Archiv der Kategorie: CD-Rezension

Musik für Solocello auf Reisen zwischen den Welten

eda records, EDA 47, EAN: 8 40387 10047 0

Die Cellistin Adele Bitter, Mitglied des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, präsentiert fünf Solowerke für Violoncello aus den Jahren von 1949 bis 1982. Der Titel „crossroads“ reflektiert dabei Herkunft und Lebenswege der Komponisten Sándor Veress, Ursula Mamlok, Marcel Mihalovici, Ahmed Adnan Saygun und Alberto Ginastera.

Wenn Literatur für Solocello bis heute vielleicht ein wenig das Flair des Exotischen umweht, dann sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil es nach einer Reihe von Werken zu Zeiten des Barock (mit Bachs Suiten als zeitlosem Gipfelpunkt) fast zwei Jahrhunderte dauerte, bis das Interesse an dieser Besetzung wieder einsetzte, sieht man einmal von einzelnen Werken komponierender Cellisten wie Alfredo Piatti ab. (Das Cello bildet hier natürlich insofern keine Ausnahme, als dass Musik für unbegleitete Melodieinstrumente aus der Zeit zwischen 1750 bis 1900 generell Seltenheitswert besitzt.) Angefangen mit Werken wie Regers und Courvoisiers Suiten oder Toveys und Kodálys Solosonaten hat Musik für Cello allein im 20. Jahrhundert jedoch einen enormen Aufschwung erlebt, der bis zum heutigen Tag anhält, und so besteht in der Summe wahrlich kein Mangel an Repertoire. Sicherlich ist es dabei nötig, auch etwas abseits der hinlänglich bekannten Namen zu graben, aber wenn man dazu bereit ist (und dabei Dutzende von ausgesprochen fähigen Komponisten mit oft genug bemerkenswert persönlicher Tonsprache findet!), dann kann man eigentlich beinahe aus dem Vollen schöpfen.

In dieser Hinsicht ist die neue CD der Cellistin Adele Bitter ausgesprochen verdienstvoll, denn hier werden gleich fünf solcher Werke für Solocello von fünf verschiedenen Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts präsentiert. All diesen Komponisten ist dabei gemein, dass sie einen Teil ihres Lebens außerhalb ihres Heimatlands verbrachten. Der Ungar Sándor Veress etwa lebte von 1949 bis zu seinem Tode im Schweizer Exil, wo auch der Argentinier Alberto Ginastera die letzten rund zehn Jahre seines Lebens verbrachte. Marcel Mihalovici, gebürtiger Rumäne, ließ sich zunächst zu Studienzwecken in Paris nieder, der Stadt, die dabei zu seiner Wahlheimat wurde, unterbrochen lediglich von einem fünfjährigen Exil in Cannes während der deutschen Besatzung (Mihalovici war jüdischen Glaubens). Die Berlinerin Ursula Mamlok wiederum flüchtete 1939 ebenfalls vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Judenverfolgung nach Amerika und verbrachte den Großteil ihres Lebens in den USA, bevor sie für ihre letzten zehn Lebensjahre doch wieder nach Berlin zurückkehrte. Nur im Falle des Türken Ahmed Adnan Saygun kann man nicht von Emigration sprechen: seine per staatlichem Stipendium ermöglichten Studien in Paris stehen in Zusammenhang mit den ehrgeizigen (und erfolgreichen) Programmen zur Etablierung eines Kulturlebens westlicher Prägung in der jungen türkischen Republik in den 1920er Jahren. Bewegte Lebensgeschichten also, wesentlich geprägt von den politischen Umständen des 20. Jahrhunderts, und dies ist es auch, worauf der Titel der CD, „crossroads“ also, anspielt.

Natürlich sind Bachs Solosuiten der Klassiker des cellistischen Solorepertoires schlechthin, und auf der vorliegenden CD ist es die 1949 entstandene Solosonate op. 60 von Marcel Mihalovici (1898–1985), die sich am deutlichsten auf dieses Vorbild bezieht. Mihalovici, Schüler von d’Indy und Le Flem sowie Ehemann der Pianistin Monique Haas, greift Melos und Rhetorik der Bach’schen Suiten ganz bewusst auf, gestaltet seine Sonate wenigstens teilweise durchaus suitenhaft (fünf Sätze zu je drei bis fünf Minuten) und lehnt sich auch in der tonalen Homogenität an Bach an (alle Sätze enden in c-moll). Selbstverständlich geht es Mihalovici aber nicht darum, Bach lediglich zu kopieren, und so kontextualisiert er die barocke Rhetorik neu, schön zu beobachten etwa im langsamen vierten Satz, der den Charakter Bach’scher Sarabanden mit einer Melodik kombiniert, der etwas von einem volkstümlichen Klagelied innewohnt. Auch die tonale Struktur ist bei näherem Hinsehen differenzierter: ist der erste Satz noch ganz in c-moll gehalten, so gehen die späteren Sätze zunächst von anderen tonalen Zentren aus und beschreiben Bögen, die am Ende dann doch wieder zur faktischen Grundtonart der Sonate zurückführen. Ein sehr schönes und interessantes Werk, das hier offenbar sogar erstmals aufgenommen wurde.

Ebenfalls suitenhaft angelegt ist die Partita op. 31 des großen türkischen Komponisten Ahmed Adnan Saygun (1907–1991), 1955 entstanden und dem Andenken Friedrich Schillers gewidmet. Saygun, eines der prominentesten Mitglieder der Türkischen Fünf, jener Gruppe etwa gleichaltriger Tonkünstler also, die als die ersten professionellen türkischen Komponisten gelten dürfen, bezieht sich in seiner Partita nicht direkt auf Bachs Idiom; Bach steht hier vielmehr Pate für die Umwandlung von (in diesem Falle eben türkischer) Tanzmusik in Soloformen. Florian Schuck weist im Beiheft zurecht darauf hin, dass der vierte Satz sicherlich der „westlichste“ des Werks ist, eine Art Siciliano im phrygischen Modus. Hier darf man sicherlich eine Parallele zum dritten Satz seiner nur wenige Jahre zuvor entstandenen Ersten Sinfonie ziehen, der in ganz ähnlicher Weise Menuett und türkische Folklore miteinander kombiniert. Am Rande sei angemerkt, dass Saygun auch ein ganz wundervolles Cellokonzert komponiert hat, ein lyrisch-melancholisches Spätwerk aus dem Jahre 1987.

Die anderen drei Werke auf der CD bedienen sich der Zwölftontechnik, die allerdings teils sehr frei gehandhabt wird, so etwa in der 1967 entstandenen Solosonate von Sándor Veress (1907–1992), einem intensiven, ausdrucksstarken Werk in drei Sätzen. Veress, Student von Bartók und Kodály, fand im Schweizer Exil zu einer eigenen Lesart der Dodekaphonie, die insbesondere auch Einflüssen ungarischer Folklore gegenüber offen ist und so trotz moderneren Vokabulars sehr wohl in Kontinuität zu seinen frühen Werken steht. Interessanterweise kann man bei seiner Solosonate stellenweise an die Solosonate seines eigenen Schülers György Ligeti denken (beide Werke beginnen überdies mit einem Dialogo). Ob Veress dieses Werk, dessen Rezeptionsgeschichte eigentlich erst 1979 wirklich begann, gekannt hat, erscheint aber eher fraglich, aber sowohl der frühe Ligeti als auch der reife Veress beziehen sich natürlich insbesondere auch auf Bartók und Kodály.

Wie Veress kombiniert auch der Argentinier Alberto Ginastera (1916–1983) zwölftönige Verfahren mit Folklore, im Falle seiner für Rostropowitsch komponierten Puneña Nr. 2 op. 45 (1976) besonders der präkolumbianischen Zeit (was natürlich zumindest teilweise hypothetisch zu verstehen ist: hier geht es nicht um Rekonstruktion, sondern eher um Imagination, Beschwörung). Das Resultat ist ein phänomenal farbenreiches Diptychon aus Liebeslied und wildem Tanz, in welchem das Cello unter anderem die Klänge von Flöten, Trommeln, aber auch Gitarren suggeriert. Ohne Folklorebezüge, aber wiederum mit einer eigenen Variante von Dodekaphonie kommen schließlich Ursula Mamloks (1923–2016) konzise Fantasy Variations aus dem Jahre 1982 daher, konzentrierte, facettenreiche, manchmal allerdings vielleicht ein wenig spröde Musik.

Natürlich ist bei einer solchen Zusammenstellung allein schon Adele Bitters Pioniergeist hervorzuheben, aber auch an ihren Darbietungen selbst gibt es vieles zu loben. Ihr Ton ist insgesamt kraftvoll und agil, und zahlreiche Details werden sorgfältig herausgearbeitet. Bitters Interpretation von Mihalovicis Sonate ist wie erwähnt offenbar konkurrenzlos und besticht insbesondere durch ihre an der Beschäftigung mit barocker Musik geschulte Gestaltung von Phrasen, eine „sprechende“ Darbietung. Sayguns Partita hat erst jüngst verstärkt Aufmerksamkeit gefunden; im Vergleich etwa zu Sinan Dizmens solider Lesart bietet Bitter die deutlich variablere, dramatisch akzentuiertere, in den Details z. B. der Artikulation feiner gearbeitete und dadurch charaktervollere Einspielung (exemplarisch z. B. am vierten Satz nachzuvollziehen). Sayguns Musik ist kontrastreich, oft von unerwarteten Wendungen geprägt (man vergleiche etwa den plötzlichen Wechsel nach Des ganz am Endes des zweiten Satzes), was sich in späten Werken wie der Fünften Sinfonie noch verstärkt, reich an Farben, die aber in der Regel eher dem dunkleren Spektrum angehören, immer auch etwas zurückgenommen-hintergründig, und diese Typika fängt Bitter insgesamt sehr gut ein.

Veress’ Sonate ist u. a. von Miklós Perényi (Hungaroton) eingespielt worden. Unterschiede (durchaus reizvoller Natur, denn die Sonate erlaubt verschiedene Lesarten) ergeben sich dabei bereits durch den Ton beider Cellisten: Perényi ist für sein feines, nuancenreiches Spiel bekannt, Bitter ist im Vergleich zupackender, unmittelbarer. Wo Perényis Interpretation allerdings ihre Vorzüge hat, ist in der Gestaltung größerer Zusammenhänge, etwa der wiegenden Figuren im Mittelteil des ersten Satzes, die er konsequenter in den Gesamtzusammenhang integriert, besonders aber im Finale, das er im Wesentlichen als Perpetuum mobile realisiert, während der Satz in Bitters Interpretation manchmal etwas zu episodisch wirkt. Ginasteras Puneña hat u. a. auch Maximilian Hornung auf CD herausgebracht; seine Interpretation wirkt erst einmal brillanter, virtuoser als Bitters, die aber wiederum in der expressiven Ausgestaltung etwa der Gesangslinien des ersten Satzes sehr wohl ihre Meriten hat. Ein ähnliches Bild ergibt sich im zweiten Satz, der bei Bitter eine fast rituelle Dimension erhält, etwas zu beiläufig dann allerdings der Schluss.

Ein besonderes Lob gebührt Florian Schucks ausführlichem, mit gründlich recherchierten Hintergrundinformationen aufwartendem, Details und Charakteristika der Musik auch jenseits des Offensichtlichen exzellent erläuterndem Begleittext. Auch Adele Bitter selbst hat ein persönlich gefärbtes, ansprechendes Geleitwort beigesteuert. Insgesamt fällt an der Präsentation der CD die Priorität, die hier der Musik selbst, den Komponisten und ihren Werken eingeräumt wird, sehr angenehm auf. Das Label eda records wird manchem Musikliebhaber übrigens noch unter seinem alten Namen Edition Abseits ein Begriff sein.

Jedem, der sich für Musik für Solocello aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts interessiert, sei dieses Album unbedingt empfohlen.

[Holger Sambale, Juli 2022]

Mustergültiges Martin-Requiem mit Leif Segerstam

Capriccio C5454; EAN: 8 45221 05454 4

Vom immer noch stark unterschätzten Requiem des schweizerischen Komponisten Frank Martin gab es bislang lediglich zwei Aufnahmen aus Kirchen. Nun brachte Capriccio die immerhin schon 43 Jahre alte, musikalisch ganz vorzügliche Produktion des ORF mit Leif Segerstam aus dem Wiener Musikverein auf den Markt, gekoppelt mit Janáčeks ebenfalls selten zu hörendem „Vaterunser“.

Frank Martin (1890–1974), der gerne auch seine eigenen Werke dirigierte, gehörte bis zu seinem Tode durchaus zu den meistgespielten zeitgenössischen Komponisten in Europa. Leider teilt er mit etlichen anderen Kollegen das etwas unverständliche Schicksal, danach relativ schnell aus dem Fokus des öffentlichen Interesses geraten zu sein – trotz des ungemein hohen Niveaus seines Schaffens. Als einer der wenigen Komponisten vermochte er, noch aus der Tradition der Spätromantik und des Impressionismus kommend, ein relativ stabiles harmonisches Fundament mit teils zwölftönigen Techniken in Einklang zu bringen. Die expressive Kraft von Martins Musik kommt vor allem in seinen Vokalwerken zum Tragen. Das 1971/72 entstandene Requiem hat der Komponist 1973 noch selbst in Lausanne zur Uraufführung gebracht (der Mitschnitt ist auf Jecklin nach wie vor erhältlich). Martin schreibt zu seinem Alterswerk: „Was ich hier versucht habe auszudrücken, ist der klare Wille, den Tod anzunehmen, den Frieden mit ihm zu machen.“ Mit relativ sparsamen Mitteln – etwa nur 2-faches Holz – wird dennoch ein eindrucksvolles Bekenntnis von enormer Energie abgelegt, das sich mühelos mit den bedeutendsten, dabei doppelt so langen Requiem-Vertonungen messen lassen kann.

Über Strecken dominiert – sowohl bei den Solisten wie im Chor – eine monodische Behandlung des Gesanges mit deutlichster Textverständlichkeit und empathischer Ausdeutung: Man höre nur den Beginn des Dies irae, wo nach dem bedrohlichen Einschleichen eines unheimlichen Schauders, der offensichtlich nicht von dieser Welt stammen soll (Schlagwerk plus Glissandi in Posaunen und Streichern), der Chor zunächst nur sprechend den „Tag des Zorns“ artikuliert; erst ab dem Tuba mirum bricht der Schrecken so richtig los. Dass Martin ebenfalls kontrapunktische Komplexität virtuos beherrscht, zeigt er uns im Kyrie. Ungewöhnlich, wie das abschließende Lux aeterna durchgehend im Fortissimo gehalten wird: alles in allem ein höchst persönliches Meisterwerk.

Die CD ist sicher als Hommage an den ehemaligen Chefdirigenten (1975–1982) des ORF Radio-Symphonieorchesters, Leif Segerstam, gedacht – dessen immer berstend zupackendes Musizieren sich auch hier wieder direkt auf die Zuhörer überträgt. Seine Solisten sind ausgezeichnet, neben der belgischen Altistin Ria Bollen, die schon bei der Uraufführung dabei war, vor allem ein stimmlich überzeugender Claes H. Ahnsjö und ein kraftvoller Robert Holl. Lediglich Jane Marsh neigt in der Höhe ein wenig zur Schärfe. Der Wiener Jeunesse Chor ist hochpräzise, aber letztlich zurückhaltender als die Kräfte aus Lausanne, die sich teils die Seele aus dem Leib zu singen scheinen. Die sorgfältig ausgearbeiteten Details erscheinen bei Segerstam und seinem Orchester mustergültig, was natürlich so nur im Konzertsaal gelingen mag. Deswegen ist für das Stück die neue CD ab jetzt musikalisch erste Wahl. Interessant, dass sich die Dirigenten aller drei nun verfügbaren Einspielungen bei der Tempowahl sehr einig sind und sich ziemlich exakt an die Vorgaben der Partitur halten. Aufnahmetechnisch übertrifft der Wiener Mitschnitt zwar nicht die für eine Kirche erstklassige Leistung von Jecklin aus der Kathedrale in Lausanne, ist jedoch um Klassen besser als einige leider – nur technisch! – recht misslungene Dokumente mit Segerstam von den Salzburger Festspielen. Klanglich bleibt für das Martin-Requiem allerdings die digitale Aufnahme aus der Kirche St. Georg, Stein am Rhein, unter Klaus Knall der Geheimtipp.

Leoš Janáčeks Vaterunser (Otčenáš) für Tenor, Chor, Orgel und Harfe von 1901/06 vertont nicht etwa das komplette Gebet, sondern bezieht sich auf fünf Gemälde des Polen Józef Męcina-Krzesz, die für eine Benefiz-Veranstaltung als „lebende Bilder“ umgesetzt wurden. Für Stammgäste der Wiener Staatsoper vielleicht nichts Neues – jedoch kennt man den Tenor Heinz Zednik auf Operngesamtaufnahmen fast ausschließlich im Charakterfach. Wie herrlich lyrisch er seine Stimme auch einsetzen konnte, beweist er hier (1987) geradezu exemplarisch. Allein deshalb sollte man diese gelungene Darbietung nicht missen.

Vergleichsaufnahmen (Martin): Capella Cantorum Konstanz, Collegium Vocale Zürich, Musicuria, Bläserensemble der Basel Sinfonietta – Klaus Knall (MGB CD 6183, 1999); Union Chorale et chœur de dames de Lausanne, Groupe vocal «Ars Laeta», Orchestre da la Suisse Romande – Frank Martin (Jecklin-Disco JD 631-2, 1973)

[Martin Blaumeiser, Juni 2022]

Ein außerordentlicher Kammermusikabend mit dem Quartet Berlin-Tokyo

Besprechung des Konzerts:

Berlin, Konzerthaus, 12. Juni 2022

  • Kurt Hauschild: Streichquartett Nr. 5 D-Dur
  • Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 11 f-Moll op. 95
  • Boris Yoffe: fünf Stücke aus dem Quartettbuch
  • Gawriil Popow: Quartett-Symphonie c-Moll op. 61

Quartet Berlin-Tokyo

Zugleich Vorstellung der CD:

  • Erwin Schulhoff: Fünf Stücke für Streichquartett
  • Gawriil Popow: Quartett-Symphonie c-Moll op. 61

QBT Collection, QBT 001; EAN: 0 048544 807747

Es gibt Konzerte, die man nicht vergisst, Konzerte, in denen man als Zuhörer einer solch überragenden künstlerischen Leistung teilhaftig wird, dass das Erklungene als ein beständiges Echo im Gedächtnis nachklingt. Der Kammermusikabend, den das Quartet Berlin-Tokyo am 12. Juni 2022 im Berliner Konzerthaus gegeben hat, war ein solches Konzert. Das Quartett – Tsuyoshi Moriya und Dimitri Pavlov an den Violinen, Gregor Hrabar an der Bratsche und Ruiko Matsumoto am Violoncello – präsentierte ein von echtem Entdeckerspürsinn zeugendes Programm, dem kein besonderer Titel beigegeben war, durch das sich jedoch erkennbar ein roter Faden zog. Alle hier zusammengebrachten Werke sind nicht in Hinblick auf die Öffentlichkeit entstanden, sondern dokumentieren den Zustand einer (freiwilligen oder erzwungenen) Zurückgezogenheit. Es handelt sich, um es mit einem Werktitel des hier nicht vertretenen Jean Sibelius zu sagen, um „Voces intimae“.

Der Ost-Berliner Kurt Hauschild (1933–2022) schrieb sein Fünftes Streichquartett, wie alle seine zu DDR-Zeiten komponierten Werke, abseits des öffentlichen Musikbetriebs. Ludwig van Beethoven betrachtete sein Quartett op. 95 als ein so privates Dokument, dass er es zunächst nur engsten Freunden zeigte und sich erst nach sechs Jahren zur Veröffentlichung entschließen konnte. Die Stücke aus Boris Yoffes (*1968) Quartettbuch sind musikalische Tagebuchaufzeichnungen im wahrsten Sinn des Wortes. Gawriil Popows (1904–1972) Quartett-Symphonie op. 61 entstand zu einer Zeit, als die Lenker der sowjetischen Kulturpolitik dem ehemals sehr erfolgreichen Komponisten längst nur noch der Rang einer Randfigur des Musiklebens zugestanden.

Vier unterschiedliche Geisteswelten hat das Quartet Berlin-Tokyo in diesem Konzert durchschritten. In jedem Falle bewundern muss man die Meisterschaft der vier Instrumentalisten im kammermusikalischen Zusammenspiel. Wir haben es hier mit einem Ensemble zu tun, in dem ausnahmslos alle Mitglieder vortreffliche Musiker sind. Keines steht hinter den übrigen zurück, keines spielt sich zu Ungunsten der anderen in den Vordergrund. Im Gegenteil: Jede Stimme ist ein ausgeprägter Charakter, der, wenn der Komponist es verlangt, die Führung übernehmen kann – aber noch bemerkenswerter erscheint, wie gut sie alle aufeinander hören. Die Vier lassen einander Raum zum Atmen, dann spornen sie sich wieder gegenseitig zu Höchstleistungen an. Man hört einen auf allen Ebenen gleichermaßen kräftig und prägnant durchgebildeten Quartettklang.

Bei zeitgenössischer Musik muss man sich heutzutage bekanntlich auf einiges gefasst machen, doch ist dem Ensemble mit Kurt Hauschilds Streichquartett Nr. 5 tatsächlich eine Überraschung gelungen. Hauschild, der im Brotberuf als Mathematiker arbeitete und seine Kompositionen erst nach 1989 öffentlich spielen ließ, suchte nämlich zum Komponieren das Rokoko als geistiges Refugium auf und schrieb Musik, als wäre seit den Tagen Joseph Haydns keine Zeit vergangen. „Ja, darf man denn das?“, hat sich vielleicht der eine oder andere Zuhörer gefragt. Ja, natürlich darf man – namentlich, wenn man sich so gut in den Stil dieser Epoche eingelebt hat und im sicher beherrschten Quartettsatz ansprechende Gedanken so gewandt verarbeiten kann, wie Hauschild dies vermochte. Die Mandolinenimitationen des Finales zeugen zudem von einem an Haydn gemahnenden Humor. Ich habe beim Anhören dieses Werkes an den trefflichen Weimarer Komponisten und Pädagogen Reinhard Wolschina denken müssen, dessen Musik freilich ganz anders klingt, der aber seine Schüler zu fragen pflegt, ob die Musik, die sie schreiben, auch die Musik ist, die sie selbst hören wollen. Kurt Hauschild hat offenbar Musik geschrieben, die er selbst hören wollte. Wer möchte es ihm verübeln? Dass sich das Quartet Berlin-Tokyo dem Werk mit hörbarem Vergnügen gewidmet hat, ist jedenfalls als ein Glücksfall für den Komponisten zu bezeichnen, und man kann nur bedauern, dass er das Konzert nicht mehr erleben konnte.

In Beethovens f-Moll-Werk op. 95 zeugten namentlich die kantablen Stellen von der Sorgfalt, mit der das Quartett zu Werke geht. So gelang im dritten Satz der Kontrastabschnitt sehr schön. Man hörte hier einen wirklichen „Chorgesang“ der drei Unterstimmen, den der Primgeiger dezent mit Achtelfigurationen zu begleiten verstand. Auch der langsame Satz mit seinen längeren fugierten Abschnitten befand sich in guten, polyphonieerprobten Händen. Im Übrigen zeichneten die Musiker das Bild eines heftigen, cholerischen, zwischen Extremen hin- und hergerissenen Beethoven. Die Hauptthemen des ersten und dritten Satzes wurden betont scharfkantig artikuliert. Das Finale war deutlich mehr Agitato als Allegretto. Auch den Kopfsatz hörte man in rasantem Tempo. Geschah dies, wie es in jüngerer Zeit zur Mode geworden zu sein scheint, unter dem Eindruck der nachträglich vom Komponisten hinzugefügten, in ihrer Aussagekraft fraglichen Metronomisierungen? Freilich ist es eine Leistung, in solch hoher Geschwindigkeit so sauber zu spielen, wie es das Quartett tat, doch zeigte sich an einzelnen Stellen die Problematik des Geschwindigkeitsrauschs. So gelang es den Musikern weder in der Exposition, noch in der Reprise des Kopfsatzes die Überleitung zum Seitenthema schlüssig darzustellen: Das abrupte Bremsen wirkte seltsam unentschieden.

Die fünf Stücke aus Boris Yoffes Quartettbuch bildeten das ruhige Intermezzo des Abends. Yoffe, der sich mit seinem 2014 erschienenen Buch Im Fluss des Symphonischen den Ruf eines vorzüglichen Kenners sowjetischer Symphonik erworben hat, konzentriert sich als Komponist auf kleine Formen. Im Falle der Quartettstücke kann man durchaus sagen: kleinste Formen, denn die im Konzert erklungenen dauern zusammengenommen nur rund fünf Minuten. Das Quartettbuch ist anscheinend ein veritables Tagebuch, das täglich um ein neues Stück wächst. Die vom Quartett ausgewählten Nummern Bell, Sunshine, Rain, Far und Visit machten den Eindruck, als hätten den Komponisten beim Verfassen derselben mehr oder weniger die gleichen Gedanken beherrscht. Sie sind alle karg, leise, langsam und im Hinblick auf die Harmonik nicht sonderlich dissonant, und man fragt sich, ob eine andere Auswahl vom Komponisten Boris Yoffe vielleicht einen umfassenderen Eindruck geliefert hätte.

Eindeutig der Höhepunkt des Abends war die Aufführung des einzigen Streichquartetts von Gawriil Popow, dem der Autor den Titel Quartett-Symphonie gab. Popow hatte in den 1920er Jahren seine Laufbahn erfolgversprechend begonnen: Er galt als einer der begabtesten Komponisten der jungen Sowjetunion, und seine Frühwerke sorgten für ein vergleichbares Aufsehen wie diejenigen seines Freundes Dmitrij Schostakowitsch. Diese Phase seines Schaffens gipfelte in der Ersten Symphonie, einem ungeheuer ausdrucksstarken, düster gestimmten Werk in hochgradig dissonanter Harmonik, das sich seit seiner Wiederentdeckung vor einigen Jahren berechtigter Wertschätzung als eines Höhepunkts des sowjetischen „Futurismus“ in der Musik erfreut. Nach seiner Uraufführung 1935 wurde das Werk von der Leningrader Zensur als Ausdruck „der Ideologie uns feindlich gesinnter Klassen“ verboten – ein Vorbeben des großen Scherbengerichts, das von der Partei 1936 anlässlich von Schostakowitschs Lady Macbeth von Mzensk veranstaltet wurde. Über Popows späteres Schaffen hat sich eine Legende gebildet, derzufolge ein genialer Komponist durch die stalinistische Kulturpolitik einerseits, durch Alkoholismus anderseits künstlerisch zerstört worden sei. In beiden Punkten wurden Tatsachen zu Ungunsten Popows überspitzt. In der Tat war die Verurteilung durch die Kommunistische Partei ein Gewaltakt, der den Komponisten schwer traf. Popow komponierte danach nicht mehr so wie zuvor. Er wurde von Seiten der Musikfunktionäre argwöhnisch beobachtet, und konnte im Konzertsaal nie wieder an seine früheren Erfolge anknüpfen. Allerdings muss Behauptungen, er sei ein Konformist geworden, der sein Talent letztlich im Alkohol ertränkt habe, entschieden entgegengetreten werden. Popow mag in späteren Jahren dem Trunk verfallen sein, doch hatte dies offensichtlich keine spürbaren Auswirkungen auf seine Schaffenskraft. Man kann nicht einmal sagen, seine Produktivität habe in quantitativer Hinsicht darunter gelitten: Ein kurzer Blick in die im Netz verfügbaren Werkverzeichnisse (deutsche, englische, russische Wikipedia) zeigt, dass er bis an sein Lebensende kontinuierlich komponierte. Und die Qualität? Wurde der geniale Modernist zu einem linientreuen Verfertiger staatstragender Propaganda? Ein hübsches Beispiel, wie durch – hier sicherlich unbeabsichtigte – Verdrehungen von Daten Erzählungen fabriziert werden, welche suggerieren, dergleichen sei der Fall gewesen, bietet ein Text des US-amerikanischen Kritikers Alex Ross, in welchem es heißt: „Popov, exploding with talent but lacking that eerie detachment from his creative self, collapsed under the outward pressure. He felt obligated to produce programmatic Socialist-Realistic pieces on a regular basis (Komsomol Is The Chief of Electrification).“ Ein Blick ins Werkverzeichnis verrät, dass die genannte Filmmusik-Suite aus dem Jahre 1931 stammt! Popow ist bei weitem nicht der einzige sowjetische Komponist gewesen, der seinen Lebensunterhalt wesentlich durch Filmmusik bestritt – vor wie nach seiner Verdammung. Immer noch in Russland populär ist sein Lied Schwarzer Rabe aus der Musik zum Film Tschapajew (1934). Nun finden sich unter Popows Werken auch „vaterländische“, „heroische“ und „festliche“ Kompositionen (die Zweite, Dritte und Sechste Symphonie heißen explizit so), aber dieser Umstand sollte niemanden überraschen, der einigermaßen mit der Musikgeschichte der Sowjetunion – und speziell mit den Werkverzeichnissen von Prokofjew, Schostakowitsch, Chatschaturjan – vertraut ist. Hört man die besagten Symphonien Popows, so kommt man nicht umhin, festzustellen, dass der Komponist zwar seine Harmonik etwas entschärft hat, aber handwerklich virtuos in einem ausgeprägten Personalstil schreibt, in welchem sich auffallend viele Charakterzüge aus seiner Frühzeit erhalten haben. Als Orchesterkomponisten reizte es ihn offensichtlich, „kammermusikalisch“ zu schreiben und reduzierte Besetzungen zu verwenden. So ist seine Dritte Symphonie ein reines Streichorchesterwerk, und die Sechste enthält zahlreiche Passagen nur für Bläser (Nr. 4 ist gar für A-cappella-Chor geschrieben!). Anderseits hatte Popow eine Vorliebe für Kammermusik, die sich an der Grenze zum Orchestralen bewegt. So finden sich unter seinen Werken ein Oktett, ein Septett, das ausdrücklich als Kammersymphonie bezeichnet ist, und ein Quintett für Flöte, Klarinette, Trompete, Violoncello und Kontrabass.

Verwundert es vor diesem Hintergrund noch, dass er sein 1951 komponiertes Streichquartett op. 61 als Quartett-Symphonie konzipierte? Popow schreibt hier tatsächlich Klänge, die den Eindruck erwecken, kein Solistenensemble, sondern ein Orchester aus vier Streichern vor sich zu haben. Auch hinsichtlich der Spieldauer strebt das viersätzige Werk in symphonische Weiten. Die Aufführung nimmt beinahe eine Stunde in Anspruch, von welcher der erste Satz allein bereits 25 Minuten dauert. Stilistisch komponiert Popow hier ebenso eigen wie in seinen Symphonien. Er ist wiederholt mit Schostakowitsch verglichen worden, doch haben beide Komponisten – abgesehen von der Tatsache, dass sie der gleichen Generation angehören, der gleichen Tradition entstammen und ihre Biographien Parallelen aufweisen – letztlich nicht allzu viel miteinander gemeinsam. Ihre Musik zeigt, wie unterschiedlich Künstler auf vergleichbare Situationen reagieren können. Schostakowitsch erscheint als das Urbild eines psychologisierenden Komponisten. In seiner Musik zeichnet er bestimmte psychische Zustände in Tönen nach. Wenn er davon spricht, seine Fünfte Symphonie thematisiere „das Werden der Persönlichkeit“, so ist das keineswegs nur eine Phrase im Sinne der staatlichen Kulturdoktrin. Seine Musik handelt von den Empfindungen des Menschen in der Gesellschaft. Popow erscheint dagegen als ein musikalischer Landschaftsmaler. Eine Pastorale Symphonie von Schostakowitsch erscheint schwer vorstellbar. Popow hat eine solche mit seiner Fünften vorgelegt („eine wunderbare Welt der Natur ohne Menschen“ nennt sie Boris Yoffe treffend), und bereits seine Zweite, die Vaterländische, lässt sich als in Tönen geschaffene Landschaft bezeichnen.

Auch die „Symphonie“ für Streichquartett enthält viel „Landschaftliches“, „Naturfrommes“, das man bei Schostakowitsch so kaum finden wird. Im Kopfsatz hat Popow einen allmählichen Beruhigungsprozess auskomponiert: Von der Hektik des Anfangs, die tatsächlich etwas an Schostakowitsch gemahnt (dessen ein Jahr später entstandenes Fünftes Quartett recht ähnlich beginnt), gelangt die Musik in mehreren Stufen (die den Stationen der Sonatenform entsprechen) zur Gelassenheit der letzten Minuten des Satzes. An zweiter Stelle folgt ein kürzeres Stück, das in etwa die Waage zwischen einem Elfenspuk-Scherzo und einem elegischen Walzer hält. Der langsame dritte Satz beginnt mit einer verhaltenen Melodie, in welche, beinahe wie Lockrufe, Volksliedintonationen hineinklingen. Der Satz wird im Folgenden immer lebhafter und tänzerischer, kehrt dann zur Stimmung des Anfangs zurück, schließt aber mit einer feierlichen Coda. Das Finale, das anders als die übrigen Sätze von Anfang an in Dur steht, ist mit „Allegro giocoso“ überschrieben, beginnt aber introvertiert und sehr kantabel und nimmt erst nach und nach energischen Charakter an. Der letzte Abschnitt des Satzes, nach dem langsamen Mittelteil, ist eine einzige große Steigerung über mehr als fünf Minuten und bezieht auch Themen früherer Sätze ein – ein Triumph des Symphonikers Gawriil Popow!

Das Quartet Berlin-Tokyo wurde auf dieses Werk durch Boris Yoffe aufmerksam gemacht, der in seinem oben erwähnten Buch Popow ausführlich würdigt. Die Quartett-Symphonie wurde in der für sowjetische Komponisten im Allgemeinen schweren Zeit zwischen dem zweiten großen Scherbengericht (1948) und Stalins Tod (1953) komponiert. Zwar konnte Popow erreichen, dass das Werk bereits kurz nach seiner Vollendung uraufgeführt wurde, doch teilte es anschließend das Schicksal vieler anderer Kompositionen seines Autors und blieb jahrzehntelang unbeachtet – bis zur Ersteinspielung auf CD durch das Quartet Berlin-Tokyo, auf welche aufmerksam zu machen der Zweck des Konzerts im Berliner Konzerthaus war. Die Musiker haben sich während der von den Covid-19-Restriktionen geprägten Monate, als zwar Proben, aber keine Konzerte möglich waren, aufs Intensivste mit dem Stück auseinandergesetzt, es immer wieder gespielt, Aufnahmen davon gemacht und kritisch abgehört, sodass sie es sich schließlich voll und ganz zu eigen gemacht haben. Sie spielten das Werk, das gewiss nicht einfach zu meistern ist, mit einer Selbstverständlichkeit und erhabenen Leichtigkeit, die Staunen machte. Man hatte nicht mehr den Eindruck, als würden da mit Bögen und Fingern den Streichinstrumenten Töne abgewonnen: die Musik entstand im Hier und Jetzt wie von allein und entfaltete sich unaufhaltsam vom Anfang ausgehend in weitem Bogen hin zum Schluss. Wer an diesem Abend im Konzerthaus anwesend war, wurde einer großen Aufführung teilhaftig, wie man sie wahrlich nicht alle Tage erlebt! Glücklich das vergessene Werk, das so aus seinem Dornröschenschlaf wachgeküsst wird!

Das Quartet Berlin-Tokyo hinterließ übrigens nicht nur musikalisch einen hervorragenden Eindruck, sondern wirkte auch menschlich durch seine Kommunikation mit dem Publikum sympathisch. Bratschist Gregor Hrabar trat vor jeder Nummer des Programms nach vorn und sprach ein paar einleitende Worte zum jeweiligen Werk und zur Beziehung, die das Quartett zu ihm aufgebaut hat. Am Schluss gab es als Zugaben zwei kurze Stücke von Erwin Schulhoff und Alexander Glasunow (Orientale aus den Novelletten op. 15). Ersteres gehörte zu Schulhoffs Fünf Stücken für Streichquartett, die das Quartett auf der gleichen CD eingespielt hat wie Popows op. 61, und dies ebenso meisterlich, mit ebensolcher Hingabe. Die CD ist eine Eigenproduktion des Ensembles und unter dem Label „QBT Collection“ erschienen. Ausdrücklich sei hier auf sie hingewiesen, und damit der Wunsch verbunden, dass das Quartet Berlin-Tokyo die Musikwelt mit weiteren so gelungenen Aufführungen und Aufnahmen beehren möge.

[Norbert Florian Schuck, Juni 2022]

Weltersteinspielungen aus dem späten Russischen Reich und der Emigration

Naxos, 8.574116; EAN: 7 47313 41167 2

Das Brahms-Trio mit Natalija Rubinstein (Klavier), Nikolai Satschenko (Violine) und Kirill Rodin (Violoncello) stellt in der fünften Folge seiner CD-Reihe zur Geschichte des russischen Klaviertrios drei Weltersteinspielungen aus der Zeit des späten Russischen Reichs vor. Die Trios von Vladimir Dyck und Constantin von Sternberg entstanden dabei in der französischen bzw. amerikanischen Emigration, das von Sergei Juferow ist ein dezidiert elegischer Gattungsbeitrag in der Tradition Tschaikowskis.

Mit der vorliegenden fünften Folge findet die kleine Anthologie des Brahms-Trios zur Geschichte des russischen Klaviertrios bis zur Oktoberrevolution ihren Abschluss. Einmal mehr sei angemerkt, dass hier keine Gesamteinspielung sämtlicher Klaviertrios russischer Komponisten bis 1917 angestrebt, sondern eine Auswahl getroffen wurde, die selbstverständlich um die Klassiker wie Tschaikowskis Trio op. 50 herum aufgebaut wurde, aber auch mit einer ganzen Reihe von Raritäten aufwartet. In dieser Hinsicht ist die vorliegende fünfte Folge besonders reizvoll. Auf der Internetpräsenz des Brahms-Trios (nicht aber auf der CD selbst) firmiert sie unter dem Titel „Russia Abroad. Late Premières“ – in der Tat eine treffende Charakterisierung, denn zwei der drei Komponisten emigrierten in jungen Jahren aus dem Russischen Reich, alle drei Trios liegen hier in Weltersteinspielungen vor, und besonders häufig (wenn überhaupt) dürften sie innerhalb der gut 100 Jahre seit ihrer Entstehung ohnehin nicht aufgeführt worden sein. Bei allen drei Komponisten handelt es sich offenbar sogar um das erste größer angelegte Werk, von dem eine Einspielung vorliegt, echte Pionierarbeit also.

Am Beginn der CD steht das wohl 1908 entstandene, 1910 publizierte Klaviertrio c-moll op. 25 von Vladimir Dyck (1882–1943). Dyck wurde zwar in Odessa geboren, das eigentliche Zentrum seines Lebens und Wirkens war aber Paris, wohin er 1899 zunächst im Rahmen seines Musikstudiums übersiedelte. Zu seinen Lehrern zählen Charles-Marie Widor (Komposition) und Antoine Taudou (Harmonie); Letzterem ist das Trio auch gewidmet. Dyck kehrte anschließend nicht ins Russische Reich zurück, sondern ließ sich dauerhaft in Paris nieder (die französische Staatsbürgerschaft erhielt er 1910), wo er als Klavierlehrer arbeitete, Musik für Stummfilme komponierte und 1933 gemeinsam mit Léon Algazi einen Verlag für jüdische Musik gründete. Im Sommer 1943 wurde er zusammen mit seiner Familie in Paris von der Gestapo verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Dycks Klaviertrio ist deutlich von der französischen Spätromantik etwa seines Lehrers Widor beeinflusst. Vielleicht lässt sich der melodische Schmelz noch mit der russischen Schule in Verbindung bringen, aber letztlich ist das Werk nicht entscheidend von russischem Kolorit geprägt und würde vermutlich auch ohne Probleme als das Werk eines jungen französischen Komponisten jener Zeit durchgehen. Am gewichtigsten sind die beiden Ecksätze, passionierte Musik mit vollem Klaviersatz und reicher Harmonik, kämpferisch-dramatisch der erste Satz, triumphales C-Dur im Finale. Die kurze, stentorische Einleitung stellt dabei eine Art Mottothema vor, das auch als thematische Wurzel fungiert; weit stärker noch gilt Letzteres allerdings für die espressivo-Motivik in der Violine ab Takt 9, aus der in der Folge das erste Thema des Allegros hervorgeht. Auch thematische Bezüge zwischen den Sätzen (natürlich wiederum ganz im Sinne gerade der französischen Musik jener Zeit, man denke etwa an César Franck und sein „zyklisches Prinzip“) wird man immer wieder finden, wenn etwa im langsamen Satz der Kopfsatz in Erinnerung gerufen wird. Gegenüber den Kopfsatz und Finale besitzen die beiden Binnensätze eher Intermezzocharakter: an zweiter Stelle steht eine Art stilisiertes Menuett, leicht, duftig, mit ausgedehnten gezupften Passagen in den Streichern, während der dritte Satz als Barcarole in schwärmerischem As-Dur betrachtet werden könnte. Ein schönes, hörenswertes Werk mit einprägsamer Melodik, wirkungsvollem dramatischem Moment und aparten klanglichen Lösungen.

30 Jahre älter als Dyck war Constantin von Sternberg (1852–1924), der als Sohn deutscher Eltern in St. Petersburg geboren wurde, aber bereits mit 13 Jahren nach Deutschland (zunächst Leipzig) ging, um dort u. a. bei Moscheles und Reinecke, später bei Kullak zu studieren. Einige Jahre als Klaviervirtuose folgten, bevor er sich 1880 im Rahmen einer Konzertreise dauerhaft in den USA niederließ. In der Neuen Welt machte er sich als Klavierlehrer einen Namen und gründete u. a. 1890 seine eigene Sternberg School of Music in Philadelphia. Sein Bezug zu Russland besteht in erster Linie darin, dass er dort geboren wurde und die ersten 13 Jahre seines Lebens verbrachte. Insofern verwundert es nicht, dass seine Musik – jedenfalls auf Grundlage des hier vorgestellten Trios – in noch erheblich deutlicherem Maße als im Falle Dycks keinerlei Spuren der russischen Romantik aufweist.

Sternbergs Klaviertrio Nr. 3 C-Dur op. 104, 1912 publiziert, ist vielmehr ein kurzes, lebhaftes und charmantes Werk im Fahrwasser der Leipziger Schule, in Umfang und Charakter vergleichbar etwa mit den beiden Trio-Serenaden op. 126 seines Lehrers Reinecke. Die drei Sätze sind kurzweilig und elegant. An zweiter Stelle steht ein kleiner Variationssatz über ein volksliedhaftes, vielleicht etwas unspezifisches Thema, der schließlich in einen zurückgenommenen, wie aus der Ferne herüberklingenden Ländler mündet. Das Finale, ein Rondo „con umore“, fasst innerhalb von nicht einmal drei Minuten die wesentlichen Themen des Trios zusammen. Keine große, aber gefällige, unterhaltsame, für ihre Entstehungszeit natürlich ausgesprochen konservative Musik.

Auf der CD fungiert Sternbergs Trio als eine Art Intermezzo zwischen Dycks Gattungsbeitrag und einem zweiten großen c-moll-Trio, nämlich dem 1911 entstandenen Klaviertrio op. 52 von Sergei Juferow (auf der CD Sergey Youferov geschrieben). Juferow, 1865 in Odessa geboren und aus wohlhabenden Verhältnissen stammend, war u. a. Schüler von Glasunow in St. Petersburg, studierte aber auch Recht und war ab den 1890er Jahren besonders im Bereich des Urheberrechts aktiv. Sein Lebensmittelpunkt lag in St. Petersburg und dem ukrainischen Cherson, daneben bereiste er immer wieder Deutschland und die Schweiz. Nach der Oktoberrevolution verliert sich seine Spur weitgehend, und ob er wirklich im Jahre 1927 verstarb, ist anscheinend nicht vollständig zu klären.

Juferows Trio ist somit das einzige Werk von einem im Russischen Reich lebenden Komponisten auf dieser CD, und so verwundert es nicht, dass es sicherlich dasjenige mit dem mit Abstand stärksten russischen Kolorit ist (grob in der erweiterten Tschaikowski-Nachfolge anzusiedeln, ohne eine Stilkopie zu sein). Ein Werk, das von elegischen Tönen dominiert wird, die bereits den ersten Satz, ein dramatisch akzentuiertes, gewichtiges Sonatenallegro mit langsamer Einleitung, wesentlich prägen. Das folgende Adagio steht zwar im 5/4-Takt, gemahnt aber stellenweise deutlich an Salonmusik (und streift dabei einige Klischees zumindest), ein ziemlicher Bruch nach dem konzentrierten Kopfsatz. Ganz anders dann wieder das Finale, das mit einem hartnäckigen, weite Teile des Satzes dominierenden c-moll-Motiv beginnt, ergänzt durch Seufzer-Gesten vor langen Orgelpunkten auf G. Endgültig im Stile einer Trauermusik bewegt sich der Schluss des Satzes, der mit einem Wechsel vom Dreier- zum Vierertakt einhergeht. Hier stellen die Streicher zunächst einen kurzen Choral vor, der aber sofort umgedeutet wird und in einen veritablen Abgesang mündet.

Das Brahms-Trio zeigt sich in seinem Kommentar zur CD von diesem Trio in ganz besonderem Maße fasziniert und sieht in ihm einen Abschied vom „Silbernen Zeitalter“ (und, nur auf ihrer Internetseite nachzulesen, gar „eine der größten musikalischen Errungenschaften des russischen Silbernen Zeitalters“). Grundsätzlich mag eine solche Deutung in der Tat nicht völlig unberechtigt sein, man denke etwa an die brütende, lastende, ahnungsvolle Atmosphäre von Mjaskowskis ersten drei Sinfonien, die ja in etwa zeitgleich entstanden, oder an die (natürlich ex post entstandenen) großartigen Jessenin-Vertonungen Georgi Swiridows, die ganz ähnliche Stimmungen meisterhaft einfangen. Andererseits bewegt sich Juferow in diesem Werk natürlich auch im Rahmen der Tradition des russischen Klaviertrios als (Toten-)Klage wie sie das Brahms-Trio im Rahmen dieser Edition ja auch dokumentiert hat (Tschaikowski, Pabst, Arenski).

Sicherlich ein Werk also, das durch seine unverblümte Emotionalität durchaus wirkungsmächtig und im Detail originell anmutet. Ich bin indes nicht überzeugt davon, dass es sich tatsächlich um ein solches Opus magnum handelt wie vom Brahms-Trio nahegelegt, auch abseits der oben angesprochenen Inkohärenzen. Das Finale etwa ist bis auf eine kurze Episode in As-Dur und den besagten Choral (in Es-Dur) komplett in c-moll gehalten, d. h. diese Tonart dominiert etwa sieben von zehn Minuten(!). Zusammen mit den neun Minuten Adagio, die fast ununterbrochen an G-Dur festhalten, ergibt dies über beide Sätze hinweg ein ausgesprochen monochromes, gleichförmiges Bild – mindestens im Finale sicherlich absichtlich, aber dennoch: zusammen mit der ebenfalls relativ stur durchgehaltenen Thematik ergibt sich ein doch allzu homogenes Bild, das andererseits wiederum nicht derart radikal und satztechnisch meisterhaft realisiert ist wie z. B. Wagners Rheingold-Vorspiel. Nichtsdestotrotz eine interessante Repertoirebereicherung, und man kann dem Brahms-Trio nur dafür danken, dieses und die anderen Werke überhaupt auf CD verfügbar gemacht zu haben.

Die Interpretationen des Brahms-Trios bewegen sich wie gehabt auf einem sehr soliden, guten Niveau. Eine gewisse Zurückhaltung, die vielleicht hier und da auffällt, ist den meisten Interpretationen dieser Serie zu eigen, nicht selten durchaus zum Vorteil der Musik. Über eine Reihe von Feinheiten in der Gestaltung melodischer Bögen (z. B. im leidenschaftlichen Auf und Ab des ersten Satzes von Dycks Trio, in dem die Phrasenhöhepunkte stärker nachvollzogen werden könnten) und der Artikulation kann man sicherlich diskutieren, auch womöglich darüber, dass das Brahms-Trio die salonmusikalischen Elemente im zweiten Satz von Juferows Trio eher noch betont (etwa durch Portamenti) – andererseits sind diese Einflüsse in der Musik so oder so vorhanden, und sie zu negieren, muss nicht notwendigerweise die bessere Lösung sein. Insgesamt sind die Einspielungen mehr als gut dazu geeignet, einen vorteilhaften Eindruck von den Werken zu gewinnen.

Ärgerlich ist allerdings die bereits in Folge 1 zu beobachtende Tendenz, mit den eher wenig bekannten Partituren (die freilich allesamt via IMSLP einsehbar sind) mitunter arg frei umzugehen. Das betrifft explizit nicht Juferows Trio, wohl aber ganz besonders die ersten beiden Sätze des Trios von Vladimir Dyck. Nicht alles wiegt gleich schwer; wenn das Brahms-Trio etwa nicht alle dynamischen Vorschriften im Wortlaut umsetzt, ist das mitunter nur verständlich, denn Dyck geht oft schon arg schnell und häufig ins Fortissimo über, teilweise mitten in einer Piano-Kantilene (um sogleich wieder in der Dynamik zurückzugehen). Auch gewisse Kürzungen erscheinen einsichtig, obwohl z. B. ein Strich, der sich von vier Takten nach Ziffer 9 bis elf Takte nach Ziffer 11 erstreckt, nicht ganz unerheblich ist. Klangliche Erwägungen dürften ferner dazu geführt haben, dass die Viertel in den aufsteigenden Bewegungen ab Ziffer 2 durch Achtel ersetzt wurden. Spätestens dann allerdings, wenn das Trio die Schlussakkorde des ersten Satzes nicht etwa sforzatissimo innerhalb eines Fortissimos spielt, sondern im Piano und Pizzicato, greift das Ensemble in die Charakteristik der Musik ein. Im zweiten Satz nimmt das Trio vor allem bei den häufigen Pizzicati gewisse Änderungen vor. Auch in Sternbergs Trio lassen die Interpreten den Notentext nicht immer ganz unangetastet, allerdings sind die Abweichungen hier weniger gravierend. In einem so konservativ gehaltenen Werk im zweiten Satz ab Ziffer O die Pizzicati durch col legno-Spiel zu ersetzen, ist allerdings ein ziemlicher Stilbruch. So gut gemeint all diese Änderungen auch sein mögen, in der Summe stellen sie doch einen Wermutstropfen dar (zumal man diese Werke vermutlich so schnell nicht wieder zu Gehör bekommen wird).

Der Klang der CD ist ordentlich, allerdings erneut mit einem leichten Übergewicht des Cellos zu Ungunsten der Violine; überdies sind speziell in Juferows Trio die Pizzicati beider Instrumente vor dem Hintergrund des Klaviers zum Teil höchstens zu erahnen. Der Begleittext von Ivan Moody nicht nicht allzu umfangreich (und lediglich in englischer Sprache vorhanden), bietet aber die wesentlichen Informationen zu Komponisten und Werken. Eine erweiterte Fassung des Kommentars der Pianistin Natalija Rubinstein ist wie erwähnt auf der Internetseite des Brahms-Trios einsehbar und liefert noch weitere interessante, aufschlussreiche, auch persönlich gefärbte Informationen. Wenn allerdings behauptet wird, Leben und Ruhm der drei Komponisten seien durch die Oktoberrevolution zerstört worden („Their lives and fame were destroyed by the Russian Revolution“), ist das im Falle von zwei der drei hier vorgestellten Komponisten schlicht falsch, da sie zu Zeiten der Revolution das Russische Reich schon seit Dekaden hinter sich gelassen hatten.

In der Summe auf alle Fälle eine willkommene, interessante Neuerscheinung mit Dycks Trio als Höhepunkt der CD.

[Holger Sambale, Juni 2022]

Henzes „Das verratene Meer“ aus der Wiener Staatsoper

Capriccio C5460 (2CD); EAN: 8 45221 05460 5

Die Erstaufführung von Hans Werner Henzes Oper Das Verratene Meer an der Wiener Staatsoper musste im Dezember 2020 coronabedingt noch live ohne Publikum aufgezeichnet werden. Die Dirigentin Simone Young und das Regieteam von Jossi Wieler und Sergio Morabito hatten aus den beiden existierenden Fassungen von 1986-89 und 2003-2005 eine musikalisch absolut schlüssige Version ausgearbeitet, die nun auf CD brillieren kann.

Schon im Titel seiner Einführung zu Hans Werner Henzes Das verratene Meer, die anlässlich der Uraufführung an der Deutschen Oper Berlin am 5. 5. 1990 erschien, wies Peter Petersen auf ein Alleinstellungsmerkmal unter dem (bis dato) guten Dutzend abendfüllender Musiktheaterwerke des Komponisten hin: Das Stück sei Henzes erste Zeit-Oper, „in der unsere Gegenwart nicht nur das Thema, sondern auch die Spielzeit und den Spielort bildet“. Neben den märchenhaften, mythischen bzw. in einer näher bestimmbaren Vergangenheit verortbaren Opernsujets steht die Dramatisierung von Yukio Mishimas 1963 veröffentlichtem Roman Gogo no Eiko (deutsch: Der Seemann, der die See verriet) in der Tat mit beiden Beinen in der Realität; nur in seiner allerletzten Oper Gisela! (2010) – die freilich mit einem fiktiven Ausbruch des Vesuvs endet – wagte sich Henze nochmals so dezidiert an die Jetztzeit.

Die Handlung ist schnell erzählt: Als sich die verwitwete Fusako in den Seemann Ryuji verliebt, beobachten ihr 13-jähriger Sohn Noboru – durchaus voyeuristisch – und dessen Halbstarken-Gang dies zunächst mit Faszination. Ryujis Entscheidung gegen die Seefahrt zugunsten einer Heirat mit Fusako wird von den Jugendlichen jedoch als Verrat gedeutet, so dass sie ihn schließlich grausam ermorden. Dahinter verbergen sich bereits bei Mishima höchst komplexe wie divergierende gesellschaftskritische und psychologische Aspekte, die Henze zu seiner vielleicht besten Kammeroper inspiriert haben. Kammeroper deshalb, weil im Gegensatz etwa zu den Bassariden – wo neben grandios besetzten Figuren für nahezu alle klassischen Gesangsfächer ein gewaltiger Chor der eigentliche Star ist – nur die drei obigen Hauptpersonen plus die „Gang“, ein namenloses Herrenquintett mit Noboru als „Nummer Drei“, auftreten. Das Orchester hingegen ist sehr üppig besetzt, mit nur ein paar Japonismen, Das verratene Meer daher nur für die größten Bühnen realisierbar.

Trotz einer musikalisch prächtigen Premiere in Berlin unter Markus Stenz war Henze mit der Regie von Götz Friedrich sehr unzufrieden; nach drei weiteren Produktionen (u. a. in San Francisco) verschwand das Werk von den Spielplänen. Henze war sehr wohl klar, dass er hier seine womöglich psychologisch differenzierteste und am besten instrumentierte Oper geschaffen hatte. So kam es 2003–2005 zu einer Neufassung mit einigen Erweiterungen, namentlich der Zwischenspiele, aber auch kleineren Streichungen, vor allem jedoch einer Rückübersetzung von Hans-Ulrich Treichels Libretto ins Japanische – was man überaus fragwürdig finden mag. Jedenfalls wurde diese Version als Gogo no Eiko nach Japan dann konzertant bei den Salzburger Festspielen 2006 gegeben; der Mitschnitt unter Gerd Albrecht ist auf CD greifbar.

Dem Produktionsteam an der Wiener Staatsoper, allen voran der Dirigentin Simone Young, waren gewisse Inkonsistenzen der Neufassung sofort bewusst. Sie gingen textlich auf das ursprüngliche Deutsch zurück, übernahmen sämtliche neu komponierte Musik, öffneten aber auch wenige Striche teilweise wieder (Youngs Videobeitrag dazu auf Youtube: siehe hier). Das Booklet gibt darüber dankenswert detailliert Auskunft – und diese Version erweist sich nun als wirklich optimal. Youngs Dirigat ist insgesamt energischer, dabei gleichzeitig über Strecken langsamer als bei Albrecht. Young hebt gewisse, oftmals äußerst raue Züge dramatisch hervor; und die bruitistischen Elemente der Partitur (Alltagsklänge vom Band wie Möwengeschrei, Presslufthämmer, Abrissbirne usw.) sind im Gegensatz zu Salzburg natürlich alle wieder da.

Die Wiener Sängerriege agiert ähnlich: Staatsopern-Neuzugang Vera-Lotte Boeckers Fusako gerät durchaus vielschichtig, die lyrischen Seiten der Figur werden nicht derart überbetont wie von Mari Midorikawa, die ihre reine Stimmschönheit fast zu sehr zelebriert. Die Momente von Sehnsucht, Unsicherheit, gar Wut, schlagen bei Boecker schnell in pure Dramatik um. Bo Skovhus hat sich in den letzten 25 Jahren etliche Rollen des modernen, deutschen Repertoires gründlichst erarbeitet – darunter Wozzeck, Dr. Schön, Karl V. und Lear. Ryuji wird er ebenfalls mehr als gerecht; ganz anders als der merkwürdig blasse Tsuyoshi Mihara in Albrechts Japan-Riege. Trotz seiner guten, klaren Diktion und bewusster dynamischer Gestaltung muss sich Skovhus aber mittlerweile einen gewissen pauschalen Klang eines immerzu heldischen Baritons vorwerfen lassen. Dem spielt Henze hier freilich noch in die Hände, wenn er z. B. ausgerechnet bei der Stelle „Willst Du mich heiraten? Ob Du mich heiraten willst?“ die Vortragsanweisung „brüllend, als müsse er gegen einen Sturm anschreien“ gibt. Derlei Paradoxien werden dann beinahe zur Karikatur. An die eindringliche, glaubwürdige Emotionalität eines Andreas Schmidt bei der Uraufführungsserie 1990 in Berlin kommen beide nicht heran.

Problematischste Rolle des Verratenen Meers bleibt allerdings Noboru: Wirkte Jun Takahashi mit seinem extrem hell timbrierten Tenor geradezu weibisch, kann Josh Lovell rein stimmlich und ausdrucksmäßig zwar überzeugen, sein Deutsch ist dafür leider noch alles andere als akzentfrei. Warum lässt man das an der Wiener Staatsoper so durchgehen? Bei der „Gang“ ist Erik Van Heyningen (Nummer Eins, hoher Bariton) immer bedrohlich, kann sich gleichzeitig gut ins fünfstimmige Ensemble – neben Lovell kommen dazu Kangmin Justin Kim, Countertenor, Stefan Astakhov, Bariton und Martin Häßler, Bass – einfügen; ein Mitglied des Opernstudios, das sogleich aufhorchen lässt. Bei den bewusst polyphonen Passagen erscheint das japanische Ensemble dennoch etwas souveräner einstudiert.

Albrecht wirkt mit dem Turiner Orchester des RAI in vielen Details sensibler, dafür jedoch matter, unentschiedener als Young – genau jenes Geschmäcklerische, das Kritiker Henze immer vorgeworfen haben. Young liefert robustes Musikdrama, mit einem natürlich absolut hervorragend mitgehenden Orchester der Wiener Staatsoper, das selbst bei Grobheiten farbig bleibt, wie den Mordszenen der beiden Aktschlüsse: Zunächst probieren die Jungs das Töten an einer Katze aus. Aufnahmetechnisch ist der Mitschnitt des Österreichischen Rundfunks aus der Wiener Staatsoper dem aus Salzburg zumindest leicht überlegen und für einen Live-Mitschnitt schön durchsichtig. Für dieses hochbedeutende Werk, das der Rezensent auf gleichem Niveau ansiedelt wie die Bassariden, wünscht man sich gerne ein Video der Wiener Aufführung – die CD-Ausgabe mit enorm informativem Booklet samt Libretto ist bereits fraglos eine der wichtigsten Einspielungen der letzten Jahre und Pflicht für alle Opernfreunde.

Vergleichsaufnahme: Midorikawa, Mihara, Takahashi etc., Orchestra Sinfonica Nazionale della Rai, Gerd Albrecht (Orfeo C 794 092 I, 2006)

[Martin Blaumeiser, April 2022]

Das Palazzetto Bru Zane ehrt Camille Saint-Saëns und César Franck

Camille Saint-Saëns: Phryné

Bru Zane, BZ 1047; EAN: 8 055776 01002 1

César Franck: Sämtliche Lieder und Duette

Bru Zane, BZ 2003; EAN: 8 055776 01003 8

Für Musikinteressierte mit Faible fürs französische Repertoire ist das Palazzetto Bru Zane eine Fundgrube sondergleichen. Versteckt in einer kleinen Gasse nahe der imposanten Kirche San Rocco, belebt das in Venedig ansässige Musikzentrum das kompositorische Erbe zwischen 1780 und 1920. Die Pharmaunternehmerin Nicole Bru entdeckte das verfallene Gebäude, das früher als Sommerhaus der Adelsfamilie Zane diente, ließ es wiederherstellen und funktionierte es als Sitz für die von ihr finanzierte Stiftung um. Heute ist dort ein Stamm von 15 Mitarbeitenden administrativ beschäftigt, während in Paris der künstlerische Leiter Alexandre Dratwicki mit einer fünfköpfigen Crew die Forschungen vorantreibt. Hundertvierzig Jahre Musik wollen gesichtet und aufgearbeitet werden, bevor sie in Publikationen, Konferenzen, Konzerten und Bühnenproduktionen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Hinzu kommt ein eigenes Label, das in einer feinen, verschwenderisch ausgestatteten CD-Buch-Reihe überwiegend Opern und Operetten, aber auch Porträts von kaum bekannten Komponistinnen und Komponisten produziert. Oft geben Jubiläen den Impuls zur näheren Auseinandersetzung, 2021 galt sie Camille Saint-Saëns anlässlich seines 100. Todestags. Alexandre Dratwicki und sein Team konzentrierten sich dabei auf die – vom Repertoirehit Samson et Dalila abgesehen – vergessenen Opern des in jeder Gattung versierten Vielschreibers. Belebt wurde etwa das Künstlerdrama Le Timbre d’Argent, die Renaissancetragödie Proserpine und das Römerspektakel Les Barbares. In die Antike, die für den 1835 geborenen Komponisten zeitlebens eine Quelle der Inspiration bedeutete, führt auch die gerade auf CD erschienene Oper Phryné aus dem Jahr 1893. Sie spielt im alten Griechenland und erzählt davon, wie ein als Tugendwächter auftretender Würdenträger die Kurtisane Phryné zu verführen sucht. Sie aber ist bereits mit dessen armen Neffen liiert und stellt den Alten in aller Öffentlichkeit bloß. Um sich aus der Affäre zu ziehen, sieht er sich gezwungen, dem Verwandten sein halbes Vermögen zu vermachen. Phryné ist das einzige heitere unter Saint-Saëns‘ Bühnenwerken und war wohl deshalb neben Samson am erfolgreichsten. Durchzogen vom Geist einer Operette besitzen die Melodien Esprit, Anmut und im Chorfinale des ersten Aktes eine mitreißende Rasanz. Die Aufnahme, die statt der originalen Dialoge die nachkomponierten Rezitative von André Messager benutzt, bietet mit Hervé Niquet einen Könner im französischen Fach auf, der so vital wie elegant dirigiert und die orchestralen Valeurs mit ihren aparten Bläsereinsätzen auskostet. Florie Valiquette singt eine verführerische Phryné mit kokett geträllerten Koloraturen, Cyrille Dubois schwärmt für sie in seiner Arie mit tenoraler Geschmeidigkeit und Thomas Dolié gibt dem Onkel gestandene Buffokonturen. Mit Phryné endet die Saint-Saëns-Reihe vorläufig, doch ist als Nachschlag die wegen der Pandemie verschobene Einspielung der Griechentragödie Déjanire geplant.

Aktuell aber gilt es den 200. Geburtstag von César Franck zu feiern. Der musikalische Werdegang des 1822 in der belgischen Stadt Liège geborenen und 1890 nach einem Unfall in Paris gestorbenen Komponisten, weist einige Gemeinsamkeiten zu Saint-Saëns auf. Beide galten als Klavierwunderkinder, waren renommierte Organisten und verschrieben sich als Gründungsmitglieder der „Societé Nationale de Musique“ der Pflege der französischen Musik. Stilistisch aber entfremdeten sie sich voneinander. Ein Beispiel dafür ist die Uraufführung von Francks Klavierquintett 1880, das Saint-Saëns gewidmet werden sollte. Der übernahm zwar den Pianopart, schlug die Zueignung aber aus, weil er den ungewohnten Klängen nichts abgewinnen konnte. Doch jene Synthese von französischen und deutschen Elementen, von Wagner-Einflüssen und romanischer Emotionalität trug entscheidend zur Entwicklung der französischen Musik bei und wurde durch Francks illustre Schülerschar, die sogenannte „bande à Franck“, fortgeführt. Denn auch das war César Franck: ein undogmatischer Lehrer, hochverehrt von seinen Studenten, zu denen Ernest Chausson, Henri Duparc, Vincent d’Indy und Claude Debussy zählten.

Ungeachtet seiner musikhistorischen Bedeutung ist nur wenig aus Francks umfangreichen Schaffen ins Repertoire eingegangen: neben den Orgelwerken sind es die Symphonischen Variationen für Klavier und Orchester, die Sinfonie in d-Moll und die Violinsonate. Das will das Palazzetto Bru Zane ändern. Mit einem sich bis zum Sommer hinein erstreckenden Festival begibt es sich auf eine Entdeckungsreise in „The World of César Franck“. Eingeläutet wird sie in Venedig mit zwei intelligent konzipierten Kammermusik-Programmen – fein aufeinander abgestimmt und dennoch kontrastreich durch die Kombination von Franck-Meisterwerken mit bislang unterschätzten weiblichen Kompositionen. Das Eröffnungskonzert, das im Festsaal des Palazetto stattfindet, konfrontiert das Klaviertrio Nr. 1 in fis-Moll – das erste der als Opus 1 bezeichneten drei Trios concertant, die der 17-Jährige 1839 am Konservatorium begonnen hatte – mit Pauline Viardots eher konventionellem Duo für Geige und Klavier und drei so bewegten wie geistvollen Miniaturen von Lili Boulanger. Bestritten wird es von der jungen Geigerin Anna Agafia und dem Cellisten Ari Evan unter der Anleitung des renommierten Pianisten Frank Braley, die als Trio-Formation debütieren, dabei aber noch auf der Suche nach der rechten Balance sind – bedingt wohl auch wegen einer Verletzung Evans.

Der folgende Abend, diesmal in der prächtigen Scuola Grande San Giovanni Evangelista, präsentiert das bereits arrivierte Quatuor Hanson und den Klaviersolisten Ismaël Margain, dessen traumwandlerisches, sich gegenseitig befruchtendes Zusammenspiel vor emotionaler Hochspannung vibriert. Vorgetragen wird Francks bereits erwähntes Klavierquintett f-Moll, bestehend aus drei leitmotivisch miteinander verknüpften Sätzen mit süffigen Themen, kühn oszillierenden Harmonien und sinfonisch dichten Steigerungen. Die sich anschließende Grande Fantaisie-Quintette komponierte eine heute völlig Unbekannte: Rita Strohl, Jahrgang 1865, machte durch spirituell durchdrungene Werke von sich reden, geriet aber nach ihrem Tod 1941 in Vergessenheit. Ihr Ensemblestück ist eine weniger komplexe Variante der Gattung, bemerkenswert aber wegen der melodischen Dominanz des Klaviers im Kontrast zum Streicher-Unisono.

Wie geht es in den nächsten Monaten weiter in der Welt von César Franck? In Venedig stehen Kammermusikkonzerte im Zentrum, während in Paris großdimensionierte Orchesterwerke erklingen. Dort erlebt auch die zwischen 1879 und 1885 entstandene, zu Francks Lebzeiten nie aufgeführte Oper Hulda – ein blutrünstiges Drama um Rache und Verrat, das im frühmittelalterlichen Norwegen spielt – ihre konzertante Premiere mit Folgeaufführungen in Brüssel und Liège.

Schon jetzt aber kann man sich in César Francks Vokalkosmos vertiefen: beim Hören der gerade erschienenen Doppel-CD mit sämtlichen Klavierliedern und -duetten. Sie spielten keine Hauptrolle in seinem Oeuvre, begleiteten ihn aber mit Unterbrechung während der gesamten, rund 50-jährigen Schaffensphase. Daraus resultiert die Bandbreite der von Franck verwendeten Formen, die später in der typischen französischen „Mélodie“ gipfelten, perfektioniert durch Franck-Schüler wie Chausson und Duparc. Vom Charakter her dominieren gefühlvolle, atmosphärisch dunkle Lieder, wechselnd im Gewand von Romanzen, Strophengesängen, Balladen und – als Besonderheit – von kleinformatigen patriotischen Kantaten.

Mit Véronique Gens, Tassis Christoyannis und dem Pianisten Jeff Cohen sind drei Stützen aus dem Stammensemble des Palazzetto Bru Zane an dem Projekt beteiligt. Der griechische Bariton hat sich schon seit längerem als französischer Lied-Spezialist etabliert, etwa mit Kollektionen von Édouard Lalo, Benjamin Godard und Reynaldo Hahn. Durch variantenreiche Dynamik, wechselndes Kolorit der Stimmungen und plastische Artikulation lotet er den Charakter der Stücke aus, beispielhaft etwa in La Vase brisé mit einer ganzen Palette von Pianoschattierungen. Sechs Duette runden die Anthologie ab. Es sind getragene Duos mit religiösem Hintergrund, in denen die Stimmen meist parallel geführt werden. Véronique Gens, ist für diesen kleinen Zyklus eine Luxusbesetzung. „Gott hat mich mit einer einzigen Gnade beschenkt, nämlich der Verbindung zu Cesar Franck“. Diesen Ausspruch von Henri Duparc aus dem Jahr 1903 zitiert das Palazzetto Bru Zane in seiner Festival-Vorschau. Solche Verbindung selbst herzustellen, dazu bieten die vielfältigen Veranstaltungen reichlich Gelegenheit.

Karin Coper [April 2022]

Nördlich anmutende Stimmungsbilder und rauer Charme

Toccata Classics, TOCC 0600; EAN: 5 060113 446008

Die dritte Folge der Einspielungen von Orchestermusik des britischen Sinfonikers William Wordsworth (1908–1988) des Labels Toccata präsentiert sein Cellokonzert op. 73 und seine Sinfonie Nr. 5 a-moll op. 68 aus den frühen 1960er Jahren. Es spielt das Sinfonieorchester der lettischen Stadt Liepāja unter der Leitung von John Gibbons; Solist ist Florian Arnicans.

So beachtlich die Diskographie britischer Sinfonik auch ist, die Labels wie Chandos, Hyperion, Lyrita, Naxos und Dutton (um nur einige zu nennen) im Laufe von mittlerweile mehreren Dekaden zusammengetragen haben: es gibt auch auf diesem Gebiet nach wie vor eine ganze Reihe ausgezeichneter Komponisten zu entdecken. Aus den Veröffentlichungen der letzten Jahre wären hier z. B. der Waliser Daniel Jones hervorzuheben, dessen 13 Gattungsbeiträge nun endlich komplett auf Tonträger verfügbar sind (Lyrita), oder der Schotte Thomas Wilson, dessen Sinfonien Nr. 2–5 bei Linn Records erschienen sind. Auch Toccata Classics hat eine Reihe von beachtlichen CDs mit britischer Sinfonik herausgebracht, und insbesondere ist hier die laufende Serie mit Orchesterwerken von William Wordsworth (1908–1988) zu nennen.

Wordsworth, Schüler von Donald Francis Tovey und Nachfahre eines Bruders des gleichnamigen Dichters, hat eine breite Palette von Orchesterwerken hinterlassen, die seine gesamte kompositorische Laufbahn umfassen, darunter acht Sinfonien und eine Sinfonia für Streicher. Im umfangreichen, insbesondere Leben und Persönlichkeit Wordsworths schildernden (und dabei mit einigen recht amüsanten Anekdoten aufwartenden) Essay von Paul Conway im Beiheft werden Sibelius, Bartók, Nielsen sowie („to a lesser extent“) Bax und Vaughan Williams als Einflüsse verortet. In der Tat sind dies die stilistischen Koordinaten, die für eine grobe Einordnung von Wordsworths Musik relevant sein dürften, wobei natürlich klar ist, dass bei einem solch großen Spektrum etwas Differenzierung gefragt ist. Hört man auf der vorliegenden CD etwa die Ecksätze der Fünften Sinfonie, so wird man rein vom Klangbild her sicherlich nicht an Bartók denken: in diesem Punkt unterscheidet sich Wordsworths in breiten Linien dahinströmende, oft von lang gehaltenen Dreiklängen in tieferen Lagen bestimmte und wenigstens mittelbar durchaus in der Romantik verwurzelte Musik deutlich von der Musik des großen Ungarn. Hier liegt der Vergleich zu Sibelius oder eben doch auch Vaughan Williams näher.

Was Wordsworth an Bartóks Musik bewunderte, war insbesondere seine Arbeit mit Motiven und thematischen Fragmenten. In der Sinfonie Nr. 5 etwa wird gleich zu Beginn eine Art „Motto“ vorgestellt, das die gesamte Sinfonie durchzieht und als Skala, harmonische Grundlage und thematisches Gerüst fungiert, nämlich a-b-c-cis-dis-e-f-des-b-as-g-f-e. Hier mag man sich in der Ferne vielleicht etwas an den Beginn von Bartóks Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta erinnert fühlen, andererseits sind natürlich auch die Unterschiede zu Bartók unverkennbar. Typisch für Wordsworth sind dabei u. a. die in seiner Musik häufig anzutreffenden modalen Elemente und Sekundrückungen, wie man überhaupt feststellen muss, dass seine Musik bei allen genannten Prägungen sehr wohl ihren eigenen Stempel besitzt. Einflüsse modernerer Musik rezipiert Wordsworth vereinzelt, ohne deshalb seine stilistische Grundpositionierung aufzugeben, und wie so oft ist dies eher ein Phänomen, das in seinen späteren Werken auftritt.

Die beiden auf dieser CD vorgestellten Werke entstanden in relativ enger zeitlicher Nachbarschaft (die Sinfonie 1957–60, das Konzert 1962/63), zeigen aber unterschiedliche Facetten von Wordsworths Stil. Insgesamt ist die Sinfonie (speziell in ihren Ecksätzen) in einem traditionelleren Idiom gehalten als das Konzert, und insofern zeigen die beiden Werke ihren Schöpfer wohl auch ein wenig am Scheideweg (wobei von einem echten Bruch nicht die Rede sein kann). Die Sinfonie ist dreisätzig, und an erster Stelle steht ein umfangreiches, von dunklen Farben geprägtes Andante maestoso. Dabei speist sich der Satz zu wesentlichen Teilen aus dem oben bereits diskutierten Mottothema, auch in der Harmonik: zum Beispiel erscheinen cis-moll und b-moll in diesem Kontext als mit der Grundtonart a-moll eng verwandt. So entfaltet sich eine Art Fantasie, ein nördlich anmutendes Stimmungsbild, wobei allerdings nicht zuletzt Wordsworths Vorliebe für Fugatopassagen dem Satz sinfonisches Gewicht verleiht. Immer wieder treten einzelne Instrumente und Instrumentengruppen hervor bis hin zum langen Abgesang der Solovioline am Ende. An zweiter Stelle steht ein deutlich knapperes Scherzo, das mit allerlei Schlagzeugeffekten und dissonant geschärfter Harmonik aufwartet, auch hier teilweise unter Einbeziehung des Mottothemas. Noch stärker vom Motto geprägt ist der Finalsatz, der es mannigfaltig abwandelt, die ihm innewohnende Dur-Moll-Ambiguität nun eher in Richtung A-Dur interpretiert und die Sinfonie schließlich zu einem triumphalen Schluss führt.

Auch das Cellokonzert ist dreisätzig, und wiederum legt Wordsworth viel Wert auf thematisch-motivische Verknüpfungen. Am Beginn steht erneut eine Art Motto, zwei gleichzeitig erklingende gegenläufige Skalenbewegungen (eine steigt auf, die andere ab), aus denen sich ein eher rhapsodisch geprägter, wohl tonaler, aber im Vergleich zur Sinfonie harmonisch verschärfter (dissonanterer, oft auf Quarten und Quinten aufgebauter) Satz entwickelt. Auffällig ist dabei u.a. ein markanter Rhythmus, der sich in etwa ab 3:10 herauskristallisiert und oftmals dynamische Kulminationspunkte markiert. Wiederum ist der zweite Satz deutlich kürzer, in diesem Falle ein herb-verträumtes Nocturne mit kurzem bewegtem Mittelteil, der einen Sturm eher andeutet als wirklich realisiert. Das Finale wirkt ein wenig wie ein stilisierter Tanz, vielleicht eine Art Jig; vieles ist aus dem vorherigen Geschehen abgeleitet (der oben erwähnten rhythmischen Figur aus dem ersten Satz begegnet man sofort wieder, auch die Skalenbewegungen oder das lyrische Seitenthema aus dem ersten Satz werden schnell in Erinnerung gerufen). Prinzipiell ein gut gelaunter Abschluss des Konzerts, aber nicht ganz ohne Vorbehalte. Ohnehin ist dem Konzert eine gewisse Janusköpfigkeit zu eigen, wie z. B. das lyrische Seitenthema des Kopfsatzes illustriert, das in etwa ab 4:08 seine endgültige Gestalt annimmt (und dann sofort erneut variiert bzw. gespiegelt wird): im Grunde genommen eine aufsteigende und eine absteigende Bewegung (insofern den Beginn reflektierend), die aufsteigende in großen Intervallschritten (Quinten), die wohl die Blechbläsergesten der Einleitung aufgreifen, während die absteigende auf Tonleiterbasis erfolgt und die Tonalität H-Dur entschieden festigt, fast ein wenig im Stile eines lyrischen Idylls. Der Eindruck einer gewissen Disparität lässt sich hier nicht ganz von der Hand weisen, wie das Thema auch eher konstruiert als inspiriert anmutet. Sein stärkstes Werk ist Wordsworths Cellokonzert sicher nicht, aber es hat seine Momente, eine Art rauen Charme.

Die Interpretationen durch das Sinfonieorchester Liepāja unter der Leitung von John Gibbons, im Cellokonzert zusammen mit dem Solisten Florian Arnicans, bewegen sich auf einem guten, sehr soliden Niveau. Das Orchester ist bereits in einer ganzen Reihe weiterer Toccata-Produktionen zum Einsatz gekommen und erweist sich einmal mehr als gepflegt aufspielender Klangkörper. Grundsätzlich tendieren die Darbietungen ins Lyrische, breit Ausgespielte mit ruhigen Tempi. Hier fügt sich auch das runde, warme Spiel von Florian Arnicans nahtlos ein. Was dabei allerdings ein wenig auf der Strecke bleibt, sind die Kontraste und die großen Linien, die Entwicklungen der Musik. Dies zeigt sich insbesondere im Vergleich mit den Alternativeinspielungen: ein Rundfunkmitschnitt der Fünften Sinfonie mit Stewart Robertson am Pult des BBC Scottish Symphony Orchestra ist bei Lyrita erschienen (anders als auf jener CD angegeben allerdings in Mono), und vom Cellokonzert existiert eine Rundfunkaufnahme mit Moray Welsh (wohl ein Mitschnitt der im Rundfunk erfolgten Uraufführung), die allerdings niemals kommerziell erschienen ist.

Die Sinfonie nimmt Robertson insgesamt deutlich flüssiger und mit größerem Augenmerk auf ihrer Dramaturgie, was der (ja z. T. durchaus gewollt einheitlich wirkenden) Musik gut bekommt. Hinzu kommt, dass Wordsworth eher kein großer Melodiker ist; im ersten Satz der Sinfonie ist es zum Beispiel vorwiegend das Mottothema, das dem Hörer im Gedächtnis bleibt (die Englischhornmelodie, die im Begleittext als zweites Thema bezeichnet wird, bleibt demgegenüber recht blass). Umso nötiger ist es, die Entwicklungen der Musik stärker in den Fokus zu rücken. Aber auch im Scherzo versteht es Robertson besser, das irrlichternde Moment, den rhythmischen Puls hinter all den bei Gibbons eher isoliert wirkenden Signalen herauszuarbeiten. Ähnlich verhält es sich auch im Cellokonzert: man kann das Werk natürlich eher lyrisch verstehen, aber ein plötzlicher Ausbruch wie gegen 4:00 im Finale (mit auf einmal bemerkenswert harscher Harmonik) kann eigentlich nur dann sinnvoll ins Gesamtbild integriert werden, wenn bereits vorher eine gewisse Spannung herrscht, wenn es unter der Oberfläche stets doch ein wenig brodelt. Hier macht sich auch der variablere, tendenziell nervösere Ton von Moray Welsh bezahlt. Abstriche muss man bei diesen Aufnahmen freilich bei der Klangqualität machen, etwa dann, wenn sich am Schluss der Fünften Sinfonie die Musik wie ein großes Panorama vor dem Hörer entfaltet, was natürlich in moderner Klangqualität eindrucksvoller wirken muss als bei einer (privat auf Tonband mitgeschnittenen) Rundfunkaufnahme.

Insgesamt besitzt Toccatas Wordsworth-Serie große Meriten, weil hier die Orchestermusik eines bis dato kaum mehr denn als Randerscheinung hervorgetretenen sehr respektablen Komponisten systematisch erschlossen wird. Vielleicht besteht ja sogar Hoffnung, eines Tages in diesem Rahmen der (vokalsinfonischen) Sechsten Sinfonie zu begegnen, die meines Wissens bis zum heutigen Tag ungehört geblieben ist.

[Holger Sambale, März 2022]

Ebenbild

PASCHENrecords, PR 220072; EAN: 4250976100723

Unter dem Titel Ebenbild präsentieren Juri Vallentin, Oboe, und das (Streich-)Trio d’Iroise ein durch verschiedene Länder und Zeiten führendes imaginäres Konzert, dessen Leitfaden das Lied Mein G’müt ist mir verwirret (bzw. O Haupt voll Blut und Wunden) bildet. Eingespielt wurden Werke von Hans Leo Haßler, Johann Sebastian Bach, Johann Gottlieb Janitsch, Charles Bochsa, Frederick Septimus Kelly und Theo Verbey.

1601 veröffentlichte Hans Leo Haßler (1564–1912) in seinem Lustgarten neuer deutscher Gesäng das Lied Mein G’müt ist mir verwirret. Fügt man die Anfangsbuchstaben der fünf Strophen zusammen, ergibt sich der Name der „Jungfrau zart“, die der unbekannte Dichter besingt: Maria – es kann also auch die Mutter Gottes gemeint sein. Damit reicht das Liebeslied in die geistliche Sphäre hinüber, der es später durch verschiedene Umtextierungen ganz einverleibt wurde. Als Wie soll ich Dich empfangen, vor allem aber als O Haupt voll Blut und Wunden wurde es zu einem der bekanntesten geistlichen Lieder deutscher Sprache.

Der Oboist Juri Vallentin und das Trio d’Iroise – Sophie Pantzier (Violine), François Lefèvre (Viola) und Johann Caspar Wedell (Violoncello) – haben Haßlers Lied als Leitfaden ihres Albums Ebenbild ausgewählt. Die CD enthält nicht einfach nur einzelne Stücke, die mehr oder weniger in Beziehung zueinander stehen, sondern bietet ein imaginäres Konzert, dessen Programm von den Musikern sorgfältig „komponiert“ wurde und in einem Zug, als ein großer Spannungsbogen, gehört werden will. Regelmäßig erscheint darin Haßlers Melodie: Sie findet ihr „Ebenbild“ in verschiedenen Bearbeitungen, teils ist sie nur als Anklang präsent – und manchmal verschwindet sie auch ganz, um später wieder aufzutauchen.

Zu Beginn erklingen die Diminutionen, die Hans Leo Haßler selbst über sein Lied geschrieben hat. Es handelt sich um Figuralvariationen, in deren Verlauf die Notenwerte der das Thema umspielenden Kontrapunkte immer stärker „dimininuiert“, also verkleinert, werden. Im Folgenden fungieren vier Bearbeitungen der Melodie durch Johann Sebastian Bach – drei aus der Matthäus-Passion, eine aus dem Weihnachtsoratorium – als Rückgrat des Programms. Der zyklische Charakter der Vortragsfolge wird unterstrichen, indem die Musiker das Ende jedes dieser fünf Stücke in einen ganz leisen Orgelpunkt überführen, über welchem anschließend die Schauspielerin Caroline Junghans jeweils eine Strophe des Originaltextes rezitiert.

Dazwischen nehmen uns Juri Vallentin und das Trio d’Iroise auf eine abwechslungsreiche Reise durch Länder und Zeiten mit. Zunächst führt sie ins friderizianische Berlin, zu Johann Gottlieb Janitsch (1708–1762), einen Hofmusiker Friedrichs des Großen, der Mitte des 18. Jahrhunderts als erster in der preußischen Hauptstadt öffentliche Konzerte für ein bürgerliches Publikum veranstaltete. In seiner Quartettsonate g-Moll – den Basso continuo ergänzt am Cembalo Bernward Lohr – spart Janitsch nicht mit galanten Melodien, doch seine musikalische Muttersprache ist der strenge barocke Kontrapunkt. Werke wie diese Sonate machen so recht verständlich, warum sich gerade Berlin nach 1750 zu einem Zentrum der Pflege Johann Sebastian Bachs entwickelte: Man wusste dort den Ernst dieser Kunst zu schätzen und nahm sie sich zum Vorbild zu eigener schöpferischer Arbeit. Der dritte Satz der Sonate verarbeitet O Haupt voll Blut und Wunden in der Art einer Choralbearbeitung. Die Melodie hat Janitsch mit empfindsamen Verzierungen versehen.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg komponierte der am Frankfurter Konservatorium ausgebildete Australier Frederick Septimus Kelly (1881–1916) ein Streichtrio, aus dem hier der langsame Satz, die Romance, zu hören ist. Sie beginnt mit Pizzicati der tiefen Streicher, über denen sich eine Violinkantilene ausgiebig entfalten darf. Im Mittelteil wechselt die Musik von Dur nach Moll und alle drei Instrumente werden gleichermaßen am Geschehen beteiligt, das durch expressive Melodik beeindruckt. Immer wieder scheinen Wendungen aus Haßlers Lied aufzublitzen, wobei man sich fragt, ob Kelly dies beabsichtigt hat, oder ob es nur aufgrund des Kontextes so wirkt, in den das Stück in der vorliegenden Aufnahme gestellt wurde. Immerhin erscheint eine Andeutung von Mein G’müt ist mir verwirret wahrscheinlich, da der Komponist das Werk für seine Kammermusikpartnerin, die Geigerin Jelly d’Arányi geschrieben hat, die ihn schwärmerisch verehrte. Bedenkt man aber, dass Kelly als Soldat im Ersten Weltkrieg sein Leben verlor, wirken die Anklänge an O Haupt voll Blut und Wunden wie eine düstere Vorahnung.

Ein verspieltes Intermezzo erklingt in Gestalt des Oboenquartetts in d-Moll von Charles Bochsa, einem nach Frankreich ausgewanderten Böhmen, über dessen Leben wenig bekannt ist, der aber der Generation Mozarts angehören dürfte und 1821 starb. Melodiebetont, in freundlichem Serenadenton gehalten und dem effektvollen Brillieren nicht abgeneigt, bietet das nur aus Allegro und Rondo bestehende Werk angenehme Unterhaltung in einem Stil, der eher „frühromantisch“ als „klassisch“ anmutet.

Mit den 4 Preludes to Infinity des Niederländers Theo Verbey (1959–2019) gelangen wir in die jüngste Vergangenheit. Die vier kurzen Stücke zeugen von der Fähigkeit ihres Komponisten, einem kleinen Kammerensemble eine Vielzahl reizvoller Klänge zu entlocken. Verbey lässt keinen Zweifel daran, dass er den Bezug zur Vergangenheit sucht. Frühere Epochen spiegeln sich deutlich in jedem der Stücke. Die ersten beiden – ein mysteriös tremolierendes Vorspiel und ein Scherzino im Gigue-Tempo – stehen in französisch-impressionistischer Tradition. Die ruhige Nr. 3 kommt ganz ohne „Modernismen“ aus, die Harmonik gemahnt in ihrer Schlichtheit an die Renaissance – wodurch ein Bogen zu Haßler geschlagen wird. Nr. 4 ist offensichtlich eine Hommage an Sibelius‘ Schwan von Tuonela.

Das imaginäre Konzert endet offen, denn am Schluss steht ein unvollendetes Werk: der Contrapunctus XIV aus Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge. Die Realisierung als Stück für Oboe und Streichtrio ist insofern problematisch, als dass die von der Oboe gespielte Stimme automatisch hervorsticht und die anderen Stimmen auch dann in den Hintergrund drängt, wenn sie eigentlich einer von ihnen den Vorrang lassen müsste.

Juri Vallentin und das Trio d’Iroise musizieren durchweg auf sehr hohem Niveau. Die Aufführungen wurden sorgfältig einstudiert, wie die feinen Differenzierungen in der Dynamik verraten, die allenthalben anzutreffen sind. Überlegte Phrasierungen zeugen von einem Sinn aller Beteiligten für melodische Entwicklung. Besonders loben muss man die Musiker dafür, dass sie die Stücke Haßlers, Bachs und Janitschs nicht einer bekannten Mode folgend in Form überakzentuierter Notentextreferate dargeboten haben, sondern wirklich – im wahrsten Sinne des Wortes – Zwischentöne hörbar machen. Im Falle des diskographisch bislang noch kaum erkundeten Janitsch kann man durchaus von einer Referenzaufnahme sprechen.

[Norbert Florian Schuck, März 2022]

Im Rausch

Decurio, DEC-005; EAN: 4 270000 083532

Auf ihrem Album mit dem Tite Volupté bündeln die Sopranistin Emma Moore und die Pianistin Klara Hornig Liederzyklen von Debussy, Kraus und Ullmann. Sie beginnen mit den vergleichsweise selten zu hörenden Cinq Poèmes de Charles Baudelaire von Debussy in ihrer für den Tonsetzer ungewohnt romantisch-wuchtigen Ausgestaltung. Im Zentrum stehen die Acht Gesänge nach Gedichten von Rainer Maria Rilke des eher als Dirigent bekannten Clemens Krauss. Ergänzt wird das Programm durch Viktor Ullmanns Fünf Liebeslieder nach Ricarda Huch op. 26.

Sinnlichkeit der Texte und der Musik, das bildet den Mittelpunkt des Albums Volupté von Emma Moore und Klara Hornig. Der nicht wörtlich ins Deutsche übersetzbare Titel steht dabei nach Aussagen der Künstlerinnen für das Schwelgerische, den Ausbruch aus den Konventionen und das Eintauchen in rauschhaft-weltfremde Zustände.

Als Auslöser für die Aufnahme fungierte ein Liedzyklus von Clemens Krauss bestehend aus acht Rilke-Vertonungen, der die Künstlerinnen seit Jahren in den Bann zieht und dem sie einen prominenteren Platz im Liedrepertoire wünschen. Die Musik von Krauss wird beeinflusst durch seine künstlerische wie private Nähe zu Richard Strauss, von dem er einige Werke uraufgeführt hat und sogar am Libretto der Oper Capriccio beteiligt war. Gerade harmonisch lässt sich die Nähe erkennen, wobei Krauss dem Höreindruck nach mehr den tonalen Zentren verbunden bleibt und unmittelbare Ausbrüche daraus ausschließlich in Ausdeutung des Textes unternimmt. Zumindest lässt Krauss seine Modulationen leichter verfolgen, als Strauss es meist tat – so behaupten sie Eigenständigkeit, die man ihnen nicht absprechen sollte. Die Acht Lieder muten im Klaviersatz äußerst orchestral an und bieten den Interpret*innen Herausforderungen nicht bezüglich des Mechanischen, sondern des Gestalterischen. In ihrer Wirkung erweisen sie sich jedoch als äußerst dankbar, da man den Text und die musikalischen Kommentare auf diesen gut verfolgen kann und sich so die Worte in den Tönen vornehmlich entfalten.

Die Cinq Poèmes de Charles Baudelaire erscheinen fast untypisch für Claude Debussy, so getragen voll und wuchtig behandelt er das Klavier. Trotz der typisch französischen Akkorderweiterungen schwingt ein wenig die deutsche Spätromantik mit, zumindest angesichts der ausladenden Gesten und des süffig schwelgenden Pathos. Allein die Länge des ersten Liedes erstaunt: Knappe neun Minuten misst es. Unabhängig dessen untermauern sie Debussys feines Gespür für die Texte und deren Bildlichkeit, die er bedingungslos in Töne verwandelt und es einmal mehr schafft, auch andere Sinne als das Hören allein durch die Imagination zu aktivieren.

Musikalisch am radikalsten begehren die Fünf Liebeslieder nach Ricarda Huch op. 26 auf, die gerade auch das sehnende, verlangende Element des Liebens thematisieren und greifbar mitfühlend ausdrücken. Ullmann setzt auf Kürze und Prägnanz, reduziert auf entscheidende Motive, statt die Linie frei dem Text nach umzusetzen, woraus eine extreme Geschlossenheit und Dichte resultiert. Er kreiert hoch expressive Mikrokosmen, die unter steter Hochspannung stehen. Ihm gelang wie nur wenigen anderen im Umkreis Schönbergs ein solch unverwechselbarer Personalstil.

Die vorliegende Aufnahme durch Emma Moore und Klara Hornig präsentiert eine innige, wohldurchdachte und doch emotionale Deutung der drei Liedzyklen. Die beiden Musikerinnen setzen auf Wärme und weichen Klang, auf Expressivität ohne Zwang. Klara Hornig denkt gerade Debussy und Krauss orchestral, was bei Letzterem an die Grenzen der klanglichen Möglichkeiten des Klaviers stößt. Ullmann erscheint bei ihr wieder pianistischer, dabei stets abgründig. Hornig kultiviert einen samtenen Anschlag frei von Härte und schlagenden Bewegungen, sie entwickelt eine ausgewogene Dynamik mit reicher Abstufung. Bei Emma Moore sticht besonders ihre klare Aussprache hervor, die jeden Konsonanten erklingen lässt, ohne ihn überzubetonen, was einerseits dem Textverständnis zugutekommt, andererseits aber auch einen angenehmen Ambitus an Konturen hervorbringt. Bis in die hohen Lagen brilliert sie durch einladend warmes Timbre. Unverkennbar bleibt die langjährige Zusammenarbeit der beiden Musikerinnen, die im gleichen Atem agieren und ihr Drängen und Innehalten perfekt abstimmen.

[Oliver Fraenzke, März 2022]

Eberls Quartette erblicken das Licht der Welt

Solo Musica, SM 391; EAN: 4 260123 643911

Das casalQuartett entdeckt die Musik von Anton Eberl, bei Solo Musica erscheint nun unter dem Titel „Rediscovered“ die Weltersteinspielung der drei Streichquartette op. 13.

Anton Eberl – bei eingehenderer Beschäftigung mit der Musik der Wiener Klassik kommt man kaum um diesen Namen herum; zu hören ist sein Schaffen allerdings ausgesprochen selten. Seine zu Lebzeiten hochgelobten Werke tauchen erst seit der Jahrtausendwende wieder vereinzelt auf der Bildfläche auf. Vor zwei Jahren erschienen die sieben Klaviersonaten in einer Einspielung durch Luca Quintavalle (Brilliant Classics), ebenso das Konzert für zwei Klaviere durch das Duo Tal & Groethuysen mit der Frankfurt Radio Symphony unter Reinhard Goebel (Sony), 2000 kamen die Symphonien durch das Concerto Köln heraus (Teldec). Nun darf das casalQuartett für sich beanspruchen, die Quartette Anton Eberls wiederentdeckt zu haben.

Der Name Eberl steht zumeist in unmittelbarer Verbindung zur Familie Mozart. Wolfgang Amadeus unterwies den um neun Jahre jüngeren Kollegen, woraus eine lebenslange Freundschaft zwischen den Familien erwuchs, die auch über den Tod Mozarts bestehen blieb, nämlich zu Constanze und ihrer Schwester. Der 1765 geborene Eberl trat in Kindertagen als Pianist auf, verschrieb sich nach einem aus finanziellen Gründen abgebrochenen Jurastudium vollständig der Musik. Fortan findet sich sein Name immer wieder an prominenter Stelle, so in Lobeshymnen von unter anderem Gluck, als Kapellmeister von Haydns Schöpfung in Russland, als Solist seines eigenen Klavierkonzerts neben Beethovens Eroica und als eigentlicher Autor von Mozart zugeschriebenen Werken. Die Presse überschlug sich förmlich des Lobes, zumeist übrigens mehr als über die Musik seiner heute bekannten Kollegen.

Wie so oft fällt, wenn ein unbekannter Tonsetzer aus der Vergessenheit geborgen wird, schnell das Wort „Epigonentum“, und es wird versucht, ihn in den Schatten des bewährten Meister zu stellen. Auch Anton Eberl war davor nicht gefeit, schnell reduzierte man ihn auf seinen Lehrer. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass Mozart seine Handschrift bei seinem Schüler hinterließ, allerdings nur im Bewusstsein darüber, wie die Naturgesetze der Funktionsharmonik walten und an welchen Stellen sie kurzzeitig umgangen werden können. Eberl lernte die Wendigkeit des musikalischen Geschehens und das Gefühl für gezielte Überraschungen und Unvorhersehbarkeiten. Die Art der Themenfindung, die aufkommenden Stimmungen und die Fortführung seines Materials hingegen sind genuin auf Eberl selbst zurückzuführen.

Die Drei Quartette op. 13 gab Anton Eberl 1801 gebündelt heraus und konzipierte sie als bewussten Zyklus dreier dennoch eigenständiger Werke, die sich in Gehalt und Spannung steigern – ähnlich ging vor allem Beethoven bei seinen frühen Opera vor, so den drei Sonaten op. 2. Die Drei Quartette halten sich an die klassische Viersätzigkeit und deren Formmodelle, brechen allerdings immer weiter die Strukturen auf. Gibt sich das Erste in Es-Dur noch recht normbewusst, begehrt die Nummer Zwei in D-Dur schon mehr auf. Das Hauptthema wirkt wie aus einer Oper entsprungen, schnell jedoch kippt die Situation und die Musik präsentiert auf knappem Raum eine Vielzahl an Stimmungen. Das Allegro-Menuett steht an zweiter Stelle und das Adagio non troppo an dritter: Hier keimt eine unerhörte Dunkelheit auf, die in ihrer introvertierten Spannung höchstens mit wesentlich später entstandenen Werken Schuberts vergleichbar wäre. Meisterlich gelingt der Übergang in den Schlusssatz, der noch verunsichert anhebt und erst allmählich anrollt, in der vorliegenden Aufnahme geschlagene zwanzig Sekunden braucht, bevor sich die gelöste Stimmung etabliert. Dies beweist, dass Eberl nicht nur an die Sätze an sich dachte, sondern die gesamte Dramaturgie bedachte. Das Dritte Quartett stellt ein Adagio an die erste Stelle, das in der Tonart g-Moll Licht und Schatten auslotet, wieder in beachtenswerte Tiefen blickt. Symphonisch hebt das Menuetto an, das bei aller scheinbaren Heiterkeit einen bitteren Beigeschmack nicht verliert. Auch in den kommenden Sätzen demonstriert Eberl die enorme Wirkung des schlichten Molls, spielt mit Kontrasten und legt bei enormer Wendigkeit des Geschehens jede Harmonie auf die Goldwaage.

Das casalQuartett setzt die Musik auf eine distanziert nüchterne Weise um, bleibt dabei höchst aufmerksam auf den Strom der Musik und geht in feinen Schattierungen auf die raschen Wechsel ein, welche hörbar werden, ohne zu sehr hervorzustechen. Übermäßige Kontraste vermeiden die vier Musiker, hüten sich also vor vermeidlichen Romantismen, welche die luzide Textur der Quartette zerfasern könnten. Die Stimmen entwickeln sich aus einem einheitlichen Klang heraus, bei dem die klangtechnisch oftmals auffallend weichere Bratsche sichtlich in die härteren Randinstrumente integriert erscheint. Das ermöglicht eine besondere Plastizität und Mehrdimensionalität des Klanges, da dieser einen einzigen Ursprung zu haben scheint. Unverkennbar besticht das fundierte Wissen, das die vier Streicher über die Entstehungszeit der Quartette und deren Aufführungspraxis besitzen (man beachte das Begleich-„Buch“ ihrer fünfteiligen Aufnahme Beethovens Welt 1799-1851 [Solo Musica, SM 283] mit allein 67 Seiten auf Deutsch vom Bratschisten des Quartetts). Dabei stellt das casalQuartett die Quartette nicht als verstaubte Museumsstücke dar, sondern holt die Kenntnis über jene Zeit in unsere heutige Klangkultur und schafft ein Stück lebendige Geschichte.

[Oliver Fraenzke, März 2022]

Ein Quartett für den Frieden: Robert Simpsons Streichquartett Nr. 10

CD: Hyperion CDA66225; EAN: 0 34571 16225

Noten: Roberton Publications 95448

Robert Simpson war Symphoniker durch und durch. Wie nur wenige andere Komponisten seiner Zeit beherrschte der 1921 geborene Brite die Kunst des Spannungsaufbaus über lange Strecken hinweg. Motivisch dicht gearbeitet, meist nur wenige motivische Zellen fortwährend variierend, dabei von einer nirgends nachlassenden Bewegungsenergie getragen, sind seine rund 60 Kompositionen durchweg Meisterleistungen in der Gestaltung großer Zusammenhänge. In einigen seiner Werke finden sich Abschnitte, die zum Eruptivsten gehören, was im 20. Jahrhundert geschrieben worden ist. So entfalten beispielsweise die Ecksätze der Fünften Symphonie eine geradezu manische Aktivität; zwei Blechbläserstücke werden durch ihre Titel Volcano und Vortex hinreichend charakterisiert; und der Schlussteil der Siebten Symphonie dürfte wohl der mächtigste Eissturm sein, den je ein Komponist durch den Konzertsaal hat tosen lassen.

Simpson komponierte nicht aus der abgesicherten Position akademisch kodifizierter Regeln heraus. Seine Motivtransformationen, seine Stimmführung, seine Harmonik wirken im besten Sinne abenteuerlich. Die Form eines Stückes war für ihn nichts, das sich im Vorhinein festlegen ließe, sondern ergab sich immer aus dem jeweiligen Kompositionsprozess, der durchaus auch für den Komponisten selbst Überraschungen bereit halten konnte. Das Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung während des Schaffens umschrieb er einmal dergestalt, dass er sich daran erfreue, ein wildes Tier („beast“) loszulassen und es dann zu reiten.

Die Ausbrüche und großen Steigerungen der Simpsonschen Musik stehen freilich stets in einem Kontext, der auch Momente der Ruhe und Einkehr umfasst. Die beiden erwähnten Symphonien enden leise und enthalten ausgedehnte langsame Abschnitte, die sich kaum übers piano erheben. Auch große Teile der raschen Sätze Simpsons spielen sich im piano-Bereich ab. Der häufige Gebrauch von Vortragsbezeichnungen wie tranquillo, dolce und cantabile sollte zudem eine Warnung davor sein, den Komponisten auf die schroffen und kantigen Charakteristika seines Schaffens zu reduzieren.

Die Weltanschauung dieses Mannes, der fähig war Musik von äußerster Heftigkeit zu schreiben, war zutiefst pazifistisch. Er wuchs in einer Familie auf, deren sämtliche Mitglieder in der Heilsarmee aktiv waren. Seinen eigenen Angaben zufolge wurde er als Neunjähriger zum entschiedenen Gegner aller kriegerischer Handlungen, nachdem er auf einer Heilsarmee-Veranstaltung die Rede eines ehemaligen Soldaten über dessen Erlebnisse im Ersten Weltkrieg gehört hatte. Beeindruckt vom Wirken Albert Schweitzers schwankte Simpson als junger Mann eine Zeit lang, ob er Musiker oder Mediziner werden sollte. Als er nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zum Kriegsdienst eingezogen wurde, verweigerte er den Dienst an der Waffe und verbrachte den Rest des Krieges als Mitglied einer mobilen Sanitätseinheit. In der Nachkriegszeit verfolgte er das atomare Wettrüsten der beiden Machtblöcke mit großer Sorge. Zunehmend abgestoßen von dem aufrüstungsfreudigen Kurs der Regierung Thatcher verließ er Großbritannien 1986 und zog nach Irland.

Ein schwerer Schlaganfall riss Simpson 1991 aus der produktivsten Phase seines Lebens. Hatte er in den vorangegangenen zehn Jahren rund die Hälfte seines Lebenswerks geschaffen, so gelang es ihm bis zu seinem Tode 1997 nur noch, ein bereits begonnenes Streichquintett fertigzustellen. Zu den Projekten, die Simpson nicht mehr realisieren konnte, gehört seine Zwölfte Symphonie, die als Chorsymphonie gedacht war. Es hat sich allerdings ein Programm erhalten, demzufolge das Werk die Evolution des Lebens zum Thema haben und auf eine pazifistische Botschaft hinauslaufen sollte:

„I. The formation of the sun and solar systems in a gas cloud.

II. The appearance of the most primitive form of live.

III. Division into plant and animal kingdoms.

IV. The active, aggressive animal – the growth of intelligence.

V. Violence. The aggressive stimulus to inventiveness.

VI. Wisdom. At all times it has existed, but has never been able to prevent the pervasive violence.

VII. The species has hitherto been able to survive its own violence, but no longer. Now it can destroy itself.

VIII. Non-violence or non-existence (Martin Luther King). The laws of chance provide for no other solution.“

Ein ausdrücklich dem Thema „Frieden“ gewidmetes Werk existiert jedoch aus Simpsons Feder: das Streichquartett Nr. 10, dem er den Titel For peace gab. Es entstand 1983 im Auftrag des dem Schaffen des Komponisten besonders verbundenen Coull Quartet, das am 23. Juni 1984 in der University of Warwick die Uraufführung spielte. Im Vorwort zur Partitur schrieb Simpson, diese Musik sei „kein Ausdruck quälender Angst“, sondern „versuche den Zustand des Friedens zu definieren“. Wie das Programm zur Zwölften Symphonie verrät, sieht Simpson den Frieden als Entschluss der Menschen gegen die Entfesselung der zerstörerischen (und selbstzerstörerischen) Kräfte, die ihnen durch die Evolution zuteil geworden sind. Es geht um den bewussten Umgang mit etwas, das in der Welt ist und weder ungeschehen gemacht, noch geleugnet werden kann. Frieden zu halten ist mithin ein Akt der Entscheidung und des Handelns.

Wie schlägt sich das in der Musik nieder? Simpson hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass er nichts davon hielt, die auf Quintverwandtschaften aufgebaute Tonalität durch präfixierte Systeme wie die Zwölftontechnik zu ersetzen. Er arbeitet immer mit tonalen Bezügen. Allerdings vermeidet er weitgehend den Einsatz klassischer Dominantharmonien und hält stattdessen die Musik nahezu durchgehend in einem harmonischen Schwebezustand. Bereits die Themen selbst durchschreiten in der Regel mehrere tonale Zentren. Simpson denkt polyphon und bildet durch Stimmführung eine Vielzahl Vorhaltsdissonanzen unterschiedlicher Spannungsgrade, die er oft nicht auflöst. Daraus ergibt sich, dass in seiner Musik über lange Strecken Dissonanzen auf Dissonanzen folgen. Verwundert es angesichts dieser Stilmittel, dass er sein Komponieren als einen Ritt auf einem wilden Tier beschrieb? Eine latente Spannung ist also bei Simpson immer vorhanden, auch im Streichquartett „für den Frieden“. In diesem Werk enthält er sich nach eigenen Worten der „Agressionen, nicht aber der starken Gefühle“. Die Herausforderung bestand für den Komponisten offenbar darin, mit Stilmitteln, die zur Schärfung des Tons und zur Zuspitzung konflikthafter Situationen bestens geeignet sind, ein Werk friedlichen Grundcharakters zu schaffen.

Simpsons Zehntes Streichquartett ist dreisätzig und dauert ungefähr 27 Minuten. Einem Allegretto-Kopfsatz (3/4-Takt) folgt ein ganz kurzes, scherzoartiges Prestissimo (2/4-Takt). Das Finale ist ein langsamer Satz (Molto Adagio, 3/4-Takt, am Ende 9/8-Takt bei gleichem Tempo), der allein etwa zwei Drittel der Gesamtspielzeit einnimmt. Satzfolge und Proportionen des Werkes erinnern an Beethovens Klaviersonate op. 109, allerdings ist nicht bekannt, ob Simpson – immerhin einer der besten Beethoven-Kenner – eine Anspielung an dieses Stück beabsichtigt hat. Alle drei Sätze sind überwiegend leise gehalten, aber jeder von ihnen steigert sich gegen Ende zu einem Höhepunkt im fortissimo, bevor sich die Musik wieder beruhigt. Dass der Frieden durchaus gefährdet ist, macht vor allem der letzte Satz deutlich. Sein Hauptgedanke ist ein Doppelthema, dessen zwei Stimmen vorwiegend in konsonanten Zusammenklängen geführt werden, wobei sich keine eindeutige Tonika durchsetzt. Es gewinnt im Laufe des Satzes durch rhythmische Variation ein wenig an Lebhaftigkeit, ohne dadurch seine ruhige Grundstimmung einzubüßen. Auch verbleibt die Musik über weite Strecken in der Zweistimmigkeit. Umso mehr überrascht das Fugato im letzten Satzdrittel. Mit der Ruhe ist es hier schlagartig vorbei: Alle vier Instrumente spielen durchweg fortissimo, immer kleinere Notenwerte dominieren das Geschehen und scheinen das Adagio in ein entfesseltes Allegro verwandeln zu wollen. Da besinnt sich die Musik plötzlich eines anderen und sinkt ins pianissimo zurück. Die erste Violine spielt eine graziöse Melodie, ein letztes Mal erscheint das Hauptthema in seiner Anfangsgestalt, und das Werk verklingt in einem ganz leisen Quartsextakkord.

Im Rahmen dieser kurzen Vorstellung ist es unmöglich, auf die ganzen Feinheiten ausführlich einzugehen, die dieses Quartett (wie auch die übrigen Streichquartette Simpsons) bietet. Wer hören will, wie Robert Simpson sich die musikalische Umsetzung des Friedens dachte, greife zu der Einspielung, die das Coull Quartett 1986 für Hyperion gemacht hat. Die Partitur ist 1990 bei Roberton Publications erschienen.

[Norbert Florian Schuck, März 2022]

Mark Andre: Drei exemplarische Uraufführungen der musica viva auf CD

BR Klassik 900637; EAN: 4 035719 006377

BR Klassik hat in der Reihe musica viva drei Uraufführungen von Werken des Deutsch-Franzosen Mark Andre aus den Jahren 2017 und 2018 mitgeschnitten. iv 13 (Miniaturen für Streichquartett), iv 15 (Himmelfahrt) für Orgel und woher…wohin für Orchester. Es spielen das Arditti String Quartet, Stephan Heuberger (Orgel) sowie das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Matthias Pintscher.

Die Musik des zunächst in Paris ausgebildeten, heute in Berlin lebenden Deutsch-Franzosen Mark Andre (Jahrgang 1964) hat in den letzten beiden Jahrzehnten zu einer ganz persönlichen und mittlerweile unverwechselbaren Klangsprache gefunden: Nur unter technischen Aspekten spürt man noch Einflüsse seiner Lehrer Claude Ballif und des Spektralisten Gérard Grisey. Stärker scheinen noch Eigenheiten durch, die Andre in den 1990ern bei Helmut Lachenmann perfektionieren durfte: höchste klangliche Differenzierung bei gleichzeitiger Reduktion bis an die Grenzen des Hörbaren sowie eine gewisse Vorliebe für starke Kontraste. Jedoch wurde Mark Andre – entgegen erster Befürchtungen des Rezensenten – keineswegs zum Epigonen von Lachenmanns Verweigerungsästhetik, die dort immer mit erheblichem Provokationspotential einherging. Andre zwingt sein Publikum zwar zu enormer Konzentration, öffnet aber gleichzeitig immer eine Tür zu metaphysischen und religiösen Sphären – auf beeindruckend zwingende Weise. Die drei auf der 37. Folge der „musica viva“ CD-Edition des BR vorgestellten Uraufführungen für ganz unterschiedliche Besetzungen belegen exemplarisch, wie stark Mark Andres Musik nun gereift ist.

Zwei der Stücke gehören zur mittlerweile 19teiligen Werkreihe »iv«, wobei das Kürzel für »introvertiert« steht. Die zwölf – sicher nicht zufällig wieder eine „heilige“ Zahl – Miniaturen (iv 13) für Streichquartett sind mit zusammen 24 Minuten jeweils deutlich länger als Anton Weberns epochale 6 Bagatellen op. 9 von 1911. Dennoch scheint ein Echo Weberns durch Andres Werk zu uns hinüber zu wehen. Die Spieltechniken – insbesondere verschiedenste Möglichkeiten der Dämpfung – sind penibelst notiert, dafür selten „normal“; die Grunddynamik ist extrem leise. Das Arditti Quartet ist bei solchen Herausforderungen natürlich in seinem Element, realisiert die Partitur präzise ohne bei den bewusst gesetzten Momenten des Verschwindens – ein zentrales Merkmal von Mark Andres Musik – jemals in ein Loch zu fallen: höchst beeindruckend!

Im Orgelstück Himmelfahrt (iv 15) gelingt Andre die Realisierung einer Ästhetik der Instabilität durch Techniken wie etwa das Ausschalten des Motors, wodurch der Winddruck nachlässt, und oft gleichzeitig stattfindende, originelle Registrierungen, die zu fast paradox erscheinenden Effekten führen können: „eine Präsenz des Göttlichen, die im Verschwinden erkannt wird und im Erkennen verschwindet“, wie es Christof Breitsamer in seinem Booklettext treffend beschreibt. Stephan Heuberger spielt auf dem Mitschnitt der Uraufführung der elektrischen Registrierfassung mit Verständnis und Hingabe – und es ist geradezu phänomenal, wie er überhaupt in der Lage ist, mit der äußerst kritischen Akustik der Pfarr- und Universitätskirche St. Ludwig in München zurechtzukommen: ohne die nun mehr als 20-jährige Erfahrung mit der dortigen Beckerath-Orgel von 1960 ein Ding der Unmöglichkeit. Auch der Tontechnik des SWR Experimentalstudios (Joachim Haas) muss man in diesem Zusammenhang größten Respekt zollen.

Höhepunkt der CD ist dann jedoch Andres Orchesterstück „woher…wohin“, das im Rahmen der Happy New Ears Preisverleihung der Hans und Gertrud Zender-Stiftung 2017 vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter dem sensationell mitreißend agierenden Matthias Pintscher im Herkulessaal dargeboten wurde. Das Werk bezieht sich auf das Johannes-Evangelium, Kap. 3, Vers 8: „Der Wind weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht. So ist es mit jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ Hierzu sei auf meine Besprechung besagten Konzerts verwiesen, das hier vom BR – aufnahmetechnisch gleichermaßen perfekt – mitgeschnitten wurde. Die aufschlussreiche Zusammenstellung mit gutem, sich der jeweiligen Programmhefte bedienenden Booklet erscheint dem Rezensenten dann ebenfalls durchaus preiswürdig.

[Martin Blaumeiser, Februar 2022]

Beethovens Diabelli-Variationen mit klanglichem Feingefühl

Sonus Eterna, 37423; EAN: 4 260398 610090

Der 1994 in Hamburg geborene Pianist Spartak Margaryan stellt sich Ludwig van Beethovens kolossalen 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli in C-Dur op. 120, heute hauptsächlich als Diabelli-Variationen bekannt. Die CD erschien beim Label Sonus Eterna.

Die umfangreichen wie anspruchsvollen, allein durch die Länge von etwa einer Stunde ehrfurchtgebietenden Diabelli-Variationen C-Dur op. 120 gehören zu den Meilensteinen der Klavierliteratur, zu einem Höhepunkt der Form allgemein. Dass Beethoven das schlichte, zu Beginn seiner diesbezüglichen Beschäftigung gar als „Schusterflecke“ verhöhnte Thema nicht mit bloßer Ornamentik und glitzerndem Fingerwerk füllen würde, erklärt sich von selbst, besieht man seine anderen als Variationen titulierten wie auch in anderen Großformen enthaltenen Ketten an Veränderungen. Selbst in seinen mit zwölf Jahren komponierten Dressler-Variationen WoO 63 beweist er schon das Gespür, Themen nicht bloß zu füllen, sondern als Ausgangspunkt für eigene Entwicklungen zu nutzen. Die Gattung der Variation sah Beethoven als lebenslanges Training für Kreativität und Formgestaltung, feilte entsprechend unentwegt daran, den Themen immer neue Facetten abzuringen. In den Diabelli-Variationen, einem seiner spätesten Klavierwerke, forderte er die Variation in all ihren Aspekten heraus, bewies vollständige Durchdringung des Themas und konnte jeden noch so nichtig erscheinenden Aspekt herauspicken und eigens ins rechte Licht rücken. Anders als in den zwischenzeitlich entstandenen drei letzten Klaviersonaten von 1822, wo die thematischen Fortspinnungen in Großformen zusammengeschweißt wie aus einem Guss erscheinen, brechen sich die Veränderungen des Diabelli-Walzers auf und scheinen in gewissen Teilen gar untereinander austauschbar zu sein: Beethoven präsentierte ein Kaleidoskop an Möglichkeiten, eine kaum würdig erscheinende Vorlage in hohe Kunst zu transformieren. (Dabei sollte die Vorlage doch nicht verachtet werden, denn sie wurde explizit als Vorlage für Variationen komponiert. Ihre Anlage fordert es, mit ihr frei zu verfahren, den Sinn für eigene Expansion und Gestaltungsgabe auf die Probe zu stellen.)

In der hier vorliegenden Aufnahme wagt sich ein junger, aufstrebender Pianist an dieses Spätwerk, welches neben fingertechnischen wie auch gestalterischen Höchstleistungen profunde Kenntnis der Genese der Beethoven’schen Variationsformen voraussetzt. Wäre dies nicht schon bemerkenswert genug, dass Spartak Margaryan sechsundzwanzigjährig das Studio betritt mit solch einem schwierigen, in zahlreichen Referenzaufnahmen bereits erschienenen „Brocken“ der Klavierliteratur, so besticht seine enorme Gesetztheit und profunde Kenntnis, ja Durchdringung des Werkes. Das Spiel ist weit entfernt von jugendlichem Stürmen und Drängen, von Selbstpräsentation – ganz im Gegenteil: Margaryan reduziert äußeren Glanz auf ein Minimum und taucht ein in die Tiefen von Beethovens Klangkosmos.

Spartak Margaryan sieht Beethoven nicht als polternden Vorreiter einer Ausdruckskunst, die wir landläufig als „Romantik“ bezeichnen, sondern bezieht Beethovens Satz auf die klangliche Verfeinerung und Differenziertheit der Wiener Klassik. Ungestümen Forti und Sforzati schwört er ab, nimmt auch Pedal mit Bedacht, lässt so eine luzide, gebändigte Klangkultur aufkeimen. Dabei schafft Margaryan doch Kontraste durch den deutlichen Unterschied zwischen Forte und Piano sowie zwischen den Variationen durch gewählte Tempi. Gerade die langsamen Veränderungen nimmt Margaryan gewagt langsam, fordert den innermusikalischen Zusammenhalt in einer Extremsituation heraus – geht aber in den meisten Fällen siegreich hervor. Lediglich die Variationen, die sich ununterbrochen um das immer gleiche Motivfragment drehen, so insbesondere die Variationen I und IX, könnten noch an Stringenz des Aufbaus hinzugewinnen, um die Form zu straffen. Umso gelungener dafür die kontrapunktische Ausgestaltung aller Stimmen, durch die selbstredend gerade die mehrstimmig angelegten Variationen aufblühen (also in erster Linie IV, V, XI, XIV, XIX, XXIV, XXX und XXXII), doch auch die restlichen Veränderungen ziehen große Vorteile aus der aktiven Gestaltung der Gegenstimmen, namentlich III, XII, XV und XVIII. Dagegen weiß Spartak Margaryan auch, Stimmen im Untergrund zu belassen, die ansonsten durch ihre Klangfülle die Melodie stören könnten (XVI und XXI).

Im Gesamteindruck legt Spartak Margaryan eine beeindruckende und in jeder Hinsicht bemerkenswerte Darlegung der 33 Veränderungen eines Walzers von Diabelli op. 120 vor, die durch präzise Kenntnis, musikalisches Feingefühl und gewählte Klangvorstellung überzeugt. Wir können gespannt bleiben, wie sich dieser junge Musiker weiterhin entwickeln wird!

[Oliver Fraenzke, Februar 2022]

Auf Tuchfühlung mit dem Klavier

divine art, dda 21373; EAN: 8 09730 13732 7

In seiner 3-CD-Kollektion At the Heart of the Piano (“Am Herzen des Klaviers”) stellt Burkard Schliessmann ein Programm existentieller Klavierwerke unterschiedlicher Epochen zusammen. Er beginnt mit Bach/Busonis Chaconne in d-Moll, bewegt sich über Schumanns Großformen der Symphonischen Etüden op. 13 und der Phantasie C-Dur op. 27 zu Liszts h-Moll-Klaviersonate, präsentiert eine Auswahl an Scriabins Klaviermusik (Sonate fis-Moll op. 23, Auswahl an Etüden aus op. 2 und 8 sowie Préludes aus den Opera 11, 16, 37 und 74, sowie die beiden Tänze op. 73), rundet schließlich mit der Klaviersonate op. 1 von Alban Berg ab.

Nach seiner 2016 erschienenen und von den Medien hoch gelobten 3-CD-Box Chronological Chopin legt Burkard Schliessmann bei divine art nun eine neue Sammlung an drei CDs vor, betitelt sie At the heart of the piano, zu deutsch „Am Herzen des Klaviers“. Es ist der Versuch, sich dem Klavier als Instrument zu nähern und ihm seine innigsten Emotionen abzuringen. Der Titel spricht die philosophische Fragestellung an, ob das Klavier als zunächst körperfremdestes aller Instrumente, bestehend größtenteils aus Holz und Metall, das ohne Körpereinsatz durch simplen Tastendruck einen vollendeten Ton hervorbringt, überhaupt Gefühle vermitteln und ausdrücken kann – ein Herz besitzt. Dies will Burkard Schliessmann beweisen durch ein sehr inniges Repertoire, das ihm spürbar viel bedeutet und das verschiedene Aspekte der Klavierliteratur auf (für die Größe des Projektes gar knapp bemessenen) drei CDs zusammenfasst. Es handelt sich ausschließlich um ältere Aufnahmen der Jahre 1990 (Scriabin), 1994 (Bach/Busoni und Berg), 1999 (Schumann Fantasie und Liszt) und 2000 (Schumann Etüden), die jedoch entweder noch nie oder nur in kleiner Auflage und regional beschränkt erschienen sind, mit neuem Master in frischem Glanz erstrahlen, so dass ihnen nun die Reichweite ermöglicht wird, die ihnen zustehen. Für sämtliche Aufnahmen verwendete Schliessmann seinen eigenen Flügel, als Steinway Artist ist dies ein Steinway Piano D Concert Grand.

Selbst bezeichnet sich Burkard Schliessmann in seinem ausführlich informierenden, sowohl Fakten als auch persönliche Anschauungen zu den Stücken preisgebenden Begleittext zu der Trippel-CD als Repräsentanten der „große[n] romantischen Tradition. Technische Beherrschung ist natürlich wichtig, aber meine Interpretationen bleiben im Wesentlichen intuitiv. Ich denke nicht nach und mache mir keine Gedanken über die Umsetzung meiner Interpretation.“ Wenngleich dies sicherlich für den Moment der Darbietung stimmen mag, so verschweigt er damit die immense Arbeit, die er zuvor mit den Werken hatte – gehabt haben muss. Denn es bleibt unüberhörbar, dass sich Schliessmann genaue Gedanken gemacht hat, was er mit den Werken aussagen will und wie seine persönliche Stimme in die Noten miteinfließen soll. In den Aufnahmen zeigt er sich als charakterstarker Pianist, der weiß, die Werke nach seiner Vorstellung zu formen und sie so auf ihn zugeschnitten zu gestalten.

Die berühmte Chaconne d-Moll mit Johann Sebastian Bach in der virtuosen Transkription Ferruccio Busonis gestaltet Schliessmann als Versuch einer Synthese einer barocken und einer frühmodernen Spielweise, verzichtet auf halligen Klang und setzt auf präzisen, dabei wirkungsstark-prägnanten Anschlag. Das tempo rubato spart er sich für besondere Momente auf, um dort den Ausdruck zu maximieren.

Schumann spielt Burkard Schliessmann wahrhaft appassionato, wobei er die Phantasie vergleichsweise noch klassischer nimmt, um dafür die Symphonischen Etüden umso romantisch-beschwingter gestalten zu können – dieser Eindruck mag aber zum Teil auch am unterschiedlichen Hall liegen, denn bei den Etüden spielt leider der Raum deutlich mit hinein (während hingegen bei den anderen Aufnahmen die Akustik sehr deutlich und klar dem Klavierklang schmeichelt). Bei beiden Stücken nutzt der Pianist deutliche Tempokontraste und Rubati für starken Effekt, setzt einzelne Passagen deutlich gegeneinander ab und gibt so der Musik plastisch-lebendiges, dabei spontanen erscheinendes, beinahe improvisatorisches Antlitz. Er spielt mit dem Nachhall des Pedals, um orchestrale Klangfülle zu entwickeln, wobei ich behaupten würde, er sieht das „Symphonische“ der Etüden nicht auf die Nachahmung bestimmter Orchesterinstrumente, sondern rein auf die differenzierte Klangfarbigkeit des Klaviers bezogen. Auch experimentiert Schliessmann mit dem Verhältnis der Stimmen zueinander, was deutlich in den Variationen vier und sechzehn zutage tritt: Die Melodie bleibt deutlich, muss sich aber stets gegen die brodelnden Nebenstimmen behaupten, was das Zuhören ungemein spannend macht.

Franz Liszts gewagte, erst spät von der Öffentlichkeit anerkannte Sonate h-Moll stellt Burkard Schliessmann durchaus ruppig dar, lässt den Klang in ungeahnte Höhen aufschaukeln und nimmt sich sogar die Freiheit, manche Höhepunkte gewalttätig darzustellen – wohl ganz so, wie der große Virtuose und Publikumsmagnet Liszt es seinerzeit gespielt haben könnte, um mit dem Effekt zu polarisieren. Doch dass dieser bei Schliessmann nicht an erster Stelle steht, zeigt die zutiefst musikalische Ausgestaltung der Themen und deren Abwandlungen im Lauf des Stückes, wobei er besonders dem Hauptthema gespenstisch-erdrückende Präsenz verleiht. So gelingt ihm ein aus einem Guss erscheinender Gesamteindruck von ausgefeilter psychologischer Natur, die in sich stimmig erscheint.

Von Alexander Scriabin stellt Burkard Schliessmann ein Programm quer durch alle Schaffensperioden dar, von den noch auf Chopin bezogenen Etüden opp. 2 und 8 und den Préludes op. 11 über die an Eigenständigkeit gewinnende Sonate fis-Moll op. 23 bis hin zu den späten Tänzen op. 73 und Préludes op. 74, welche in ihrem spirituell anmutenden Habitus und der komplex erweiterten Harmonik absolut eigenständig in der Musikgeschichte erscheinen. Die fließenden, frei anmaßenden Formen liegen dem instinktiven Spiel des Pianisten, der so die einzelnen Momente zum Erblühen bringt und dabei die Gesamtform zusammenzuhalten weiß. Die rhythmische Polyphonie zwischen den Händen oder deren einzelnen Stimmen stachelt ihn an, ein hohes Maß an Feinheit zu erhalten, selbst in groß auftrumpfenden Passagen. Die Kontraste treibt Schliessmann auf die Spitze und zeigt so bereits den frühen Scriabin als modern-fortschrittlichen Komponisten.

Das Programm schließt mit Alban Bergs Sonate op. 1, ein Paradestück der frühen Moderne und besonders der freien Tonalität, die doch immer tonartliche Beziehungen erkennen lässt. Schliessmann schafft hier eine Brücke zwischen Zweiter Wiener Schule und dem ekstatischen Scriabin, holt auch bei Berg gewisses Volumen hervor und erlaubt sich tempomäßige Freiheiten, um die Dichte der Polyphonie zu unterstreichen.

So gelingt eine stilistisch einheitliche und doch vielseitige Darstellung von Schliessmanns pianistischem Schaffen, die uns durch die höchst persönlichen Anschauungen des Pianisten Meisterwerke verschiedener Epochen ganz menschlich nahebringt und uns einlädt, sie zu erkunden.

[Oliver Fraenzke, Januar 2022]

Begeisternde Neuaufnahme von Villa-Lobos‘ Violinsonaten

Naxos 8.574310; EAN: 7 47313 43107 6

In der höchst erfreulichen Naxos-Reihe „The Music of Brazil“ erschien die zweite CD mit dem Violinisten Emmanuele Baldini, der – diesmal begleitet von Pablo Rossi – hier die drei Violinsonaten von Heitor Villa-Lobos eingespielt hat.

Im Gegensatz zu den 17 Streichquartetten, die Heitor Villa-Lobos (1887–1959) während seiner gesamten Komponistenlaufbahn begleitet haben, befasste sich der Brasilianer mit anderen Genres der Kammermusik eher sporadisch. So stammen seine drei Violinsonaten – die beiden ersten tragen außerdem nicht umsonst die alternative Bezeichnung Fantasia – sämtlich aus dem Zeitraum 1912–1920; eine Phase, in der der Komponist allerdings mit raschen Fortschritten zu seinem persönlichen Stil fand. Die neunminütige erste Sonate komprimiert das Schema schnell–langsam–schnell auf einen kompakten, mit Désespérance betitelten Satz, dessen langsamer Mittelteil anstelle einer normalen Durchführung steht und ein neues Thema der Geige in Flageoletts bringt. In der Reprise erscheinen die drei Themen der Exposition schließlich in umgekehrter Reihenfolge. Das zwischen Trauer und Übermut schwankende Werk steht noch ganz in spätromantischer Tradition.

Der zweiten Sonata fantasia (1914) merkt man dann schon sehr an, dass Villa-Lobos – er selbst spielte bislang vor allem Cello – nun mit der Pianistin Lucília Guimarães verheiratet war. Die Schreibweise besonders für das Klavier, aber ebenso für die Violine, wird deutlich elaborierter. Das Stück besteht aus drei vollwertigen Sätzen und ist eine der frühesten Kompositionen, wo Villa-Lobos Elemente der Volksmusik – zwischen 1905 und 1912 hatte der Mann aus Rio de Janeiro ausgiebig das Landesinnere Brasiliens bereist – mit einfließen lässt. Höhepunkt ist, wie auch meist in seinen Symphonien, der abwechslungsreiche, innige zweite Satz, der an impressionistische Stimmungen anknüpft; besonders schön, wenn sich die Musik etwa an Momente mit Ganztonleitern geradezu verlieren darf. Das Finale bedient eine umfängliche Rondoform.

In der letzten Sonate aus dem Jahr 1920 verlässt Villa-Lobos trotz äußerer Dreisätzigkeit vertraute Konventionen. Der Kopfsatz ist ein Adagio, das wahrlich rhapsodisch zu nennen ist; der Komponist hat sich jetzt zu einem „universalen Folkloristen“ (Villa-Lobos) entwickelt, der sich seine multi-ethnischen Quellen auf vielfältigste Weise nutzbar macht – zusammen mit immer weiter verfeinerten Techniken europäischer Kunstmusik. Auf das virtuose Scherzo folgt hier am Schluss ein rasanter Sonatensatz – was für ein hinreißender Kracher! Unverständlich, dass sich die Geiger nicht auf diese wundervoll inspirierende Musik stürzen. Emmanuele Baldini, der den Rezensenten bereits mit seiner ersten CD in obiger Naxos Reihe – mit Violinsonaten von Miguez und Velásquez – total begeistert hatte (siehe Rezension), hält bei Villa-Lobos erneut sein Weltklasse-Niveau.

Verglichen mit der musikalisch hochrangigen Konkurrenz kann er sowohl Jue Yao – die 1989 mit dem Amerikaner Alfred Heller die Sonaten eingespielt hat – als auch Jenny Abel (mit Roberto Szidon) klanglich, intonatorisch und von der differenzierten Formdurchdringung her locker ausstechen. Das gilt insbesondere für die ersten beiden Sonaten, dessen romantisch-impressionistischer Gestus dem italienischen Geiger anscheinend perfekt liegt. Die dritte Sonate geht Baldini stellenweise zu diskret an – z. B. bei den zahlreichen Glissandi im ersten Satz, die mehr nach Seufzern klingen dürften. So gelingt auch die fantastische Farbigkeit von deren Finale Abel/Szidon am besten, trotz unerträglich viel Halls. Der brasilianische Pianist Pablo Rossi ist ein exzellenter Begleiter, der es mit Szidon durchaus aufnehmen kann und Heller – immerhin noch ein persönlicher Schützling Villa-Lobos‘ –, der äußerst trocken und akademisch wirkt, weit überlegen ist. Die außergewöhnliche Spielfreude von Karin Fernandes in der Miguez/Velásquez-CD erreicht er leider nicht ganz. Aufnahmetechnisch ist die wirklich vorzügliche Naxos-Produktion aus New York ohnehin mit Abstand am natürlichsten, gewinnt somit in der Summe den Wettstreit der drei Gesamtaufnahmen klar.

Vergleichsaufnahmen: Jue Yao, Alfred Heller (Etcetera KTC 1101, 1989); Jenny Abel, Roberto Szidon (Bayer Records BR 100119; lizensiert: Brilliant Classics 9051, 1982)

[Martin Blaumeiser, Januar 2022]