In einem bei Hentrich & Hentrich erschienenen Kurzbiographien-Band erinnern Carine Alders und Eleonore Pameijer an Komponistinnen und Komponisten aus den Niederlanden, die während des Zweiten Weltkriegs verfolgt und ausgegrenzt wurden. Das Buch steht in enger Verbindung mit einer bereits 2015 von Etcetera veröffentlichten 10-CD-Edition.
Verfemt, verfolgt, ins Exil getrieben, deportiert, ermordet: Von diesem Schicksal waren unzählige vorwiegend jüdische Kunstschaffende während des Nationalsozialistischen Regimes betroffen. Ihre Karriere wurde abrupt beendet und nur wenigen gelang es, in der Emigration eine neue Existenz aufzubauen oder nach dem zweiten Weltkrieg an frühere Erfolge anzuknüpfen. Die meisten gerieten in vollständige Vergessenheit. Erst in den 80er Jahren begann dank privater Initiativen, Forschungsprojekten und dem wachsenden Interesse von Musikwissenschaft und Dramaturgie die allmähliche Aufarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Schaffen dieser Künstlergeneration. Eine Renaissance ihrer Werke läutete exemplarisch die Decca-Edition „Entartete Musik“ ein, beispielhaft sind auch die Aktivitäten des Berliner Vereins Musica reanimata oder des Wiener exil.arte Zentrums.
Ähnlich konzipiert ist die in Amsterdam ansässige Leo Smit-Stiftung. Schwerpunktmäßig widmet sie sich niederländischen Komponistinnen und Komponisten, die nach der Besatzung durch die Deutschen 1940 Repressalien aller Art ausgesetzt waren und deren Werke nicht mehr aufgeführt werden durften. Initiiert wurde sie 1996 von der Flötistin Eleonore Pameijer, nachdem sie auf Musik von Smit gestoßen war und ihre Stärke erkannt hatte. Mittlerweile integriert sie seine Stücke regelmäßig in ihre Konzertprogramme. Damit erfüllt sie eines der Ziele der Stiftung: verschüttete musikalische Schätze zu bergen, um sie ins heutige Repertoire einzubinden. Viel Arbeit steckt dahinter: Nachlässe müssen gesichtet werden, aufgefundene, teils nur handgeschriebene Partituren eingerichtet werden.
Einen umfassenden Überblick über die bisherigen Forschungen gibt der Sammelband Verfolgte Komponisten in den Niederlanden, der 2015 von Pameijer zusammen mit der Musikwissenschaftlerin Carine Alders herausgegeben und kürzlich in deutscher Übersetzung im Hentrich & Hentrich Verlag erschienen ist. Er vereint Biographien von 34 Musikschaffenden – darunter fünf Frauen –, rekonstruiert durch Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Profession, teilweise auch durch Verwandte. Diese Schilderungen, denen jeweils ein Foto vorangestellt ist, bringen zerstörte Lebensläufe ans Licht, erzählen von individuellen Schicksalen und dem künstlerischen Vermächtnis der Einzelnen, öffnen aber auch den Blick für das niederländische Musikleben, gesellschaftliche Querverbindungen und Zusammenhänge.
Aus der Gesamtheit ragt Leo Smit hervor, Namensgeber der Stiftung und innerhalb der „Jüdischen Miniaturen“ desselben Verlags mit der Biographie Unerhörtes Talent von Klaus Bertisch ausführlicher gewürdigt (ISBN 978-3-95565-070-4). Bereits seine ersten Orchesterstücke, die er während des Studiums komponierte, wurden vom Concertgebouw aufgeführt. Mitte der 20er Jahre zog er nach Paris und lernte dort die französische Musikeravantgarde kennen, deren Einflüsse fortan sein weiteres Schaffen – einiges für größeres Orchester, vorwiegend aber Kammermusiken in verschieden Besetzungen – prägte. Als er nach fast 10 Jahren 1937 nach Holland zurückkehrte, hatte sich die politische Lage bereits verschärft, so dass sich sein Wirkungskreis bald auf jüdische Institutionen beschränkte. Sein letztes und heute bekanntestes Werk, eine Sonate für Flöte und Klavier, vollendete er nur einige Tage vor der Deportation ins Vernichtungslager Sobibor, wo er Ende 1943 ermordet wurde.
Dieses Schicksal teilte Smit mit seinem begabten Schüler Dick Kattenburg. Er kam mit nur 24 Jahren in Auschwitz um, genauso wie der Synagogalkomponist und Chorleiter Simon Gokkes und das pianistische Wunderkind Mischa Hillesum. Dessen Schwester Etty hinterließ Tagebücher, die zu den bedeutendsten holländischen Zeugnissen der Besatzungszeit gehören.
Das Glück, zu überleben, hatten nur wenige. Beispielsweise Sem Dresden, Direktor des Konservatoriums in Den Haag, bedeutender Lehrer und einer der Leitfiguren des holländischen Musiklebens, der untertauchen konnte. Oder der deutsche Komponist und Pazifist Wilhelm Rettich, den eine frühere Klavierschülerin versteckte. Er gehört, wie auch die ungarischen Musiker Géza Frid und Zoltán Székely zur Gruppe jüdischer Tonkünstler anderer Nationalität, die hofften, in den bis 1940 neutralen Niederlanden, Schutz zu finden.
Andere gingen aktiv in den Widerstand: Marius Flothuis, vor und nach dem Krieg künstlerischer Direktor des Amsterdamer Concertgebouw, half untergetauchten Juden und wurde selbst interniert, Leo Kok, künstlerisch mehrfach begabt und politisch seit jungen Jahren aktiv, schloss sich der französischen Résistance an.
Auch Rosy Wertheim, die sich schon als junge Frau für sozial Schwache engagiert hatte, widersetzte sich den Anordnungen der Besatzung. Sie organisierte illegale Konzerte mit verbotener Musik, musste dann aber selbst untertauchen. Wertheims Biographie ist für ihre Zeit besonders bemerkenswert. Sie war eine der ersten Komponistinnen ihres Landes und lebte zeitweise in New York, Wien und Paris, wo sie einen Künstlersalon unterhielt, in dem führende Musiker ein- und ausgingen.
Forbidden Music in World War II (10 CD)
Etcetera, KTC 1530; Ean: 8711801015309
Im Anhang der Biographien, von denen hier nur ein Bruchteil skizziert werden kann, befinden sich Auflistungen der verwendeten Quellen und der erstaunlich umfangreichen Diskographie. Aus diesen Tondokumenten, die überwiegend bei kleineren Labels erschienen sind, stellte die holländische Firma Etcetera eine Kompilation zusammen. Sie heißt Forbidden Music in World War II und ist das quasi unverzichtbare musikalische Pendant zur Lektüre. Die Box enthält zehn prall gefüllte CD’s mit Musik von einem Großteil der im Buch Porträtierten. Die Bandbreite der zwischen 1900 und 1967 entstandenen Kompositionen reicht von großbesetzter Sinfonik über Solokonzerte bis zu Kunstliedern. Meist aber sind es kammermusikalische Werke in verschiedenen Kombinationen, angepasst an die Bedingungen unter denen sie entstanden. Was ihnen gemein ist: sie spiegeln die Vielfalt der damaligen zeitgenössischen Strömungen wider.
Dominierend ist der Blick nach Frankreich, zumal von denjenigen, die einige Zeit dort lebten und durch erste Hand inspiriert wurden. In Leo Smits farbschillernden Ballettmusik Schemselnihar sind die Impressionisten, Debussy und Ravel, allgegenwärtig, in Rosy Wertheims Streichquartett steht die auf Vereinfachung und Klarheit zielende Groupe de Six Pate und Leo Kok komponierte den Gesangszyklus Sept Mélodies Retrouvées im Stil der Mélodie francaise.
Zur Unterhaltungsmusik fühlte sich Dick Kattenburg hingezogen. Seine Kammermusik ist durchpulst von Jazzelementen und Tanzrhythmen, etwa in der Sonate für Flöte und Klavier mit ihrer Melodik, den süffigen Harmonien und dem Tangorhythmus im Mittelsatz. Andererseits setzte er sich musikalisch mit seinen Wurzeln auseinander. Lebensfreude in dunkler Zeit versprühen seine auf hebräische Melodien basierenden Palästinensischen Lieder.
Lex van Delden hingegen knüpfte in manchen Orchesterstücken an neoklassizistische Traditionen à la Strawinsky an, scheinbar unberührt von avantgardistischen Tendenzen. Der Komponist, der sich nach dem Krieg für die Belange niederländischer Musikschaffender einsetzte, erhielt selbst besondere Wertschätzung, als in den 60er Jahren einige seiner sinfonischen Werke vom Concertgebouw Orchester unter so bedeutenden Dirigenten wie Bernard Haitink, Eugen Jochum und George Szell aufgeführt wurden. Die erhaltenen Life-Mitschnitte sind ein bedeutender Teil der Anthologie.
Noch viel mehr gibt es zu entdecken in dieser schier unerschöpflichen musikalischen Fundgrube, nur einiges kann als Kostprobe erwähnt werden: Die aufs Wesentliche komprimierte Klavier-Sonate und das Streichquartett von Nico Richter, die sich in Richtung Wiener Schule orientieren und in ihrer Kürze an Anton von Webern erinnern; die freche Modern Times Sonata für Geige und Klavier von Ignace Lilien, die den Geist der 20er Jahre einfängt und mit seinem sozialkritischen Gesangszyklus Mietskaserne kontrastiert; eine spätromantische Konzertouvertüre und ein Nonett von Jan van Gilse; die fast gleichzeitig in den 50er Jahren entstandenen duftigen Dialoge für Harfe und Flöte von Theo Smit Sibinga und Marius Flothuis; effektvolle, klangfarbenreiche Solokonzerte für Flöte bzw. Klavier und Kammerorchester von Henriëtte Bosmans; französische Chansons von Marjo Tal, von ihr selbst vorgetragen.
Den Großteil der Einspielungen bestreitet ein Stamm von Musizierenden. An erster Stelle muss die Flötistin Eleonore Pameijer genannt werden. Sie hat sich mit Leib und Seele der Rehabilitation dieser Werke verschrieben und wirbt für sie mit ihrer ganzen spieltechnischen und interpretatorischen Kompetenz. Einher geht dieses Engagement mit der Partnerschaft zu einer Reihe von hochkarätigen Instrumentalisten und Instrumentalistinnen, die in unterschiedlichen Formationen aufeinandertreffen. Zu ihnen gehören die Sopranistin Irene Maessen, die Geigerin Marijke van Kooten, die Cellistin Doris Hochscheid, die Harfenistin Erika Waardenburg und die Pianisten Frans van Ruth und Marcel Worms. Ihre Vertrautheit beim Zusammenspiel ist stets spürbar, aber auch das Wissen um feine Abstimmungen, kluge Strukturierung, Klangfarben und Phrasierung.
Abgeschlossen ist der Wiedererweckungsprozess noch lange nicht. Doch sukzessive werden Lücken geschlossen und der Öffentlichkeit präsentiert. Ja, „Musik muss erklingen“. In dieser bemerkenswerten Anthologie tut sie es auf beispielhafte Weise.
Neben zwei Solowerken – „Fell“ für Drumset und „Haare“ für Violine – erklingen auf der neuen Wergo-CD mit Kammermusik von Enno Poppe noch drei Stücke für Ensembles von 5, 7 bzw. 9 Spielern: „Brot“, „Zug“ und „Stoff“. Der Komponist dirigiert hier das Ensemble Musikfabrik; die Solisten sind Hannah Weirich (Violine) und Dirk Rothbrust (Drumset); eine gelungene Zusammenstellung.
Enno Poppes (Jahrgang 1969) Entwicklung zu einem der bedeutendsten, lebenden deutschen Komponisten lässt sich am besten mit Kammermusik dokumentieren: Auch wenn die hier eingespielten Werke nur ein knappes Jahrzehnt (2007–2016) abdecken, sind sie hervorragend geeignet, die Spezifika seiner Musik gut erkennbar werden zu lassen. Ohnehin hat der Komponist wie kaum jemand seiner Generation mittlerweile einen wirklich unverkennbaren Personalstil etabliert.
Zu Poppes Eigenheiten gehört vor allem, sich beim Ausgangsmaterial für seine Kompositionen auf wenige, kleinste musikalische Bausteine zu beschränken. Dies findet schon in den Titeln seiner Stücke ersten Ausdruck – fast immer ein- oder zweisilbige deutsche Substantive. Wenn die beiden Solostücke hier Fell bzw. Haare heißen, wird dadurch natürlich sofort der Bezug zum jeweiligen Instrument (Drumset und Violine) deutlich. Außerdem ist Poppe einer der wenigen Komponisten, die sich über einen längeren Zeitraum eine sehr eigenständige „Harmonik“ im mikrotonalen Raum erarbeitet haben, die halbwegs konsistent erscheint und daher hörend erstaunlich gut erlebbar ist – so absurd schwierig deren genaue Realisation für die ausführenden Musiker auch sein mag.
Fell ist ein artistisches Solo (souverän: Dirk Rothbrust), das sich aus einer einzigen rhythmischen Zelle speist, aber sofort zu einer „inszenierten Herzrhythmusstörung“ (Martina Seeber in ihrem wirklich vorbildlichen Booklettext) gerät; die Großform mit ihren klaren Abschnitten – deutlich gemacht u.a. durch Instrumentierungswechsel – erschließt sich hingegen sofort. Haare baut auf zwei entgegengesetzten Glissandobewegungen auf – ebenfalls ganz typisch für Poppe –, zunächst fast wie ein Vogelruf, aber später immer expressiver und enorm beeindruckend in seiner Farbvielfalt. Hannah Weirich spielt das einfach großartig!
Das zentrale und auch mit knapp 20 Minuten längste Stück dieser Veröffentlichung ist Stoff für 9 Spieler. Und die „Neun“ hat zentrale Bedeutung für das ganze Werk – eigentlich bauen alle Strukturen, nicht etwa nur die äußerlich formbildenden, auf Potenzen von 9 auf: So hat Stoff eine Länge von (9×9) x 9 Takten (=729). Man kann deshalb mehrfach proportionale Vergrößerungen und ein Netzwerk von (Selbst-)Ähnlichkeiten, mithin fraktale Prinzipien, erkennen. Auch für andere Parameter spielen 81er-Matrizen (=9²) durchgängig eine Rolle. Und die Harmonik des Werkes baut mehr als sonst auf spektralen Akkorden auf – stilbildend ist weiterhin eine typische Art von mikrotonalen Akkordfortschreitungen ähnlich einer Shepard-Skala. Trotz dieser starken Strukturzusammenhänge stehen am Schluss dieses in Poppes Schaffen hochbedeutenden Stückes letztlich doch eher Auflösungserscheinungen.
Am vielleicht überzeugendsten findet der Rezensent allerdings die 5er- bzw. 7er-Ensembles von Brot und Zug. Brot (für drei Blechbläser, Schlagzeug und Klavier) entstand quasi als instrumentale Auskopplung aus Poppes Oper „Arbeit Nahrung Wohnung“ (2008)und erinnert an eine Freejazzsession, trotz der im Innern herrschenden Strenge. Zug für sieben Blechbläser ist, oberflächlich betrachtet, klanglich am homogensten – zwischendurch scheint ein paar Male beinahe so etwas wie echter Brass Groove durch –, geht jedoch auch wieder an die Grenzen des technisch überhaupt Machbaren (eine der zwei Trompeten benötigt etwa ein Vierteltonventil), was Mikrotonalität und eine verblüffende Farbigkeit betreffen. Der Höreindruck ist hier aber geradezu angenehm und von einer eher unerwarteten Natürlichkeit.
Was die hochspezialisierten Musiker des in Köln beheimateten Ensembles Musikfabrik hier leisten, verdient größten Beifall. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier die hochdifferenzierte Harmonik Poppes dargeboten wird, und auch Poppes Leitung, unter der diese enorm komplexe Musik fasslich, über Strecken gar wohlklingend geschmeidig erscheint, sind zwar nicht wirklich überraschend (Poppe leitet in Berlin das ähnlich ambitionierte ensemble mosaik), aber allemal äußerst erfreulich. Die Aufnahmen – teilweise von WDR bzw. Deutschlandfunk Kultur produziert – klingen brillant, räumlich perfekt und dynamisch gut ausbalanciert. Fazit: Eine aufschlussreiche CD, die man Freunden Neuer Musik nur weiterempfehlen kann.
Ein ambitionierteres Programm auf einer Gitarren-CD kann man sich wohl kaum vorstellen: Es erinnert sehr an das letzte Konzert, das ich von Julian Bream hier in München hörte: Werke von Luis Milán, Henzes Royal Winter Music und Villa-Lobos‘ Etüden, also ein richtiges Konzert, das nicht – wie damals üblich – aus einer Abfolge von mehr oder weniger abgeklapperten „Stückchen“ in ideenloser Reihenfolge bestand. Glücklicherweise hat sich die Situation in den letzten Jahren total gewandelt. Zu erwähnen ist hier beispielsweise der Neuseeländer Gunter Herbig, der mit seinen Einspielungen neue Maßstäbe setzt, sogar auf der E-Gitarre (wie bei seiner Einspielung der Musik von Georges Gurdjieff).
Auch diese CD des Musikers – ich schreibe extra nicht: Gitarristen – Stefan Koim gehört zu den besten Beispielen seit langem und zeugt von hoher Musikalität. Sehr überzeugend vermittelt das Programm zwischen Werken John Dowlands – einzigartig bis heute – und zwei Stücken des 20. Jahrhunderts von Benjamin Britten und Hans Werner Henze, und ebenso überzeugend wird die Musik gespielt. Dass die Gitarre endlich den Platz findet, der ihr auch in der Klassik zukommt, dafür ist diese CD ein gelungenes Beispiel. Noch immer versuchen andere Gitarristinnen und Gitarristen durch bloße Schnelligkeit und oberflächliches „Runterspielen“, den Charme des Instruments zu transportieren, was sehr oft nicht gelingt und langweilt! Aber die sehr überlegte, durchgehörte und auch in den schwierigsten Momenten klare und beeindruckende Realisation dieser Stücke – angefangen von der vertrackten Polyphonie der Fantasien und Tänze des John Dowland bis hin zur von Shakespeare angeregten Royal Winter Music von Henze und zu Brittens Komposition Nocturnal – ist eine Sternstunde der Musik. Dem jungen Musiker, der auf mehreren Instrumenten zu Hause ist, wünsche ich eine so glanzvolle Zukunft, wie er es nach den beiden CDs, die ich von ihm bisher hörte, deutlich verdient.
Zwei der relativ seltenen Stücke Enno Poppes mit ganz großer Besetzung dokumentiert der Bayerische Rundfunk auf Folge 36 der Reihe „musica viva“, die nun von NEOS auf das hauseigene BR-Klassik Label umgezogen ist. Chor & Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks gelingen beeindruckende Interpretationen von „Ich kann mich an nichts erinnern“ (unter Matthias Pintscher) sowie „Fett“ (unter Susanna Mälkki). An der Orgel hören wir Bernhard Haas.
Enno Poppe (Jahrgang 1969) hat sich in den letzten zwanzig Jahren unaufhaltsam zu einem der wichtigsten und in seinem systematischen Umgang insbesondere mit Mikrotonalität beständigsten Komponisten Deutschlands entwickelt. Kaum jemand seiner Generation erarbeitet sich so konsequent einen prägnanten und sogleich wiedererkennbaren Personalstil. Das beginnt schon mit seinen auffälligen Stücktiteln – fast nur ein- bzw. zweisilbige Substantive – wie Stoff, Fell, Rad, Haare, Holz… usw.; bereits ein Hinweis auf die vom Komponisten akribische betriebene Phänomenologie, bei der sich aus scheinbar simplen musikalischen Grundmaterialien äußerst komplexe Strukturen entwickeln, die eine immense innere Logik zusammenhält, jedoch gleichzeitig für den Hörer an jedem Punkt unvorhersehbar bleiben. Gerade dies zwingt die Rezipienten von Poppes Musik, bei der Stange zu bleiben, und dabei gelingt es dem Komponisten, durch immer neue mikrotonale Klangkombinationen nicht nur die Aufmerksamkeit tatsächlich auf höchstem Niveau aufrecht zu erhalten; er weiß auch sehr genau, wie lange er dieses Spiel mit dem jeweiligen Material treiben kann, ohne zu ermüden. So haben seine Stücke stets irgendwie die „richtige“ Länge – im Gegensatz etwa zu seinem österreichischen Kollegen Georg Friedrich Haas, dessen ebenfalls mikrotonale Werke häufig allzu sehr ausufern.
Die beiden hier vorgestellten Stücke Poppes fallen allerdings durch die für ihn eher ungewöhnlich großen Besetzungen aus dem Rahmen – in der Regel schreibt Poppe für übersichtliche Ensembles. Die Textgrundlage für Ich kann mich an nichts erinnern (2005–15), für Chor, Orgel & Orchester (mit dreifacher Bläserbesetzung) stammt von Büchner-Preisträger Marcel Beyer (*1965), mit dem Poppe bereits mehrere Musiktheater-Projekte realisiert hat. Die Fünf Zeilen aus dessen Gedichtband Erdkunde erforschen die Umgebung eines grenznahen (?) Straßenstrichs irgendwo in Osteuropa, wobei das Augenmerk des lyrischen Ichs geradezu zwanghaft auf in der Landschaft zurückgelassene Autoreifen fällt – in allen neun Strophen, mit denen Poppes Vertonung präzise korrespondiert. Das dann irgendwie beklemmend endzeitliche Szenarium wird durch ein wirklich überzeugendes mikrotonales „harmonisches“ System etabliert, wo es wieder so etwas wie – verständliches – Sequenzieren, Modulieren oder Kadenzieren gibt – ebenso Verbindungsglieder zwischen den Welten von Halb-, Viertel- und Achteltönigkeit, die aber nicht im Spektralen liegen. Es entstehen auch mitunter immerhin typische Wendungen – etwa, versimplifiziert: Rückungen von mikrotonal modifizierten Dominantseptakkorden, was dann manchmal wie eine Verbindung von Barbershop und Teufelsmühle klingen kann. So gewinnt Enno Poppe dem über Strecken zunächst banal und gefühlskalt wirkenden Text Beyers eine Tiefe ab, die tatsächlich nur durch Musik erreichbar ist. Die Leistung des BR-Chores (Einstudierung: Florian Helgath) ist grandios und gleichermaßen begeistert Matthias Pintscher, der als Dirigent mit seiner Präzision, aber noch mehr mit einer überwältigenden emotionalen Durchdringung komplexester Neuer Musik zu so etwas wie einem würdigen Nachfolger von Pierre Boulez herangereift ist, ohne jeden Abstrich.
In eine etwas andere Richtung als bei Poppes üblicher Herangehensweise – von elektronenmikroskopischen Details hin zu klar umrissenen Großformen – scheint Fett (2018–19) zu gehen: Mit einem traditionell großen Orchester (4-fache Bläser), jedoch ohne Schlagwerk, werden aus zunächst kleinsten Bewegungen zwischen Einzeltönen – es gibt keine Figuren! – bald riesige Akkordtürme aufgeschichtet, dabei deren mikrotonale Struktur selbst schon als Klangfarbe fungierend. Das Stück hat während des Kompositionsvorganges quasi seine eigene Teleologie entwickelt: Der Schluss ist von fast apokalyptischer Intensität, wohl ohne so im Voraus geplant gewesen zu sein. Im Konzert – der Rezensent war bei beiden hier aufgezeichneten Mitschnitten auch live anwesend – hat dies das Publikum beinahe erschlagen. Man wird die wie immer genaue Sachwalterin des Klanggeschehens, die Finnin Susanna Mälkki nicht um die anstrengende Probenarbeit an diesem Stück beneiden – das Ergebnis kann sich jedenfalls hören lassen –, und ein besonderes Bravo gilt natürlich dem Symphonieorchester des BR. Die Aufnahmetechnik des Senders bildet den Herkulessaal zudem hervorragend ab und das exzellente Beiheft mit Interviews zu den Stücken mit dem Komponisten tut ein Übriges. Insgesamt ist dies die bisher „gewaltigste“ CD mit Musik Enno Poppes und gehört zweifelsohne zu den absoluten Höhepunkten der musica viva Reihe. Wenn es so etwas wie zukunftsweisende Musik gibt, – ganz sicher für den Komponisten selbst – dann genau hier: höchst beeindruckend!
Ars Produktion Schumacher, ARS 38 284; EAN: 4 260052 382844
Zur Feier des 300-jährigen Bestehens des Fürstentums Liechtenstein hat das Sinfonieorchester Liechtenstein unter seinem Chefdirigenten Florian Krumpöck 2019 für Ars Produktion Schumacher Josef Gabriel Rheinbergers Erste Symphonie, das „Symphonische Tongemälde“ Wallenstein op. 10, eingespielt.
Josef Gabriel Rheinbergers Wallenstein op. 10, eine viersätzige Symphonie in d-Moll, wurde 1866 komponiert und im folgenden Jahr unter der Gattungsbezeichnung „Symphonisches Tongemälde“ (statt: „Symphonie“) veröffentlicht. Ungewöhnlicherweise tragen die verschiedenen Ausgaben des Werkes unterschiedliche Widmungen: Während die zuerst erschienene Bearbeitung für Klavier zu vier Händen der Ehefrau des Komponisten, der Schriftstellerin Franziska von Hoffnaaß, zugeeignet ist, dedizierte er den Partiturdruck dem Landesherrn seiner Heimat, Fürst Johann II. von Liechtenstein.
Mit dem fast gleichaltrigen Fürsten verband Rheinberger, der nach Können und Ansehen gewissermaßen der Fürst unter den Liechtensteinischen Musikern war, der Umstand, dass sie beide den Großteil ihres Lebens außerhalb des Fürstentums Liechtenstein zubrachten. Die Liechtensteinischen Fürsten residierten seinerzeit noch in österreichischen und böhmischen Schlössern, von wo aus sie über riesige Ländereien geboten, deren Fläche diejenige ihres souveränen Staates um ein Vielfaches übertraf. Das Fürstentum, zur Zeit von Rheinbergers Geburt 1839 ein gänzlich bäuerlich geprägtes Land, betraten die Herrscher nur selten: Johann II. besuchte es in den 70 Jahren seiner Herrschaft insgesamt siebenmal (sorgte aber auch aus der Ferne so umsichtig für seine Untertanen, dass sie ihm den Beinamen „der Gute“ verliehen). Das Musikleben im damaligen Liechtenstein bestand im Wesentlichen aus der Begleitung der Gottesdienste und aus Tanzmusik. Wenige Familien, darunter die Rheinbergers, pflegten anspruchsvollere Hausmusik. Eine seiner Begabung angemessene musikalische Ausbildung konnte Josef Rheinberger, der in seinem Geburtsort Vaduz bereits mit sieben Jahren Organistendienste versah, zu dieser Zeit aber nur im Ausland erhalten. So ging er zwölfjährig nach München, wo ihn u. a. Franz Lachner unterrichtete. Hier lebte er bis zu seinem Tode im Jahr 1901, und von dieser Stadt aus verbreitete sich schließlich sein Ruhm als Komponist und Kompositionslehrer.
Seit den Zeiten Rheinbergers und Johanns II. haben sich in Liechtenstein nicht nur die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend gewandelt, sondern auch die musikalischen. 1988 formierte sich unter dem Dirigenten Albert Frommelt ein Liechtensteinisches Kammerorchester, das bald zum Sinfonieorchester Liechtenstein anwuchs. 2012 in einen professionellen Klangkörper umgewandelt, wurde es wesentlich von Florian Krumpöck geprägt, der im gleichen Jahr zum Chefdirigenten und Künstlerischen Leiter ernannt wurde. Als das Fürstentum 2019 den 300. Jahrestag seiner Gründung beging, hatte das Sinfonieorchester Liechtenstein soeben das 30. Jahr seines Bestehens vollendet. Die nationalen Feierlichkeiten mit dem eigenen Jubiläum verbindend, wurde eine besondere Aufnahme produziert. Um die Fähigkeiten liechtensteinischer Musiker in Vergangenheit und Gegenwart zu dokumentieren, konnte kaum etwas geeigneter erscheinen als eine Einspielung von Rheinbergers Wallenstein.
Als Orgel- und Chorkomponist ist Rheinberger im Musikleben stets präsent gewesen. Auch die beiden Orgelkonzerte erfreuen sich einer kontinuierlichen Aufführungsgeschichte und zahlreicher Einspielungen auf Tonträger. Zu erwähnen ist weiterhin, dass Rheinbergers Klavierkonzert im Laufe der Jahre mindestens viermal den Weg auf die Platte gefunden hat; die ersten beiden Aufnahmen datieren noch aus der Zeit vor Einführung der CD. Die beiden Symphonien des Komponisten wurden dagegen erst in den 1990er Jahren kommerziell aufgenommen: Nikos Athinäos spielte mit dem Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt (Oder) den Wallenstein ein, Alun Francis mit der Nordwestdeutschen Philharmonie die Florentiner Symphonie F-Dur op. 87. Soweit mir bekannt, blieb es im Falle der F-Dur-Symphonie bislang bei dieser einen Einspielung, während Wallenstein durch das Sinfonieorchester Liechtenstein unter Krumpöck seine zweite Aufnahme erfahren hat.
Die relativ geringe Resonanz, die Rheinbergers Symphonien nach seinem Tode fanden, steht in Kontrast zur Wertschätzung dieser Werke zu Lebzeiten des Komponisten und erscheint gerade angesichts der Tatsache verwunderlich, dass Rheinberger der internationale Durchbruch als Symphoniker gelang – eben mit dem Wallenstein. Der Rheinberger-Forscher Hartmut Schick konnte 2001 in seinem Aufsatz über Rheinbergers Wallenstein-Sinfonie op. 10. Ambivalenzen in der Konzeption und Rezeption eines Erfolgsstücks feststellen, dass das Werk in den zehn Jahren nach seiner Uraufführung 1866 mindestens 23mal in 19 verschiedenen Städten in- und außerhalb Deutschlands gespielt worden ist; „hinzu kommen 15 Aufführungen von einzelnen Sätzen, vor allem des beim Publikum besonders beliebt gewordenen 3. Satzes Wallensteins Lager.“ Unter den zeitnah entstandenen Symphonien erreichten nur Anton Rubinsteins Nr. 2 Ozean und Joachim Raffs Nr. 3 Im Walde höhere Aufführungszahlen. Man kann also sagen, dass Wallenstein seinen Komponisten mit einem Schlag berühmt gemacht und – zumindest aus Sicht des damaligen Publikums – in die erste Reihe der Symphoniker seiner Zeit gestellt hat.
Wallenstein gehört, wie die erwähnten Werke Raffs und Rubinsteins, zu einer Sondergattung, deren Blütezeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts die in schlechten Musikgeschichtsbüchern zu findende Behauptung, es habe damals einen unüberwindlichen Gegensatz zwischen „absoluter Musik“ und „Programmmusik“ gegeben, Lügen straft. Tatsächlich wurden zahlreiche „charakteristische Symphonien“ komponiert, die auf außermusikalischen Anregungen fußen, ohne im engeren Sinne Programmmusik zu sein. Nicht wenige dieser Stücke sind erzählerisch gedacht und reflektieren eine bestimmte Handlung. Neben Rheinbergers Wallenstein wären etwa zu nennen: Johann Joseph Aberts Columbus, Joachim Raffs und August Klughardts Werke nach Bürgers Lenore, Carl Reineckes Hakon Jarl, Heinrich Hofmanns Frithjof und Hans Hubers Tell-Symphonie. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie die traditionelle viersätzige Form beibehalten. Das Programm ordnet sich ihr unter, dient als Ideengeber zu bestimmten Stimmungen, schlägt sich auch gelegentlich in Besonderheiten innerhalb des musikalischen Verlaufs nieder, wird jedoch nie zum Anlass genommen, die überkommenen Formen grundsätzlich in Frage zu stellen. Angesichts dessen verwundert auch die traditionalistische Stilistik der betreffenden Symphonien nicht. Die Verbindung poetischer Gedanken mit einer eingängigen, an bewährten Vorbildern orientierten Tonsprache wurde von Publikum und Kritik goutiert. Dass gleichzeitig der Programmsymphoniker Franz Liszt so umstritten war, lag nicht daran, dass er sich von Außermusikalischem inspirieren ließ, sondern am ungewohnten, „unklassischen“ Stil seiner Werke. Der Hakon-Jarl-Komponist Reinecke sperrte sich als Gewandhauskapellmeister gegen Liszts Symphonische Dichtungen, für eine Aufführung des Wallenstein überließ er Rheinberger bereitwillig sein Orchester.
Als programmatische Vorlage diente Rheinberger in erster Linie Schillers Wallenstein-Trilogie, großen Eindruck hinterließ aber auch Carl Theodor von Pilotys Gemälde Seni vor der Leiche Wallensteins. In wie fern die musikalischen Ereignisse der Symphonie programmatisch auszulegen sind, stellte allerdings bereits die Zeitgenossen vor Rätsel. Bei den drei letzten Sätzen scheint vordergründig Klarheit zu herrschen: Der langsame Satz heißt Thekla (Wallensteins Tochter bei Schiller), der dritte zeigt Wallensteins Lager (Scherzo) einschließlich Kapuzinerpredigt (Trio), und am Ende steht wie bei Schiller Wallensteins Tod. Rezeptionsprobleme bereitete vor allem der Kopfsatz. Wiederholt wurde versucht, ihn als Charakterportrait des Titelhelden zu deuten, wobei dann häufig eingewendet wurde, die Musik würde diesem Anspruch nicht gerecht. Nun beginnt der Satz zwar mit einer herrischen Geste, enthält jedoch auch ausgedehnte Abschnitte, die sich nur schwer als Darstellung eines kriegerischen Machtmenschen deuten lassen. Eine solche lag anscheinend auch nicht in Rheinbergers Absicht, denn überschrieben hat er das Stück mit Vorspiel. Der Satz ist somit wohl am ehesten als Ouvertüre zu verstehen, die, wie in einer Oper, das spätere Geschehen andeutet, ohne zu viel vorwegzunehmen. So erscheint mitten in der Durchführung ein neues Thema, das später den Mittelteil des langsamen Satzes bestimmt; am Schluss steht die Trauer- und Erlösungsmusik, mit der auch der vierte Satz schließt. Auch in Hinblick auf diese beiden Sätze wurden Überlegungen angestellt, wie sie mit Schiller in Übereinstimmung zu bringen seien – mit unterschiedlichen Ergebnissen. Lediglich der dritte Satz erschien unter diesem Gesichtspunkt nie problematisch. Wie Hartmut Schick herausgearbeitet hat, dürften die Eigenheiten des Werkes mindestens ebenso sehr auf die privaten Umstände des Komponisten zur Zeit der Entstehung zurückzuführen sein wie auf Schillers Drama: Rheinberger komponierte Wallenstein 1866 auch zur Freude der damals lebensgefährlich erkrankten Franziska von Hoffnaaß, die im folgenden Jahr (nach ihrer Genesung und der Uraufführung der Symphonie) seine Ehefrau werden sollte. Manche Stelle im Werk verdankt wohl gar nicht in erster Linie Schiller ihr Dasein, sondern besitzt eine versteckte Bedeutung, um die nur der Komponist und seine Frau wussten, und die aus verständlichen Gründen nicht an die Öffentlichkeit gelangte.
Von rein musikalischen Standpunkt aus betrachtet, kann man Rheinbergers Wallenstein als ein Meisterstück jener Symphonietradition des oberdeutschen Sprachraums bezeichnen, die mit Franz Schubert anhebt und in der Generation vor Rheinberger in Franz Lachner und Johann Rufinatscha würdige Repräsentanten gefunden hat. Auch die Symphonien Anton Bruckners sind vor diesem Hintergrund entstanden. Es ist eine Symphonik der Expansion. Die Komponisten streben nicht nach möglichster Knappheit der Aussage, sondern denken in ausgedehnten Perioden, lassen ihre Gedanken sich in Ruhe entfalten, gern unter Zuhilfenahme aparter Harmoniefortschreitungen, was dann in den besten Werken dieser Richtung die „himmlische Länge“ hervorbringt, die Robert Schumann an Schuberts Großer C-Dur-Symphonie rühmte.
Wallenstein ist gleichfalls kein kurzes Werk: Unter Florian Krumpöcks Dirigat dauert er 50 Minuten, Nikos Athinäos lässt ihn in 55 Minuten spielen. Eine lange Symphonie, aber keine langweilige – im Gegenteil: Rheinberger erweist sich als stupender musikalischer Architekt, der mit großen Blöcken fest zusammenhaltende Bauwerke errichtet, wobei ihm seine Fertigkeit im Kontrapunkt – die sich nirgendwo im Werk in akademische Demonstrationen verliert – zu Hilfe kommt. Die Spannung zwischen klassischer Form und programmatischer Aussage löst er glücklich: Die formal außergewöhnlichen Momente, denen man anmerkt, dass sie eine außermusikalische Ursache haben (sie heiße „Wallenstein“ oder „Franziska“), verteilt er auf jene Stellen des musikalischen Verlaufs, an denen solche Überraschungen gut am Platze sind: Auf Durchführung und Coda des Kopfsatzes und auf Einleitung, Durchführung und Coda des Finales. (Man bedenke, wie gern auch Beethoven und Schumann an entsprechenden Stellen „absolut musikalischer“ Sonatensätze neue Themen einführen!) Die exponierenden und rekapitulierenden Abschnitte bleiben von diesen „exterritorialen“ Einfällen unberührt und bilden auf klassische Weise Symmetrien aus. Wer das Programm Programm sein lassen will, kann das „Symphonische Tongemälde“ also ohne Weiteres auch als „absolute“ Symphonie auf sich wirken lassen. Gerade das Adagio lädt dazu ein. Thekla gibt dem Satz ihren Charakter, Geschehnisse, zu deren Erläuterung Schiller herangezogen werden müsste, enthält er jedoch nicht. Die Gesanglichkeit des Stückes kommt nicht von ungefähr: Das Thema, das Rheinberger im Mittelteil verwendet (und das im Kopfsatz schon vorweggenommen worden war), entstammt einem Klavierlied des Komponisten.
Der ganze Wallenstein ist für das Orchester dankbar geschrieben, die Instrumentationskunst des Komponisten kommt aber im dritten Satz besonders gut zur Geltung, wo es galt, das ausgelassene Treiben der Söldner in Wallensteins Lager zu schildern. Ein Glanzstück musikalischer Charakterisierung (oder Karikatur) gelingt Rheinberger im Trio: Der Kapuziner beginnt seine Predigt effektvoll mit larmoyanten Klagerufen in Oboen und Violinen, Posaunenakkorde wirken wie ein Ausrufezeichen, dann folgt in tieferer Stimmlage (Klarinetten, Fagotte, Bratschen) die eigentliche Rede, der die unablässig begleitenden Achtel in den Streicherbässen einen eifernden Tonfall verleihen. Eingestreute Melodiefetzen aus dem Scherzoteil verraten indes, dass die Soldaten den Mönch nicht ganz ernst nehmen. Die plastische Darstellung, die den ganzen Satz auszeichnet, wirkt unmittelbar und lässt verstehen, warum gerade Wallensteins Lager ein solcher Publikumserfolg gewesen ist.
Rheinbergers Symphonisches Tongemälde war das erste Werk eines liechtensteinischen Komponisten, das internationale Anerkennung erfuhr. Deshalb erscheint es nicht verwunderlich, dass das Sinfonieorchester Liechtenstein gerade dieses Stück aufs Programm gesetzt hat, um zur 300-Jahr-Feier des Fürstentums seinen Beitrag beizusteuern. Krumpöck und seinen Musikern gelang dabei eine Aufführung, die ihrem Anlass würdig ist und die Qualität der Komposition trefflich zur Geltung bringt. Gegenüber der älteren Einspielung durch Athinäos hat die neue Aufnahme rein tontechnisch ein klareres, schärfer konturiertes Klangbild voraus. Im Hinblick auf die Darbietung unterscheiden sich beide zum Teil beträchtlich voneinander. Unter Krumpöck dauert die Symphonie rund fünf Minuten weniger. Die Abweichungen betreffen dabei vor allem die Mittelsätze und das Allegro des Finales. Im Thekla-Satz ist Krumpöck rund zwei Minuten schneller als Athinäos, Wallensteins Lager wird in nur zehn Minuten besichtigt (bei Athinäos sind es 11 ½) und im Finale reitet der Titelheld seinem Ende merklich lebhafter entgegen. Das Brandenburgische Staatsorchester Frankfurt (Oder) scheint stärker besetzt zu sein als das Sinfonieorchester Liechtenstein, jedenfalls klingen bei Athinäos die Tutti-Stellen kräftiger. Krumpöck dagegen lässt differenzierter artikulieren und erreicht gerade im langsamen Satz, der bei Athinäos recht zäh anmutet, mehr Stringenz und Spannung. Das höhere Tempo der Liechtensteiner im Finale ist nicht einfach ein schnelleres Abspielen der Noten, sondern ergibt sich tatsächlich aus einem besseren Sinn ihres Dirigenten für die Dramaturgie dieses Satzes. Am deutlichsten unterscheiden sich Athinäos und Krumpöck im dritten Satz. Man meint beinahe zwei verschiedene Stücke zu hören: Athinäos interpretiert „Allegretto“ offensichtlich eher als Moderato, während es für Krumpöck fast ein Allegro ist. Durch das mäßige Tempo kommen in der Frankfurter Aufnahme die pittoresken Einzelheiten des Scherzos stärker zur Geltung; manche Effekte unterstreicht Athinäos demonstrativ. Der Hörer erlebt gewissermaßen hier eine Führung durch das Lager. Hingegen bietet ihm Krumpöck eine Ansicht desselben aus der Totale, aus der man zwar alles überblicken kann, die einzelnen Ereignisse jedoch nicht so deutlich zur Geltung kommen. Rein musikalisch wirkt der Satz unter Krumpöck freilich zusammenhängender.
Alles in allem haben wir hier in der Liechtensteinischen Jubiläumsfestgabe eine Aufnahme des Wallenstein vor uns, die der älteren Einspielung wenigstens ebenbürtig und ihr in mancher Hinsicht vorzuziehen ist. Für den gegenwärtigen Stand des Musiklebens im Fürstentum legt sie vorteilhaft Zeugnis ab. Zugleich handelt es sich um ein überzeugendes Plädoyer für einen lange Zeit vernachlässigten Symphoniker von Rang. Ob man nun auch auf eine Einspielung der Florentiner Symphonie durch Krumpöck und das Sinfonieorchester Liechtenstein hoffen darf? Willkommen wäre eine solche durchaus.
Sophie Dervaux (Fagott) und Selim Mazari (Klavier) widmen sich auf ihrem bei Berlin Classics erschienenen Album Impressions französischen Kompositionen des 19. und 20. Jahrhunderts.
Ich weiß schon, warum das Fagott zu meinen Lieblingsinstrumenten gehört. Noch dazu, wenn es von solch einer Könnerin gespielt wird! Sophie Dervaux präsentiert auf ihrer CD Stücke französischer Komponisten, die ihr als Französin natürlich besonders liegen. Im Booklet betont sie in einem Interview, wie wichtig es ihr ist, die verschiedenen Möglichkeiten des Fagotts zu zeigen, von den tiefsten Basslagen bis hin zu ungewöhnlichen melodischen Possibilitäten.
Verständlicherweise kommen Bearbeitungen solcher „Reißer“ wie Debussys Clair de Lune, Faurés Après un Rêve und Ravels Habanera dran. Aber eben auch in Deutschland weniger Bekanntes wie die 1918 komponierte dreisätzige Sonate op. 71 von Charles Koechlin (1867–1950), die Transkription des Liedes A Chloris von Reynaldo Hahn (1874–1947), oder die Sarabande von Henri Dutilleux (1916–2013), ein Frühwerk von einem der außergewöhnlichsten Komponisten des modernen Frankreich. Den Abschluss bildet die Komposition Interferences von Roger Boutry (1932–2019), bei der Sophie Dervaux in Bereiche des Instruments vorstößt, die extrem ungewöhnlich sind und einen schönen Kontrapunkt bilden zur Sonate op. 168 von Camille Saint-Saëns (1835–1921).
Die Arrangements stammen von der Musikerin selber und von ihrem Lehrer Carlo Colombo. Der Pianist Selim Mazari, der „begleitet“, ist ein adäquater Partner, sehr sensibel und bereitet damit genau das „Silbertablett“ vor, auf dem die Solistin wunderbar zum Strahlen kommt. Es ist eine wunderbare CD, die hoffentlich diesem Instrument noch viele Türen öffnen kann.
Für Naxos hat Christophe Dejour (Gitarre) eigene Transkriptionen von Werken Carlo Gesualdos, Johann Sebastian Bachs, Alban Bergs und Béla Bartóks eingespielt.
Der dänische Gitarrist Christophe Dejour hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten einen guten Ruf als Bearbeiter erworben, der dem Repertoire für sein Instrument mehrere Meisterwerke hinzugewonnen hat. So arrangierte er für das von ihm mitbegründete Trio Campanella Isaac Albéniz‘ Iberia und Enrique Granados‘ Goyescas für drei Gitarren. Den bei Naxos erschienenen Einspielungen dieser beiden Zyklen durch das Trio Campanella hat Dejour nun sein erstes Solo-Album folgen lassen. Unter dem Titel The Art of Classical Guitar Transcription präsentiert er eigene Arrangements vierer Kompositionen, die in verschiedenen Epochen für verschiedene Instrumente geschrieben wurden: Carlo Gesualdos Canzon Francese del Principe (eines der wenigen Werke, die der Madrigalfürst für ein Clavierinstrument hinterlassen hat), Johann Sebastian Bachs Chromatische Fantasie und Fuge BWV 903, die Klaviersonate h-Moll op. 1 von Alban Berg und Béla Bartóks späte Sonate für Violine solo. Es werden also – dies lässt sich unschwer als Leitfaden des Programms erkennen – Komponisten zusammengebracht, die allesamt starke Harmoniker gewesen sind und mit kühnem Entdeckersinn den jeweiligen Zeitgenossen neue Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb der tonalen Ordnung aufgezeigt haben.
In allen Bearbeitungen hält sich Dejour möglichst eng an die Vorlage und legt nur dann Stimmen um, wenn dies der verglichen mit Tasteninstrumenten geringere Tonumfang der Gitarre nötig macht. Wie sich trotz solchen Einschränkungen bemerkenswert volle Klänge realisieren lassen, zeigt sich namentlich in Dejours Übertragung der Berg-Sonate. Die Möglichkeiten des Zupfinstruments zur Wiedergabe polyphoner Musik kommen in den Gesualdo- und Bach-Transkriptionen wunderbar zur Geltung. Große Sorgfalt in der Übersetzung violintypischer Spielweisen ins Gitarrenidiom lässt sich im Fall der Bartók-Sonate feststellen. Beispielsweise hat sich Dejour, da naturgemäß der Gegensatz von Arco und Pizzicato auf der Gitarre nicht realisierbar ist, an den entsprechenden Stellen der Sonate entschieden, das normale Pizzicato durch ein deutlich weniger resonanzstarkes, das charakteristische „Bartók-Pizzicato“ (wie auf der Violine) durch ein sehr kräftiges Anreißen der Saite wiederzugeben.
Bei den Darbietungen vertieft sich Dejour intensiv in die Beschaffenheit des jeweiligen Stückes und verhilft dadurch jedem der Werke zu einem charakteristischen Klangbild, das sich von dem der übrigen deutlich abhebt. Gesualdos Canzon Francese, eine fugierte Fantasie mit virtuosen Einschüben, entfaltet sich feierlich und gelassen. Die gelegentlichen chromatischen Ausweichungen wirken nicht als aufgesetzte Effekte, sondern als natürlicher Bestandteil des Ganzen. Bachs Chromatische Fantasie gliedert Dejour klar mittels dynamischer Kontraste und passend eingesetzter Rubati. Von dem Vorteil, dass auf der Gitarre im Gegensatz zum Cembalo eine direkte Einwirkung des Spielers auf die Saite möglich ist, macht er reichlich Gebrauch und gestaltet namentlich den ariosen Schluss der Fantasie hochexpressiv. Dass die Fuge den Gitarristen vor hohe spieltechnische Herausforderungen stellt, ist in der Aufnahme gelegentlich zu hören. Dejour begegnet ihnen, indem er ein deutlich langsameres Grundtempo anschlägt als die meisten Clavierspieler und dieses durch sorgfältige Artikulation spannungsvoll belebt. Um die dissonanten Akkordtürme der Bergschen Klaviersonate möglichst umfassend darzustellen, bedient sich Dejour in diesem Stück ausgiebig des Portamentos, was den nicht unwillkommenen Nebeneffekt zur Folge hat, dass das Stück unter seinen Händen einen geradezu vokalen Charakter annimmt, dass es „singt“. Die Struktur dieses einzeln stehenden Sonatensatzes wirkt in Dejours Einspielung erfreulich klar und übersichtlich, der Verlauf wirklich prozesshaft. Wohltuend unterscheidet sich diese Aufnahme von der Auffassung der Sonate als zerklüfteter Abfolge von Einzelereignissen, als welche sie mitunter zu hören ist. Ist die Sonate Bergs eine Äußerung des Wiener Fin de Siècle, so zeigt sich in der über dreißig Jahre später entstandenen Solo-Violinsonate seines Generationsgenossen Bartók eine Haltung, die zur Musik der Jahrhundertwende, in der sie freilich wurzelt, deutlich auf Distanz gegangen ist – nicht zuletzt durch das Rekurrieren auf barocke Vorbilder. Entsprechend lässt Dejour dieses Stück rauer, „sachlicher“ klingen. Er verzichtet auf „Fülle des Wohllauts“, nicht aber darauf, die Feinheiten der Musik herauszuarbeiten. Als besonders gelungen lässt sich die Fuge hervorheben, die Dejour stringent und mit unwiderstehlichem Schwung darbietet.
Wer also hören möchte, wie sich die bekannten Clavier-, Klavier- und Violinwerke in meisterlichen Bearbeitungen auf der Gitarre ausnehmen, und dies ebenso hervorragend gespielt, der kann bedenkenlos zu dieser CD greifen. Sie zeugt eindrucksvoll von Christophe Dejours Kunstfertigkeit auf beiden Gebieten.
Brilliant Classics präsentiert das gesamte Orchesterwerk des bedeutenden Schweizer Symphonikers Fritz Brun (1878–1959) in einer preiswerten 11-CD-Packung. In den ursprünglich bei Guild und Sterling erschienenen Aufnahmen sind das Moscow Symphony Orchestra und das Bratislava Symphony Orchestra unter der Leitung von Adriano zu hören.
Der Schweizer Dirigent Adriano ist ein Musiker, der ganz aus dem Studio heraus wirkt. Ohne je im Konzertsaal aufgetreten zu sein, hat er seit den 1980er Jahren in Zusammenarbeit mit dem Symphonie-Orchester des Slowakischen Rundfunks, dem Bratislava Symphony Orchestra und dem Moscow Symphony Orchestra ein umfangreiches diskographisches Werk geschaffen, das überwiegend bei Marco Polo/Naxos, Sterling und Guild erschienen ist. Sein besonderes Augenmerk galt dabei stets der Förderung vernachlässigter Kompositionen. Bei einem nicht geringen Teil der Aufnahmen Adrianos handelt es sich um Ersteinspielungen, und wiederholt ist es vorgekommen, dass der Dirigent das Orchestermaterial anhand unveröffentlichter Manuskripte selbst erstellt hat. Schwerpunkte in Adrianos Diskographie bilden das Schaffen Ottorino Respighis, von dem er mehrere frühe Orchesterwerke sowie die Opern La bella dormente nel bosco und Lucrezia als erster auf CD brachte, Filmmusik (u. a. jeweils vier Arthur Honegger und Georges Auric gewidmete CDs) und Werke schweizerischer Komponisten. In letzterer Kategorie leistete er Pionierarbeit für Émile Jaques-Dalcroze (3 CDs), Pierre Maurice, den völlig übersehenen Wagnerianer Albert Rudolph Fäsy, den in der Schweiz lebenden Amerikaner George Templeton Strong (3 CDs), sowie für Hermann Suters großartige d-Moll-Symphonie. Zu nennen wären weiterhin die Ersteinspielung der Symphonie Nr. 1 des Nürnberger „Metamorphosen-Symphonikers“ Martin Scherber und zwei CDs mit Werken des jung gestorbenen Italieners Mario Pilati. Den Höhepunkt von Adrianos Wirken als Dirigent und musikalischer Entdecker markiert dabei zweifelsohne seine Gesamtaufnahme der Orchesterwerke von Fritz Brun, die er zwischen 2003 und 2015 mit dem Moscow Symphony Orchestra und dem Bratislava Symphony Orchestra auf zehn CDs festhielt.
Auch Fritz Brun war Schweizer. 1878 in Luzern geboren, ging er 19-jährig nach Köln, um bei Franz Wüllner Komposition und Dirigieren zu studieren. Nach kurzen Intermezzi als Hauspianist des kunstsinnigen Prinzen Georg von Preußen in Berlin, sowie als Klavierlehrer in London und Dortmund, kehrte er 1903 in die Schweiz zurück und ließ sich in Bern nieder, wo ihn die Bernische Musikgesellschaft 1909 zum Generalmusikdirektor berief. Als Dirigent des Berner Stadtorchesters, der Liedertafel und des Cäcilienvereins war Brun über drei Jahrzehnte der wichtigste Musiker der Stadt und eine der herausragenden Persönlichkeiten im Musikleben der Schweiz. Gastspiele u. a. in Paris und Rom belegen sein Ansehen auch im Ausland. 1941 trat er in den Ruhestand und lebte in Morcote am Luganer See bis zu seinem Tode 1959 nur noch seinem Schaffen.
Seinem Haus in Morcote hat Brun den Namen Casa Independenza gegeben. Das ist durchaus auch als Programm für sein kompositorisches Lebenswerk zu verstehen, denn ein Unabhängiger war Fritz Brun als schöpferischer Künstler von Anfang an. Gewiss kann man ihn einen Traditionalisten nennen und jedes seiner Werke ein Klang gewordenes Bekenntnis zu einer großen Tradition – namentlich zur durch tonale Beziehungen gegliederten instrumentalen Großform, wie sie beispielhaft von Johannes Brahms repräsentiert wird –, doch hat sich Brun nie von Vorbildern abhängig gemacht und lässt sich entsprechend auch keiner „Schule“ zurechnen. Den Meistern der Vergangenheit gegenüber nimmt er die Haltung eines dankbaren Erben ein, aber eines, der mit dem überkommenen Gut nach eigenen Vorstellungen waltet. Die entspannte Haltung eines souveränen Charakters zeigt sich auch in seinem Verhältnis zu den modernistischen Strömungen seiner Zeit. So beschäftigte er sich in den 1920er Jahren intensiv mit dem „Problem der atonalen Auflockerung“, zu welcher er meinte: „Ich stehe ihr feindlich gegenüber, wenn sie sinnlos, phantasielos dem Schreiben einer öden Papiermusik verfällt, sie fesselt mich in hohem Grade, wenn sich Köpfe wie Strawinsky und Schoeck mit ihr befassen.“ Was Brun hier als „atonal“ bezeichnet, ist – die Erwähnung Igor Strawinskys und Othmar Schoecks deutet bereits darauf hin – eine freie Dissonanzbildung und Stimmführung, die sich vom Funktionsakkorddenken und schulmäßig kontrapunktischen Regelwerk des 19. Jahrhunderts löst, jedoch keine wirkliche Atonalität im Sinne harmonischer Beziehungslosigkeit. Seine Stücke anhand klarer tonaler Zusammenhänge aufzubauen, blieb ihm eine Selbstverständlichkeit, auch wenn er, gerade in den Werken seiner mittleren Schaffensperiode um 1930, eine an scharfen Dissonanzen reiche Harmonik kultivierte.
Brun war vor allem Orchesterkomponist. Im Zentrum seines schöpferischen Lebenswerkes stehen zehn Symphonien, die zwischen 1901 und 1953 vollendet wurden. Sie bilden das Rückgrat der vorliegenden, nunmehr von Brilliant Classics in einer Box zusammengefassten 11-CD-Edition. Hinzu kommen vier einsätzige Orchesterwerke, von denen die Symphonische Dichtung Aus dem Buch Hiob dem Frühwerk angehört; der Symphonische Prolog und die Ouvertüre zu einer Jubiläumsfeier stammen aus späteren Jahren, die Rhapsodie von 1957 ist Bruns letztes Werk überhaupt. An konzertanten Kompositionen hinterließ Brun ein Violoncello- und ein Klavierkonzert sowie ein einsätziges Divertimento und einen Variationszyklus für Klavier und Streichorchester. Auch alle diese Stücke gehören seinem Spätwerk an. Auf Vollständigkeit bedacht, hat Adriano nicht nur Bruns orchestrale Instrumentalmusik eingespielt, sondern sich auch seinen beiden Chorwerken mit Orchester gewidmet: Verheißung für gemischten Chor, Orgel und Orchester (Bruns größtbesetztes Werk) und Grenzen der Menschheit für Männerchor und Orchester, beide auf Texte von Goethe. Außerdem sind in der Werkschau fünf Lieder für Altstimme und Klavier enthalten, die Adriano für Streichsextettbegleitung arrangierte (Liedbearbeitungen dieser Art sind eine Spezialität des Dirigenten), sowie drei Klavierlieder von Othmar Schoeck, denen Fritz Brun zu einem orchestralen Klanggewand verholfen hat.
Ein Blick auf Schoeck lohnt sich, will man Hörern, die Brun noch nicht kennen, eine ungefähre Vorstellung davon geben, was sie in dessen Musik erwartet, handelt es sich doch bei Schoeck um denjenigen unter Bruns komponierenden Zeitgenossen, dem dieser sich künstlerisch und menschlich besonders eng verbunden fühlte. Beide Komponisten widmeten einander Werke, dirigierten Aufführungen der Stücke des jeweils anderen, und verbrachten, seit 1908 gut befreundet, auch privat regelmäßig Zeit zusammen, wanderten beispielsweise in jungen Jahren zweimal nach Italien (auf der zweiten Reise zusammen mit Hermann Hesse). Ihre frühen Briefe pflegten sie, nach ihren Lieblingskomponisten, mit „Johannes“ (Brahms = Brun) und „Hugo“ (Wolf = Schoeck) zu unterschreiben. Die Namen verraten, wie beide sich selbst sahen – und es ist der Freundschaft gewiss nicht abträglich gewesen, dass sie einander nicht als Konkurrenten betrachteten: Schoeck schrieb, wie Wolf, keine Symphonien und überhaupt vergleichsweise wenig Instrumentalmusik, Brun, wie Brahms ein ausgesprochener Sonatenkomponist, keine Opern und nur sehr wenige Lieder. Die Œuvres beider ergänzen einander, als handelte es sich um zwei Seiten einer Medaille. Gewissermaßen haben Brun und Schoeck die gleiche stilistische Haltung in unterschiedlichen Genres kultiviert: Brun in der instrumentalen Großform, Schoeck in der Oper und der lyrischen Miniatur. Beide nehmen auch eine ganz ähnliche stilistische Entwicklung, schaffen ihr Frühwerk in direkter Nachfolge der Meister, nach denen sie ihre Freundschaftsnamen gewählt haben, durchlaufen in mittleren Jahren eine Phase „expressionistischer“ Dissonanzballungen (Schoeck: Penthesilea) und finden schließlich zu einem vergeistigten, abgeklärten Spätstil, der die Errungenschaften der frühen und mittleren Werke gleichsam transzendiert.
Wie Schoeck ist Brun ein ungemein einfallsreicher Harmoniker, der sich auf feinste Übergänge versteht, den Einzugsbereich einer Tonart mit zahlreichen Nebenharmonien und Zwischenstufen vielfarbig auszugestalten weiß, und dissonante Vorhalte in verschiedenen Spannungsgraden dazu nutzt, das Geschehen reizvoll in der Schwebe zu halten. Hinsichtlich der Melodiebildung und des Periodenbaus neigt Brun schon frühzeitig zu dem, was Arnold Schönberg „musikalische Prosa“ nennt. Auch liebt er den polyphonen Tonsatz, gerade die mittleren und späten Werke sind geprägt von einem fein verästelten Miteinander der Stimmen, in welchem die Hauptmotive beständig variiert werden. Bruns Musik ist, wie Max Reger gesagt hätte, „bis in die äußersten Zweiglein durchgebildet“. Während jedoch manche seiner Zeitgenossen unter ähnlichen Voraussetzungen einen üppig-geschmeidigen „Jugendstil“ kultivieren, wirkt Brun sehr bodenständig, mitunter geradezu urig. Auch liebt er starke Stimmungskontraste: Schattige Idyllen, gemalt in exquisitem harmonisch-instrumentatorischem Chiaroscuro, gibt es in seinen Werken ebenso wie steile, schroffe Felswände und hoch aufragende Gipfelzinnen. Den ersten Satz der Dritten Symphonie charakterisierte der Komponist gar selbst als „anorganisches, einsames, feindliches“ Hochgebirge.
Einen guten Einstieg in Bruns Welt bietet die Achte Symphonie von 1942, in deren Anfangstakten man die Kunstgriffe des Komponisten wunderbar in nuce nachvollziehen kann. Der Kopfsatz beginnt heftig bewegt mit irregulär periodisierten Fanfarenklängen. Der unharmonisierte erste Ton ist E, Dominante der angegebenen Haupttonart A-Dur. Bevor diese eintritt, erscheinen als erste Harmonien Mollklänge: cis, f, d. Letzteres führt als Subdominante in eine Kadenz nach A-Dur, doch nach einem einzelnen kurzen Tonika-Akkord geht es sofort unruhig weiter. Brun gelingt hier das Kunststück eine Musik zu schreiben, die fest in A-Dur verankert ist, sich aber über weite Strecken in Nebenharmonien der Haupttonart bewegt und, da die Phrasen häufig Moll-Akkorde als Ziel ansteuern, eher Moll- als Dur-Charakter aufweist. Den vier Sätzen der Symphonie liegt als Idee die Abfolge der Tageszeiten zugrunde. Der erste Satz mit seiner unruhigen Stimmung gibt das treffliche Bild eines betriebsamen Tagesgeschehens. Dem weit ausgesponnenen zweiten Satz liegt als Refrainthema das alte Berner Volkslied „Schönster Abestärn“ zugrunde, das in mehreren Zwischenepisoden auf vielfältige Weise verwandelt wird. An dritter Stelle folgt – vom Tempo her ein weiterer langsamer Satz, doch nach dem zweiten durchaus beschwingt wirkend – ein bezauberndes Notturno mit einem beinahe konzertanten Solo für die Bassklarinette. Das Finale steht in a-Moll, hebt in mäßiger Bewegung an und entwickelt nach und nach immer mehr Aktivität, bis es, wie der Morgen in den Mittag, in die Eröffnungsfanfare des Kopfsatzes einmündet.
Bruns Symphoniestil erscheint erstmals in der 1930 uraufgeführten Fünften Symphonie zu voller Reife ausgeprägt. Dieses Stück kann mit Fug und Recht ein Extremwerk genannt werden. In Bruns Schaffen nimmt es einen ähnlichen Platz ein wie die Penthesilea bei Othmar Schoeck, oder auch die ein paar Jahre später entstandene Vierte Symphonie von Ralph Vaughan Williams im Werk ihres Komponisten. Wenn man liest, die Symphonie stehe in Es-Dur, so lasse man am besten jeden Gedanken an Beethovens Eroica, an Schumanns Rheinische oder an Bruckners Romantische beiseite! Das Thema der eröffnenden Chaconne ist so stark von Chromatik geprägt, dass die Melodie als solche keinen Dur-Eindruck aufkommen lässt. Auch in der Harmonisierung vermeidet Brun lange Zeit die Festigung der nominellen Haupttonart. Geschickt baut er in den Variationen Spannung auf und ab, doch handelt es sich um Abstufungen von Dissonanzgraden. Es brodelt beständig in diesem von grellen Kontrasten geprägten Satz, die nervöse Unruhe verschwindet nicht. Erst ganz am Ende erscheint das Thema in eindeutiger Es-Dur-Harmonisierung glanzvoll im Tutti. Man gönne der Tonart diesen Triumph, denn es bleibt der einzige im ganzen Werk! Die Siegesstimmung wird umgehend durch ein schattenhaft dahinhuschendes Scherzo durchkreuzt. Auch der langsame Satz bringt keine Aufhellung: Brun schrieb ihn als Trauermusik im Gedenken an seinen Freund, Kapellmeisterkollegen und Mitsymphoniker Hermann Suter. Der Finalsatz ist eine Fuge, deren Thema aus einem Motiv des dritten Satzes gewonnen wurde. Ähnlich Beethovens Großer Fuge und den Fugen des deutschen Brun-Zeitgenossen Heinrich Kaminski verwandelt sich das Thema im Verlauf des Stückes, sodass das wiederkehrende Chaconne-Thema des Kopfsatzes als weitere Variation des Fugenthemas erscheint. „Kontraste, Konflikte“ heißt eine geniale Symphonie des eine Generation jüngeren ostdeutschen Meisters Ernst Hermann Meyer. Dies wäre auch ein passender Titel für das Finale von Bruns Fünfter. Die Konflikte der ersten drei Sätze werden in diesem Stück nicht gelöst, sondern mittels intensivierter Kontrapunktik noch verschärft, bis in es-Moll ein Ende mit Schrecken gemacht wird.
Über weite Strecken behandelt Brun in der Fünften Symphonie das Orchester wie ein großes Kammermusikensemble. Diese Tendenz setzt sich in der Sechsten (C-Dur) fort, die in vielerlei Hinsicht wie ein lichtes Gegenstück zu dem Vorgängerwerk wirkt. Begann dieses mit einem Variationssatz, so dient in der Sechsten ein solcher als Finale. Trotz der Moll-Tonart macht er verglichen mit dem Kopfsatz der Fünften einen geradezu freudigen, zuversichtlichen Eindruck, und mündet auch folgerichtig in eine strahlende Dur-Coda. Wie Nr. 6 so hat auch Nr. 7 in D-Dur einen relativ knappen, vergleichsweise leichtgewichtigen Kopfsatz in mäßig langsamem Tempo. Ließ Brun die Sechste ausdrücklich mit einem „Präludium“ beginnen, so eröffnet er die Siebte mit einem „Nachklang“: Was nachklingt, ist ein Motiv aus Schoecks Oper Venus, das Brun nicht wörtlich verwendet, sondern – eben wie es in ihm nachgeklungen hat – bereits in verwandelter Form verarbeitet. Nach dem spukhaften Scherzo der Fünften und dem derb stampfenden der Sechsten, könnte man den entsprechenden Satz der Siebten Symphonie eine phantastische Jagdszene nennen. An dritter Stelle folgt, ähnlich der Sechsten, ein zartes Stück in melancholischem Serenadenton. Wie die Symphonien Nr. 5, 6 und 8, die alle nominell in Dur-Tonarten stehen, besitzt auch die Siebte ein Finale in Moll. Fast doppelt so lang wie der Kopfsatz, ist es fraglos der gewichtigste Abschnitt der Symphonie und zeigt seinen Komponisten vom unruhigen, zurückhaltenden Beginn bis zum choralartigen Schluss, der wahrhaft „hochgebirgig“ klingt, als Meister des weiträumigen Spannungsaufbaus.
Die beiden letzten Symphonien, die Brun als über 70-Jähriger komponierte, setzen sich recht deutlich von den vorangegangen ab und wirken wie zwei unterschiedliche Entwürfe zu einem „altersweisen“ symphonischen Schlusswort. Die Neunte (F-Dur) ist wie Nr. 5–8 eine ausgesprochene Finalsymphonie, lässt jedoch dem viertelstündigen, ernsten Andante, mit dem sie schließt („Glaube und Zweifel – Lob Gottes und der Natur“), vier ziemlich kurze Sätze voller pittoresker Elemente vorangehen („Präludium“, „Serenade“, „Liebesruf“, „Im Kreis der Freunde“) – die Monumentalsymphonik früherer Jahre erscheint ins Idyllische sublimiert. In der Zehnten (B-Dur) schließlich, der kürzesten aller Symphonien Bruns, verschwindet auch die Gewichtung des Finalsatzes. Alle Monumentalität bleibt beiseite; das Werk präsentiert sich durchweg als heiter-abgeklärtes Musizieren eines gereiften, feinsinnigen Komponisten, der sich und der Welt nichts mehr beweisen muss.
Obwohl Brun seine Erste Symphonie bereits mit 23 Jahren schrieb, entwickelte sich sein Personalstil vergleichsweise langsam. Die ersten vier Symphonien bilden gleichsam die Wegmarken dieser Entwicklung. Nr. 1 in h-Moll verhält sich zu den späteren Werken ungefähr wie Bruckners Erste zu dessen späteren Symphonien: Der Komponist schreibt noch nicht in seinem späteren Stil, aber er schreibt mit unverkennbar individueller Note. Es handelt sich um Bruns Abschlussarbeit am Kölner Konservatorium, seine erste Orchesterkomposition überhaupt, doch spricht aus dem Werk kein Anfänger, sondern ein junger Meister. Brun stellt sich merklich in die Tradition von Brahms, auf den er mehrfach direkt anzuspielen scheint. Gerade diese Anklänge zeigen Bruns Souveränität im Umgang mit dem Vorbild: Er imitiert nicht, er kommentiert. Man höre sich etwa den Beginn des Finales an und vergleiche ihn mit den entsprechenden Stellen in Brahmsens Zweiter und Dritter Symphonie! Auch in der Instrumentation geht er eigene Wege, weist etwa den Blechbläsern größere Bedeutung zu als Brahms dies tat. Bereits in dieser Symphonie neigt Brun zu schroffen Kontrasten. Besonders originell ist der Schluss: Die Musik scheint einen kraftvollen Ausklang anzustreben, fällt jedoch binnen wenigen Takten in sich zusammen, als würde sie plötzlich in einem Abgrund versinken.
Die Symphonien Nr. 2–4 wirken weniger stringent als dieser sehr gelungene Erstling, schlagen jedoch persönlichere Töne an. Das Vorbild Brahms ist in der lyrischen Zweiten (B-Dur) mit ihrem volkstümlich-verspielten Finale nur noch an wenigen Stellen präsent. In der dreisätzigen Dritten (d-Moll) schärft sich Bruns individuelles Profil bedeutend. Namentlich im Rhythmischen steckt das über einstündige Werk voller interessanter Einzelheiten. Zwar ist Nr. 3 tatsächlich Bruns längste Symphonie, doch klingt sie auch deutlich länger als die übrigen – der Schwung der Ersten ist nahezu ganz verschwunden, selbst die „Allegro“-Ecksätze schleppen sich mit der Schwerfälligkeit eines Alpengletschers voran. Auch in der Vierten (E-Dur) dominieren behäbige Zeitmaße, doch schreibt Brun hier wieder flüssiger. Einen selbstständigen langsamen Satz enthält das Werk nicht, dessen Funktion wird gewissermaßen auf das Trio des Scherzos und die langsame Einleitung zum Finale verteilt. Der Stil der späteren Werke kündigt sich schon deutlich an, namentlich in den dissonanten Harmonien und stampfenden Rhythmen des Scherzos. Brun war im Bezug auf diese Symphonie übrigens der Meinung, sie sei insoweit „mangelhaft“, als dass er sie „mit Bruckner im Nacken“ niedergeschrieben habe. Ein seltsamer Selbstvorwurf, denn weder klingt das Werk stilistisch uneigenständig, noch besonders brucknerisch – bestenfalls ganz entfernte Anklänge an Bruckners Siebte Symphonie ließen sich anführen.
Die vier einsätzigen Orchesterwerke Bruns unterscheiden sich deutlich voneinander. Aus dem Buch Hiob, seine einzige Symphonische Dichtung, datiert aus den Jahren zwischen der Ersten und Zweiten Symphonie. Anscheinend versuchte sich der Komponist, gerade weil er in der Ersten Symphonie auf Brahmsens Spuren wandelte, nun in programmatischer Musik. Das Werk ist im Wesentlichen ein dunkel getöntes großes Adagio mit belebteren Episoden. Auf einer Höhe mit den mittleren und späten Symphonien steht der monumentale Symphonische Prolog von 1944, ein ausgedehnter Allegrosatz mit langsamer Einleitung. In der Ouvertüre zu einer Jubiläumsfeier verarbeitet Brun geistreich und unterhaltsam ein Berner Volkslied, das aber erst am Ende in seiner Originalgestalt erklingt. Der Effekt ähnelt dem Schluss der Akademischen Festouvertüre von Brahms, zu welcher Bruns Werk ein würdiges Gegenstück darstellt. Als letztes Werk überhaupt komponierte Brun mit fast 80 Jahren eine zehnminütige Rhapsodie. Adriano scheint mir das Werk in seinem Kommentar zu unterschätzen, denn ein Nachlassen der Schöpferkraft vermag ich hier nicht festzustellen. Rhapsodisch im Sinne von „aus heterogenen Elementen zusammengesetzt“ ist das Werk nicht, vielmehr zeigt sich Fritz Brun hier ein letztes Mal als Meister in der Kunst motivischer Verwandlung.
Als Komponist konzertanter Werke ist Brun erst spät tätig geworden. Die beiden dreisätzigen Konzerte für Violoncello und für Klavier datieren aus der Zeit zwischen der Achten und Neunten Symphonie, ebenso die Variationen für Streichorchester und Klavier. Das Divertimento für Klavier und Streicher gehört zu seinen letzten Werken. Wie Brahms bloßer Effekthascherei abhold, vermeidet Brun äußerliche Brillanz in der Gestaltung der Solopartien. Soloinstrument und Orchester agieren stets eng miteinander verzahnt als gleichberechtigte Partner in einem teils symphonisch, teils kammermusikalisch anmutenden Geschehen. Die Variationen und das Divertimento sind hochwertige Beiträge zur konzertanten Literatur für Kammerorchester. Die beiden großen Konzerte dürften zu den technisch und musikalisch anspruchsvollsten ihrer Art gehören und stellen gerade die Solisten vor große, aber auch durchaus lohnende Herausforderungen im Hinblick auf die Erfassung motivischer Zusammenhänge, denn da Brun das beständige Variieren liebt, lässt er die Themen in den Solostimmen in immer neuen Varianten auftreten.
An Vokalmusik hat Brun vor allem A-cappella-Chöre hinterlassen, während er nur selten instrumental begleitete Gesangsstücke schrieb. Die fünf Klavierlieder, deren Begleitung Adriano sehr ansprechend für Streichsextett gesetzt hat, stellen nichts weniger als etwa die Hälfte der Beiträge des Komponisten zu dieser Gattung dar. Es mögen Nebenwerke sein, und sie mögen eine Vergleichung mit den drei Liedern Othmar Schoecks, die in Bruns Orchesterfassung ebenfalls Teil der Brilliant-Edition sind, nicht eigentlich aushalten, doch sind es nichtsdestoweniger Nebenwerke eines Meisters. Als Hauptwerke auf vokalem Gebiet können dagegen die beiden orchesterbegleiteten Goethe-Chöre gelten, die sich durch kräftige Kontraste und eine herbe, aus linearer Polyphonie gewonnene Harmonik auszeichnen.
Zu Lebzeiten war Fritz Brun in seiner Heimat ein sehr angesehener Komponist, was sich nicht nur an verschiedenen Preisen zeigt, die ihm verliehen wurden, sondern auch daran, dass seine Symphonien stets kurz nach ihrer Vollendung uraufgeführt wurden, um anschließend von verschiedenen Schweizer Orchestern nachgespielt zu werden. Illustre Dirigenten nahmen sich der Werke an; insbesondere auf Volkmar Andreae und Hermann Scherchen konnte Brun zählen. So war etwa die Fünfte Symphonie 1930 innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Uraufführung durch Andreae in Zürich auch in Winterthur unter Scherchen und in Bern unter Brun selbst zu hören. Auch leitete Scherchen 1933 eine Probeaufführung der Sechsten Symphonie in Winterthur und dirigierte das Werk, nachdem es im Folgejahr durch Andreae in Zürich offiziell uraufgeführt worden war, an drei aufeinanderfolgenden Tagen in Winterthur und Bern. Weit weniger Glück hatte Brun allerdings mit der Drucklegung seiner Werke. Es ist angesichts der Originalität und Qualität seiner Werke völlig unverständlich, warum bis zum heutigen Tage seine sämtlichen Symphonien, mit Ausnahme der Nummern 2 bis 4, lediglich Manuskript geblieben sind! Auch von den Konzerten gibt es keine gedruckten Partituren. Einzig die von Adriano erstellten Klavierauszüge des Cello- und des Klavierkonzerts sind veröffentlicht. Insofern ist diese Gesamtaufnahme auch als ein Plädoyer zu verstehen, all diesen Stücken zu einer angemessenen Verbreitung durch den Druck zu verhelfen; ein Plädoyer, dem sich der Verfasser dieser Zeilen gern anschließen möchte. Verleger hervor! Wer traut sich? Hier gibt es Ehre zu erwerben!
Adriano hat seine zehn CDs umfassende Gesamteinspielung innerhalb von 13 Jahren mit zwei Orchestern durchgeführt. Abgesehen von der Achten, ist in allen Symphonien das Moscow Symphony Orchestra zu hören, ebenso in den einsätzigen Orchesterwerken. In den drei zuletzt entstandenen Produktionen – der Achten Symphonie und den drei Schoeck-Liedern, den Werken für Klavier und Orchester, sowie dem Cellokonzert und den Vokalwerken – spielt das Bratislava Symphony Orchestra. Die erste CD, die Einspielung der Dritten Symphonie, war ursprünglich bei Sterling erschienen, die übrigen CDs bei Guild. Die Wiederveröffentlichung durch Brilliant vereint somit zum ersten Mal den ganzen Zyklus unter einem gemeinsamen Dach. Will man die Leistung der Ausführenden richtig einschätzen, so sollte man bedenken, dass es sich um eine Pioniertat handelt. Adriano hat mit den Orchestern Werke einstudiert, die nicht nur durch ihre weitgehend polyphone Beschaffenheit und mitunter komplizierte Rhythmik höchste Anforderungen an die Musiker stellen, sondern die auch über keine besondere, teilweise auch gar keine Aufführungstradition außerhalb der Schweiz verfügten. Die Orchester in Moskau und Bratislava betraten mit Bruns Musik völliges Neuland. Adriano hat es vermocht, sie mit den Gegebenheiten dieser Werke vertraut zu machen und zu handwerklich sehr soliden, musikalisch überzeugenden Darbietungen anzuspornen. Bruns Rhythmen sind bei Adriano in sicheren Händen, auch wahrt er stets die Übersicht über das Zusammenspiel der Orchestergruppen. Mit dem Cellisten Claudius Herrmann und dem Pianisten Tomáš Nemec stehen ihm in den Instrumentalkonzerten fähige Solisten zur Verfügung, denen sich die Mezzosopranistin Bernadett Fodor in den Liedern würdig anschließt. Der Bratislava Symphony Choir erledigt seine Aufgabe in den Chorstücken gut, wenn auch nicht ohne Probleme bezüglich der Textverständlichkeit. Nur im Falle einer einzigen Aufnahme, nämlich des Klavierkonzerts, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, die Musiker hätten sich (in den Ecksätzen, weniger im Mittelsatz) mit der bloßen technischen Bewältigung des (offenbar sehr schweren) Stückes zufrieden gegeben. Dass ich mir noch stringentere, die Feinheiten der Brunschen Musik noch genauer herausarbeitende Darbietungen als die hier aufgezeichneten vorstellen kann, besonders wenn Orchester und Dirigent Erfahrungen mit den Werken im Konzert gemacht hätten, sei nicht verschwiegen; Adriano hat allerdings für zukünftige Konkurrenzeinspielungen die Messlatte hoch gelegt. Im Großen und Ganzen kann man den Dirigenten und seine Mitstreiter nur beglückwünschen, ein solches Projekt über einen so langen Zeitraum weitergeführt und erfolgreich zum Abschluss gebracht zu haben. Das Ergebnis ist ein Meilenstein in der Rezeptionsgeschichte eines bedeutenden Symphonikers.
Die Packung enthält insgesamt elf CDs, denn als Bonus ist den zehn von Adriano dirigierten eine weitere Scheibe mit historischen Aufnahmen aus dem Jahr 1946 beigegeben. Sie enthält das einzige überlieferte Tondokument von Fritz Brun als Orchesterdirigent, eine Aufnahme seiner Achten Symphonie mit dem Studio-Orchester Beromünster, sowie eine Einspielung der Variationen für Streichorchester und Klavier durch das Collegium Musicum Zürich und den Pianisten Adrian Aeschbacher unter der Leitung Paul Sachers, der das Werk in Auftrag gegeben hatte. Auch diese Bonus-CD war ursprünglich bei Guild herausgekommen.
Aus Platzgründen konnte der Edition als Begleittext lediglich der siebenseitige Aufsatz beigegeben werden, mit welchem Peter Palmer 1996 in der britischen Musikzeitschrift Tempo auf Brun aufmerksam gemacht hatte; ein guter, auf den Punkt gebrachter Text, dem man stellenweise anmerkt, dass er auf ein britisches Publikum zugeschnitten ist (Brun wird vorrangig mit britischen Zeitgenossen verglichen). Brilliant Classics stellt jedoch auf seiner Netzpräsenz zusätzlich einen über 80-seitigen Text bereit, der sämtliche Einführungen Adrianos zu den originalen Veröffentlichungen enthält. Sie enthalten nicht nur eine Fülle an Informationen über Bruns Biographie und sein Schaffen, sondern vermitteln auch vom Schweizer Musikleben zur Zeit des Komponisten ein sehr lebendiges Bild.
Naxos hat den in den 90er Jahren von Marco Polo begonnenen, damals unvollendet gebliebenen Zyklus der Sinfonien Marcel Poots (1901–1988) neu aufgelegt und durch die erstmalige Veröffentlichung historischer Rundfunkaufnahmen vervollständigt. Es musizieren: Moscow Symphony Orchestra unter Frédérick Devreese (Sinfonien 3, 5, 6 und 7), Antwerp Philharmonic unter Léonce Gras (Sinfonie Nr. 4), Belgian National Radio Symphony Orchestra unter Franz André (Sinfonie Nr. 2) und BRTN Philharmonic Orchestra unter Hans Rotman (Sinfonie Nr. 1).
Die Geschichte des belgischen Komponisten Marcel Poot lief rein so gar nicht nach dem typischen Drehbuch ab, das wir von anderen Komponistenbiografien kennen. Meistens hören wir da ja von Persönlichkeiten, die leidenschaftlich für die Musik brannten und alle Hebel in Bewegung setzten, um trotz mancherlei Widerstände ihrer Leidenschaft professionell nachgehen zu können. Nicht so bei Marcel Poot! Vielmehr scheint es nach seiner eigenen Aussage bei ihm genau anders herum gewesen zu sein.
Der Komponist äußerte im Gespräch mit dem Autor David Ewen in den 1970er-Jahren: „Obwohl ich sehr mittelmäßig war, sollte ich schon früh Musik studieren. Mein Vater ließ mich bei den Klarinettisten einer Gruppe in unserer Stadt mitspielen, in der er Saxophonist war. Da ich aber weniger begabt als meine jungen Freunde war, musste ich diese Position bald wieder aufgeben. … Mein Vater war jedoch fest entschlossen, aus mir einen Musiker zu machen. Wir versuchten es dann mit dem Klavier. Der Stadtorganist, Gerard Nauwelaerts, brachte mir Tonleitern und Czerny-Etüden bei. Das hat mir überhaupt keinen Spaß gemacht. Aber das mühsame Studium wurde fortgesetzt, bis ich in der Lage war, zusammen mit meinem Professor Ouvertüren von Suppé für vier Hände zu spielen. Mein Vater beschloss dann, mich am Brüsseler Konservatorium zu immatrikulieren. Beim ersten Mal wurde ich abgelehnt. Aber eine weitere Runde Üben mit Czerny, und ich wurde schließlich zugelassen.“
In der Folge studierte Marcel Poot bei einer ganzen Reihe von Lehrern, unter denen der namhafteste der französische Komponist und einflussreiche Musikpädagoge Paul Dukas war, aus dessen Schule unter anderem auch so unterschiedliche Komponisten wie Olivier Messiaen, Joaquín Rodrigo und Carlos Chávez hervorgingen. Am Konservatorium zeigte sich auch bereits Marcel Poots Fähigkeit der Organisation und des „Networkings“ wie man es heute wohl nennen würde. 1925 gründete er die Gruppe „Les Synthétistes“, die eine Art belgische Antwort auf die Gruppe „Les Six“ in Frankreich darstellen sollte. Charakteristisch für seinen frühen Stil, der sich u.a. auch in der ersten Sinfonie aus dem Jahr 1929 abbildet, ist in der Tat eine Nähe zum Stil Poulencs und eine Beschäftigung mit den Möglichkeiten der Jazz-Musik im Kontext des Sinfonieorchesters. Parallel zu seiner kompositorischen Tätigkeit wirkte er als Musikjournalist und Rezensent.
1934 konnte Poot mit seiner Fröhlichen Ouvertüre einen europaweiten Erfolg feiern, und es sah wohl einige Zeit danach aus, als würde der Komponist groß herauskommen. Doch Poot entschied sich lieber für eine akademische Karriere, wurde 1939 Professor am Brüsseler Konservatorium, bevor die sogenannte „Westoffensive“ der deutschen Wehrmacht allen weiteren Plänen vorerst ein Ende machte. Nach dem Krieg galt Poots Musik (wie die von so vielen tonalen Komponisten) als stilistisch überkommen, und Poot konnte sich wohl glücklich schätzen, in dieser Zeit das Amt des Direktors des Brüsseler Musikkonservatoriums übernehmen zu können, während Komponisten wie Henri Pousseur nun in der Öffentlichkeit für die belgische Musikmoderne standen.
Die Beschäftigung als Konservatoriumsleiter scheint Poot ein stilistisch weitgehend unbeeinflusstes Komponieren ermöglicht zu haben, während für den Lebensunterhalt gesorgt war. 1960 gründete Poot die Union der belgischen Komponisten und wurde ihr Vorsitzender, und auch beim Concours Reine Elisabeth (bis heute einer der namhaftesten Musikwettbewerbe der Welt) war er einflussreich, leitete 17 Jahre lang bis 1980 die Jury und schrieb mehrere Werke für den Wettbewerb. 1988 verstarb Marcel Poot – in seiner Heimat hoch angesehen, im Rest Europas mehr oder weniger vergessen.
Noch in den 1990er-Jahren startete das Label Marco Polo eine ebenso verdienst- wie qualitätvolle Edition der Orchesterwerke Marcel Poots, zumeist in Weltersteinspielungen durch das seinerzeit frisch gegründete Moscow Symphony Orchestra unter der Leitung des Poot-Schülers Frédéric Devreese, der zu der Zeit bereits ein einflussreicher Komponist, vor allem von Filmmusik, war. Die Edition war sowohl klanglich als auch interpretatorisch gelungen, sie hatte nur einen Haken: Sie war in Bezug auf die Sinfonien leider nicht komplett. Es fehlten Einspielungen der ersten, zweiten und vierten von Poots insgesamt sieben Sinfonien.
Das zur selben Firma wie Marco Polo gehörende Label Naxos schafft diesem Umstand nun Abhilfe und hat die alten Marco Polo-Aufnahmen in einem veritablen Coup durch historische Aufnahmen, überwiegend aus dem Archiv des belgischen Rundfunks, ergänzt und sie so zu einem vollständigen Zyklus komplettiert. Es ergibt sich dadurch ein bunter Strauß an Aufnahmen unterschiedlicher Herkunft, angefangen mit einer Mono-Aufnahme von 1960 (Sinfonie Nr. 2) bis hin zum Rundfunkmitschnitt der Ersten Sinfonie aus dem Jahr 1996, der die neueste Aufnahme auf dieser Doppel-CD markiert.
Gleichermaßen erfreulich wie erstaunlich ist es, dass dabei kein Flickenteppich herausgekommen ist. Die Toningenieure des belgischen Rundfunks waren offenbar stets auf der Höhe der Zeit, was die Tontechnik anbelangt. Die Mono-Aufnahme von 1960 möchte ich klanglich sogar als überdurchschnittlich für diese Zeit einstufen. Sie steht auch besten Schallplattenaufnahmen aus dieser Zeit in nichts nach und beeindruckt bis heute durch eine angenehme Wärme, Körperlichkeit und Brillanz. Auch die Aufnahmen der Ersten Sinfonie von 1996 (die einzige, die abgesehen von den Marco Polo-Aufnahmen schon einmal auf CD veröffentlicht worden war) und 1971 fügen sich ebenfalls gut in das Klangbild ein.
Die Interpretationen sind durch die Bank gut bis herausragend, wobei die Einspielung der zweiten Sinfonie von 1960 durch das Belgian National Radio Symphony Orchestra unter Leitung von Franz André klar die beste ist: Hier stimmt einfach alles, von A bis Z – ein offenbar akribisch vorbereitetes Orchester musiziert hier in vorbildlichster Weise und mit einer Spielfreude und Akribie, wie es den besten Orchestern dieser Zeit sicherlich nicht besser gelungen wäre. Es ist dies die unbestreitbare Referenzaufnahme auf diesem aber auch sonst durch und durch empfehlenswerten Doppelalbum.
Stilistisch ist der Werdegang Marcel Poots anhand seiner Sinfonien schön nachzuvollziehen. Die ersten beiden Sinfonien wurden noch vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben. Die Dritte Sinfonie setzt 1952 wieder ein, aus den 1960er-Jahren hat Poot keine Sinfonien hinterlassen, und die Sinfonien Nr. 4 bis 7 stammen aus den Jahren 1970 bis 1982. Sämtliche Kompositionen sind kompakt (Spielzeit durchschnittlich etwa 20 min.), dreisätzig und einem eher neoklassizistischen Formmodell verpflichtet.
Zeigt die charmant-beschwingte Erste Sinfonie (1929) wie erwähnt noch eine gewisse Nähe zum Pariser Stil der 1920er-Jahre und zur ausgelassenen Erkundung des Jazz, so findet schon in der Zweiten Sinfonie (1937) eine Entwicklung hin zu einem ernsteren und im engeren Sinne auch sinfonischeren Charakter statt. Die Dritte Sinfonie, das erste Nachkriegswerk, ist deutlich expressiver und dissonanter als beide Vorkriegssinfonien, am Ehesten vielleicht mit der Zweiten Sinfonie Arthur Honeggers vergleichbar, ohne jedoch deren Meisterhaftigkeit zu erreichen. Der quasi expressionistische Stil blieb fortan Marcel Poots Idiom, auch in den Werken der 1970er-Jahre, die zunehmend Elemente des Spätstils von Schostakowitsch zu adaptieren scheinen, ohne jedoch die eigene Handschrift zu verlieren. In allen Sinfonien der 1970er-Jahre scheinen die Ideen aber nicht mehr so frisch und unwillkürlich zu sein wie in den beiden Vorkriegssinfonien, die ich persönlich für die interessantesten und lohnenswertesten in dieser Gesamtaufnahme halte.
Als Fazit lässt sich ziehen, dass Naxos hier einen sehr interessanten und guten Weg gefunden hat, um eine Gesamtschau der Sinfonien des Komponisten Marcel Poot vorzulegen. Es wäre manch einem Label zu empfehlen, diesem Beispiel zu folgen und die Rundfunkarchive der europäischen Länder dahingehend zu durchforsten, ob sich mit dort vorhandenen Aufnahmen nicht womöglich komplette Werkzyklen zusammenstellen lassen. Selbst, wenn dies doch einmal in „Stückwerk“ ausarten sollte, so erscheint mir der Vorteil, eine Gesamtschau eines Zyklus aus dem Œuvre eines Komponisten klingend zur Verfügung zu haben, zunächst einmal wichtiger zu sein, als eine wie auch immer geartete „Einheitlichkeit“ zu gewährleisten. Bei diesem Set der Sinfonien Marcel Poots, das sich aus vier verschiedenen Quellen speist, ist es jedenfalls auf beeindruckende Weise gelungen. Glückwunsch ans Label und klare Kaufempfehlung für jeden, der sich für Sinfonien des 20. Jahrhunderts begeistern kann!
Ein Quartett des Kammerorchesters Basel musiziert den Struwwelpeter.
Wer kennt noch die Geschichten vom Struwwelpeter – diese kleinen Schauermärchen mit ihrem erhobenen Zeigefinger, der eben darauf verweist, was am eben Ende für all Jene droht, die nicht aufessen, was auf den Tisch kommt, die mit Feuer spielen oder nicht stillsitzen können? Heute werden diese Geschichten eher humorvoll rezipiert. Den moralischen Zeigefinger erheben heute andere. Dass Aufklärung und Diskussion schon im Umgang mit Kindern selbstverständlich sein sollte, dachte sich der Autor dieses Bilderbuches aus dem Jahr 1844. Dass es der Frankfurter Arzt und Psychiater Heinrich Hoffmann nicht ganz so bierernst mit diesen Lehrgeschichten gemeint haben kann, verrät eine Notiz des Autors im Vorwort: Die meisten anderen Bücher moralisieren doch viel zu viel herum. Dem wolle er mit dem Struwwelpeter etwas entgegen setzen. Wenn ein Ensemble des Kammerorchesters Basel diese Geschichten nun musikalisch kommentiert, wird der augenzwinkernde Blickwinkel umso deutlicher. Die neue CD, die aus der Erfahrung mit zahllosen Schulkonzerten hervorgeht, ist auf jeden Fall ein großer musikalischer Spaß – nicht nur für die anvisierte Zielgruppe zwischen 6 und 11 Jahren!
Eva Miribung (Violine und Banjo), Jan Wollmann (Trompete), Konstantin Timokhine (Horn) und Georg Dettweiler (Violoncello) gingen unter Regie von Salomé Im Hof auf Tour, um die Geschichten aus diesem Bilderbuch zu einem Narrativ für die ausgewählte Musik zu machen. Der Komponist und Arrangeur Konstantin Timokhine hat damit guten konzeptionellen Weitblick bewiesen. Viele Meisterwerke aus der Musikgeschichte, aber auch Jazzanleihen vereinen sich in müheloser Weise, schaffen einen roten Faden, verleihen den Episoden von Struwwelpeter, Zappelphilipp, Suppenkaspar, dem fliegenden Robert und Hanns Guck-in-die-Luft viel schrägen Drive und dies auf höchstem Niveau. Ganz am Rande ist dies auch eine leichtfüßige, zugleich gehaltvolle Antwort auf jedes weichgespülte Easy Listening, welches ja oft schon in Kinder-Produktionen strapaziert wird, um junge Ohren von vornherein auf Mainstream zu konditionieren. Dabei stimuliert große, gute, gehaltvolle und hier auch noch meisterhaft gespielte Musik doch viel nachhaltiger die Fantasie, was diese CD einmal wieder klarstellt.
Der Prolog aus Monteverdis Oper Orfeo untermalt das Schicksal der Titelfigur, die sich nicht die Haare schneiden lässt und immer mehr verlottert. Auszüge aus Schostakowitschs Cellokonzert – ohnehin eine Tonsprache von großer Doppeldeutigkeit – interpretieren lakonisch die Leiden des bösen Friederich, der schließlich seine Untaten bereuen muss. Paulinchen, die mit Feuerzeugen herumspielt und schließlich aus Unachtsamkeit sich selber abfackelt, wird sarkastisch mit einer heiteren Swingjazz-Nummer unterlegt – das ist echter schwarzer Humor in diesem Moment! Ein großes Kompliment geht an die Flexibilität dieser Musikerinnen und Musiker vom Basler Kammerorchester. Die Geschichte vom Schwarzen Buben greift – heute wieder sehr aktuell – den Umgang mit Menschen anderer Hautfarbe auf, wenn schließlich die Mehrheit der Kinder einen Jungen wegen seiner dunklen Hautfarbe hänseln – und dafür schließlich selbst in ein schwarzes Tintenfass getaucht werden. Bei der Figur des Hanns Guck-in-die Luft kommen den anwesenden jungen Zuschauerinnen und Zuschauern sofort heutige Gewohnheiten in den Blick. Mit dem Unterschied, dass der Blick heute meist nicht nach oben, sondern nach unten, aufs eigene Handy geht – aber eben auch nicht nach vorn in die Wirklichkeit. In jedem Fall entfalten die ausgewählten Kompositionen in diesen Kontexten ganz neue Facetten von Darstellungslust. Eine Händel-Arie überhöht die Geschichte vom Suppenkaspar auf Allerfeinste. Ironie und höchste musikalische Finesse verstehen sich einfach gut miteinander. Richard Wagners Fliegender Holländer erhebt die Anekdote vom fliegenden Robert in neue Sphären. Die Moral von der Geschicht‘: Spanne keinen Regenschirm auf, wenn es stark windet. Immer wieder mischen sich die Kinder ein, fragen und kommentieren. Mit dem Feuer spielen hat ja – metaphorisch betrachtet – auch etwas damit zu tun, mutig zu sein und etwas zu riskieren. Dem Struwwelpeter in neuer musikalischer „Inszenierung“ durch das Kammerorchester Basel haftet bei allem heiteren Spaßfaktor auch etwas Aufklärerisches an. Und ein solches „Audience Development“ für klassische Musik hat allemal etwas mit Aufklärung zu tun.
War die erste Gesamtaufnahme der 12 Symphonien von Heitor Villa-Lobos – wobei die Fünfte nach wie vor verschollen ist – auf cpo unter Carl St. Clair 2000 fertig eingespielt, hatte Naxos mit dem Spezialisten Isaac Karabtchevsky zwischen 2011 und 2017 auf 6 CDs nachgelegt, die nun endlich auch als preiswerte Box erhältlich sind. Eine immer noch ziemlich unterbelichtete, dazu hochbedeutende Nische in der Symphonik des 20. Jahrhunderts wird hier adäquat beleuchtet und der phantastische Zyklus ganz ausgezeichnet dargeboten.
Heitor Villa-Lobos (1887–1959) gilt immer noch unangefochten als der bedeutendste klassische Komponist Brasiliens. Der Grund dafür ist wohl weniger die Tatsache, dass er so an die tausend musikalische Werke schrieb, was im 20. Jahrhundert schon eher Seltenheitswert hat (der mit ihm befreundete Darius Milhaud wäre noch ein Kandidat mit ähnlich umfangreichem Schaffen). Vielmehr ist es die geglückte Verbindung von aus Europa überlieferten kompositorischen Standards und folkloristischem, teils indigenem Material, welches er anscheinend bereits in seiner Jugend zu sammeln begonnen hatte: Zwischen 1905 und 1913 bereiste er intensiv das Landesinnere, wobei Details dieser Exkursionen völlig im Dunkeln liegen und Villa-Lobos‘ eigene Aussagen darüber wenig glaubwürdig erscheinen. Neben seinem bedeutenden Klavierwerk – weit mehr als nur das Artur Rubinstein gewidmete Rudepoêma, mit dem der Pianist den Brasilianer in Europa bekannt machte, nun zunehmend auch diesseits des Atlantiks gespielt – und der keineswegs umfangreichen Gitarrenmusik, sind es vor allem einige der Bachianas Brasileiras – Stücke, mit denen der Bach-begeisterte Komponist neoklassizistische Elemente in seine ansonsten eher national ausgerichtete Musik integrierte –, die bei uns zum Repertoire gehören.
Dagegen ist sein Schaffen für groß besetztes Symphonieorchester – einige der Chôros, etwa Nr. 8, 9 und 11, vor allem jedoch die 12 Symphonien – immer noch weitgehend unbekannt. Tatsächlich darf man davon ausgehen, dass der größtenteils autodidaktisch gebildete Villa-Lobos in diesem traditionell formal recht festgezurrten Genre nicht sein Hauptinteresse sah. Trotzdem ist dieser Werkzyklus überwiegend von außerordentlicher Qualität: Die Symphonien Nr. 1–5, noch mit spätromantischen Einflüssen, aber bereits recht eigenständig und nationalistisch, entstanden noch vor 1920, danach gibt es eine Lücke von 24 Jahren. Ab Symphonie Nr. 6 wandelt sich deren Stil hörbar recht deutlich, wird konzentrierter; die Instrumentation ist weniger hypertroph, ohne an Farbigkeit zu verlieren – ein genialer Instrumentator war der Komponist ohnehin. Die großformatige, über 60-minütige Symphonie Nr. 10 Ameríndia sticht schon ein wenig heraus, da im Untertitel von Villa-Lobos selbst als Oratorium bezeichnet: das einzige Werk mit zusätzlichen Vokalkräften. Die anderen Symphonien folgen sämtlich der klassischen Viersätzigkeit.
Die Symphonien Nr. 3–5 waren als Triptychon geplant: Ihre Titel lauten A Guerra (Krieg), A Vitória (Sieg) und A Paz (Frieden). Die Partitur der Fünften ist leider verschollen, und obwohl das Material bis in die späten 1960er in Katalogen des Ricordi-Verlags angeboten wurde, allerdings Bestellversuche immer ins Leere liefen, geht die Meinung der Musikwissenschaft mittlerweile doch in die Richtung, dass das ambitionierte Werk – über das Villa-Lobos in Interviews mehrmals berichtete – wohl nie so geschrieben wurde, oder sogar Ideen bzw. Teile davon Eingang in die 10. Symphonie gefunden haben könnten.
Die „Gesamtaufnahme“ auf cpo von 1997–2000 mit dem RSO Stuttgart unter dem texanischen Dirigenten Carl St. Clair war jedenfalls ein Meilenstein, dürfte sie doch für die meisten der Villa-Lobos-Symphonien nicht nur als Ersteinspielung gelten, sondern häufig auch die erst zweite Aufführung überhaupt darstellen. Die Einzel-CDs der Produktion sind längst vergriffen, aber als Box ist diese nach wie vor erhältlich. Im Gegensatz zu St. Clair ist der brasilianische Dirigent Isaac Karabtchevsky (Jahrgang 1934) natürlich ein „alter Hase“, was die Musik Villa-Lobos‘ betrifft. Er studierte in Deutschland u.a. bei Wolfgang Fortner und Pierre Boulez, war etwa langjähriger Chef beim Orquestra Sinfônica Brasileira in Rio de Janeiro und hat für die Neuaufnahme des Symphonienzyklus bei Naxos das Orchestermaterial nochmals gründlich revidiert. Mit dem Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo (OSESP) konnte das derzeit wohl beste Orchester des Landes gewonnen werden, das die elf vorhandenen Symphonien zwischen 2011 und 2017 eingespielt hat. Seit Ende 2020 sind auch diese 6 CDs als preisgünstige Box zu erwerben, wodurch der Rezensent sich nochmals beide Versionen dieser selten dargebotenen Stücke anhören mochte.
Die international hochbeachtete Neuproduktion wird in fast allen Besprechungen über die Maßen gelobt – die Stuttgarter Aufnahme hat aber durchaus auch ihre Meriten. Was die Durchsichtigkeit des Orchesterklanges angeht, sind die Stuttgarter dem Orchester aus São Paulo tatsächlich sogar überlegen. Dass man hier – gerade in den ersten vier Symphonien – mehr Details hören kann, liegt sicher nicht nur an der vorzüglichen Aufnahmetechnik von cpo und SWR, sondern erscheint sozusagen als Hauptanliegen des Dirigenten Carl St. Clair – verständlich bei absolutem Neuland für ihn wie das Orchester. Die somit hervorragend gelungene Balance innerhalb des Orchesters ist aber allein noch keineswegs Garant für eine global differenzierte Dynamik eines Satzes oder einer ganzen Symphonie. Schon hier zeigt sich, was den Stuttgartern fehlt: die Übersicht. St. Clair hangelt sich doch über weite Strecken am Notentext entlang, seine lokale Erbsenzählerei und die präzise Klangabstufung in der momentanen Vertikale kann nicht verdecken, dass ihm die oft ungewöhnliche Architektur des brasilianischen Komponisten (Rondo-Elemente bereits in den Kopfsätzen usw.) fremd bleibt, sich der große Zusammenhang kaum erschließt, geschweige denn musikalisch vorausgedacht, geplant werden kann. Und obwohl es natürlich auch gewaltige Klangmassierungen bei Villa-Lobos gibt, – namentlich in der 3. u. 4. Symphonie, wo nicht nur die brasilianische Nationalhymne, sondern dazu noch Fragmente der Marseillaise intoniert werden – verliert sich der Texaner dann allzu leicht in diesen Effekten. Karabtchevsky setzt hier die Instrumentation ganz punktuell wirkungsvoll ein (große Trommel!), ohne die Struktur zu übertünchen; so bleibt Spannung stets erhalten und die Musik verkommt nie zur reinen Klangorgie.
Zum Feinsten in Villa-Lobos‘ Symphonik gehören zweifellos die langsamen Sätze. Sie beinhalten nicht nur tief empfundene, dabei keineswegs kitschige Melodik, sehr persönliches südamerikanisches Klangkolorit, sondern sind darüber hinaus architektonisch absolut überzeugend. Im Gegensatz zu den meist sehr knapp gehaltenen Kopfsätzen mit ihren oft für den europäischen Geschmack etwas abrupten Schlüssen haben die Binnensätze (auch die Scherzi) einen klaren Aufbau, benötigen dafür aber immer einen langen Atem; Steigerungen müssen wohl dosiert werden, um wahrhaftig zu wirken. Hier zeigt sich ganz deutlich die musikalische Überlegenheit Karabtchevskys, dem dies alles wunderbar gelingt: der große Bogen und echter Schmerz in den langsamen Sätzen, die oft eruptive Rhythmik der Scherzi, obwohl gerade diese noch am ehesten an traditionellen europäischen Vorbildern (Beethoven!) gereift scheinen, zumindest in den späten Symphonien. St. Clair mit seinen teilweise zu breiten Tempi droht hier, den Zusammenhang aus den Augen zu verlieren, die elegischeren Abschnitte in Einzelereignisse zerfallen zu lassen. Höhepunkte erscheinen dadurch bedingt recht aufgesetzt. Bei der 10. Symphonie benötigt er fast 13 Minuten länger als Karabtchevsky, was die recht komplizierten Chorabschnitte ganz unorganisch überdehnt – dies wirkt dann nur noch zäh.
Schließlich kann das Klangbild der Aufnahme aus São Paulo durchaus gefallen: Das räumliche Panorama ist gewaltig, dabei aber keineswegs matschig, sondern kraftvoll differenziert. Die Chöre in der Ameríndia-Symphonie klingen stets natürlich. Lediglich die männlichen Solisten haben offensichtlich bei beiden Aufnahmen Probleme mit den häufigen Wechseln zwischen Text und Vokalise bzw. Melisma, singen stellenweise unbeholfen grobschlächtig. Auch Karabtchevsky kann zwar aus den noch teils unausgegorenen Gehversuchen Villa-Lobos‘ in den beiden ersten Symphonien keine Meisterwerke machen – dafür wird die echte Meisterschaft ab der Sechsten trotz aller auf den Hörer neuartigen Eindrücke überdeutlich: Diese Musik hätte, derart sensibel gespielt, eigentlich das Zeug, auch die europäischen Konzertsäle zu erobern. Die 10. Symphonie mit ihrem ohnehin ganz eigenen Reiz kann es an Pracht mit anderen großen Vokalsymphonien ebenfalls aufnehmen. Zudem sind die als Ballett bekannt gewordene, hochenergetische symphonische Dichtung Uirapuru – ganz typisch für den frühen, „wilden“ Villa-Lobos – sowie die Kantate Mandu-Çarará mit wirkungsvollem Kinderchor und überbordender rhythmischer Intensität (anscheinend erstmals auf CD) willkommene Zugaben. Wer die Stuttgarter Einspielung bereits hat, kann mit der Naxos-Box sehr günstig ein „Update“ erwerben, das eine erneute Auseinandersetzung mit den Villa-Lobos-Symphonien mehr als rechtfertigt. Für Neulinge ist Karabtchevskys Darbietung klar die erste Wahl.
Vergleichsaufnahme: Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, Carl St. Clair (1997-2000, cpo 777 516-2, 7CD)
Unter dem Titel „Hungarian Serenade“ spielt das Offenburger Streichtrio für Naxos selten gehörte Werke von Sándor Veress, Géza Frid, Ferenc Farkas, László Weiner sowie Rezső Kókai ein.
Denkt man an ungarische Serenaden für Streichtrio, so fällt einem womöglich zuallererst Ernst von Dohnányis wunderbarer, kultiviert-delikater Gattungsbeitrag ein. Die vorliegende CD befasst sich jedoch mit der Generation ungarischer Komponisten, die auf Bartók und Kodály folgte; vier der fünf Komponisten sind nahezu gleichaltrig (Jg. 1904 bis 1907), und auch sonst fallen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf: Sándor Veress (1907–1992), Géza Frid (1904–1989) sowie László Weiner (1916–1944) waren Schüler Kodálys, Veress und Frid verbrachten einen Großteil ihres Lebens im Exil, Frid und Weiner hatten jüdische Wurzeln, und während es Frid in den Niederlanden gelang, sich vor den Nationalsozialisten zu verstecken, kam Weiner 28-jährig im Konzentrationslager Łuków ums Leben. Ferenc Farkas (1905–2000) und Rezső Kókai (1906–1962) hingegen verbrachten ihr ganzes Leben in Ungarn.
Abseits biographischer Fakten stehen sich die Kompositionen dieses Albums aber auch stilistisch nahe, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass es sich beim Großteil der hier versammelten Trios um frühe Werke (aus Studientagen) handelt. Speziell gilt dies für Veress’ Sonatine für Violine und Violoncello (um 1926/27 entstanden und als einziges Werk auf dieser CD nicht für Streichtrio), aber auch noch seine erst in den 1970ern entstandenen Tänze aus Szatmár bzw. Somogy (sein 1954 entstandenes meisterhaftes Streichtrio, hier nicht enthalten, ist dagegen wesentlich avancierter), Frids Streichtrio op. 1 (1926) sowie Farkas’ Notturno für Streichtrio op. 2 (1927). Tatsächlich gehen die Ähnlichkeiten bis hin zu den verwendeten Tonarten (es dominieren stets die Grundtöne A, D und G, was sicher nicht zufällig mit den leeren Saiten der Streichinstrumente korrespondiert). Alle diese Werke sind deutlich von ungarischer Volksmusik beeinflusst, und selbstverständlich sind Kodály und Bartók die zentralen Leitbilder. Dabei ist es eher der gemäßigte Bartók, der hier Pate steht: so sind etwa seine Rumänischen Volkstänze insbesondere mit den beiden Tänzen von Veress vergleichbar, aber die Radikalität und den expressiven Gestus von Bartóks Streichquartetten findet man in den Werken auf dieser CD eher nicht. Ein echtes frühes Meisterwerk ist Frids kraftvolles, ambitioniertes Trio, das nicht nur vom Titel her keine Serenade ist. Besonders hervorzuheben ist der dunkel getönte, intensive Mittelsatz mit einem konflikthaften Mittelteil, in welchem die Instrumente vor dem Hintergrund gebrochener Akkorde erregt zu dialogisieren scheinen. Veress’ Sonatine ist (obwohl erheblich kürzer) mit der großen Duosonate von Kodály vergleichbar, zumal im Finale. Der Titel von Farkas’ Notturno ist eher im Mozart’schen Sinne als eine Art kurzes Divertimento zu verstehen, ein reizvolles und eingängiges Werk in zwei knappen Sätzen.
Weiners Serenade für Streichtrio (nicht zu verwechseln übrigens mit dem Streichtrio des älteren Leó Weiner) entstand 1938 und ist sein frühestes überliefertes Werk, sicherlich ebenfalls Kodály verpflichtet, aber insgesamt lyrischer, poetischer als die vorherigen Werke auf dieser CD. Speziell im Kopfsatz sorgt die lydische Einfärbung der Melodik für eine latent sehnsuchtsvolle Note, aber auch der langsame Satz ist innig empfunden, bevor das fugierte Finale für einen frischen Kehraus sorgt. Kókai schließlich war Schüler Hans Koesslers, kam somit per Ausbildung eher von der Spätromantik her und entwickelte zunächst nicht im Gefolge von Kodály und Bartók einen eigenen Ansatz eines nationalen ungarischen Stils. Die Serenade für Streichtrio, wohl bereits 1949/50 entstanden (die CD gibt 1956 an), ist ein reifes Werk, das nur hier und da noch spätromantische Wurzeln verrät. Der in den schwungvollen Ecksätzen, speziell im Finale, manifeste Serenadencharakter wird im langsamen Satz (als Recitativo. Notturno e Canzone bezeichnet) in Frage gestellt, und tatsächlich steht dieser Satz einem Nachtstück im Wortsinne näher als Farkas’ im Grunde genommen weitgehend unbeschwertes Werk diesen Titels.
Das Offenburger Streichtrio setzt sich mit dieser CD also insbesondere für selten gespieltes Repertoire ein. Im Falle der Werke von Veress scheinen keine Alternativeinspielungen zu existieren (die Sonatine erschien erst posthum im Druck), und die Serenade von Kókai gab es bislang nur auf einer Hungaroton-LP. Die übrigen drei Werke liegen zusätzlich in CD-Einspielungen jüngerer Zeit vor (Farkas auf Toccata, Weiner auf Hungaroton sowie Cobra Records, Frid auf Cedille Records). Dabei schneidet das Offenburger Streichtrio insgesamt sehr gut ab. Besonders hervorzuheben ist der homogene Gesamtklang des bereits seit 40 Jahren bestehenden Ensembles. Speziell die lyrischen, (titelgebend) serenadenhaften Seiten der Musik gelingen sehr gut, wie etwa in Farkas’ Notturno. Hier und da würde den Interpretationen allerdings eine etwas differenziertere, die Spannungsbögen der Musik deutlicher nachvollziehende Herangehensweise gut bekommen, gerade in einem (vom Anspruch her) großformatigeren Werk wie dem Trio von Frid oder dem Finale von Weiners Serenade, das einen kräftigeren Zugriff mit mehr Temperament vertragen könnte. Insgesamt handelt es sich aber um durchwegs sehr solide Interpretationen. Die Tonqualität der CD ist tadellos.
Das vom Cellisten Martin Merker verfasste Beiheft liefert kurze und bündige Informationen zu Komponisten und Werken, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen. Hier und da wäre bei näherem Hinsehen etwas Differenzierung nötig: Farkas kann zwar sicherlich als experimentierfreudiger Komponist bezeichnet werden, aber auf Basis eines folkloristisch geprägten, konzisen Neoklassizismus; inwiefern Kókai im kommunistischen Ungarn Repressalien ausgesetzt war, wäre ebenfalls einer genaueren Erläuterung würdig (immerhin war er dreifacher Erkelpreisträger der Jahre 1952, 1955 und 1956). Andererseits ist derlei vielleicht in der gebotenen Kürze eines Begleittextes nicht unbedingt erwartbar.
Insgesamt eine erfreuliche Veröffentlichung, die ganz besonders für ihre nicht alltägliche Repertoirezusammenstellung gelobt werden muss.
Mit seiner bei Naxos erschienenen CD Passacaglia della Vita ruft das vokal-instrumentale Ensemble Cembaless auf höchst lebendige Weise die Herkunft der Passacaglia aus der Tanzmusik in Erinnerung.
Das Kompositionsprinzip, das unter dem Namen „Chaconne“ oder „Passacaglia“ Eingang in den Formenschatz der „absoluten Musik“ gefunden hat, stammt bekanntlich aus der Praxis des Tanzes. Die beständig wiederholte Basslinie und die immer neuen Figurationen der Oberstimmen hatten die Aufgabe, den Tanz in Bewegung zu halten. Es sollte Gleichmaß gestiftet und für Abwechslung gesorgt werden. Zu letzterer trugen auch die verschiedenen Strophen der Liedtexte bei, wenn zum Tanz gesungen wurde. In frühen Passacaglia-Kompositionen zeigt sich der Ursprung im Tanzlied noch deutlich. Einige von ihnen sind ausdrücklich als Gesangsstücke gedacht, während die rein instrumentalen Werke in ihren Oberstimmen eigentlich nur fixieren (und dabei satztechnisch veredeln), was von den Musikanten während des Tanzes improvisiert zu werden pflegte. Im Notenbild festgehalten wurde eine stilisierte Tanzszene, die allerdings dem Vorbild von der Straße („Passacaglia“ heißt nichts anderes als „die Straße entlang gehen“) noch sehr ähnlich war. Wie überhaupt im Generalbasszeitalter lange Zeit ein fließender Übergang zwischen Komposition und Improvisation herrschte, sodass der Komponist häufig nur den Gerüstsatz notierte und die Ausführenden im Moment der Darbietung spontan verzieren konnten, so setzten auch die Komponisten früher Ostinato-Stücke auf mitdenkende, mitgestaltende Musiker. Das kahle Notenbild der Kompositionen zeugt von diesem Vertrauen: Die Musik war nicht das, was auf dem Papier stand, sondern das, was in der konkreten Musiziersituation daraus gemacht wurde.
Das Alte-Musik-Ensemble Cembaless hat sich dies zu Herzen genommen. Wie bereits der Name sagt, kommt die siebenköpfige Formation ohne Cembalo aus. Um die Sopranistin Elisabeth von Stritzky gruppieren sich David Hanke und Annabell Opelt an den Blockflöten, Shen-Ju Chang an der Gambe, Stefan Koim an Barockgitarre bzw. Erzlaute, Robbert Vermeulen an der Theorbe und Syavash Rastani, der verschiedene persische Trommeln erklingen lässt – eine ideale Besetzung, um jene Atmosphäre des Tanzes zu erzeugen, aus der Passacaglia, Ciaconna und andere Ostinatoformen einst hervorgingen. Ihr vorliegendes Album, das nahezu ausschließlich Stücke dieser Art enthält, haben die Musiker „Passacaglia della Vita“ genannt. Der von einer hier eingespielten Komposition Stefano Landis entlehnte Titel ist in mehrfacher Hinsicht Programm: Zum einen beschwören Cembaless die konkrete Lebenssituation, die zur Entstehung der musikalischen Form geführt hat, zum andern zeigt das Ensemble, auf welch vielfältige Weise das von den Komponisten Notierte klingend ins Leben treten kann. Auch auf die verschiedenen Erscheinungsformen frühbarocker Ostinatomusik kann der Titel bezogen werden, denn neben Passacaglie und Ciaccone umfasst das Programm auch einen Fandango (von Santiago de Murcia), eine Bergamasca (von Marco Uccellini), eine über gleichbleibendem Bass aufgebaute Solokantate (Accenti queruli von Giovanni Felice Sances) und einen einfachen strophischen Gesang (Si dolce e’l tormento von Claudio Monteverdi).
Anhand des letzteren Stückes zeigt sich besonders gut, wie Cembaless die spärliche Notation als Aufforderung nehmen, eigenverantwortlich tätig zu werden. Monteverdi hat hier lediglich Singstimme und Bass notiert und für letzteren keine Besetzung vorgeschrieben. Auch deutet im Original nichts darauf hin, dass der Komponist daran dachte, eine Variationenreihe zu schreiben. Cembaless zeigen aber, wie man eine daraus machen kann: Zuerst erklingt in der Theorbe das Thema instrumental, dann beginnt die Sängerin mit der ersten Strophe, alles Weitere ist Alternieren zwischen Instrumental- und Gesangsabschnitten, jeweils mit verzierenden Kontrapunkten und in neuer Instrumentation. Das vom Komponisten Niedergeschriebene bleibt durchaus als Richtlinie erhalten, aber die Musiker bereichern es geschmackvoll durch eigenes Zutun. In Uccellinis Aria sopra la Bergamasca, einem hinsichtlich seiner Dramaturgie bereits streng auskomponierten Werk, wagen sie sogar einen behutsamen Eingriff in den Verlauf und fügen, den Ostinato-Bass beibehaltend, einen vokalen Mittelteil ein, in welchem Elisabeth von Stritzky die Melodie mit jenem Text vorträgt, unter dem sie auch Johann Sebastian Bach bekannt war: „Kraut und Rüben haben mich vertrieben“ (vgl. Goldberg-Variationen, Quodlibet). An einer Stelle in breiten Notenwerten kurz vor Schluss verschärft das Ensemble eigenmächtig Uccellinis Dissonanzen – ein frappierender Effekt, der aber in dieser humorvollen Bearbeitung am rechten Platze ist und, da die Akkorde ihre harmonischen Funktionen beibehalten, auch formal überzeugt!
Nicht in allen Programmnummern sind alle Ensemblemitglieder zu hören. Beinahe durchweg folgt ein instrumentales Werk auf ein vokales. Einige Stücke sind stärker, andere spärlicher besetzt. Die Stellen, an denen sich alle Ausführenden zum Tutti verbinden, finden sich geschickt über den Verlauf des Programms verteilt. Nicht nur in dieser Hinsicht erweist sich die Abfolge der Stücke als von Cembaless streng „durchkomponiert“. Die einzelnen Nummern scheinen aufeinander zu reagieren. Einmal – im Falle der Solokantate von Sances – wagt das Ensemble, das Ende des Stückes wegzulassen und mittels einer Lautenkadenz direkt zum nächsten überzuleiten. Auch ergeben sich Symmetrien durch zwei Ciaccone von Tarquinio Merula (Nr. 4) und Allessandro Piccinini (Nr. 13), denen das gleiche Thema zugrunde liegt, und durch die Gestaltung der Programmmitte: Hier spielt Trommler Syavash Rastani zwischen zwei Stücken in Tutti-Besetzung ein selbstkomponiertes Solo, das seine Fertigkeit, auf tonhöhenlosen Instrumenten mittels unterschiedlicher Tongebung Polyphonie anzudeuten, trefflich demonstriert. In den umrahmenden Kompositionen – Stefano Landis Passacaglia della Vita und Juan Arañés‘ Chacona: A la vida bona – wird ein weiterer Instrumentationseffekt geschickt platziert, indem die Instrumentalisten gegen Schluss plötzlich anfangen zu singen: Das Miteinander von Männer- und Frauenstimmen sorgt dafür, dass auch im Vokalen ein Tutti-Klang entsteht.
Dem Einfallsreichtum der Bearbeitungen entspricht die Frische und Lebendigkeit der Darbietungen von Cembaless. Um den Ursprung der Ostinato-Variationen in Tanz und Lied wissend, gestalten die Ensemblemitglieder ihre Stimmen kantabel und mit tänzerischem Schwung, sodass der Zusammenhalt der musikalischen Ereignisse stets gewahrt bleibt und ein Moment auf dem vorangegangenen aufbaut. Die virtuosen Figurationen meistern alle tadellos, nicht zuletzt die Sopranistin, die in den lebhafteren Abschnitten manch „instrumental“ anmutende Passage vorzutragen hat. Die zahlreichen kleinen Verzierungen, vokal wie instrumental, wirken durchaus nicht aufgesetzt, sondern aus der Spontaneität des Musizierens geboren. Cembaless nennen ihre CD „eine Hommage an die Facetten des Lebens“. Dem lässt sich ohne Einwände zustimmen, denn Facettenreich sind das Programm wie seine Umsetzung, und lebendig klingt hier alles, vom ersten bis zum letzten Ton.
Die dritte Folge der Pantscho Wladigerow-Edition des Labels Capriccio stellt Wladigerows konzertante Werke für Streichinstrumente vor. Neben den beiden Violinkonzerten sind dies eine Reihe von Konzertstücken für Violine(n) bzw. Violoncello und Orchester. Die Solisten sind die Geiger Georgi Badew, Dina Schneidermann und Emil Kamilarow sowie der Cellist Wenzeslaw Nikolow. Alexandar Wladigerow leitet das Bulgarische Nationale Rundfunk-Sinfonieorchester, daneben ist (für einen kurzen Bulgarischen Tanz) auch das Bulgarische Kammerorchester mit Pantscho Wladigerow selbst am Pult vertreten.
Über den großen bulgarischen Komponisten Pantscho Wladigerow (bzw. engl. Pancho Vladigerov; 1899–1978) ist auf dieser Seite im Rahmen der bisherigen Folgen der groß angelegten Capriccio-Edition mit seiner Musik bereits ausführlich berichtet worden, für einleitende Worte zu biographischen Daten und seiner Musik im Allgemeinen sei auf die Rezensionen der CDs mit seinen Klavierkonzerten und Sinfonien verwiesen.
Die vorliegende Doppel-CD stellt nun seine Konzerte für Streichinstrumente vor. Zwar war Wladigerow selbst Pianist, aber gerade zu Beginn seiner Karriere spielte auch die Violine in seinem Schaffen eine wichtige Rolle; nicht zufällig ist das Opus 1 des 15-Jährigen eine Violinsonate, und bis etwa Mitte der 1920er Jahre entstand in regelmäßiger Folge eine ganze Reihe von Werken mit solistischer Violine. Einer der Gründe dafür war sicherlich, dass sein Zwillingsbruder Ljuben (1899–1992) ein ausgezeichneter Geiger war. Ljuben ist auch der Widmungsträger von Wladigerows 1920/21 entstandenem Violinkonzert Nr. 1 f-moll op. 11, und wie sein kurz zuvor komponiertes erstes Klavierkonzert gilt das Violinkonzert als erster bulgarischer Vertreter seiner Gattung. Die Uraufführung am 5. März 1921 mit Gustav Havemann (Violine), den Berliner Philharmonikern und Fritz Reiner am Pult muss ein kolossaler Erfolg gewesen sein, und bald schon wurde das Konzert in zahlreichen Städten Deutschlands, Österreichs oder Frankreichs gespielt.
Wenn das Klavierkonzert Nr. 1 als Wladigerows erstes reifes Werk gilt, dann stellt das Violinkonzert Nr. 1 (in den üblichen drei Sätzen, die hier allerdings nahtlos ineinander übergehen) noch einmal einen weiteren Schritt dar und darf wohl als sein erstes orchestrales Meisterwerk gelten: ein Konzert zwischen Spätromantik und Impressionismus mit reichlich bulgarischem Kolorit, virtuos und dankbar für den Solisten und dabei voller orchestraler Klangpracht, sowohl in groß auftrumpfenden Tutti als auch in zarter, delikat orchestrierter Lyrik. Typischer Wladigerow ist bereits der eindrucksvolle, energisch auffahrende, geradezu im Wortsinn stürmische Beginn mit einem Orgelpunkt auf C in den Bässen, von übermäßigen Dreiklängen geprägter Harmonik, kadenzartigen Passagen der Solovioline und agitierten Signalen der Holzbläser. Erst nach zweieinhalb Minuten beginnt der eigentliche erste Satz mit seinem ungemein einprägsamen, sehnsuchtvoll-passionierten Hauptthema. Lyrischer, intimer, fast traumwandlerisch ist der zweite Satz in Fis-Dur, und als Finale folgt eine Art rustikaler Tanz, der das Konzert zu einem krönenden Abschluss führt.
Viel später, 1967/68 nämlich, entstand das Violinkonzert Nr. 2 g-moll op. 61. Natürlich sind all die Jahre dazwischen nicht gänzlich spurlos an Wladigerows Tonsprache vorübergegangen: geht das erste Violinkonzert wohl noch als spät(est)romantisch durch, so ist das zweite zwar sicherlich nach wie vor in der romantischen Tradition geschrieben, aber doch ein wenig herber, klassizistischer, in den Harmonien hier und da etwas verschärft. Dabei handelt es sich aber eher um Nuancen als um wirkliche Brüche, und insgesamt frappiert die Kontinuität in Wladigerows Schaffen über fast 50 Jahre. Viele der grundsätzlichen Bemerkungen zum ersten Violinkonzert treffen auch auf das zweite zu. Das betrifft insbesondere die Struktur: auch hier die klassischen drei Sätze, diesmal getrennt voneinander, mit einem ausladenden, leidenschaftlichen Sonatenallegro zu Beginn, einem lyrischen, fast mystischen langsamen Satz und schließlich einem kräftig-robusten Finalsatz, diesmal von Beginn an in der Dur-Tonalität. Folkloristisches Kolorit findet sich wiederum reichlich, und auch hier besticht Wladigerows schillernde, üppige Klangpracht. Bemerkenswert ist zudem, dass Wladigerows Inspiration sich auch in diesem Spätwerk unverbraucht zeigt; ähnlich wie in den Klavierkonzerten bleibt sich Wladigerow über all die Jahre treu, ohne sich zu wiederholen, und leitet aus den über Dekaden im Kern kaum veränderten Fundamenten seiner Musik immer neue Varianten ab.
Auf der zweiten CD ist eine Reihe von kürzeren, konzertstückartigen Werken versammelt. Das einzige Originalwerk ist die Burleske für Violine und Orchester op. 14 (1922), die in ihrem Charakter an das Finale des kurz vorher entstandenen Violinkonzerts Nr. 1 anschließt, aber in etwas reduziertem Rahmen. Dies bezieht sich weniger auf ihren Umfang, doch endet etwa das Konzert triumphal mit machtvoller Akkordik, so ist der Schluss der Burleske verspielter, scherzohafter, weniger sinfonisch. Die übrigen Werke mit solistischer Violine sind Bearbeitungen, zunächst von Werken für Violine und Klavier: dem Horo aus den Bulgarischen Paraphrasen op. 18, einer farbenprächtigen Stilisierung eines bulgarischen Tanzes, sowie der Bulgarischen Rhapsodie „Vardar“ op. 16, beides Werke aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre, wobei die Orchestrierung von Vardar aus den 1950er Jahren stammt. Von Vardar existiert auch eine Fassung für Orchester, und in dieser Version ist die Rhapsodie Wladigerows meistgespieltes und populärstes Werk überhaupt, eine Art Emblem der bulgarischen Musik. Es folgen zwei Arrangements von Orchesterwerken, des Lieds aus der Bulgarischen Suite op. 21 für Violine und Orchester sowie des Schlusssatzes der SiebenBulgarischen Tänze op. 23 für zwei Violinen, Streichorchester und Klavier, beides erneut effektvolle Stilisierungen bulgarischer Folklore (oder zumindest dieser nachempfunden).
Die letzten beiden Tracks der zweiten CD ergänzen das Programm um Wladigerows einzige beide Werke für Violoncello und Orchester. Dabei ist die Elegische Romanze wiederum eine Orchestrierung eines Werks für Violoncello und Klavier aus dem Jahre 1917, ein klangschönes, melancholisch getöntes Genrestück. Freilich ist im Vergleich zu dem nur unwesentlich später entstandenen ersten Violinkonzert bemerkenswert, wie viel an Persönlichkeit und Eigencharakter Wladigerow in so kurzer Zeit hinzugewann: die Romanze ist ein reizvolles, aber eher unspezifisches Frühwerk, das Violinkonzert bereits unverwechselbarer Wladigerow. Ein reifes Werk ist dagegen die einsätzige Konzertfantasie für Violoncello und Orchester op. 35 aus dem Jahre 1941, die sich aus mehreren Teilabschnitten zusammensetzt, wobei in der Totale die Struktur langsam – schnell, also hier vielleicht Lied und Tanz, dominiert. Dieses Werk zeigt alle bekannten Charakteristika von Wladigerows Stil, aber bei aller Virtuosität und Farbenfreude erreicht es doch nicht ganz den Grad der Inspiration der Werke für Violine und Orchester. Ein Grund dafür, dass Wladigerow dem Cello als Soloinstrument offenbar eher weniger nahestand, mag sein, dass die Balance zwischen virtuosem Solopart und Wladigerows üppiger, detailreicher, bunt schillernder Orchestration im Falle des Cellos schwieriger zu realisieren ist als bei Konzerten für Klavier oder Violine. Dankbare, hörenswerte Musik bleibt es allemal.
Die Interpretationen auf dieser CD sind durchwegs ausgezeichnet. Das Violinkonzert Nr. 1 und die Opera 14, 18/1 und 21 werden von Georgi Badew interpretiert, das Violinkonzert Nr. 2 und die übrigen Werke für Violine von Dina Schneidermann (im Falle des Opus 23 zusammen mit ihrem Ehemann Emil Kamilarow), der Cellist ist Wenzeslaw Nikolow. Bemerkenswert ist vor allem die Variabilität und der Facettenreichtum der Interpretationen in Klang und Charakter. Man höre etwa den feinsten lyrischen Schmelz, mit dem Georgi Badew die Kantilene des langsamen Satzes des Violinkonzerts Nr. 1 darbietet, im Vergleich zum rustikalen Tanz des Finales oder der glutvollen, leidenschaftlichen Intensität, mit der Badew das c-moll-Couplet des Finalrondos (etwa ab 4:53) spielt! Überhaupt beeindruckt bei allen Interpreten die Natürlichkeit und Souveränität, mit der das Idiom dieser Musik wiedergegeben wird, u.a. in Form von großzügiger Agogik, die den musikalischen Vortrag frei, oft genug wie improvisiert klingen lässt.
Vergleichsaufnahmen sind in erster Linie zum Violinkonzert Nr. 1 vorhanden. Zwei davon entstanden noch zu Wladigerows Lebzeiten. Besonders hinzuweisen gilt es aber auf die einzige Aufnahme des Konzert aus neuerer Zeit mit Svetlin Roussev, dem Bulgarischen Nationalen Rundfunk-Sinfonieorchester und Emil Tabakow, eine Produktion des Labels Fondamenta aus dem Jahre 2015. In klangtechnischer Hinsicht ist diese Aufnahme natürlich ihren Vorgängern überlegen, aber auch interpretatorisch braucht sie sich nicht zu verstecken, denn gerade die lyrischen Passagen gelingen Roussev vorzüglich. Im direkten Vergleich würde ich der etwas facettenreicheren Badew-Einspielung auf Capriccio leicht den Vorzug geben, und auch der Sturm, der zu Beginn des Kopfsatzes über den Hörer hinwegfegt, strahlt unter dem Dirigat des Sohnes des Komponisten eine noch unmittelbarere Wucht aus. Aber dies sind nur Nuancen, und auch Roussevs Einspielung ist unbedingt empfehlenswert. Interessiert man sich für Wladigerow allgemein, kommt man an der Capriccio-Edition natürlich ohnehin nicht vorbei.
Für die Klangtechnik gilt erneut, dass mit dem Alter der Aufnahmen gewisse Einschränkungen verbunden sind: der prächtige Beginn des Zweiten Violinkonzerts wird bedauerlicherweise durch Artefakte etwas in Mitleidenschaft gezogen, und der Beginn der Elegischen Romanze leiert ein wenig. In der Totale hat das Team von Capriccio aber erneut sehr viel aus den alten Bändern herausgeholt, und man darf sich glücklich schätzen, diese vorzüglichen Aufnahmen in dieser Qualität genießen zu können. Ein weiterer Pluspunkt ist das wiederum detailliert und kenntnisreich informierende Beiheft von Christian Heindl.
Summa summarum also einmal mehr ein wichtiges und mit Nachdruck zu empfehlendes Plädoyer für Wladigerow.
Als Wiederveröffentlichung einer CD des Labels Marco Polo aus dem Jahre 1995 bringt Naxos Nikolai Tscherepnins Ballett „Le Pavillon d’Armide“ neu heraus. Es spielt das Moskauer Sinfonieorchester unter der Leitung von Henry Shek.
Heute werden Sergei Djagilews legendäre Ballets Russes in erster Linie mit Igor Strawinski, Claude Debussy, Maurice Ravel und anderen in Verbindung gebracht. Die erste Spielzeit im Jahre 1909 wurde jedoch mit Musik eines deutlich weniger prominenten russischen Komponisten eröffnet, nämlich Nikolai Tscherepnin (1873–1945) mit seinem Einakter Le Pavillon d’Armide. Choreographiert von Michel Fokine und mit Vaslav Nijinsky in einer der Hauptrollen, feierte dieses Ballett damals einen rauschenden Erfolg und sorgte dafür, dass das neue Ensemble auf einen Schlag große Berühmtheit erlangte.
Dabei war die Wahl des Pavillon d’Armide keinesfalls zufällig, denn erst zwei Jahre zuvor war dieses Ballett am Mariinski-Theater (bereits dort mit Fokine und Nijinsky) aus der Taufe gehoben worden und erfreute sich in Russland großer Popularität. Die Idee zu diesem Werk stammte von Alexandre Benois, seit 1901 szenischer Leiter des Mariinski-Theaters, auf Basis einer Novelle von Théophile Gautier rund um einen Wandteppich, dessen Figuren zum Leben erwachen, als ein Vicomte eine Nacht in besagtem Pavillon verbringt. Auf der Suche nach einem geeigneten Komponisten fiel Benois’ Wahl auf den jungen Tscherepnin, der mit Benois’ Nichte verheiratet war und ohnehin bereits am Mariinski-Theater beschäftigt war. Offenbar war die Komposition bereits 1903 abgeschlossen, aber aufgrund eines Zwists zwischen Benois und dem Direktor des Mariinski-Theaters war an eine Inszenierung zunächst nicht zu denken. Tscherepnin stellte jedoch eine Suite zusammen, die noch 1903 uraufgeführt wurde und in den Folgejahren mit so großen Erfolg gespielt wurde, dass 1907 schließlich doch zunächst ein Teil, wenig später dann das gesamte Ballett inszeniert wurde.
Tscherepnin, ältester Vertreter einer bis heute aktiven Musikerfamilie (sein Sohn Alexander sowie seine Enkel Ivan und Serge waren bzw. sind ebenfalls Komponisten), war Schüler Rimski-Korsakows. Die Stationen seines Lebens waren seine Heimatstadt St. Petersburg, ab 1918 für kurze Zeit Tiflis und schließlich von 1921 bis zum Ende seines Lebens Paris; ein besonderer Schwerpunkt seines Wirkens lag auf seinen Lehrtätigkeiten, so etwa für Dirigieren am St. Petersburger Konservatorium, wo Prokofjew zu seinen Schülern zählte.
In Tscherepnins Œuvre finden sich zahlreiche Genres, ein Schwerpunkt liegt aber zweifelsohne auf Musik illustrativer Natur, und besondere Bekanntheit erlangte er durch seine Ballette. Seine Musik ist längst nicht vollständig diskographisch erschlossen, aber die ersten drei Ballette sind (wenigstens in Teilen) auf CD erschienen, und an ihnen lassen sich Grundzüge und Entwicklung seines Stils recht gut nachvollziehen. Über seinen Erstling, den Pavillon d’Armide, wird noch zu sprechen sein; Narcisse et Echo verrät deutlich seine Begeisterung für französische Musik und den Impressionismus (nicht umsonst wurde er scherzhaft „Debussy Ravelowitsch“ genannt), während Die Maske des roten Todes (auf CD verfügbar in Form der auf dieser Ballettmusik basierenden sinfonischen Fragmente Le Destin) noch einmal deutlich moderner, expressionistischer, von der Harmonik Skrjabins und den damals brandneuen Partituren Strawinskis und Prokofjews geprägt erscheint, die Tonalität wird hier mindestens weit gespreizt. Gleichzeitig verleugnen aber in Teilen selbst diese Partitur und stärker noch Narcisse et Echo nicht, dass hier ein Komponist aus der traditionellen russischen Schule am Werk ist.
In der Tat zeigen die wenigen späteren Werke Tscherepnins, die überhaupt in Aufnahmen erhältlich sind, dass er den Weg in die Moderne offenbar nicht weiterverfolgte, sondern sich eher in Richtung Neoklassizismus bewegte. Man darf Nikolai Tscherepnin somit als einen im Kern traditionell orientierten, modernen Tendenzen gegenüber aber aufgeschlossenen Repräsentanten der russischen Schule seiner Generation betrachten, dessen Schaffen eine Reihe von zeitgenössischen Tendenzen rezipiert, ohne mit seinen Wurzeln zu brechen. Eine besonders ausgeprägte eigene Tonsprache ist dabei eher schwer auszumachen, aber seine stärksten Werke (zu denen seine Ballettmusiken zählen) sind aber fraglos gut gemachte, hörenswerte Musik.
Als das Zeitalter der Schallplatte begann, erfreute sich Le Pavillon d’Armide längst nicht mehr seiner früheren Berühmtheit, aber wenigstens die Suite ist dennoch mindestens zweimal eingespielt worden. Die einzige Möglichkeit, das weitgehend vollständige Ballett zu hören, bietet indes die vorliegende Aufnahme. Ein paar Nummern wurden auch hier ausgelassen (ein entsprechender Hinweis findet sich im Beiheft der CD, nicht jedoch auf Vorder- oder Rückseite), aber im Vergleich zur Suite verdoppelt sich die Spieldauer immerhin. Mitte der 1990er Jahre entstanden und zunächst bei Marco Polo veröffentlicht, ist die Aufnahme nun bei Naxos wieder erhältlich.
Le Pavillon d’Armide ist Tscherepnins erstes Ballett, und von moderneren Einflüssen ist hier noch kaum etwas zu hören. Eigentlich ist nicht einmal der Einfluss von Tscherepnins Lehrer Rimski-Korsakow, der Tscherepnins frühen Werken gerne nachgesagt wird, sonderlich dominant; vielmehr ist Le Pavillon d’Armide vor allem deutlich an den Balletten Tschaikowskis geschult, hier und da hört man auch etwas Glasunow (der ja seinerseits Einflüsse der Gruppe der Fünf und Tschaikowskis vereinigte). In manchen der 15 Nummern tritt die Anlehnung an das Vorbild Tschaikowski besonders offen zutage, so etwa im Grande Valse noble, der (auch melodisch) an den Walzer aus Schwanensee anknüpft; vermisst man hier noch dessen Moll-Abschnitte, so wird man ihre Nachklänge später im Danse des bouffons wiederfinden, dessen Schluss wiederum den Schluss des Czárdás aus Schwanensee zitiert. Dagegen ruft die zweite Nummer, bezeichnet mit Courantes. Danse des heures, eher den Nussknacker in Erinnerung, nicht nur wegen der delikaten Orchestrierung unter Einbeziehung der Celesta. Vor dem Hintergrund all dieser Reminiszenzen verblüfft es umso mehr, wenn man in Bacchus et les bacchantes mit seinen stampfenden Bässen in e-moll auf einmal an Prokofjews Tanz der Ritter aus Romeo und Julia denken mag – vielleicht seinerseits eine Hommage Prokofjews an seinen Lehrer?
In der Gesamtbeschau ist das Ballett eher locker gefügt, auch die vorliegende Fassung besitzt nach wie vor einen gewissen Suitencharakter. Es dominieren kurze Szenen, farbige Tänze und Charakterstudien, die Dramaturgie der Handlung steht demgegenüber eher im Hintergrund. Ein vergessenes Meisterwerk liegt hier sicher nicht vor, wohl aber klangschöne, farbenfrohe und attraktive Musik in der Nachfolge Tschaikowskis.
Die Interpretation durch das Moskauer Sinfonieorchester (gegründet 1989 und eines der Standardensembles von Marco Polo bzw. Naxos) unter der Leitung von Henry Shek ist solide, aber nicht herausragend. Shek lässt diese Musik eher flächig und mit breitem Pinsel spielen, was zu Lasten der Detailarbeit und inneren Spannung der Musik geht. Dies zeigt sich insbesondere im Vergleich zur Einspielung der Suite mit Viktor Fedotow am Pult der Leningrader Philharmoniker (zunächst auf einer Melodija-LP herausgebracht, später auf diversen CDs wiederveröffentlicht). Gleich in der Introduktion lässt Fedotow erheblich nuancierter, akzentuierter und spannungsvoller musizieren; hier fließt die Musik nicht einfach dahin, sondern vollzieht viel stärker die melodischen und dynamischen Linien nach und zeigt zusätzlich zahlreiche Nebenstimmen und harmonische Verläufe auf. So wird dann auch der Sturm, den die Einleitung offensichtlich darstellen soll, deutlich erfahrbarer. Aber auch insgesamt wirkt sich ein solcher Ansatz positiv auf die Musik aus, weil er die dramaturgischen Schwächen der Partitur ein wenig zu kompensieren vermag, während bei Henry Shek vieles zu einheitlich wirkt, korrekt, aber blass und eher temperamentarm. Der Klang der Aufnahme ist (wie viele Aufnahmen aus dem Mosfilm-Studio) prinzipiell gut, aber etwas auf der matten Seite.
Das Beiheft von Keith Anderson (in englischer Sprache) befasst sich neben einigen Eckdaten zu Tscherepnin vorwiegend mit der Entstehungsgeschichte des Balletts und seiner Handlung, die anhand der Tracks dieser CD nachvollzogen wird. Die Musik selbst wird dabei auch angerissen, aber insbesondere die Einordnung von Tscherepnins Tonsprache allgemein gerät zu knapp. Passenderweise ist auf dem Cover ein Gemälde zu sehen, das eine Szene aus einer Inszenierung von Le Pavillon d’Armide (vermutlich der ersten, zumal 1907 als Jahreszahl angegeben ist) zeigt.
Auch mehr als 25 Jahre nach ihrem ersten Erscheinen ist diese Einspielung der (beinahe) vollständigen Ballettmusik ohne Konkurrenz geblieben, und bereits deshalb ist ihre Wiederveröffentlichung zu begrüßen. Vielleicht entschließt sich Naxos ja, auch die Marco Polo-Einspielung zweier Orchestersuiten von Tscherepnins Generationskollegen Sergei Wassilenko (in der gleichen Besetzung) neu aufzulegen; auch dies wäre in Bezug auf den Repertoirewert verdienstvoll.