier in jedem Salon stand, Thomas also mit derartig besetzten Duos nahezu überall auftreten konnte. Aber er sah offensichtlich auch eine Herausforderung darin. Bekanntlich gehören Harfe und Klavier nicht zu denjenigen Instrumenten, die hinsichtlich ihrer Klangerzeugung der menschlichen Stimme besonders ähnlich sind. Die große Kunst des Harfenisten John Thomas, die Urteile wie dasjenige von Berlioz erst möglich machte, dürfte vor allem darin bestanden haben, dass er die Harfe zum Singen zu bringen vermochte. Es reizte ihn somit wohl auch, Musik zu schreiben, die den Interpreten Gelegenheit gibt, ihre Kunst der Fingerfertigkeit zu zeigen, wie Belcanto-Sänger ihre Kehlfertigkeit unter Beweis stellen, und ihnen gleichzeitig die Aufgabe stellt, deutlich zu machen, dass Singen (mit Telemann gesprochen) „das Fundament der Musik in allen Dingen“ ist.
Wenn dies tatsächlich die Intention des John Thomas war, so hätte er wohl an den Darbietungen des Duos Praxedis seine Freude gehabt. Dass beiden der vokale Hintergrund der Thomasschen Kompositionen bewusst ist, hört man daran, dass sie, auch wenn brillante Figurationen zu spielen sind, die großen Linien nicht vergessen. Besonders rühmen muss man die Achtsamkeit, mit der Mutter und Tochter aufeinander reagieren. Thomas hat seine musikalischen Einfälle durchaus so auf die Instrumente verteilt, dass sie, im „Singen“ wie im Brillieren, als gleichberechtigte Partner zusammenwirken. Das Klavier fungiert als Begleiter der Harfe, wird aber auch oft von ihr begleitet. Da das Klavier der deutlich tonstärkere Partner ist, muss stets darauf geachtet werden, dass die Harfe nicht übertönt wird, wo sie dominieren, und noch zu hören sein muss, wo sie untermalen soll. Die hervorragende Durchhörbarkeit der Kompositionen ist in der vorliegenden Einspielung nicht nur auf eine tadellose Aufnahmetechnik zurückzuführen, sondern vor allem darauf, dass Pianistin und Harfenistin durch kluge Rücksichtnahme aufeinander alle Balanceprobleme meistern. Dabei entsteht der Eindruck formvollendeter Eleganz, den der Komponist nur gewünscht haben kann, nahezu von selbst.