Bereits im letzten Sommer erschien auf EuroArts die neue Gesamtaufnahme des Solo-Klavierwerks der viel zu jung verstorbenen tschechischen Komponistin Vítězslava Kaprálová (1915–1940), in Berlin eingespielt von der deutschen Nachwuchspianistin Leonie Karatas. Bislang eher als Randnotiz erwähnt, wird es Zeit für ein ausführlicheres Plädoyer für diese beachtliche Darbietung.
Nach einigen teils schon etwas älteren Produktionen aus Tschechien bzw. der damaligen Tschechoslowakei hatte vor anderthalb Jahren das Naxos-Label mit einem Querschnitt durch ihre Orchesterwerke erneut auf Vítězslava Kaprálová aufmerksam gemacht (siehe unsere Rezensionen). Von einzelnen Klavierwerken der fast noch jugendlichen Hochbegabung existierten bereits verschiedene Einspielungen, allerdings auch erst eine Gesamtaufnahme – vom tschechischen Pianisten Giorgio Koukl auf Grand Piano.
Die Neuaufnahme des Klavierwerks durch Leonie Karatas – mit Unterstützung der Kaprálová Society – erweist sich nicht nur als erfreulich, sondern derjenigen Koukls in vielerlei Hinsicht deutlich überlegen. Zwar stellt Jonathan Woolf, der sich die CD für MusicWeb International angehört hat, zu Recht fest, dass Karatas‘ Tempi durchgängig langsamer sind als die Koukls, zieht daraus allerdings zu einseitige Schlüsse und vergleicht in einem Fall sogar Äpfel mit Birnen: Leonie Karatas spielt bei den Drei Klavierstücken op. 9 als drittes – wie vorgesehen – Scherzo Passacaglia, Giorgio Koukl hingegen anstatt dieses dritten Stückes die Grotesque Passacaglia. Das sind zwar nur zwei Versionen desselben musikalischen Materials – jedoch enden sie in jeweils anderen Tonarten (A-Dur – passend zum Rest von Op. 9 – bzw. C-Dur); vor allem aber ist Scherzo Passacaglia um 40 Takte länger und braucht bei Karatas dann halt entsprechend 70 Sekunden mehr. Abgesehen davon, dass sich Karatas womöglich selbst nicht darüber im Klaren ist, es mit zwei verschiedenen Stücken zu tun zu haben – in ihrem persönlichen Booklettext schreibt sie „Scherzo Passacaglia, auch Grotesque Passacaglia genannt“ – entdeckt sie bei real langsamerem Grundtempo allerdings darin so einen völlig ironischen Wiener Walzer, wo sich Koukl mit ein wenig schräger neoklassizistischer Strenge begnügt.
Da, wo die junge deutsche Pianistin sonst noch tatsächlich spürbar langsamer ist (etwa im Praeludium von Op. 9), bringt sie dafür immer Details zum Leben – deutlicher gemachte polyphone Stimmführung, schärfere dynamische Kontraste – und unterfüttert interessante harmonische Wendungen teilweise mit sinnvoller Agogik. Es stimmt freilich, dass dadurch an manchen Stellen der musikalische Fluss unnötig zäh gerät. Auf der anderen Seite wirkt die demonstrative Eloquenz des Routiniers Koukl keineswegs überall stringenter, sondern oft auch schlicht langweilig. Karatas‘ reiche Farbpalette und ihre feine, sehr bewusste Anschlagskultur verleihen der Musik Kaprálovás – selbst Frühwerken wie den Fünf Klavierkompositionen von 1931–32 – stets Gewicht und Charakter, ganz gemäß der Prämisse „jeder […] noch so scheinbar übertriebenen Emotion, jedem Stimmungswechsel, jedem Augenzwinkern Raum zu geben, sofern es die Musik stimmig erlaubt“. Dazu kommt eine exzellente Aufnahmetechnik, die den Steinway in der Berliner Ölberg-Kirche räumlich und dynamisch hervorragend abbildet, wohingegen Koukls Flügel schon suboptimal gestimmt ist und dadurch unentwegt unschöne Obertonartefakte produziert.
In den vier April-Präludien op. 13 gelingt so eine bemerkenswerte Kombination von schon enormer Virtuosität – gerade im vierten, durchaus an Prokofieff erinnernden Stück – und ergreifender Schlichtheit (3. Prélude), bei der Karatas keinerlei Details überspielt und emotional ebenso verständlich bleibt. Nicht nur hier passieren übrigens Koukl einige Lesemissverständnisse: In den Schlusstakten des Andante semplice muss es z. B. in der Oberstimme dreimal h heißen. Zwei fehlende Auflösungszeichen in den letzten drei Takten sind ein Fehler des Erstdrucks; Karatas macht es richtig.
Die beiden kniffligsten und musikalisch anspruchsvollsten Klavierwerke der Tschechin – die großartige Sonata Appassionata op. 6 sowie die Variations sur le carillon de l’église St-Étienne-du-Mont op. 16 meistert Leonie Karatas eh‘ überzeugend. Gerade in den technisch vertrackten Passagen – dem Fugato im Variationssatz der Sonate und der 4. Variation ‚Quasi étude vivo‘ des Carillon – zeigt sich ihre bestechende Pianistik. Insgesamt betrachtet sie Kaprálovás Klavierwerk etwas zu sehr von der französisch-impressionistischen Seite. Immerhin ertränkt sie trotz dieser Lesart nicht derart viel im Pedal wie Koukl. Die wild-slawischen Momente kommen in ihrer Ungezügeltheit jedoch fast ein wenig zu kurz: Hier bräuchte es sogar noch mehr Mut zum Extrem. Einen spannend-irritierenden Hörgenuss bietet diese gelungene CD allemal.
Vergleichsaufnahme: Giorgio Koukl (Grand Piano GP708, 2016)
Als preisgünstige Box kann man von Capriccio mittlerweile die Edition sämtlicher Flötenwerke der Doppler-Brüder Franz (1821–1883) und Carl (1825–1900) erwerben. Im Laufe der Aufnahmesitzungen zwischen 2007 und 2020 wurden dabei zahlreiche Werke neu entdeckt, so dass der Umfang von den ursprünglich geplanten 10 auf 12 randvolle CDs anwuchs. Eine editorische Meisterleistung, die vor allem dem unermüdlichen Forscherdrang des katalanischen Flötisten Claudi Arimany zu verdanken ist, der auch musikalisch als Hauptprotagonist auftritt.
Die aus Lemberg – dem heutigen Lwiw – stammenden Brüder Franz und Carl Doppler machten in der k. u. k. Monarchie in vielfältiger Weise Karriere: Dirigierend brachte es Franz bis zum zeitweisen Chefdirigenten der Wiener Hofoper, Carl über Budapest bis zum langjährigen 1. Kapellmeister in Stuttgart. Unvergessen blieben sie jedoch als Flötenvirtuosen und Komponisten, die europaweit auch gerne als Duo auftraten.
Obwohl die gut zwanzig Opern und Ballette das eigentliche Zentrum des kompositorischen Schaffens von Franz Doppler bildeten, wobei er sowohl deutschsprachige als auch ungarische Libretti vertonte, sind die Flötenwerke der Brüder heute natürlich von herausragender Bedeutung, da diese sich von frühester Jugend an mit „ihrem“ Instrument identifizierten und die Flöte beider Werdegänge – zunächst als Orchestermusiker – maßgeblich fördern sollte. Man kann eine Reihe von „Gattungen“ des gut über 100 Stücke (auf den CDs 157 Tracks) umfassenden Katalogs ihrer Flötenmusik unterscheiden: Musik für zwei Flöten ohne Begleitung (Stücke für Flöte solo existieren nicht!), Musik für eine bzw. zwei Flöten und Klavier – darunter Originalkompositionen und Bearbeitungen, wobei Opernpotpourris eine besondere Bedeutung haben –, Musik für Flöte(n) mit anderen Besetzungen, schließlich Werke für Flöte(n) und Orchester.
Bei der Musik mit zwei Flöten und Klavier handelt es sich bisweilen um gemeinschaftliche Produktionen beider Doppler-Brüder, wohingegen die Opernpotpourris für zwei Soloflöten sämtlich von Franz stammen. Diese Bearbeitungen mögen gegenüber den zeitgenössisch üblichen Reduktionen von Opernhits für Klavier vierhändig zunächst etwas fremdartig anmuten, erweisen sich allerdings beim näheren Hinhören als erstaunlich farbige und gekonnte Hilfsmittel zur Erschließung populären Opernmaterials. Obwohl nur relativ simple Aneinanderreihungen der jeweils bekanntesten Melodien, sind sie klanglich befriedigend und dramaturgisch geschickt angelegt, bringen die Arien nicht chronologisch und beziehen zumeist als Rahmung Teile der Ouvertüren mit ein. Einige dieser Potpourris existieren zudem in der Fassung für eine Flöte plus Klavier – und so finden sich in der Box musikalisch einige quasi „Doubletten“.
Von ganz anderer Qualität sind dann schon die Fantasien bzw. Paraphrasen über Fremdmaterial bzw. populäre Volksmelodien für Flöte(n) plus Klavier oder Orchester. Wenn Franz Doppler hier zwar nicht die Höhe entsprechender Werke Liszts erreicht – die Klavierparts sind eh‘ immer „machbar“ ausgelegt –, gibt es darunter etliche ansprechende und musikalisch einfallsreiche und gehaltvolle Stücke – zumindest mit virtuosen und dankbaren Flötenparts. Im Duettino über amerikanische National-Motive op. 37 hören wir so nicht nur allseits bekanntes amerikanisches Liedgut, sondern zusätzlich die Nationalhymne. Noch eine Stufe hochwertiger – zumindest für heutige Ohren – sind die echten „Originalkompositionen“, gerade von Franz. Dabei förderte die gründliche Materialrecherche einige Überraschungen zu Tage: Vor allem entdeckte man in den Altbeständen des Schott-Verlags – seit einigen Jahren im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek –, dass das immer schon als echtes Kleinod beliebte Andante et Rondo op. 25 für zwei Flöten und Klavier nur die beiden letzten Sätze einer veritablen viersätzigen Sonate in C-Dur darstellt, deren Anfangssätze Franz Doppler nicht veröffentlicht sehen wollte – warum auch immer. Originell sind weiterhin ein paar ungewöhnliche Besetzungen wie Das Waldvöglein op. 21 für vier Hörner und Flöte als Stimmungsbild mit klarer Rollenverteilung.
Die einzelnen CDs der Edition bedienen jeweils all diese Kategorien, wobei (in CDs 1–9) als krönender Abschluss etwas mit Orchester steht; teils in Orchestrierungen von Zeitgenossen. Höhepunkt hier ist natürlich Franz‘ Konzert d-Moll für zwei Flöten von 1854, das es durchaus mit der großen, dramatischen Konzertliteratur dieser Zeit für andere Instrumente aufnehmen kann, zweifellos ein Meisterwerk. CD 12 bringt schließlich noch Widmungen anderer Komponistenkollegen an Franz Doppler, darunter mehrere Fantasien über dessen Opernthemen.
Der katalanische Flötist Claudi Arimany (Jahrgang 1955) war Schüler des legendären Jean-Pierre Rampal (1922–2000) und gilt gerade als Pädagoge als dessen legitimer Nachfolger. Und – mit Erlaubnis von Delos – hören wir ihn auf CD 10 sogar nochmal mit Rampal und besagtem Opus 37 in einer Aufnahme von 1996. Arimany stemmt auch einen Großteil der Flötenparts der gesamten Box, wird aber von 17 weiteren Kollegen seines Fachs tatkräftig unterstützt, darunter Berühmtheiten wie János Bálint, Robert Aitken oder Lukas Dlugosz, deren Leistungen allesamt höchsten Erwartungen gerecht werden. Ausgezeichnet ebenso die Sopranistin Ingrid Kertesi mit einem faszinierenden Pásztorhangok (CD 2). Die Pianisten der Box können hingegen nicht vollständig überzeugen, liefern teilweise nur solide Begleitroutine ab, ohne klanglich oder musikalisch eigene Akzente zu setzen. Die verschiedenen, meist kleineren spanischen Orchester unter den jeweiligen Dirigenten machen ihre Sache dafür mehr als ordentlich.
Aufnahmetechnisch gibt die gesamte Box keinen Anlass zur Kritik, auch wenn Hall und Räumlichkeit nicht immer optimal wirken. Interessant und sehr sorgfältig ediert sind die Booklets – leider zumindest in der Download-Version nur auf Englisch. In sich über mehrere Heftchen fortsetzenden Essays erfährt der Leser nicht nur einiges aus dem Leben der Doppler-Brüder, teils autobiographisch wie über Zeitzeugenberichte, sondern es gibt neben den detaillierten Informationen über die einzelnen Werke zudem einige Spezialaufsätze, die z. B. der Frage nachgehen, warum die Dopplers zeitlebens die moderne Böhm-Flöte ablehnten und an der französischen Klappenflöte mit Tulou-System festhielten. Insgesamt kann man die editorische Leistung dieser Veröffentlichung in höchsten Tönen loben. Und die Flötengemeinde darf nicht nur fast 15 Stunden herrlichster Musik genießen – die allererste Gesamtaufnahme der Doppler-Kompositionen ist schlicht ein Muss!
Anlässlich des Gedenktages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 stellt Karin Coper Aufnahmen zweier Werke vor, die den Holocaust thematisieren: Mieczysław Weinbergs Oper Die Passagierin und Mischa Spolianskys Symphonie in fünf Sätzen. (D. Red.)
Capriccio, C5455; EAN: 845221054551
„Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“, dieser Satz von Theodor W. Adorno ist der am häufigsten zitierte aus seinem 1955 veröffentlichten philosophischen Text Kulturkritik und Gesellschaft. Da war die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust noch ein Tabu. Das hat sich im Laufe der Zeit geändert, ob im Film oder Theater, in Literatur oder Musik. Selbst in der Oper ist das vermeintlich nicht Singbare angekommen. Beispiele dafür sind Sophies Choice von Nicholas Maw, Das Frauenorchester von Auschwitz von Stefan Heucke und – ganz aktuell – die gerade in Hof aufgeführte Helena Citrónová des thailändischen Komponisten Somtow Sucharitkul. Keine jedoch ist so eindringlich geraten wie Die Passagierin von Mieczysław Weinberg. Das liegt einerseits am Libretto, das auf dem eigene Erlebnisse verarbeitenden Hörspiel und Roman der Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz – im Leben wie im Stück Nummer 7566 – beruht. Zum anderen an der 1968 entstandenen Komposition, über die der Weinbergfreund und -förderer Dmitri Schostakowitsch 1974 im Vorwort zum Klavierauszug schrieb: „Ich werde nicht müde, mich für die Oper… zu begeistern. Dreimal habe ich sie schon gehört, die Partitur studiert, und jedes Mal verstand ich die Schönheit und Größe dieser Musik besser. Ein in Form und Stil meisterhaft vollendetes Werk.“ Aufgeführt wurde es trotz Schostakowitschs Empfehlung in der Sowjetunion nur konzertant. Erst 2010 erlebt es bei den Bregenzer Festspielen seine posthume szenische Premiere. Sie markierte nicht nur den Beginn einer nachhaltigen europaweiten Rehabilitation der Oper, sondern auch jene von Weinberg, dem zu Lebzeiten die Anerkennung weitgehend verwehrt wurde – trotz eines imponierenden Werkkatalogs, darunter 22 Symphonien, 17 Streichquartette und 7 Opern. Viele dieser Kompositionen drehen sich um Krieg und seine Folgen, sie sind geprägt von Weinbergs eigener, von antisemitischem Terror geprägter Biographie. Als Einziger der Familie konnte der 1919 in Warschau geborene jüdische Künstler vor den Nazis in die Sowjetunion fliehen, war aber auch in seiner neuen Heimat Ressentiments ausgesetzt. In Die Passagierin begegnet die ehemalige KZ-Aufseherin Lisa während einer Schiffsfahrt lange nach Ende des Weltkriegs einer Frau, die sie an die Gefangene Marta erinnert. Die Szenen auf dem Ozeanriesen wechseln ab mit Rückblenden aus dem Lagerleben; erschütternd etwa, wenn die inhaftierten Frauen in ihrer jeweiligen Muttersprache – polnisch, französisch, deutsch, englisch und hebräisch – Gebete, Volkslieder oder Klagen singen. Dicht gewebt ist die mit Chören, Soli, Duetten und Ensemble formal traditionelle Partitur, mal sparsam instrumentiert, mal expressiv ausbrechend, mal lyrisch zärtlich. Es gibt Einsprengsel aus der Unterhaltungsmusik, wie die von der Schiffskapelle gespielten Modetänze oder den Lieblingswalzer des Kommandanten, und auch der Klassik, etwa von Bach und Schubert. Welche Relevanz die Oper inzwischen bekommen hat, zeigt sich daran, dass bereits die dritte DVD erschienen ist: der von Teodor Currentzis dirigierte Mitschnitt aus Bregenz, die russische Premiere in Jekaterinburg und – als jüngste Veröffentlichung – die Verfilmung der Grazer Produktion 2021, die auch als CD erhältlich ist. Sie beweist, dass die Musik auch ohne Szene gefangen nimmt. Unter der konzentrierten Leitung von Roland Kluttig lässt sich das Ensemble mit spürbarer Intensität auf seine Rollen ein: Dshamilja Kaiser als sich gegen die Vergangenheit aufbäumende Aufseherin Lisa, Will Hartmann als ihr immer mehr verunsicherter Ehemann, Nadja Stefanoff als unbeugsame Marta und Markus Butter als ihr mutiger Geliebter. (Capriccio)
Toccata Classics, TOCC 0626; EAN: 5060113446268
Eine ganz andere Form für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Holocaust wählte Mischa Spoliansky. 1969, ein Jahr nach Die Passagierin vollendete er seine Symphony in Five Movements, an der er über zwanzig Jahre lang, von 1941 an, gearbeitet hatte. Sie ist ein Solitär im Schaffen des Komponisten, der mit seinen Revuen, Schlagern, Kabarett- und Filmliedern zu den ganz Großen der Unterhaltungsmusik der „Goldenen Zwanziger“ zählt. Aufgrund seiner jüdischen Wurzeln musste er wie so viele Leidensgenossen emigrieren und ging ins englische Exil. Die fünf Sätze der Sinfonie haben jeweils einen Titel mit vermutlich biographischem Bezug. Nummer vier heißt „Of Weeping“. Das ausladende Lamento reflektiert die Shoah, die darin versteckte deutsche Nationalhymne in Moll mag Ausdruck der Trauer über die verlorene Heimat sein. Das dieses monumentale, fast einstündige Werk nun erstmals auf CD zu hören ist, ist dem Dirigenten Paul Mann zu danken. Er dirigiert das auf hohem Niveau spielende lettische Liepāja Symphony Orchestra mit nicht nachlassender Spannung. Fans vom „typischen“ Spoliansky kommen aber auch auf ihre Kosten: Die bei Toccata Classics erschienene CD enthält die schmissige Ouvertüre zum letzten Bühnenwerk My Husband and I und den äußerst effektvolle Konzert-Boogie.
Unter dem Titel „Amoroso“ präsentieren Nicole Peña Comas (Cello) und Damien Lancelle (Gitarre) ein einstündiges Programm von 18 Arrangements für Cello und Gitarre. Dabei handelt es sich um eine bunte Mischung von Genrestücken und Liedbearbeitungen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert.
Wenn die aus der Dominikanischen Republik stammende, mittlerweile in Wien lebende Cellistin Nicole Peña Comas auf ihrem neuen Album romantische Musik für Violoncello und Gitarre vorstellt, dann ist dies insbesondere aus zwei Gründen ausgesprochen reizvoll. Zum einen erweist sich die erst einmal eher randständige Kombination von Violoncello und Gitarre als sehr apart; die beiden Instrumente ergänzen sich vorzüglich zu einem ebenso warmen wie intimen, im besten Sinne hausmusikartigen Klangbild. Die Bandbreite ist hier wesentlich größer als man annehmen könnte, so haben etwa Marek Jerie und Konrad Ragossnig bereits vor Jahren ein Werk wie Schuberts Arpeggione-Sonate exquisit in dieser Besetzung dargeboten. Zum anderen ist die Wahl des Repertoires aus cellistischer Sicht erfreulich, weil hier u.a. eine Reihe von Piècen des Cellisten August Nölck (1862–1928) vorgestellt werden, der manchem Celloschüler ein Begriff sein dürfte, dessen Werk aber diskographisch eher spärlich erschlossen ist. Die Gitarre spielt Peña Comas’ Ehemann Damien Lancelle, aus dessen Feder auch die Bearbeitungen stammen.
Nölcks Amoroso, eine Valse lente, mit der die CD beginnt und nach der sie auch benannt ist, repräsentiert exemplarisch die beiden Schwerpunkte des Programms (und bildet insofern einen ungemein passenden Anfang). Im Vordergrund steht der Themenkreis Liebe, etwa in Form von Liebesliedern oder Liebesgrüßen, aber auch im weiteren Sinne wie in Berceusen, Serenaden, „sentimentalen“ oder „(ap-)passionierten“ Stücken. Dies umfasst Klassiker wie Elgars Salut d’amour, Kreislers Liebesleid, zwei Liedbearbeitungen aus Schumanns Myrthen, Tschaikowskis Valse sentimentale und sogar ein Arrangement von Liszts drittem Liebestraum. Mit zwei sehr hübschen Arrangements von Liedern von Satie und Poulenc ist auch Frankreich in der Sammlung enthalten, mit Amy Beachs Berceuse op. 40 Nr. 2 zudem eine kleine Seltenheit aus Amerika.
Der zweite Schwerpunkt des Programms liegt wie erwähnt auf selten gespielter Musik von Cellisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, und so kann die CD auch als eine kleine Nölck-Hommage betrachtet werden. Vorgestellt werden insgesamt sechs seiner Stücke, im Original allesamt für Violoncello und Klavier komponiert, hübsche, gefällige, unmittelbar ins Ohr gehende kleine Piècen, die gerne mit nationalem Kolorit arbeiten, siehe etwa die Spanische Serenade (wobei auch das Ständchen einen spanischen Einschlag aufweist), die Mazurka und natürlich die die CD beschließende Ungarische Czárdas-Fantasie, das mit etwa sieben Minuten umfangreichste und virtuoseste Werk dieser Zusammenstellung. Daneben haben auch zwei Stücke des Cellisten Georg Goltermann (1824–1898, sein Cellokonzert Nr. 4 ist beliebte Unterrichtsliteratur) Eingang in das Programm gefunden. Irgendwo zwischen den beiden Polen der CD darf man schließlich Saint-Saëns’ ebenso beliebtes wie effektvolles Allegro appassionato ansiedeln.
Die Bearbeitungen sind insgesamt gekonnt gearbeitet und klanglich gut auf die Kombination beider Instrumente abgestimmt. Neben der Transkription des Klavierparts auf die Gitarre beweisen die Arrangements auch Sinn für allerhand reizvolle Details wie etwa die sanften Cello-Pizzicati am Ende der Widmung aus Schumanns Myrthen, die dem Schluss eine leicht weihevolle Aura verleihen, oder die effektvoll-dramatischen Akzente, die in der Czárdas-Fantasie wohl durch Einsatz von Rasgueado erzeugt werden. Das auf den ersten Blick womöglich ungewöhnlichste Arrangement dürfte wohl dasjenige von Liszts Liebestraum Nr. 3 sein, ist diese Musik doch erst einmal deutlich vom Klavier her gedacht. Für Cello und Gitarre bearbeitet verwandelt sich das Stück in eine Art langsamen Walzer in D-Dur, der sich gut in den Kontext dieser CD fügt.
Peña Comas spielt ihren Part mit warmem, rundem, gesanglichem Ton, schön etwa gleich das einleitende Amoroso oder die Bearbeitungen der Lieder von Schumann, Satie und Poulenc, um nur einige Beispiele zu nennen. Die romantische Seite dieser Musik kostet sie voll aus, auch zum Beispiel in Form von bewusst eingesetzten Glissandi (vgl. etwa Goltermanns Capriccio). Lancelle begleitet sie ausgesprochen einfühlsam, und so ergibt sich oftmals ein sehr schönes Dialogisieren der beiden Instrumente. Das Begleitheft der CD liefert neben einem kurzen Geleitwort die Biographien der beiden Künstler. Der Korrektheit halber sei erwähnt, dass Nölcks Mazurka genau genommen sein op. 120 Nr. 5 ist; auch dies also Teil einer Kollektion von kleineren Vortragsstücken. Der Klang der CD entspricht dem sehr guten Standard moderner Produktionen.
Insgesamt ein sehr hübsches, kammermusikalisch-intimes Programm, von dem man sich gut unterhalten fühlen darf.
Die chinesisch-amerikanische Pianistin Xiaoya Liu hat für das italienische Label Dynamic –erstmals auf einer CD – die bislang vier Klaviersonaten des Australiers Carl Vine (* 1954)eingespielt. Ein ganz vortrefflicher Zyklus in überragender Qualität.
Die australische Komponistenszene wird in Europa bislang zu wenig wahrgenommen. Abgesehen von Peter Sculthorpe (1929–2014), der vielleicht als Erster versucht hat, das kulturelle Erbe der Ureinwohner und landschaftliche Spezifika mit westlicher Kunstmusik in Einklang zu bringen, betrachtete man viele Komponisten als nicht national eigenständig („Ach, ich dachte, der sei Engländer…“) oder ließ sie ganz unter den Tisch fallen. Mittlerweile hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass man alles, was auf dem fernen Kontinent komponiert wurde, als australische Musik bezeichnen sollte. Lediglich Brett Dean (* 1961) – zunächst Bratscher der Berliner Philharmoniker – wird seit einigen Jahren regelmäßig auch auf westlichen Neue-Musik-Podien aufgeführt. Nach Meinung des Rezensenten ist eher Carl Vine, 1954 in Perth geboren, der virtuoseste Vertreter seiner australischen Zunft. Er ist allerdings durch und durch Eklektiker geblieben. Die Vorbilder seiner bislang acht Symphonien und vier Klaviersonaten – oft zu einseitig als Produkte der Neo-Romantik charakterisiert – liegen weniger im 19. Jahrhundert, sondern vielmehr bei Elliott Carter, manchen Minimalisten, im Jazz und – ganz sicher für seine elektronische Musik – bei Karlheinz Stockhausen. Völlig unverständlich, dass Vine bisher noch nicht einmal einen eigenen Artikel in der MGG erhalten hat.
Die vier Klaviersonaten (1990, 1997, 2007 und 2019) bilden nicht nur Vines kompositorische Entwicklung der letzten dreißig Jahre gut ab, sondern erweisen sich allesamt als pianistisch hochvirtuose und dankbare Stücke. Die ersten beiden Sonaten sowie das 1. Klavierkonzert wurden vom Widmungsträger Michael Kieran Harvey früh aufgenommen, und gerade die Sonate Nr. 1 galt bald als Geheimtipp unter Pianisten. Wie auch die zweite Sonate – und das Vorbild Elliott Carters – ist sie zweiteilig. Die recht vertrackte Faktur nutzt von Beginn an die sogenannte metrische Modulation ganz in der Weise Carters, woraus sich komplexe, aber immer hörbar gut nachvollziehbare polyrhythmische Schichtungen ergeben. Harmonisch schwankt das dann zwischen auf Quarten aufgebauten und rein tonalen Episoden. Der zweite Teil beginnt mit schikanösem Sechzehntelgerase im Unisono, was sofort an das Finale von Chopins b-Moll-Sonate oder das Presto misterioso der 1. Sonate von Alberto Ginastera erinnert, dann jedoch weitaus dramatischer fortgeführt wird.
Die chinesisch-amerikanische, nun in Massachusetts lebende Pianistin Xiaoya Liu, – Preisträgerin zahlloser, dafür nicht allzu bekannter Wettbewerbe – debütiert hier mit der ersten Gesamtaufnahme der Vine-Sonaten. Ihre Virtuosität ist umwerfend – vor allem, weil ihr Spiel bei aller Präzision dynamisch mustergültig differenziert und die Musik so stets als pulsierender Organismus am Leben bleibt. Benjamin Boren spielt in der Konkurrenzaufnahme der Sonaten 1–3 rhythmisch noch genauer, wodurch der Kopfsatz der ersten Sonate ein wenig gewinnt, zugleich jedoch emotional quasi tot wirkt: Nicht nur der Beginn des zweiten Teils klingt so tatsächlich wie ein mechanisches Player Piano. Harveys Einspielung kann da technisch nicht mehr ganz mithalten, lässt jede Feindynamik im Forte vermissen, wodurch seine Lesart insgesamt gröber und oberflächlicher daherkommt, was nur zum Teil der schlechteren Aufnahmetechnik geschuldet ist.
In der 2. Sonate steigert Vine sogar die pianistischen Anforderungen – die schnellen Arpeggiokaskaden verweisen auf Ravel und die wilden Toccata-Abschnitte enden schließlich geradezu explosiv, ergeben aber gleichzeitig eine klarere Form als die 1. Sonate. Bei aller emotionalen Ungezügeltheit gelingt wiederum Frau Liu durch ihre phänomenale Kontrolle und Flexibilität die weitaus überzeugendste Darbietung. Interessant, dass alle Interpreten die – nur vom Tempo her – ruhigeren akkordischen bzw. Oktavabschnitte teils deutlich (Boren) zu schnell nehmen. Lius guter Kompromiss zwischen den gedruckten Metronomangaben und Vermeidung drohender Statik scheint diesbezüglich durchaus angemessen.
Die 3. Sonate ist viersätzig ohne Pause und deutlich romantischer bzw. impressionistischer als ihre Vorgänger. Liu setzt hier auf sehr sonoren Klang, scheut sich nicht, die rückwärtsgewandte Emotionalität auszukosten, ohne jedoch je ins Sentimentale abzugleiten. Das abschließende Presto – inklusive des ruhig dahintröpfelnden Mittelteils – wird einfach hinreißend, wo Boren hingegen erneut Leerlauf produziert, der den Hörer ziemlich kalt lässt.
Lius Erstaufnahme der 4. Sonate kann einige Schwächen des Stücks nicht gänzlich verbergen. Die offenkundigen Debussy-Reminiszenzen im ersten Satz Aphorisms und vor allem die allzu schlichten Wasserspiele im langsamen zweiten (Reflection) haben Längen und nur mäßigen Erfindungsreichtum. Das Finale (Fury) zeigt Vine dann wieder von seiner besten Seite: Xiaoya Liu bleibt bei den rhythmisch aggressiv konturierten, unerbittlichen Sechzehntelorgien und selbst den Oktav- oder Akkordballungen immer noch klangschön, selbst der fulminante Schluss erscheint dadurch absolut motiviert.
Tontechnisch – die Aufnahme entstand 2021 in Ann Arbor – wurde alles sehr ordentlich eingefangen, so dass wirklich nichts dagegenspricht, mit dieser Einspielung Carl Vines beeindruckendes Sonatenwerk kennenzulernen. Besser als Frau Liu kann man das wohl kaum spielen.
Vergleichsaufnahmen: [Sonaten Nr. 1 & 2] Michael Kieran Harvey (Tall Poppies TP190, 1999-2004); [Sonaten Nr. 1-3] Benjamin Boren (Enharmonic ENCD11-021, 2011)
SWR Classic hat in den vergangenen Jahren zahlreiche Schätze aus den Archiven des Südwest-Rundfunks zu Tage gefördert. Ich erinnere nur an die 30-CD-Packung mit den gesammelten Einspielungen von Carl Schuricht und an die glücklicherweise immer noch fortschreitende Hans-Rosbaud-Edition, von welcher zuletzt hervorragende Aufnahmen mit Symphonien von Jean Sibelius und Werken französischer Komponisten erschienen sind. Mit der Veröffentlichung eines Studiokonzerts aus dem Jahr 1959 ist der Reihe ein weiteres Glanzstück hinzugefügt worden. Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart spielt unter der Leitung von Sergiu Celibidache Joseph Haydns Symphonie B-Dur Hob. I:102 und Pjotr Iljitsch Tschaikowskijs Symphonie Nr. 6 h-Moll Pathétique.
Das Orchester, das Sergiu Celibidache am 17. September 1959 in der Villa Berg dirigierte, hat im Laufe seiner Geschichte mehrfach den Namen gewechselt. 1946 als „Großes Orchester von Radio Stuttgart“ ins Leben gerufen und seit 1949 als „Sinfonieorchester des Süddeutschen Rundfunks geführt“, war es wenige Monate vor dem auf der vorliegenden CD festgehaltenen Konzert in „Südfunk Sinfonieorchester“ umbenannt worden. Den Namen „Radio-Sinfonieorchester Stuttgart“, unter dem es heute vor allem bekannt ist, erhielt es 1975. Durch die Fusionierung zum SWR Sinfonieorchester 2016 beendete der Südwestrundfunk die Geschichte seiner Stuttgarter und Freiburger Orchester als eigenständige Klangkörper. Wie die Rosbaud- und Schuricht-Veröffentlichungen, lässt sich also auch diese Celibidache-CD als musikalisches Denkmal begreifen.
Mit Celibidache verband das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart eine langjährige Zusammenarbeit. Er stand zum ersten Mal 1958 an der Spitze des Orchesters, und kehrte bis 1982, als er sich mit der Übernahme der Münchner Philharmoniker erstmals seit drei Jahrzehnten wieder fest an ein Orchester band, immer wieder nach Stuttgart zurück. Die Verbindung intensivierte sich in den 70er Jahren. Von 1972 bis 1979 war Celibidache ständiger Gastdirigent des Radio-Sinfonieorchesters, das damals keinen Chefdirigenten hatte, und fungierte als dessen künstlerischer Leiter. Da das Orchester als Rundfunkklangkörper, dessen Schwerpunkt auf nicht alltäglichem Repertoire lag, dem Dirigenten viel Einstudierungszeit zur Verfügung stellen konnte, fand Celibidache hier optimale Arbeitsbedingungen vor, um seine künstlerischen Ziele zu realisieren. Bekanntlich nicht an der Produktion von Tonträgern interessiert, duldete Celibidache aber, dass der Rundfunk seine Konzerte aufzeichnete, um sie gelegentlich senden zu können. Mitschnitte zahlreicher Aufführungen aus dieser Zeit (z. B. Symphonien von Bruckner und Brahms, Tondichtungen von Richard Strauss) wurden nach dem Tode des Dirigenten von der Deutschen Grammophon veröffentlicht. Aufzeichnungen von Proben, die den Editionen beigegeben wurden, dokumentieren die äußerste Sorgfalt, mit der Celibidache bei den Einstudierungen zu Werke ging, und die Hingabe, mit der die Stuttgarter Musiker seine Anweisungen in Klang umsetzten.
Mit der neuen SWR-Classic-CD wird dem Bild, das uns die früheren Veröffentlichungen von Celibidaches Wirken in Stuttgart vermittelten, ein weiterer wichtiger Mosaikstein hinzugefügt. Die Platte bietet ein ganzes Konzert des damals 47-jährigen Dirigenten. Es umfasst, wie es Celibidache gerade zu jener Zeit liebte, mit Joseph Haydns B-Dur-Symphonie Hob. I:102 und Pjotr Tschaikowskijs Pathetique zwei Werke, die unterschiedlicher kaum sein könnten: ein Programm extremer Kontraste. Celibidache war keiner jener Dirigenten, die glaubten, durch einseitige Überbetonung bestimmter Aspekte den Charakter eines Werkes besonders deutlich machen zu können, oder gar an den Stücken einen persönlichen Interpretationsstil demonstrieren zu müssen. Solche Darbietungsweisen, die letztlich den Beigeschmack der Einseitigkeit hervorrufen, haben ihn nie interessiert. Stattdessen sichtete er die Partituren phänomenologisch, indem er die Fortschreitung der Harmonien verfolgte, der Beschaffenheit des Tonsatzes auf den Grund ging, die Phrasierung der melodischen Linien in Haupt- und Nebenstimmen bis ins kleinste Detail nachvollzog und über all dem nie vergaß, dass Instrumente Stellvertreter menschlicher Stimmen sind. Seine Dirigate vermitteln den Eindruck eines zwanglosen Entfaltens der in den Partituren angelegten Kräfte, denen nichts von außen hinzugefügt werden muss, um sie zur Wirkung zu bringen.
Und was fördert Celibidache auf diese Weise nicht alles zu Tage! Beide, Haydn und Tschaikowskij, stehen als runde Charaktere vor uns, als scharf profilierte Persönlichkeiten, die man nicht auf wenige Schlagworte reduzieren kann. Natürlich ist Haydn auch unter Celibidache geistvoll, witzig, von nie nachlassendem Spieltrieb durchdrungen, aber bereits die sehr breit genommene Einleitung des ersten Satzes verrät, dass dem Komponisten das Feierliche und Erhabene durchaus vertraut gewesen ist. Die liebevoll ausmusizierten Sechzehntelnoten in breit schwingendem 3/4-Takt verleihen dem langsamen Satz eine Stimmung apollinischer Gelassenheit. Der hervortretende Trompetenton kurz vor seinem Ausklang wird nicht zum groben Effekt, sondern sendet sanftes Licht von innen. Die von langen Noten geprägten Takte in der Coda des Finales klingen wie ferne Choräle in den Trubel dieses Satzes hinein. Dass auch die turbulente Seite der Haydnschen Kunst in Celibidaches Händen bestens aufgehoben ist, davon zeugen etwa der äußerst markant herausgemeißelte Kanon in der Durchführung des Kopfsatzes und der unaufhaltsame Schwung des Finales.
Die bei EMI (später Warner) erschienenen Mitschnitte der letzten drei Symphonien Pjotr Tschaikowskijs mit den Münchner Philharmonikern dokumentieren, dass Celibidache wie kein anderer Dirigent berufen war, die ganze Größe dieses Symphonikers deutlich werden zu lassen. Vergleicht man die hier vorliegende Sechste mit der späteren Aufnahme, fällt zwar auf, dass der 80-jährige Celibidache sich gegenüber den knapp 50 Minuten der Stuttgarter Aufführung insgesamt 10 Minuten mehr Zeit nimmt, doch die Herangehensweise an die Musik ist im Wesentlichen gleich geblieben. Wir erleben denselben Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen, aber stets seinen Prinzipien treu. Diese frühe Pathétique vermittelt unmissverständlich, nicht anders als die späte, wie schlüssig Tschaikowskij komponiert hat. Die extremen Tempo- und Ausdruckskontraste des Kopfsatzes, in welchem zudem mehrfach Themen eingeführt werden, die im weiteren Verlauf nicht wiederkehren, haben schon manchen Kapellmeister dazu verführt, das Stück als bloße Abfolge locker miteinander verbundener Episoden aufzufassen und entsprechend zerrissen darzubieten. Celibidache erkennt, wie eng aufeinander bezogen die einzelnen Abschnitte des Satzes sind, wie ihre stark gegensätzlichen Stimmungen einander gegenseitig beleuchten und wie durch diese Gegensätze die musikalische Handlung vorangetrieben wird. „Verweile doch, du bist so schön“, meint man es aus dem Seitensatz tönen zu hören, wenn der Dirigent in Übereinstimmung mit dem harmonischen Gefälle Phrasenenden leicht verlangsamt, um mit dem jeweils nächsten Phrasenanfang wieder ins Grundtempo zurückzukehren. Und ist dann scheinbar Ruhe eingetreten, bricht mit einer manischen Energie sondergleichen die Durchführung in die friedliche Szenerie herein wie die apokalyptischen Reiter. Das largamente forte possibile vor der Wiederkehr des Andante-Themas hat die Intensität eines alles mit sich reißenden Lavastroms. Aber nicht nur im Extremen ist Celibidache in seinem Element. Auch die feineren Schwankungen arbeitet er trefflich heraus. Man höre etwa im zweiten Satz, wie der Mittelteil durch die deutliche Hervorhebung der lastenden Blechbläsertöne und eine geringfügige Verlangsamung des Tempos einen ganz anderen Klang erhält als der lichte Hauptteil. Die Überleitung, die zu ihm zurückführt, wirkt wie ein erneutes Aufblühen nach vorübergehender Eintrübung. Das vielleicht Wunderbarste an dieser Tschaikowskij-Darbietung ist, dass man merkt, mit welchem Geschick der Komponist Neben- und Gegenstimmen eingesetzt hat. Celibidache hatte die Gabe, seinen Musikern eine konkrete Vorstellung von ihrer Rolle im Ganzen zu vermitteln. Nicht nur wer gerade das Thema hat, hat etwas zu sagen, sondern auch diejenigen, die es begleiten, oder die ihm einen Kontrapunkt zur Seite stellen. Man kann nahezu in jedem Moment darüber staunen, welch ein Leben hier in allen Stimmen pulsiert.
Es besteht also ein guter Grund, SWR Classic für die Veröffentlichung dieser CD dankbar zu sein. Da Haydns Symphonie Nr. 102 in den Celibidache-Editionen von Audite, Deutsche Grammophon und EMI/Warner fehlt, wird zudem eine diskographische Lücke geschlossen. Ein Begleittext, der ein lebendiges Bild von Celibidache als Mensch und Künstler vermittelt, rundet die Produktion trefflich ab.
Das Jahr 2022 war hinsichtlich der Veröffentlichung von Tonträgern nicht weniger interessant und ergiebig als die vorangegangenen Jahre. Wenn nun also das große Fest des Verschenkens und Beschenktwerdens vor der Tür steht, dann gibt es so einiges, was in Frage kommt: die sensationellen Ersteinspielungen der Streichquartett-Symphonie von Gavriil Popov (Quartet Berlin Tokyo auf eigenem Label) und der Quartette Nr. 3 und 5 von Conrado del Campo (Quatuor Diotima im Vertrieb von outheremusic); Celibidache und die Münchner Philharmoniker mit Sibelius’ 5. Symphonie und Stravinskys Feuervogel-Suite von 1919 (Eigenlabel der Philharmoniker) oder Karel Ančerl mit einer großen Vermächtnis-Box mit vielen wunderbaren Raritäten (Supraphon); einiges weitere fällt mir noch ein, doch editorisch steht der Höhepunkt des Jahres fest, und dies nicht nur, weil vieles bisher nicht Greifbare erstmals zu bekommen ist, sondern überhaupt, weil es sich um eines der ganz großen Vermächtnisse des vergangenen Jahrhunderts handelt: sämtliche kommerziellen Aufnahmen von Dimitri Mitropoulos, dem überragenden Genie der griechischen Musik.
Nicht nur seit Beginn der Digital-Ära, nein: seit mehr als 60 Jahren warten die Verehrer von Dimitri Mitropoulos auf eine Anthologie seiner durchweg US-amerikanischen Studio-Aufnahmen, die er zwischen Dezember 1938 und Februar 1958 fast ausschließlich in New York und Minneapolis machte: in den 1940er Jahren als Chefdirigent des Minneapolis Symphony Orchestra (des heutigen Minnesota Symphony), in den 1950er Jahren als Chefdirigent des Philharmonic Symphony Orchestra von New York (des heutigen New York Philharmonic) und als erster Gastdirigent an der Metropolitan Opera. Warum hat das so lange gedauert – während die meisten anderen legendären Chefdirigenten der großen US-Orchester wie Arturo Toscanini, Fritz Reiner, Pierre Monteux, George Szell, Charles Munch, John Barbirolli, Eugene Ormandy, Jean Martinon oder Leonard Bernstein längst mehrfach abgefeiert und auch Serge Koussevitzky oder der unglaublich vielseitige Leopold Stokowski mit einer unüberschaubaren Zahl von Editionen bedacht wurden?
Manchmal sind es die Nachwehen einer großen Tragödie, die auch dann noch ihre Echos aussenden, wenn die Nachgeborenen die einstigen Ereignisse längst nicht einmal mehr vom Hörensagen kennen. Und in diesem Fall ist es auch noch eine griechische Tragödie…
Dimitri Mitropoulos in den 1950er Jahren. Quelle: The New York Public Library Digital Collections
Geboren 1896 in Athen, wuchs Dimitri Mitropoulos in einer Familie auf, deren hochbegabte junge Männer meist Priester wurden. Zugleich war seine musikalische Begabung früh offensichtlich, und der belgische Komponist Armand Marsick – einst Schüler von Ropartz und d’Indy sowie Freund von Saint-Saëns und Ysaÿe, bis zum Ausbruch des griechisch-türkischen Krieges Direktor des Athener Konservatoriums – nahm ihn unter seine Fittiche. Mitropoulos wollte seine beiden Lebensadern unter einen Hut bringen und erbat die Aufnahme ins orthodoxe Klosterleben unter Beibehaltung seines Musikerstatus. Die Absicht scheiterte am Verbot des instrumentalen Musizierens, sonst wäre aus ihm vielleicht eine Art griechischer Parallelerscheinung des piemontesischen Priester-Komponisten Lorenzo Perosi geworden. Also begleitete er Marsick nach Rom und wurde zu einem lebenslangen Anhänger der Lehren des San Francesco d’Assisi. Dessen Ideal einer nicht-hierarchischen, jedem Mitglied gleichen Rang gewährenden Gemeinschaft wollte er als Musiker verwirklichen, und als sich herausstellte, dass er vor allem Dirigent sein würde, übertrug er diese Haltung auf seine Orchester, wofür ihn seine Musiker liebten, was ihm aber letzten Endes auch zum Verhängnis werden sollte.
Doch zunächst verstand er sich noch primär als tiefschürfender Komponist und brillanter Pianist. Er ging nach Berlin zu Ferruccio Busoni, der ihm auf einen Schlag das austrieb, was man damals in fortschrittlichen Kreisen als romantische Flausen ansah. Mitropoulos, der von seiner Grundveranlagung her immer rückhaltlos aus tiefster Seele schöpfen musste, war als Komponist auf sich selbst zurückgeworfen. Schnell zeigte sich seine immense dirigentische Begabung, 1921–25 wirkte er als Assistent unter Erich Kleiber an der Berliner Staatsoper, also bei genau dem richtigen Mann, um den Pionier der Moderne in ihm heranreifen zu lassen. Dann folgte er einem Ruf zurück nach Athen, wo er sich in der muffigen, von Eifersucht vergifteten musikalischen Provinz unter widrigsten Bedingungen als begnadeter Orchestererzieher emporarbeitete. Eine gigantische Sensation war dann sein Debüt 1930 bei den Berliner Philharmonikern: Egon Petri, der allseits beglaubigte Statthalter der Busoni-Schule, sagte im letzten Moment als Solist in Prokofieffs 3. Klavierkonzert ab, und Mitropoulos fragte zuerst bescheiden nach, ob das akzeptabel sei, um dann in diesem horrend herausfordernden Werk am Klavier einzuspringen. Er dirigierte vom Instrument aus, lieferte eine fulminante Vorstellung ab und frappierte die etablierte musikalische Welt. Fortan stand seiner internationalen Karriere nichts Wesentliches mehr im Wege, und überall wurde er mit seinem eine Sensation garantierenden Prokofieff-Wunderkonzert eingeladen.
1936 debütierte er beim Boston Symphony Orchestra, wo er sofort als Kronprinz von Serge Koussevitzky gehandelt wurde, und als er im folgenden Jahr wiederkehrte, lud man ihn auch nach Minnesota ein, wo das Orchester gerade – nach dem Weggang Eugene Ormandys nach Philadelphia – nach einem neuen Leiter Ausschau hielt. Ormandy hatte übrigens 1934–35 in Minneapolis für RCA als Recording Pioneer erstaunliche Einspielungen gemacht, darunter Mahlers Zweite und Bruckners Siebte, die auf unzählige Schellacks verteilt wurden und soeben sämtlich in einer 11-CD-Box bei Sony Classical verfügbar gemacht worden sind. Man kann, wenn man beispielsweise die damals so populäre Hary-János-Suite von Kodály hört, sehr eindrücklich den Unterschied zwischen dem frischen, charmant entspannten Musikanten Ormandy in seiner wohl besten Zeit und dem Existenzialisten Mitropoulos hören. (Auch Schönbergs Verklärte Nacht und Jaromír Weinbergers robust zündende Polka und Fuge aus Schwanda der Dudelsackpfeifer laden zum direkten Vergleich ein.)
Jedenfalls nahm Mitropoulos die Herausforderung in Minneapolis im Sturm, und auch die Fortführung der RCA-Aufnahmen übernahm er, nachdem er seine Musiker zu nie dagewesenem Glanz geführt hatte. Er leitete die Geschicke dieses Orchesters, das plötzlich von einem provinziellen Klangkörper zu einem der angesehensten der USA wurde, durch die schweren Jahre des II. Weltkriegs und machte Minneapolis zu einer musikalischen Bastion des Unerhörten und Modernen. Ab 1946 US-amerikanischer Staatsbürger, war er auf die Musikszene in seiner Heimat kaum besser zu sprechen als später sein Kollege Sergiu Celibidache auf das Musikleben im kommunistischen Rumänien unter Ceaușescu. 1950 wurde er, nach mehreren umjubelten Arbeitsphasen am Big Apple, von den New Yorker Philharmonikern abgeworben. Im ersten Jahr teilte er sich die Leitung mit Leopold Stokowski, der zu jener Zeit durch eine schwere persönliche Krise ging, und im darauffolgenden Jahr war er alleiniger Chefdirigent des prestigeträchtigsten Orchesters jenseits des Atlantiks.
Diese Position klingt nach künstlerischer Allmacht, wird jedoch in ihrer Autorität überschätzt. Vom Management wurde ihm schnell signalisiert, dass er sich in der Repertoireauswahl mehr am etablierten Werkkanon und den berühmten Solisten – also am immer noch lebendigen Vorbild Toscaninis – zu orientieren habe, und so focht er bis zum Ende einen leidenschaftlichen Kampf für alles Neue und Unbekannte. In seiner Auswahl findet sich kein Anzeichen ideologischer Scheuklappen, jedoch natürlich ein Schwerpunkt US-amerikanischer Musik, worunter ihm Zeitgenossen wie Morton Gould, Peter Mennin, Roger Sessions, Howard Swanson oder auch David Diamond besonders am Herzen lagen. Im Laufe der Jahre wurde er allerdings zur Zielscheibe der New Yorker Kritik, die auf die zunehmenden Unruhen und Beschwerden aus dem Orchester reagierte und ihn letztlich – in Person des neuen Chefkritikers der New York Times, Howard Taubman – abschoss. Er wollte Gleicher unter Gleichen sein, was er – nicht bereit, offenkundig sich gegen ihn verhaltende Musiker abzustrafen – mit dem Messer im Rücken bezahlte. Zu jenem Zeitpunkt, 1957, hatte er schon seinen ersten Herzinfarkt hinter sich, doch dachte er nicht an Schonung und verausgabte sich weiterhin komplett im Dienst an der Kunst. Mittlerweile war er zudem zum Favoriten der MET avanciert, wo auch die Kritik nicht anders konnte, als seine umwerfend dramatischen, vom ersten bis zum letzten Ton fesselnden Aufführungen zu bejubeln. Und als Orchesterdirigent wandte er sich nun zurück nach Europa, wo er nach dem Tode des in vielem geistesverwandten Wilhelm Furtwängler schnell der Lieblingsdirigent der Wiener Philharmoniker wurde. Vor allem seine Aufführungen der Symphonien Gustav Mahlers und von Werken von Richard Strauss und Franz Schmidt machten ihn zum Gegenstand einer kultischen Verehrung, die aufgrund der vielen erhaltenen Live-Aufnahmen unverändert anhält. Mitropoulos starb – wie es sich gehört, kann man in seinem Fall sagen – am 2. November 1960 während einer Probe für Mahlers Dritte in der Mailänder Scala an seinem dritten Herzinfarkt. Das Bergsteigen, das er so sehr liebte, hatte er längst aufgeben müssen, doch Kettenraucher war er nach wie vor. Er hat alles, auch die komplexesten neuen Werke, auswendig dirigiert und kannte die Musik bis ins kleinste Detail besser als die versiertesten unter den Komponisten, die das Glück hatten, von ihm aufgeführt zu werden. Leider gibt es von ihm nur ganz wenige Aufnahmen von Werken der Klassiker, und da hat viel Neid und üble Nachrede dazu geführt, seine Leistungen zu marginalisieren. Mitropoulos war im Leben ein Asket, manche haben ihn sogar als Masochisten bezeichnet, in der Musik hingegen von unwiderstehlicher Strahlkraft mit seinem alles und jeden in Bann ziehenden Lebenswillen, seiner unaufhaltsam pulsierenden Entdeckungsfreude und einer Intensität ohnegleichen.
Nun also wird die weltweite Mitropoulos-Gemeinde für ihr 60jähriges Warten entschädigt, indem Sony Classical sämtliche RCA- und Columbia-Aufnahmen des bedeutendsten griechischen Musikers des 20. Jahrhunderts in einer luxuriös ausgestatteten 69-CD-Box veröffentlicht. Das hat so lange gedauert, da die Plattenfirma in diesem Unternehmen vom New York Philharmonic – wo Mitropoulos seit Bernsteins Zeiten bis heute ein ähnlicher Interimsstatus zugeschrieben wird, wie ihn die Berliner Philharmoniker unter Karajan gegenüber Celibidache als Image etablierten – kaum nennenswerte Unterstützung erfuhr. Und in Minneapolis hatte man einfach nicht die Ressourcen, um dies ambitionierte Vorhaben entsprechend mit voranzutreiben. Dass Mitropoulos ein Genie – dies nicht nur als Dirigent, sondern auch als Pianist und (was man erst heute allgemein anzuerkennen beginnt) als Komponist – war, stand stets außer Zweifel, und mit genau dieser Etikettierung warb die Columbia schon damals für seine New Yorker Aufnahmen. Doch zugleich war es seine kompromisslos auf die Angelegenheiten der Musik konzentrierte Hingabe, die ihn für Fragen des Prestiges und der Macht blind sein ließ. Er agierte selbstlos als Dirigent, bezahlte oft Projekte, die nicht die nötige Unterstützung erhielten, aus der eigenen Tasche, half auch jedem anderen Bedürftigen großzügig mit seinem Geld aus, bis er selbst keines mehr hatte; und diese Selbstlosigkeit erwartete er zugleich von seinen Mitstreitern, was dazu führte, dass er von der Columbia keine besseren Bedingungen forderte und daher schlechter behandelt wurde als beispielsweise die Kollegen aus Philadelphia unter ihrem viel oberflächlicheren, jedoch sehr auf gute Politur bedachten Chefdirigenten Eugene Ormandy. Nicht nur hatte Ormandy wie auch Bruno Walter und George Szell bei der Auswahl des Repertoires überwiegend freie Hand, es wurde dort auch weitaus großzügiger mit den zur Verfügung gestellten Aufnahme-Sessions verfahren. In New York unter Mitropoulos hingegen wurden alle Beteiligten auslaugende Mammut-Sessions anberaumt, die heute schlicht absurd überfordernd wirken, und man kann sich nur wundern, wie es unter derart desaströsen Bedingungen überhaupt zu solchen Leistungen kommen konnte. So wurden am 2. November 1952 Borodins 2. Symphonie (eine der großartigsten Mitropoulos-Einspielungen), 4 Tänze von de Falla und von Mendelssohn drei Ouvertüren und die Symphonien Nr. 3 und 5 aufgenommen. Und am 11. November 1957, als das gemeinsame Schiff schon im Sinken begriffen war, brachte man nach Star Spangled Banner Mussorgskys Nacht auf dem kahlen Berge, eine umfangreiche Suite aus Prokofieffs Romeo und Julia sowie Tschaikowskys Slawischen Marsch und – zum Schluss – die Pathétique unter Dach und Fach. Wie sollte der Tschaikowsky da noch so passioniert gespielt werden können wie der Prokofieff? Und wie hätten die Mendelssohn-Symphonien noch jene Frische haben können, die sie im Konzert hatten? Ganz abgesehen davon, dass es auch kaum Zeit für Nachkorrekturen gab und möglichst alles sofort reibungslos zu klappen hatte. Es ist also ein schlichtes Wunder, dass die meisten dieser Einspielungen trotzdem zum Fesselndsten und Mitreißendsten gehören, was je auf Schallplatte gebannt wurde. Die Mendelssohn-Symphonien beispielsweise genießen bis heute Referenzstatus. Und die legendäre Aufnahme des Schönberg-Violinkonzerts mit Mitropoulos’ Freund Louis Krasner wurde – wie Krasner ausführlich geschildert hat – in der letzten halben Stunde eines ganztägigen Aufnahmeprojekts spontan eingeschoben, ohne die Gelegenheit zu auch nur einer minimalen Nachkorrektur.
Wir können daran sehen, wie widrigste Bedingungen die Menschen über sich selbst hinaus wachsen lassen, wie sie aber auch der langfristigen Stabilität einer Beziehung im Wege stehen und die Strahlkraft und Begeisterung auch großartigster künstlerischer Erlebnisse allmählich aushöhlen. Mitropoulos und sein Orchester haben sozusagen Übermenschliches geleistet, und am Ende hat man ihn dafür verflucht und sich seinem Zögling Leonard Bernstein, der ihn letztlich auch verriet, an die Brust geworfen. Zumal Bernstein das damals so gefährliche Thema seiner Homosexualität mit einer glanzvollen Heirat kaschierte, wogegen Mitropoulos, der stets lebte wie ein Mönch, wegen seiner homosexuellen Veranlagung ins Gerede geriet. Insofern ist die nun vorliegende CD-Anthologie nicht nur ein später Triumph seiner unnachahmlichen Kunst, sondern auch ein Akt dessen, was man Wiedergutmachung nennt.
Es ist nicht einfach, Highlights aus dieser Sammlung zu benennen. Viele, darunter die Opernaufnahmen wie Bergs Wozzeck, Barbers Vanessa, Mussorgskys Boris Godunov oder Verdis Maskenball – allesamt mit Traumbesetzungen –, wie seine Berlioz-, Scriabin-, Prokofieff- oder Schostakowitsch-Einspielungen, Schönbergs Erwartung mit Dorothy Dow oder das 5. Beethoven-Konzert mit Robert Casadesus galten sofort als maßstabsetzend und sind es bis heute geblieben. Andere sind weniger bekannt geworden, und unter diesen möchte ich besonders die hinreißende Aufnahme von Tschaikowskys 1. Orchestersuite erwähnen, mit ihrem frappierend fugierenden Kopfsatz, der zu seinen symphonischen Gipfelleistungen zählt und hier mit maximaler Differenzierung, Spannkraft und bezwingend organischer Geschlossenheit dargeboten wird; eine feine, in ihrer erfüllten Unschuld besonders berührende Aufnahme des 3. Beethoven-Konzerts mit dem jungen Jean Casadesus; Dukas’ Zauberlehrling und die Schumann-Symphonien. Oder die nur mit Hilfe unabhängiger Funds eingespielten Symphonien Nr. 2 von Roger Sessions und Nr. 3 von Peter Mennin sowie das Symphonic Allegro des jungen Roy Travis. Besonders Mennins Dritte – vom meines Erachtens bedeutendsten Symphoniker, den die USA hervorgebracht haben – ist auf die Fähigkeiten Mitropoulos’ geradezu ideal zugeschnitten: unaufhaltsames Momentum in den Ecksätzen, dabei ständig in vollem Auskosten der Sensitivität der Tonbeziehungen, von flammendem Leben erfüllt. Und verinnerlichter Fluss, Palestrina-artiges Verständnis des kontrapunktischen Gewebes in modernem Harmoniegewand im lyrischen Mittelsatz. Da findet man auch die Verbindung zum Komponisten Mitropoulos, wie sie in der lyrischen Ekstase des 19jährigen im Orchesterstück Taphé (Begräbnis) mitzuerleben ist, von welchem bei YouTube eine wunderbar einfühlsam disponierte Aufführung unter Ioannis Protopapas vorhanden ist. Oder in seinem letzten Orchesterwerk, dem gnadenlos über Stock und Stein jagenden, quasi den mittleren Bartók vorwegnehmenden Concerto grosso von 1928, welches unlängst in einer Neuaufnahme bei Bridge Records veröffentlicht wurde. Wie sehr bedaure ich, dass Mitropoulos selbst sich nicht mehr um seine eigenen Kompositionen kümmerte, wie dies Furtwängler und de Sabata gelegentlich und selbst Celibidache bei einer Gelegenheit getan haben. Doch das Vermächtnis Mitropoulos’ ist – auch wenn er kaum Skalkottas dirigiert hat und seine Aufführungen großer Werke seiner Landsmänner Perpessas und Petrides nicht ins Aufnahmestudio mitbrachte – eine gigantische Lebensleistung, und was in dieser Anthologie von den von ihm so geliebten Meistern Mahler, Strauss, Schönberg, Krenek oder Schnabel fehlt, kann man großenteils in seinen Live-Aufnahmen nacherleben. Und es steht außer Zweifel, dass – wenn man die Entstehungsbedingungen der Columbia-Aufnahmen in Betracht zieht – der Unterschied zwischen Konzert- und Studioaufnahmen bei ihm nicht größer war als etwa bei Celibidache die Differenz zwischen Konzerten und Aufnahmen in den Rundfunkstudios. Es ist eigentlich immer live, wie es die Musik ihrem Wesen nach seit jeher ist.
Wolfgang Amadé Mozart: Eine Kleine Nachtmusik KV 525
Carl Stamitz: Flötenkonzert G-Dur
Ludwig van Beethoven: Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 (Fassung für Streichorchester)
Karin Bonelli, Flöte
Klangkollektiv Wien
Rémy Ballot, Dirigent
Zugleich Vorstellung der CD:
Ludwig van Beethoven: Streichquartette op. 131 und op. 135
Gramola, 99248; EAN: 9 003643 992481
Das erst vor wenigen Jahren von Norbert Täubl, dem Klarinettisten der Wiener Philharmoniker, und Rémy Ballot, dem Dirigenten der St. Florianer Brucknertage, ins Leben gerufene Klangkollektiv Wien hat sich rasch den Ruf eines der hervorragendsten Kammerorchester unserer Zeit erworben. Mehrere Mitschnitte von Konzerten des international zusammengesetzten Ensembles, dessen Repertoireschwerpunkt auf der Epoche zwischen Joseph Haydn und Franz Schubert liegt, sind bei Gramola auf CD erschienen. Sie zeugen gleichermaßen von der hohen Spielkultur, die in diesem Orchester herrscht, wie von der außerordentlichen Kapellmeisterbegabung Rémy Ballots. Wer sich am Abend des 19. November 2022 im großen Sendesaal des ORF RadioKulturhauses einfand, konnte ein weiteres Mal bestätigt finden, dass die Auftritte des Klangkollektivs zu den Höhepunkten des Wiener Musiklebens zählen. Das Orchester spielte unter Ballots Leitung in einer Besetzung von 16 Streichinstrumenten zuerst Eine kleine Nachtmusik von Wolfgang Amadé Mozart. Anschließend begleiteten die Streicher die Flötistin Karin Bonelli im Flötenkonzert G-Dur von Carl Stamitz, bevor am Ende des Programms mit dem chorisch gespielten Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 von Ludwig van Beethoven wieder ein reines Streichorchesterstück zu hören war.
Die Auswahl der Stücke ließ bereits erwarten, dass der Abend dem fließenden Übergang von kammermusikalischem und orchestralem Musizieren gewidmet war. Die Kleine Nachtmusik ist Mozarts einzige nur für Streicher geschriebene Serenade und auch als Quartett ausführbar, doch ihr Tonsatz ist über weite Strecken eindeutig der eines Orchesterwerks. Umgekehrt animiert Beethoven in seinen späten Quartetten das Kammerensemble an zahlreichen Stellen geradezu, sich als ein Orchester zu fühlen. Selbst in op. 135, dem anmutigsten dieser Werkgruppe, in dem das Pathos der vorangegangenen Quartette opp. 130–132 und der Großen Fuge op. 133 weitgehend in ein hintersinniges Spiel verwandelt scheint, finden sich solche quasi-orchestralen Takte, etwa in der Einleitung des Finales, wo die Frage „Muss es sein?“ mit bohrender Intensität gestellt wird. Es liegt also durchaus nahe, dieses Stück auch in größerer Besetzung vorzutragen. Carl Stamitz bildete zwischen den Werken seiner großen Zeitgenossen das entspannte Intermezzo. Sein Flötenkonzert versetzte die Zuhörer in die Welt des galanten Rokoko, als Orchester zum großen Teil tatsächlich noch in der Kammer spielten.
Rémy Ballot führt das Klangkollektiv sicher und unbeirrt durch diese Grenzregion zwischen Symphonik und Kammermusik. Dass er neben seiner Dirigententätigkeit auch als Kammermusiker wirkt, dürfte seinen Anteil daran haben. (An dieser Stelle sei auf die in jeder Hinsicht herausragende Aufnahme von Anton Bruckners Streichquartett und -quintett durch das Altomonte-Ensemble mit Ballot als Primgeiger hingewiesen.) Vor allem aber befähigt ihn sein Gespür für die Entwicklung melodischer Linien und die Darstellung polyphoner Strukturen dazu. Ballot ist kein Mann der schrillen Effekte. Wenn etwa Sforzati oder abrupte Wechsel von Forte und Piano vorgeschrieben sind – wie man dergleichen namentlich bei Beethoven immer wieder antrifft –, ist das für ihn nicht zwingend ein Anlass, dem Publikum rohe Kraft zu demonstrieren oder es durch die virtuose Darbietung scharfer Kontraste zu verblüffen. Er achtet vor allem darauf, in welcher Beziehung die entsprechenden Stellen mit ihrer Umgebung stehen. Sie werden nicht als isolierte Momente vorgeführt, sondern als Teile eines größeren Zusammenhangs begriffen, als Ereignisse, die eine Vor- und Nachgeschichte haben. Welche Funktion hat der durch das Sforzato hervorgehobene Ton innerhalb der Melodie, zu der er gehört? Welchen Verlauf nimmt die Periode, in der mehrfach die Lautstärke wechseln soll? Die Frage des richtigen Vortrags ist für Ballot offensichtlich immer mit der Frage nach der schlüssigen Wiedergabe der musikalischen Handlung verknüpft. Nichts überlässt er dem Zufall, jede Phrase erscheint auf ihre Stellung im großen Ganzen hin geprüft. Das „kammermusikalische“ und das „orchestrale“ Musizieren ergeben sich ganz natürlich aus der jeweiligen Situation im Verlauf der Musik. Es sind nicht Gegensätze, sondern Wechsel des Zustands. Eines geht aus dem anderen hervor. Die Differenziertheit im Vortrag, zu der Ballot sein Orchester animiert, ist nichts anderes als eine genaue Darstellung der Vielgestaltigkeit des Mozartschen und Beethovenschen Tonsatzes. Besonders loben muss man, wie wunderbar das Klangkollektiv die kontrapunktischen Abschnitte umsetzt. Wenn die Motive durch die Stimmen wandern, erlebt man in aller Deutlichkeit, wie trefflich die einzelnen Instrumentengruppen in Kontakt miteinander stehen, wie gut sie aufeinander zu hören wissen. So wird kein Themeneinsatz überdeckt. Jede Stimme kann führen, jede kann begleitend zurücktreten. Gesittete Dialoge geraten ebenso vorzüglich wie spannungsvolle Engführungen. Aber auch in einer mit kontrapunktischen Demonstrationen kaum aufwartenden Partitur wie der Kleinen Nachtmusik bewährt sich der Sinn des Dirigenten für Polyphonie, sodass durch die Aufführung deutlich wurde, wie feinsinnig Mozart auch in diesem schlicht gehaltenen Stück zu Werke gegangen ist.
Sehr aufschlussreich ist es, Dirigent und Orchester bei der Aufführung zuzusehen. Ballot achtet sorgsam darauf, dass die Kommunikation zwischen ihm und den Musikern nicht abreißt. Der Augenkontakt ist ihm sichtlich nicht minder wichtig als die Bewegungen der Hände. So dirigierte er den Anfang des Finales der Kleinen Nachtmusik beinahe nur mit den Augen und brachte die Hände erst beim ersten Forte ins Spiel. Seine Bewegungen sind im allgemeinen sparsam und immer präzise. Stärker ausladende Gesten hebt er sich für besondere Stellen auf. Die Orchestermitglieder achteten hellwach auf alle Zeichen und spielten hochmotiviert.
Zum reinen Streicherklang gesellte sich in Stamitzens Flötenkonzert Karin Bonelli, ebenfalls Mitglied des Klangkollektivs, als Solistin. Das Orchester hat hier weitgehend begleitende Funktion – auch in dieser Rolle agiert das Klangkollektiv tadellos –, während die Flöte eindeutig im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Stamitz führt die Solostimme regelmäßig durch den gesamten Tonraum des Blasinstruments und gibt damit Karin Bonelli ein geeignetes Betätigungsfeld, ihre Stärken zu zeigen. Das Spiel der Flötistin erfreut besonders durch ihre Fähigkeit, jedem Register eine charakteristische Klangfarbe zu verleihen, sodass, wenn sie zwischen den Lagen wechselt, dialogische Wirkungen entstehen. Noch deutlicher wurde dies in ihrem Zugabestück, dem Kopfsatz der Solosonate h-Moll von Carl Philipp Emanuel Bach.
Auch die Streicher spielten eine Zugabe nach dem abschließenden Beethoven-Quartett. Angesichts der anhaltenden Kriegshandlungen in der Ukraine, der Heimat dreier Mitglieder des Klangkollektivs, hatte man sich entschieden, den sorgsam gesetzten klassischen Rahmen zu verlassen und das Konzert mit einem Werk des 20. Jahrhunderts zu beenden, das auf eine lange Tradition der Verwendung als Trauermusik zurückblicken kann: Samuel Barbers Adagio for Strings. Wie intensiv die Aufführung auf das Publikum wirkte, zeigte sich daran, dass nach dem Verklingen des letzten Tons im Saal vollkommene Stille herrschte. Erst nach einer – gefühlt sehr langen – Pause sahen sich die Zuhörer in der Lage zu applaudieren, und sie taten es in spürbarer Begeisterung darüber, einen Konzertabend höchster Qualität erlebt zu haben.
Seit kurzem liegt eine Aufführung von Beethovens Quartett op. 135 durch das Klangkollektiv unter der Leitung Rémy Ballots auf einer CD vor, die, wie die anderen CDs des Orchesters, bei Gramola erschienen ist. Es handelt es sich um den Mitschnitt eines Konzerts im Penzinger Lorely-Saal vom 7. Oktober 2020, in welchem neben op. 135 auch das Quartett Nr. 14 cis-Moll op. 131 erklang. Dieses erlebte eine Wiedergabe, die seine ganze Vielgestaltigkeit in nahezu idealer Weise erfahrbar machte. Welch eine blühende Polyphonie in der einleitenden Fuge! Welch eine Leichtigkeit in den beiden scherzoartigen Sätzen! Der langsame Mittelsatz entfaltet sich in einem großen Bogen von knapp 17 Minuten Dauer, wobei die Variationen ganz natürlich auseinander hervorgehen. Zum Herzstück des Ganzen gerät der kurze sechste Satz, der im Wesentlichen eine langsame Einleitung zum Finale ist. Wie Ballot die Musik hier innehalten lässt und gleichzeitig eine enorme Spannung erzeugt, die sich erst im Schlusssatz entlädt, ist schlichtweg große Kunst. Das Finale wird, ohne übereilt zu wirken, mit unwiderstehlicher Energie musiziert, doch kommt im Seitensatz auch Ballots Meisterschaft im Gestalten schlüssiger Rubati zu tragen.
Die akustischen Bedingungen waren bei dieser Aufnahme nicht ganz so ideal wie jetzt im RadioKulturhaus, doch trübt dies den Gesamteindruck der CD angesichts der meisterlichen Darbietungen keineswegs. Wer erleben möchte, wie prächtig sich Beethovens späte Quartette als Streichersymphonien ausnehmen, dem sei diese Platte nachdrücklich empfohlen.
Auch die kanadische, insbesondere für ihr Bach-Spiel gerühmte Pianistin Angela Hewitt hat nun ihre Einspielung sämtlicher 32 Beethoven-Sonaten auf CD komplettiert: mit den beiden späten Sonaten Nr. 29 B-Dur op. 106, der Hammerklaviersonate, und der letzten Sonate Nr. 32 c-Moll op. 111.
Wenn eine weltberühmte Pianistin ihren Zyklus aller Beethoven-Klaviersonaten mit der letzten – der c-Moll-Sonate op. 111 – und der gewaltigsten, der Hammerklaviersonate op. 106, abschließt, scheint das in gewisser Weise taktisch klug (das Beste kommt zum Schluss…), aber keineswegs ungewöhnlich. Hellhörig wird man allerdings, wenn man aus Angela Hewitts umfangreichem, eigenen Booklettext erfährt, dass sie genau diese beiden Stücke tatsächlich auch erst mit knapp über sechzig erstmals einstudiert hat. Barenboim soll ja einmal gesagt haben: „Die Hammerklaviersonate wird nicht leichter, wenn man sie nicht spielt.“ So werden natürlich die Erwartungen der Interpretin an sich selbst wie die der Zuhörerschaft besonders hoch.
Da hier nicht der Raum ist, die beiden 47 bzw. 31 Minuten langen Darbietungen bis ins Detail zu verfolgen, seien nur ein paar Beobachtungen wiedergegeben, und dabei Hewitts Ergebnisse auf dem – neuen – Fazioli-Flügel mit ihren geistreichen Anmerkungen zu den Stücken verglichen. Hewitt wählt bei Opus 106 durchgehend sehr schlüssige Tempi, überhastet weder die ersten beiden Sätze noch die Fuge. Letztere beginnt sie mit Viertel = ca. 128: Ein Tempo, das sich in vielen guten Aufnahmen wiederfindet (Richter, Pollini usw.) und für moderne Flügel vielleicht ideal ist. Ebenso gilt Halbe = ca. 108 für den Kopfsatz als bewährtes Grundtempo, auch wenn es noch weit unter den gedruckten 138 liegt. Im Adagio vertraut Hewitt hingegen auf Beethovens Tempovorgabe (Achtel = 92), was sich über weite Strecken als Glücksfall erweist. Insgesamt gestaltet Hewitt das Tempo jedoch äußerst flexibel, gibt ihren Vorstellungen von Klangqualität und Ausdrucksnuancen klar den Vorrang vor metronomischer Konstanz. Dem kann man nur zustimmen, trotzdem hören wir bisweilen recht komische Ausdeutungen. Das beginnt bereits beim Kopfthema, dessen durch den punktierten Achtelauftakt so rigorosen Charakter sie durch die Verbreiterung fast zu einer Viertel aufweicht; man könnte das Kontra-B auch mit der rechten Hand nehmen. Eigentlich gelingen Hewitt im Kopfsatz viele Stellen sehr schön, sie beachtet genau die Sforzati und was sie im jeweiligen Kontext bewirken sollen – etwa in den Takten 17 ff. auf der „Zwei“. Darüber hinaus kann sie durchaus den großen, symphonischen Zusammenhalt vermitteln.
Im Scherzo ist Hewitt recht flott, die oft etwas zu undeutlich vorgetragene Zweistimmigkeit im Trio ist absolut vorbildlich. Das Prestissimo wird nicht zur Raserei: Sie betrachtet es als „ungarischen“ Exkurs. Der Beginn des Adagios ist enorm ausdrucksstark, trotz des eher flüssigen Tempos. Da, wo die Zweiunddreißigstel zu dominieren beginnen (nach T. 87), muss Hewitt ihren offenkundigen Drang nach vorne künstlich zurücknehmen, die Agogik erscheint nicht immer natürlich. Und wo sich dann – in anderer Tonart – quasi reprisenartig ein längerer Abschnitt wiederholt, verliert sie schließlich derart den Fokus, dass der più forte Ausbruch über dem verminderten Septakkord (T. 165) tatsächlich nur wie „ein Moment der Krise“ (Hewitt) und nicht wie ein letzter, verzweifelter Aufschrei wirkt, bevor bei ihr der Satz nebulös ins Nichts dahindämmert.
Die Fuge packt die bewunderte Bach-Spielerin wirklich souverän, begreift die einzelnen Durchführungen so, wie es z. B. Charles Rosen in Der klassische Stil beschrieben hat: als eine Folge von – bei Hewitt in der Tat enorm abwechslungsreichen – Charaktervariationen. Wenn jedoch nach der Trillerorgie zur Dominante A (T. 243 ff.) „ein drittes Thema“ erscheint – nach Meinung des Rezensenten der bewusste Rückzug von der Monsterfuge zu einer kleinen D-Dur-Fughetta – verbreitert sie das Tempo viel zu stark, so dass der Wiederaufbau des „alten“ Fugenwahnsinns seiner sich schnell erneut verdichtenden Struktur etwas hinterherhinkt. Der Schluss hat dennoch Größe – so wie die gesamte Darbietung, wenn hier auch keine Glanzleistung à la Murray Perahia vollbracht wird – der sich übrigens ebenfalls erst sehr spät an diesen Klavier-Himalaya wagte.
Noch interessanter und konsequenter erscheint dem Rezensenten op. 111. Hewitt lässt sich Zeit, schon bei der Einleitung: Dramatik ohne jede Spur von Hektik; wie jemand, der in fortgeschrittenem Alter so viel Resilienz entwickelt hat, dass er die Fügungen des Schicksals genauestens und bewusst reflektiert, jedoch auszuhalten vermag. Der ganze Satz bleibt dabei hochenergetisch. Die Arietta spielt Hewitt vielleicht eine Spur zu langsam. Das geht bei den ersten Variationen noch gut: Klar, dass sie die (virtuelle) Beschleunigung nicht als Boogie-Woogie verfremdet, sondern ganz in barocker Tradition exerziert. Ab der vierten Variation (T. 65) verliert sich die Pianistin leider. Was sie als „eine Art jenseitige Musik, die in ihrer Zartheit geradezu ätherisch ist“ beschreibt, gerät mit seiner potenziert ternären Struktur dann zur indifferenten Suppe. Erst in der langen Coda agiert Hewitt wieder gestalterisch überzeugend. Trotzdem ist diese Aufnahme von op. 111 ausgereift und hebt sich aus einer Masse von Einspielungen hervor, die dem Geheimnis dieses legendären Werkes weit weniger abgewinnen können. Aufnahmetechnisch ausgezeichnet und mit einem sehr persönlichen Booklettext, legt Angela Hewitt hier eine in vielerlei Hinsicht besondere Beethoven-Auseinandersetzung vor.
Das Duo Les Connivences Sonores spielt fünf Originalwerke des 20. Jahrhunderts für Flöte und Harfe, komponiert zwischen 1919 und 1996. Die Komponisten und ihre Werke decken dabei eine breite Palette an Ländern und Stilen ab, die sich vom französischen Impressionismus und der Musik des Nahen Ostens bis hin zur Illustration des Stundenbuchs erstreckt; auch Schostakowitsch findet hier – musikalisch – Erwähnung.
Seit 2014 bilden die französische Flötistin Odile Renault und die Schweizer Harfenistin Elodie Reibaud ein Duo, und wie der Name „Les Connivences Sonores“ bereits nahelegt, setzen sich die beiden Musikerinnen insbesondere für selten gespieltes Repertoire ein. Ihre erste (SA)CD, fast ein wenig unscheinbar als „Musikalische Perlen“ tituliert, ist als Streifzug quer durch das Originalrepertoire des 20. Jahrhunderts für diese Besetzung angelegt. Alle hier versammelten Werke bewegen sich im Rahmen einer frei gehandhabten, oft modal gefärbten Tonalität und ergeben ein facettenreiches, unterhaltsames und anregendes Programm.
Am Beginn der CD steht die Sonatine für Flöte und Harfe op. 56 (1919) von Désiré-Émile Inghelbrecht (1880–1965), einem Freund Debussys, der vor allem als Dirigent französischer Musik Bekanntheit erlangte; eine ganze Reihe seiner Einspielungen sind auch heute noch ohne Probleme auf CD zu beziehen. Seine Kompositionen spiegeln seine Vorlieben und Schwerpunkte als Dirigent deutlich wider: Musik im Fahrwasser der französischen Spätromantik und ganz besonders des Impressionismus, deren Reize nicht in einem sonderlich individuellen Tonfall liegen, sondern eher in der gekonnten, apart gestalteten Bezugnahme auf bereits Vorhandenes. Seine dreisätzige Sonatine ist ein leicht melancholisches, insgesamt aber doch eher lichtes Werk in e-moll. Die an zweiter Stelle stehende Sicilienne lässt (auch) ein wenig an Gabriel Fauré denken, aber in der Totalen ist Debussy sicherlich der dominierende Einfluss, besonderes deutlich etwa im Finale, das ziemlich direkt die Fêtes aus den Trois Nocturnes in Erinnerung ruft. Ein reizvolles, charmantes, leicht ins Ohr gehendes Werk.
Ist Inghelbrechts Sonatine das älteste hier eingespielte Werk, so folgt mit der Sonate für Flöte und Harfe op. 56 des Amerikaners Lowell Liebermann (* 1961) sogleich das jüngste. Komponiert 1996, erfreut sich dieses Stück ganz augenscheinlich großer Beliebtheit; so listet die Internetpräsenz des Komponisten nicht weniger als acht(!) weitere Einspielungen auf. In der Tat handelt es sich um ein attraktives, dankbares Werk, das insbesondere auch dramatische Akzente setzt. Knapp viertelstündig und in einem Satz angelegt, beschreibt die Musik einen Bogen, der von einem gespannt-ahnungsvollen langsamen Beginn (Grave) ausgeht. Über dem langsamen Pochen der Harfe (auf H) entfalten sich lyrisch-expressive Melodiebögen in der Flöte, die variiert, entwickelt und gesteigert werden, um schließlich in einen schnellen, triolisch geprägten Mittelteil zu münden, der unter anderem Schostakowitsch Referenz erweist (in Form des D-Es-C-H-Motivs). Am Ende kehrt die Musik des Beginns in leicht abgewandelter Form wieder, und die Sonate endet in der Atmosphäre angespannter Ruhe, mit der sie auch begann. Ein interessantes Werk, das nicht zuletzt durch seine dicht gewobenen thematischen Verflechtungen überzeugt. Man beachte etwa den Beginn, wo vieles absichtsvoller geschieht, als es zunächst wirken mag: über dem H der Harfe setzt die Flöte mit den Tönen c-d-dis (bzw. es) an, und was hier erst einmal der Anfang einer orientalisch anmutenden Skala ist, entspricht in anderer Anordnung später eben genau der Tonfolge D-Es-C-H. Die Triolen, die die Melodielinien der Flöte am Beginn ausschmücken, bilden die rhythmische Grundlage des Mittelteils.
Es folgt die Arabeske Nr. 2 (1973) des israelischen Komponisten Ami Maayani (1936–2019), Teil eines Zyklus von sechs Arabesken für unterschiedliche Instrumente, der in loser Folge zwischen 1961 und 2010 entstand. Maayani ließ sich häufig von hebräischer und nahöstlicher Folklore inspirieren, und so basiert auch seine Arabeske Nr. 2 auf einem arabischen Maqam, also einem Modus (die Form des Mugham, Muğam, Maqam, Maqom etc. spielt überhaupt in der Musik zahlreicher Komponisten aus dem Nahen Osten, Aserbaidschan und Zentralasien eine große Rolle, man denke etwa an Fikrət Əmirovs drei Sinfonische Muğamen oder an die großartig-archaische Sinfonie der Maqoms des Tadschiken Sijodullo Schahidi / Ziyodullo Shakhidi). Maayanis Arabeske beginnt rhapsodisch, wie improvisiert anmutend, der prächtige, reich ornamentale Harfenpart lässt Maayanis besonderes Interesse an diesem Instrument, das er mit etlichen Kompositionen bedacht hat, erkennen. Im Mittelteil festigen sich die rhythmischen Konturen, und die Musik gewinnt an Entschlossenheit, ehe das Ende wieder offener gestaltet ist. Kraftvolle, farbenfrohe Musik.
Ned Rorem (* 1923) darf mittlerweile als Nestor der US-amerikanischen Komponisten gelten. In besonderem Maße als Komponist von Liedern hervorgetreten, besitzt auch seine Instrumentalmusik in der Regel gesangliche Qualitäten. In seinem Book of Hours (1975) vollzieht er in acht kurzen Sätzen die Stundengebete nach. Den Rahmen bilden mit Matins und Compline zwei schlicht gehaltene, aufeinander Bezug nehmende Sätze in gedämpftem Tonfall, die unter anderem Glockenschläge (in der Harfe), aber auch sehr suggestiv Pausen in der Lesung imitieren. Dazwischen spielt sich eine reichhaltige Palette an Stimmungen und musikalischen Situationen ab. Der vierte und längste Satz, Terce, etwa besteht aus zwei großen Abschnitten, die jeweils einem der beiden Instrumente vorbehalten sind, und wenn die Harfe ihr Solo beginnt, dann mit geradezu romantischer Emphase, ein veritabler Gegenpol zur stillen Einkehr der Ecksätze. Andere Sätze, z. B. das an zweiter Stelle stehende scherzoartige Lauds, sind konzertant (durchaus auch im Sinne eines spielerischen Wettstreits) angelegt, und generell erweist sich Rorem als großartiger, einfallsreicher musikalischer Illustrator (man vergleiche etwa seine eigenen Anmerkungen zu diesem Werk im Beiheft).
Die CD wird mit den Drei Fragmenten (1953) des großen polnischen Komponisten Witold Lutosławski (1913–1994) beschlossen, ganz kurze Gelegenheitswerke für den Rundfunk, ausgesprochen hübsch gemacht. Sehr schön etwa das Schillern, das Changieren zwischen Dur und Moll in der einleitenden Magia, und das abschließende Presto in D-Dur bildet einen effektvollen Abschluss dieser CD. Zurecht weisen die beiden Musikerinnen im Beiheft darauf hin, dass Lutosławski in diesen Stücken gar nicht einmal so weit vom französischen Impressionismus entfernt ist, und so schließt sich auch in dieser Hinsicht der Kreis zum Beginn der CD.
Die Interpretationen von Renault und Reibaud bestechen durch eine gelungene Mischung aus Temperament und Subtilität. Die Charakteristika der hier versammelten Werke werden vorzüglich nachvollzogen, zahlreiche Details sorgfältig herausgearbeitet. Insbesondere ist das Duo ausgesprochen gut aufeinander abgestimmt und lässt so die dialogischen Strukturen, die den Werken innewohnen, ausgezeichnet zur Geltung kommen. Die Variabilität der beiden Musikerinnen ist exemplarisch am Facettenreichtum von Rorems Book of Hours nachzuvollziehen: so wissen Renault und Reibaud etwa sowohl den Sonnenaufgang nebst Scherzo in Lauds (Nr. 2) als auch die Intimität und den leisen Windhauch in Prime (Nr. 3) eindrücklich zu realisieren. Ihre Fähigkeiten zur Gestaltung größerer Formen, zum Bilden und Aufrechterhalten von Spannung belegt wiederum die Aufnahme von Liebermanns Sonate. Der Klang der CD ist sehr gut, das Beiheft informativ. Eine sehr schöne Veröffentlichung.
Eine einzigartige Verbindung von traditioneller afrikanischer Musik mit Jazz-, aber auch Klassikelementen steht am 7. September im Wiener Musikclub Fania live bevor. Mamadou Diabate, der „Meister des sprechenden Balafons“ krönt zusammen mit seiner Band „Percussion Mania“ das erste „Große Fest der Frankophonie“. Dieses wird vom Verein Le Cercle ausgerichtet, der sich mit wechselnden künstlerischen Akzenten der französischsprachigen Kultur in Wien widmet.
Termin: 7. September 2022 um 20:30
Ort: Fania live (U-Bahn Bogen Gürtellinie 22-23 in 1080 Wien)
Mamadou Diabate und „Percussion Mania“ sind eine weltweit einzigartige Formation, die sich von allen westafrikanischen Bands unterscheidet. Herzstück der musikalischen Interaktionen sind die spektakulären Balafon-Duelle zwischen den beiden Cousins Mamadou Diabate und Yacouba Konate. Mamadou Diabate greift dabei auf eine völlig eigenständig entwickelte Spieltechnik zurück. Seine Soli erwecken oft den Eindruck, als würden hier mindestens drei Balafonspieler zusammen spielen.
Das aktuelle Projekt Seengwa, das seit Frühjahr auch auf einer neuen CD vorliegt, ist eine Hommage an die fast vergessenen Musiktraditionen des Volkes der Sambla aus der gleichnamigen Region in Burkina Faso. Die Sambla gehören zu den sehr wenigen Völkern der Welt, die eine Sprache mit einem Xylophon (von den Sambla Balafon genannt) entwickelt haben. Es handelt sich dabei um eine Übertragung der samblischen Sprache in Musik, die als „Ersatzsprache“ dient. Musiker, die diese Sprache nicht verstehen, können das Instrument nicht beherrschen.
In Mamadou Diabates Band „Percussion Mania“ treffen sich hochkarätige Musiker aus Diabates Heimatland und aus Europa. Als prominentestes Mitglied hat sich der österreichische Jazz-Saxophonist Wolfgang Puschnig der sechsköpfigen Band angeschlossen. Perkussionsinstrumente wie Djembe und Kalebasse runden den Klangteppich ab, ebenso Streicher, Klavier und Kora sowie E- und Bassgitarre. Mamadou Diabates Kompositionen sind eine Hommage an Jahrtausende westafrikanischer Kultur und erzählen auf unterhaltsame Weise die Geschichten des Sambla-Volkes.
Mamadou Diabate begann im Alter von fünf Jahren, professionell Musik spielen zu lernen und gilt als einer der weltbesten Instrumentalisten auf dem Balafon. Dieses vielseitige Instrument ist ein Archetyp des Xylophons, dessen Holzstäbe durch unten befestigte Calabas (hohle Kalebassen) verstärkt und mit einer Resonanzmembran überzogen sind, die einen unverwechselbaren Perkussionsklang erzeugt.
Le Cercle
Le Cercle ist eine unabhängige französischsprachige Vereinigung, die im Jahr 2018 von Studierenden der Diplomatischen Akademie in Wien gegründet wurde. Seitdem wächst das frankophone und frankophile Netzwerk und bietet ein breit gefächertes und abwechslungsreiches Veranstaltungsprogramm, u. a. Konzerte, Konferenzen, Debatten, literarische Abende und auch Filmvorführungen.
Naxos hat sich schon immer auch für die Musik des grandiosen Rumänen George Enescu stark gemacht. Auf der neuen CD mit zwei erst nach dem Tod des Komponisten veröffentlichten bzw. entdeckten Kammermusikwerken – dem Klaviertrio a-Moll (1916) und dem 1. Klavierquartett D-Dur (1909) – spielen Stefan Tarara (Violine), Molly Carr (Viola), Eun-Sun Hong (Violoncello)und Josu De Solaun (Klavier).
Bald siebzig Jahre nach seinem Tod gehören die meisten der erstaunlichen Meisterwerke des Rumänen George Enescu (1881–1955) immer noch nicht zum Standardrepertoire der klassischen Moderne. Ob der Hauptgrund dafür tatsächlich in der lange enormen Popularität seiner beiden Rumänischen Rhapsodien zu suchen ist, die ja sein Werk völlig unterbelichtet erscheinen lassen müssen, oder in der überragenden Bekanntheit Enescus als einer der bedeutendsten Geiger und Pädagogen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sei mal dahingestellt. Ersteres wäre nun in etwa so, als ob man über Beethovens Wellingtons Sieg dessen Symphonien, Sonaten und Streichquartette völlig vergessen hätte. Dass Enescu wohl ebenso versiert Klavier spielte wie die Violine, wissen freilich auch nur die Wenigsten.
Enescu war vielmehr einer derjenigen Zeitgenossen, die in ihrem Werk eben keinen radikalen Bruch mit der Spätromantik vollzogen haben, trotzdem komplex und zum Teil ebenso eigenwillig innovativ wie herausfordernd für Interpreten und Hörer sind. Das spürt man beispielhaft in der hier vorgestellten Kammermusik. Das dreisätzige Erste Klavierquartett von 1909 ist mit 37 Minuten ein echtes Schwergewicht der Gattung – mit zyklischer Transformation sogar über die Satzgrenzen hinaus verwandter Themen und großer emotionaler Spannweite. Nach der erfolgreichen Uraufführung erklang das Stück zu Lebzeiten dennoch lediglich zweimal – jeweils mit Enescu am Klavier (!) – und wurde erst 1965 gedruckt. Das relativ knappe einzige Klaviertrio des Komponisten, das zwischen 1911 und 1916 entstand, blieb sogar bis zu seinem Tod in der Schublade. 1965 entdeckt und noch viel später von Pascal Bentoiu ediert, gehört es bisher eher zu den Raritäten Enescus.
Die drei Protagonisten des Trios – der Heidelberger Violinist Stefan Tarara, die südkoreanische Cellistin Eun-Sun Hong und der spanisch-amerikanische Pianist Josu De Solaun – waren jeweils in ihrem Fach erste Preisträger des internationalen George Enescu Wettbewerbs 2014. De Solaun hat bereits Enescus komplettes Soloklavierwerk für Grand Piano eingespielt. Vergleicht man die vorliegende Darbietung (entstanden 2017 in Valencia) mit der des britischen Schubert Ensembles (2012), so fällt zunächst auf, dass sich letztere nach intensiver Auseinandersetzung mit dem Autograph in vielen Details nicht an die Bentoiu-Fassung halten. Inwieweit auch die Neueinspielung teils eigene Lesarten berücksichtigt, kann der Rezensent mangels Notenmaterials leider nicht bewerten; jedenfalls gibt es Unterschiede im Text beider Aufnahmen. Dass Enescu es im Kopfsatz nach hochexpressivem Beginn verinnerlichter und ruhiger angehen lässt, kommt dem britischen Understatement des Schubert Ensembles entgegen. Aber schon im langsamen Variationssatz beweisen die Naxos-Musiker größere Geschmeidigkeit und Finesse – etwa gleich in der Presto-Variation. Und im bedrohlich stampfenden Einleitungsteil des Finales klingen sie wirklich desolat, sind mittendrin im Geschehen; nicht nur kultivierte Betrachter eines intelligent angelegten Klangpanoramas wie ihre britische Konkurrenz.
Insgesamt emotional direkter, dafür klanglich streckenweise weniger feinsinnig als das Schubert Ensemble (2010), scheinen Tarara, Hong und De Solaun – nun verstärkt durch die US-Bratscherin Molly Carr – auch für das 1. Klavierquartett geradezu prädestiniert. Hier wird individuellen Momenten der Einzelstimmen deutlich mehr Entfaltungsmöglichkeit gewährt: Man höre etwa die Bratschenstelle I. Satz, 7. Takt nach Zif. [17] (Track [4], ab 7‘38“), ausdrücklich mit molto espressivo versehen, die von Carr als höchst schmerzlicher Einwurf gestaltet wird, bei den Briten lediglich ein korrespondierendes Rädchen im Stimmengeflecht. Derlei Intensität macht den 14-minütigen Kopfsatz natürlich ebenso für den Hörer zu einer Tour de Force. Das atmosphärisch dichte, einerseits noch am französischen Impressionismus geschulte, gleichzeitig die spätere Metamorphosentechnik des Dänen Vagn Holmboe vorwegnehmende Andante mesto überzeugt bei beiden Ensembles. Im Finale gewinnt jedoch wiederum die Neuaufnahme, ist zupackender, besonders im Klavier virtuoser; gerade auch der fulminante, nochmals das Hauptthema rekapitulierende Schluss wirkt da stringent, beim Schubert Ensemble droht er beinahe zu zerfallen. Die Naxos-Technik betont noch die Direktheit der Aufführungen; hingegen lässt die Räumlichkeit etwas zu wünschen übrig. Als wirklich ärgerlich erweist sich der leider suboptimal gestimmte Flügel, vor allem beim Quartett. Richard Whitehouses Booklettext ist wie immer konzentriert und informativ. Man darf also die mehr als interessante Erweiterung der Enescu-Diskographie mit äußerst kompetenten Musikern unter Kammermusikfreunden durchaus willkommen heißen.
Nach der ersten Folge (Violine, Flöte, Fagott) der Gesamtaufnahme sämtlicher Choros für Soloinstrumente und Orchester von Camargo Guarnieri bringt die zweite CD dieStücke für Klarinette, Klavier, Violoncello und Viola; dazu noch Flor de Tremembé. Das São Paulo Symphony Orchestra spielt diesmal unter Leitung von Roberto Tibiriçá; die Solisten sind Olga Kopylova (Klavier), Ovanir Buosi (Klarinette), Horácio Schaefer (Viola) und Matias de Oliveira Pinto (Violoncello).
In der bislang erstaunlichen Naxos-Reihe „The Music of Brazil“ darf natürlich (Mozart)Camargo Guarnieri (1907-1993) – er selbst verzichtete stets auf seinen ersten Vornamen – nicht fehlen; für die meisten Klassikfreunde nach Heitor Villa-Lobos wohl der zweitbekannteste Komponist des Landes. Immerhin verfasste er – zieht man die 80 zurückgezogenen Jugendwerke bis 1927 einmal ab – an die 400 Eigenkompositionen. Erst mit zwanzig erhielt Guarnieri wirklich professionelle musikalische Ausbildung. 1938 ging er dank eines Stipendiums nach Paris, wo Charles Koechlin sein wichtigster Kompositionslehrer wurde, sich aber auch Begegnungen etwa mit Nadia Boulanger oder Darius Milhaud ergaben. Nach Kriegsbeginn wieder zurück in Brasilien, hielt er – wie Claudio Santoro – guten Kontakt zum Exil-Deutschen Hans-Joachim Koellreutter, lehnte jedoch die von diesem propagierte Zwölftonmethode der Zweiten Wiener Schule ab und richtete sich 1950 in einem offenen Brief – dessen Echtheit mittlerweile angezweifelt wird – gegen deren Verfechter. So vertrat Guarnieri lange einen Stil, der auf nationale Identität fokussiert war, aber harmonisch mehr in Richtung einer recht freien Polytonalität zielte. In seiner späten Schaffensperiode (ab 1965) finden sich gar wieder Allusionen von Reihentechniken.
Die insgesamt sieben Choros von Camargo Guarnieri knüpfen ebenso wenig direkt an die traditionellen Formationen der brasilianischen Popularmusik (Chôros) an wie bei Villa-Lobos, stehen hier vielmehr einfach für den Begriff Konzert: „Choro está substituindo concerto“. Vom Umfang mit 10 bis 20 Minuten kürzer als die meisten Solokonzerte des Komponisten, die er nicht als Choro betitelt, stellen sie jedoch keineswegs geringere Anforderungen an die Solisten. Die vier Werke der vorliegenden CD sind alle dreisätzig – beim Choro für Klarinette in einem Satz zusammengefasst. Innerhalb der Sätze bevorzugt Guarnieri zumeist A-B-A-Formen europäischer Tradition. Darüber hinaus spürt man häufig seine Vorliebe für Musik des Sertão im Nordosten Brasiliens. Wenn auch größer besetzt als diese, lohnt sich zudem ein Vergleich mit Hindemiths sieben Kammermusiken, die der Komponist in den 1930ern wohl eingehend studiert haben muss.
Mitglieder des Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo (OSESP) stemmen die Soli dreier Stücke und machen ihre Sache allesamt hervorragend: Ovanir Buosi brilliert sowohl in den jazzinspirierten Abschnitten als auch den nachdenklichen Momenten seines knappen Choro für Klarinette und Orchester (1956). Die Hauspianistin des Orchesters, Olga Kopylova fiel schon auf der ersten CD mit einer exzellenten Darbietung von Seresta auf und spielt hier vielleicht den dankbarsten, auf alle Fälle den am leichtesten zugänglichen Choro (1956) – mit einem zwischen Zartheit und robustem Auftreten changierendem ersten Satz, einem hemmungslos nostalgischen zweiten und einem leichtfüßig tänzerischen Finale samt äußerst eingängigen Hauptthema. Den größten Tiefgang spürt der Rezensent im Werk für Viola von 1975, schon aus der letzten Schaffensphase Guarnieris. Schroff und energetisch im kurzen Kopfsatz mit einer tollen Kadenz, wahrlich tristemente im langsamen Zentrum, schließlich ausgelassen und rhythmisch hochaktiv. Eine echte Paradenummer für den Bratscher Horácio Schaefer, und sicher nicht nur für den, wenn das Stück denn mal die Runde machte. Der Solist des Choro für Violoncello, Matias de Oliveira Pinto, stammt zwar aus São Paulo, lebt aber schon länger in Deutschland, wo er zurzeit eine Professur in Münster bekleidet. Hier startet der Komponist zwar am dramatischsten und bedient die gleiche Teleologie wie in den anderen Choros; manches ist dann freilich recht pauschal und absehbar, dennoch unterhaltsam.
Besondere Aufmerksamkeit verdient die kleine „Zugabe“: Flor de Tremembé, ein Geschenk Guarnieris an seine zweite Frau, die eben von dorther stammte. Für ein selbst 1937 höchst ungewöhnliches Solistenensemble von 15 Spielern – u. a. mit Ukulele, Baritonsaxophon, Harfe und Klavier – geschrieben, zeigt der Komponist bereits in dieser frühen Phase echte Meisterschaft: in der versierten kontrapunktischen Disposition wie im pfiffigen Umgang mit Jazzeinflüssen. Das Beste dabei: Zum Schluss verpackt Guarnieri das bisher vorgestellte Material noch kurz in eine rasante Zugfahrt, so wie man sie aus Honeggers Pacific 231 und natürlich Villa-Lobos‘ Bachianas brasileiras No. 2 (4. Satz: Toccata. O trenzinho de caipira) kennt – das macht richtig Spaß!
Wurde das bedeutendste Orchester Brasiliens in der ersten Folge noch von Altmeister Isaac Karabtchevsky geleitet (man lese die Kritik seiner Gesamtaufnahme der Villa-Lobos-Symphonien), steht nun mit Roberto Tibiriçá ein nicht minder versierter Dirigent der Folgegeneration – und ebenfalls aus São Paulo gebürtig – am Pult des OSESP. Er sorgt über die gesamte Darbietung für gute Durchsichtigkeit, die aufnahmetechnisch gleichermaßen unterstützt wird, begleitet untadelig und hat die richtige Ader für Jazziges, genau wie für goldrichtig dosiertes südamerikanisches Flair. Für die Hörer gibt es mal wieder enorm viel Gutes zu entdecken – lohnenswert!
Hinweis: Folge 1 der Choros von Camargo Guarnieri auf Naxos 8.574197 (2019)
Es sind nicht nur die größtenteils einem breiteren Publikum bisher verborgen gebliebenen Schätze, die bei der Naxos Serie „The Music of Brazil“ seit den ersten Veröffentlichungen Anfang 2019 begeistern, sondern vielmehr die musikalische und technische Qualität der Aufnahmen. Mit zwei zentralen Symphonien (Nr. 5 & 7) von Claudio Santoro (1919–1989) und dem Goiás Philharmonic Orchestra unter seinem britischen Chef Neil Thomson gelingt dem Label erneut eine exemplarische Einspielung bedeutenden Repertoires.
Die Lebensgeschichte des in Manaus gebürtigen Komponisten Claudio Santoro – noch mehr seines umfangreichen Werkes – erscheint zunächst ein wenig verschlungen: Früh als Geigentalent erkannt, unterrichtete Santoro bereits mit 18 Jahren am Konservatorium in Rio, wo er auch zu komponieren begann. 1940 traf er auf den aus Deutschland emigrierten Hans-Joachim Koellreutter, der versuchte, in Brasilien die Zwölftontechnik Schönbergs zu etablieren. Ein Stipendium der Guggenheim-Stiftung konnte er nicht wahrnehmen, da die USA ihm ein Visum verweigerten, worauf er 1947 auf Empfehlung Charles Münchs zu Nadia Boulanger nach Paris ging, dort zusätzlich von Eugène Bigot zum Dirigenten ausgebildet wurde. Von da an sammelte er national wie international zahlreiche Preise ein. Hatte er sich, nicht erst durch Kontakte und Reisen nach Moskau und Prag, nun stark den ästhetischen Forderungen des Sozialistischen Realismus zugewandt und damit der Dodekaphonie vorerst eine Absage erteilt, durchlebte er als Komponist in den 1950ern eine mehr oder weniger nationalistische Phase, die sich dennoch stark von denen seiner Landsmänner Villa-Lobos (freilich eine Generation zuvor) oder Camargo Guarnieri unterscheidet. In Santoros Musik geht zwar eine intensive Erforschung der heimatlichen Folklore mit ein, kommt aber lediglich als reines Material für abstrakte Formen zum Einsatz.
Bis zum Militärputsch 1964 war Santoro in einigen führenden musikalischen Positionen Brasiliens tätig – vor allem als Dirigent und Hochschullehrer. Parallel dazu hatte er seit 1960 beide deutsche Staaten besucht, etwa um elektroakustische Studien zu betreiben. 1965 zur Persona non grata erklärt, verließ er seine Heimat, arbeitete dann vor allem in Frankreich und Deutschland: u. a. Professuren für Dirigieren und Komposition in Mannheim 1971–1978. Nach seiner Rückkehr gab es neben weiteren Ehrungen auch erhebliche Missverständnisse innerhalb des dortigen Kulturbetriebes. Ab Mitte der 1960er Jahre nutzte Santoro neben Elektronik, Aleatorik, teilweise graphischer Notation und anderen Avantgarde-Elementen auch wieder die Zwölftontechnik, allerdings nicht durchgehend.
Von seinen insgesamt 14 Symphonien kann man die vorliegenden Nr. 5 (1955) und Nr. 7 („Brasília“, 1959/60) getrost als die zentralen Orchesterwerke der fruchtbaren nationalistischen Phase des Komponisten ansehen. Die Fünfte – 1956 in Rio uraufgeführt, jedoch zunächst in Moskau verlegt – zeigt, wie weit Santoro hier vom Folklorismus der meisten südamerikanischen Zeitgenossen entfernt ist. Die Verwendung sowohl lydisch-mixolydischer Modi wie typisch brasilianischen Schlagwerks (etwa im Scherzo, II. Satz) versucht keinesfalls, Volksmusik nachzuahmen: Alles dient letztlich der Errichtung eines symphonischen Gebäudes, wie es eher den Erwartungen eines europäischen Publikums entsprechen dürfte. Im Lento benutzt er Material des Xangô ausnahmsweise einmal direkt. Weder geht es hier um allzu prächtige Farbigkeit – wie oft bei Villa-Lobos – noch um ausufernde Expressivität. Santoro überzeugt nicht nur handwerklich, wie sich gerade im grandiosen Kontrapunkt zeigt, sondern durch ebenso klug wie organisch angesteuerte emotionale wie klangliche Höhepunkte. Die Siebte verdankt ihren Titel einem Wettbewerb zur Einweihung der Planhauptstadt Brasília im Jahre 1960, wurde aber erst 1964 in Berlin vom Komponisten uraufgeführt. Noch reichere Instrumentation und die konsequente Verwendung von Viertonmotiven in drei der vier Sätze strahlen Erhabenheit und Optimismus aus, ohne dass die Symphonie als solche programmatisch sein möchte. Bei so viel Meisterschaft erscheint der Vorwurf einiger Kritiker, Santoro sei zu akademisch, nahezu irrelevant. Für Neulinge klingt das alles freilich näher dran an beispielsweise Aaron Copland – der auch durch die Schule von Mademoiselle Boulanger ging – als an seinen brasilianischen Kollegen.
Das Orquestra Filarmônica de Goiás beweist einmal mehr die Professionalität brasilianischer Kulturorchester jenseits von Rio de Janeiro oder São Paulo. 1980 gegründet, residiert der Klangkörper seit 2006 im hochmodernen Centro Cultural Oscar Niemeyer der Millionenstadt Goiânia. Wer keinen Beton mag, sollte sich das Drohnenvideo vielleicht lieber nicht ansehen. Niemeyer und Santoro waren übrigens persönlich eng befreundet. Der Chefdirigent Neil Thomson (Jahrgang 1966) stammt aus London, war eine Zeit lang jüngster Dirigierprofessor am dortigen Royal College of Music, und leitet das Orchester in Goiás seit 2014. Dessen Klangkultur ist absolut beeindruckend, und Thomson hat hier eine Offenheit für Neue Musik entwickelt, die in Brasilien bisher einmalig sein dürfte – mit zahlreichen Erstaufführungen europäischer Moderne. Über sämtliche Orchestergruppen hinweg spürt man eine dichte Kommunikation, Homogenität und wachen Sinn für musikalische Details, die den Rezensenten – spätestens nach der ersten CD der Naxos-Reihe The Music of Brazil mit dem Orquestra Filarmonica de Minas Gerais – nun keineswegs mehr überraschen. Und wieder kann die Aufnahmetechnik mithalten – zumindest mit der aktuell einzigen Konkurrenz-CD mit Santoro-Symphonien (Nr. 4 & 9 unter John Neschling) auf BIS, immerhin bereits 20 Jahre her. Gegenüber den alten Rundfunk-Aufnahmen der Nummern 5 & 7 mit dem Komponisten selbst, die man auf YouTube findet, natürlich ein Quantensprung. Dass Thomson manche Grobheiten Santoros erheblich glättet, mag sich wohl allein durch den enormen spieltechnischen Fortschritt seines Orchesters erklären, das seit Corona wohl kurz vor dem Aus stand, nun aber offenkundig überlebt hat. Auf jeden Fall weckt diese Naxos-Entdeckung das Interesse auf acht noch nicht eingespielte Gattungsbeiträge, die hoffentlich irgendwann folgen werden, und sollte in keiner Symphonien-Sammlung fehlen.
Neben Repertoire, an das sich eigentlich nur Supervirtuosen trauen (dürfen), überzeugt der in den USA lebende Frankokanadier Marc-André Hamelin immer auch mit Werken der Wiener Klassik. Nach drei vielbeachteten Doppel-CDs mit Klaviermusik von Joseph Haydn hat er auf Hyperion nun 2 CDs mit – überwiegend – Sonaten & Rondos von Carl Philipp Emanuel Bach eingespielt. Die komplette Tracklist der intelligenten Auswahl ist hier zu finden.
Die ungeheure Bedeutung Carl Philipp Emanuel Bachs (1714–1788) für die Entwicklung der Klaviermusik – sowohl der solistischen als auch des Klavierkonzerts, das fast als seine Erfindung gelten darf – wird heute eher unterschätzt. Junge Klavierschüler wagen sich schnell an Haydn- und Beethoven-Sonaten, und der enorm umfangreiche und vielschichtige Kosmos C. P. E. Bachs wird quasi ignoriert. Seine Sonaten sind noch nicht richtig klassisch (was durchaus sein Gutes hat), und die inspirierte Virtuosität fällt nicht sofort ins Auge. Und was soll uns heute der vorgeblich galante Stil noch sagen?
Wer sich auch nur ein wenig mit C. P. E. Bachs Klavierwerken beschäftigt hat, und sei es nur das kleine, geniale Solfeggio c-moll (H 220), das Marc-André Hamelin hier ebenfalls spielt (CD 1, Track 27), wird sich zumindest deren Charme nicht entziehen können. Wie sich die unmittelbare Emotionalität als Galanterie begreifen lässt und eine zu starke Ausrichtung der Darbietung hin auf Erfahrungswerte der Wiener Klassik als unzureichend erweist, kann man schön anhand der Sonate D-Dur (H 286) sehen: Wenn Ana-Marija Markovina in ihrer Gesamtaufnahme generell darauf setzt, immer schön die typischen Taktgruppierungen, wie sie Haydn, Mozart und Beethoven dann als essentiell formbildend verwenden (meist Vierer- bzw. Achterperioden), als in sich abgerundete Einheiten darzustellen und entsprechend zu phrasieren, geht die unmittelbare Ausdruckskraft kleinerer Details melodisch-figurativer oder harmonischer Natur verloren, die beim Bach-Sohn einfach mehr Aufmerksamkeit verdient, ja unbedingt benötigt. Die delikaten, asymmetrischen Akzente im 1. Satz (Allegro di molto – Hamelin: CD 2, Track 6) wirken bei ihr völlig willkürlich, gar deplatziert, somit gänzlich unverständlich: Sie schafft zwar irgendwie die „Quadratur“ der Taktgruppen gemäß dem klassischen Schema; sinnstiftend wirkt das hier jedoch gerade nicht. Vielmehr glaubt der Hörer, die Akzente seien nicht ganz „nüchtern“ zustande gekommen.
Wie etlichen Interpreten auf zeitgenössischen Instrumenten – auf die ich hier nicht eingehen möchte – gelingt es Hamelin oder Mikhail Pletnev schon durch leicht inegales Spiel, das kokette Insistieren auf dieser zweiten rhythmischen Ebene zu verdeutlichen, sie aber vor allem überhaupt erst klar hörbar zu machen. Das klingt bei Hamelin dann in der Tat galant – und immer noch elegant! Pletnev gerät dieser Satz überraschenderweise geradezu jazzig. Auch in den anderen Sätzen der beiden Sonaten H 286 und e-Moll H 281 – neben dem Rondo c-Moll H 283 die einzigen Überschneidungen von deren Alben – übertrifft Pletnevs Entdeckerlust und sein offenes Ohr für Feinheiten Hamelin. Im Tempo ist man sich übrigens auffallend einig. Trotzdem ist Hamelins Doppelalbum überragend: Weniger die im Detail durchgehend gebotene, höchste Präzision und sichere Technik (Triller, rasantes Laufwerk etc. – z. B. Sonate a-Moll H 247, CD 1, Track 3), als vielmehr seine Fähigkeit, größere Verläufe im Auge zu behalten, dabei gleichzeitig die Schönheiten des Augenblicks auszukosten, führen zu diesem Urteil. Selbstverständlich wird überwiegend non legato gespielt, melodische Verbindungen werden geschickt übers Pedal imaginiert, ohne dass das Klangbild jemals schwammig wird. Alles erscheint so ungemein gesanglich – lange eine Grundforderung Bachs an die Pianisten – und Hamelin vermeidet zum Glück, historische Cembali oder Hammerflügel zu imitieren; schon gar nicht beim Abschied von meinem Silbermannischen Claviere H 272.
Die Auswahl von 140 Minuten Musik kann zwar unmöglich einen vollständigen Querschnitt von C. P. E. Bachs Klaviermusik abbilden. Immerhin umfasst sie eine Zeitspanne von über 60 Jahren: vom frühen G-Dur-Marsch (vor 1725) aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach über die Sonate e-Moll H 66 (1751) – noch eine 5-sätzige barocke Suite – bis zur besagten D-Dur-Sonate (1785/86) und der zukunftsweisenden Freien Fantasie fis-Moll H 300 von 1787 mit ihrem atemberaubenden Tiefgang – der Höhepunkt der Veröffentlichung. Da ist die Tür für Beethoven bereits ganz weit offen. Wer nicht kategorisch auf historischen Instrumenten besteht, kommt an diesen erstklassigen Interpretationen kaum vorbei. Die perfekte Aufnahmetechnik und der gute, nicht überladene Booklettext von keinem Geringeren als Mahan Esfahani runden den äußerst positiven Eindruck ab.