Archiv der Kategorie: CD-Rezension

Die ersten Blüten der Musik für Solocello im 20. Jahrhundert

Wergo, WER 7409 2, EAN: 4 010228 740929

Auf seiner neuen Solo-CD erforscht Julius Berger die Anfänge der Sololiteratur für Violoncello zu Beginn des 20. Jahrhunderts, fast zwei Jahrhunderte nach Bachs epochalen Suiten. Neben Max Regers Suite d-moll op. 131c Nr. 2 hat Berger hierfür die Passacaglia aus der Solosonate von Donald Francis Tovey sowie – als Weltersteinspielungen – zwei Solowerke von Adolf Busch sowie die Suite Nr. 2 h-moll von Walter Courvoisier ausgewählt.

Dass Johann Sebastian Bachs Suiten für Solocello Anfang des 20. Jahrhunderts durch Pablo Casals aus einem veritablen Dornröschenschlaf erweckt werden mussten, dürfte vielen Musikliebhabern geläufig sein. In der Tat spielte man sie im 19. Jahrhundert wenn überhaupt, dann höchstens mit zusätzlicher Klavierbegleitung, wovon übrigens eine historische Aufnahme der Sarabande aus der Suite Nr. 6 durch Julius Klengel ein ebenso spätes wie in mancher Hinsicht skurriles Zeugnis ablegt. Diese Skepsis gegenüber Musik für solistisches Violoncello (und überhaupt solistische Melodieinstrumente) und ebenso ihre allmählich einsetzende Renaissance zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich dabei ebenso deutlich anhand der Literatur für Solocello nachvollziehen. In der Tat gibt es nach einer Reihe von Werken aus der Zeit des Barock eine lange Pause in etwa zwischen 1750 und 1900, in der nahezu überhaupt keine Solowerke entstanden, abgesehen von einigen Beiträgen komponierender Cellisten, besonders bekannt etwa die Capricen von Alfredo Piatti.

Um 1915 ändert sich das Bild allmählich, und gemeinhin werden Kodálys großartige Solosonate sowie Max Regers Drei Suiten op. 131c als die Werke genannt, mit denen die moderne Literatur für solistisches Violoncello beginnt, die also am Beginn einer Renaissance stehen, die bis zum heutigen Tag eine enorme Vielfalt an neuer Literatur hervorgebracht hat. Dieser Scheidepunkt ist es, der Julius Berger auf seinem neuen Album interessiert, und der ihn gleichzeitig dazu animiert hat, die Situation genauer unter die Lupe zu nehmen – und so weitere Solostücke aus jenen Jahren zum Vorschein gebracht hat abseits der bekannten Namen, unter anderem in Form von drei Ersteinspielungen. Es gab also nicht nur Kodály und Reger, sondern auch Donald Francis Tovey, Adolf Busch und Walter Courvoisier, die seinerzeit Musik für Solocello schrieben. Für dieses Wiederaufkeimen einer über Jahrhunderte vernachlässigten Gattung hat Berger das schöne Bild der ersten Blumen auf den Bergen seiner Allgäuer Heimat zu Beginn des Frühlings gefunden, der Soldanellen (oder Alpenglöckchen); daher der Titel des Albums.

Am Beginn steht mit Regers Suite Nr. 2 d-moll, wie alle drei Suiten um die Jahreswende 1914/15 entstanden, ein Klassiker. Berger präsentiert in seinem ausführlichen und von großem Enthusiasmus getragenen Begleittext eine Reihe von Gedanken und Thesen rund um dieses Werk. Man muss gar nicht notwendigerweise allen davon vollumfänglich zustimmen, um seine Ausführungen als eine ungemein anregende Lektüre zu empfinden und Einblicke in seine intensive Beschäftigung mit dieser Musik zu erhalten, die zu einer sehr persönlichen und charaktervollen Lesart der Suite geführt haben. Berger begreift sie als die „schmerzensreiche“ in Regers Triptychon, unter anderem mit Bezügen zu Bachs Choral Wenn ich einmal soll scheiden, und dieser Ansatz ist bereits im Präludium exzellent nachvollziehbar. Berger nimmt den Satz relativ rasch, übrigens durchaus in Einklang mit Regers Metronomangabe (Viertel=54, was bei einem Largo mit Notenwerten bis hin zu Zweiunddreißigsteln nicht eben langsam ist), und das Resultat ist weniger ein breit strömender langsamer Satz als vielmehr ein konfliktreicher, ausgesprochen expressiver, ja teils agitiert deklamierender (vgl. die bereits erwähnten Zweiunddreißigstel im Mittelteil) Monolog. Man beachte in diesem Kontext unter anderem Bergers relativ kurze, teil fast staccatohafte Artikulation in Takten 6 bis 8, die exemplarisch für das Momentum, den dramatisch-passionierten Vorwärtsdrang seiner Interpretation stehen mag.

In Regers viersätziger Suite findet sich an dritter Stelle ein zweites Largo, und es ist interessant zu beobachten, wie Berger in seinem bewegteren Mittelteil den expressiven Duktus des Präludiums wieder aufgreift, andererseits aber den Kontrast zu den breit ausgesungenen, weiten Bögen der Eckteile vorzüglich herausarbeitet. Hier weiß Berger die innige, tief empfundene Gesangslinie exzellent zu realisieren, die großen Zusammenhänge dabei stets im Blick. Bei der Wiederkehr des Anfangsteils spielt Berger offenbar weite Teile auf der D-Saite, was der Musik einen entrückten, sanft gedämpften Charakter verleiht. Bergers grundsätzliches Verständnis der Suite zeigt sich aber auch in den beiden schnellen Sätzen: so ist die Gavotte an zweiter Stelle bei ihm ein sehr wohl helleres, aber nicht leichtfüßiges Intermezzo, stets von einer gewissen Schwerblütigkeit geprägt, die natürlich im etwas verlangsamten, von Berger dezidiert auch verhalten, zögernd begriffenen Mittelteil besonders zum Tragen kommt. Ähnliches gilt für die finale Gigue: Berger lässt sich hier eher Zeit, eilt nicht, sondern nimmt sich sogar im Gegenteil immer wieder Momente des Innehaltens heraus, baut ein gewisses Maß an Rubato auch in diesem Vivace-Finale ein, arbeitet die Harmonik und die dramatischen Höhepunkte klar heraus. Etwas überrascht war ich zunächst darüber, dass er den Schluss etwas verhaltener nimmt als möglich wäre (immerhin Fortissimo al fine), aber tatsächlich kommt die „schmerzensreiche“ Note dieser Musik so ausgezeichnet zur Geltung.

Donald Francis Tovey (1875–1940), der große britische Musikgelehrte, war – wie in den letzten Dekaden durch eine Reihe von CD-Einspielungen allmählich wieder ins Bewusstsein gerufen wird – auch ein exzellenter Komponist, der ein verhältnismäßig schmales, aber sehr dezidiert die Auseinandersetzung mit der großen Form und der Tradition suchendes Œuvre hinterlassen hat. Anfang der 1910er Jahre beschäftigte er sich intensiv mit Musik für solistische Streichinstrumente und publizierte 1913 jeweils eine Sonate für Solovioline und Solocello. Aus der letzteren, der Sonate für Violoncello solo D-Dur op. 30, hat Berger den Schlusssatz, eine großartige, monumentale, an Bach (und natürlich speziell der Chaconne aus der Partita d-moll BWV 1004) geschulte Passacaglia ausgewählt, die bei Berger allein bereits 20 Minuten in Anspruch nimmt. Die Ausdrucksspanne dieser Musik ist enorm, unter anderem mit einem teils geradezu dramatischen Mittelteil in Moll, einer veritablen Apotheose und schließlich einem wie befreit wirkenden finalen Allegro. Faszinierend dabei ganz besonders die klug disponierten Höhepunkte, die sorgfältig über lange Zeiträume aufgebauten Steigerungen – man beachte etwa die stetig zunehmende Bewegung über die ersten Minuten hinweg.

Es gibt mindestens zwei Einspielungen der gesamten Sonate. Interessiert man sich für Toveys Schaffen insgesamt, ist die recht solide, aber im Vergleich doch etwas blasse Einspielung von Alice Neary bei Toccata von natürlichem Interesse. Die (mutmaßliche) Ersteinspielung der Sonate hat indes um die Jahrtausendwende herum die amerikanische Cellistin Nancy Green vorgenommen. Green nimmt die Passacaglia ein gutes Stück zügiger als Berger und kommt auf eine Spieldauer von 14 Minuten (bei neun gekürzten Takten direkt vor dem Moll-Mittelteil). Sie betont dabei eher den Vorwärtsdrang, die Dynamik der Musik, während Bergers Lesart über weite Strecken meditativer, vielleicht sogar ein wenig archaisch wirkt und die große, weiträumige Architektur des Stücks in den Vordergrund stellt. Dass beide Varianten sich als ausgesprochen valide Ansätze erweisen, spricht für die Qualitäten und den Facettenreichtum von Toveys Musik.

Mit den Solowerken von Adolf Busch (1891–1952) betritt Julius Berger gänzlich neues Terrain, denn bislang lagen von diesen Kompositionen keine Einspielungen vor. Busch war natürlich vor allem einer der berühmtesten Geiger der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat aber auch sein Leben lang komponiert. Völlig vergessen war sein Schaffen zwar nie, aber eine besonders große Rolle haben seine Werke auf Tonträger lange Zeit nicht gespielt. In jüngerer Zeit ist speziell seine Kammermusik, die sicherlich einen der Schwerpunkte seines Schaffens darstellt, ein wenig stärker in den Fokus gerückt. Busch war mit Max Reger befreundet, und so ganz möchte ich Bergers Aussage, diese Freundschaft habe zu keiner Verwandtschaft der Kompositionsstile geführt, nicht folgen – es gibt schon eine ganze Reihe von Werken Buschs, die recht deutlich an Reger gemahnen. Was allerdings sehr wohl zutrifft, ist, dass Buschs kompakt gehaltene Suite op. 8a, um 1914 und damit zeitgleich oder sogar vor Regers Suiten entstanden, sich überraschend deutlich von diesen unterscheidet, unter anderem deshalb, weil die Bezugnahme auf das Vorbild Bachs in Buschs Suite zwar auch vorhanden ist, aber weniger deutlich erscheint als in den übrigen Werken auf dieser CD.

Schon das Präludium lässt aufhorchen, eine sich chromatisch windende, dunkel-vergrübelt gehaltene Fantasie, die eigentlich erst mit den letzten Takten g-moll als Grundtonart bestätigt (nicht umsonst trägt die Suite, obwohl um G zentriert, keine Tonartenbezeichnung). Sehr originell, widerborstig und bocksprüngig das kurze Scherzo an zweiter Stelle. Mit den beiden letzten Sätzen, Romanze und Tarantelle, hellt sich der Charakter des Werks auf, wird freundlicher, obwohl selbst die abschließende Tarantelle, nun in G-Dur, nicht unbedingt von Leichtigkeit geprägt ist: vielmehr dominiert auch hier eine gewisse Erdenschwere, sind es die Kanten, die dieser Musik ihr ganz eigenes Profil geben, von Julius Berger mit Nachdruck und viel Sinn für diese spezifische Atmosphärik in Szene gesetzt. Einige Jahre später, 1922 nämlich, ließ Busch seiner Suite noch ein Präludium und Fuge d-moll op. 8b folgen, ein Diptychon, das sich nun wesentlich expliziter auf die Tradition Bachs bezieht. Im eher ruhig gehaltenen Präludium erweist sich Berger einmal mehr als souveräner Gestalter mit sorgfältig durchdachter Artikulation; in der Fuge überrascht erst einmal seine erstaunlich gemäßigte Tempowahl angesichts eines Allegro energico, doch wo das Fugenthema m. E. zu einem rascheren Puls einladen würde, wird dies durch einige Sechzehntelpassagen wenig später wieder relativiert.

Der vermutlich am wenigsten bekannte Komponist, der auf dieser CD vertreten ist, ist der gebürtige Schweizer Walter Courvoisier (1875–1931), der zunächst Medizin studierte und als Arzt praktizierte, bevor er sich doch für die Musik entschied und in München u. a. Schüler von Ludwig Thuille wurde. Nur wenig später wurde er selbst ein gefragter Kompositionslehrer an der Münchener Akademie der Tonkunst. Courvoisiers Œuvre ist eher überschaubar und konzentriert sich insbesondere auf Vokalmusik (Lieder, Chorwerke sowie drei Opern); im Bereich der Instrumentalmusik beschäftigte er sich vor allem mit Variationswerken für Klavier und Solosuiten für Streicher. Seine sechs Suiten für Violine solo op. 31 hat der Geiger Hansheinz Schneeberger auf CD eingespielt. Zeitgleich mit diesen Suiten komponierte Courvoisier 1921 auch zwei Suiten für Violoncello solo, die jedoch unveröffentlicht blieben; vermutlich war auch hier ein Zyklus von sechs Suiten geplant, der jedoch nicht realisiert wurde. Die zunächst vorgesehene Opuszahl 32 hat Courvoisier später seiner Oper Der Sünde Zauberei zugeteilt. Erst 2021 hat Florian Schuck die beiden Suiten herausgegeben.

Julius Berger hat sich auf diesem Album für die Suite Nr. 2 in h-moll entschieden. Courvoisier bezieht sich hier bereits in der Satzfolge deutlich auf Bachs Vorbild: zwar steht am Beginn kein Präludium, sondern eine Introduction, aber die Abfolge der übrigen Sätze folgt genau der Struktur der Bach’schen Suiten, mit dem einzigen Unterschied, dass es gewissermaßen zwei „fünfte Sätze“ (im Sinne Bachs) gibt, nämlich sowohl Bourrée als auch Menuett. Dabei ist die Introduction eher eine Art dramatisch akzentuiertes Vorspiel als ein Präludium à la Bach (mit attacca-Übergang zur nachfolgenden Allemande), in der Bourée gibt es (anders als bei Bach) kein Trio bzw. eine Bourrée II, und während ansonsten alle Sätze (analog zu Bach) in h-moll gehalten sind, steht das Menuett (I) in D-Dur – insofern fallen diese Sätze also auch sonst ganz leicht aus dem Rahmen.

Stilistisch kombiniert Courvoisier deutlich erkennbar Elemente, Formeln und Referenzen an die Musik Bachs mit Mitteln der (nachromantischen) Tonsprache des frühen 20. Jahrhunderts, etwa in Sachen Rhythmik, Harmonik und Modulationen oder gelegentlicher Verwendung von Pizzicato; die spieltechnischen Anforderungen liegen eher im Rahmen der späteren Bach-Suiten. Anders als Bach gibt Courvoisier umfassende Anweisungen zur Dynamik, ganz wie bei Bach sind die Angaben zur Artikulation dagegen sehr sparsam, sodass sich für den Interpret hier zahlreiche Freiräume ergeben, so zum Beispiel in der Allemande mit ihren weitgehend kontinuierlichen Sechzehntelbewegungen. Ein eigenes Profil haben alle sieben Sätze, kleine Charakterstücke etwa die Courante (eine Art Scherzo im 9/8-Takt) oder die abschließende, regelrecht trotzig daherkommende Gigue. Besonders melodiös gehalten sind Bourrée und Menuett, Herzstück der Suite die tief empfundene Sarabande, die meditative Versenkung, ja ein gewisses Maß an Zeitlosigkeit ausstrahlt. All dies erfährt durch Berger eine sprechende, klangvolle, durchdachte Darbietung; in Bourrée und Menuett etwa könnte man teils eine etwas breitere Artikulation wählen, aber dies fällt letztlich unter die besagten Freiräume, die Courvoisier dem Cellisten mit auf den Weg gibt.

Erwähnt sei auch, dass Julius Berger sich für dieses Album für Darmseiten und eine Frequenz von 432 Hz entschieden hat, was den Einspielungen ein warmes, rundes, volles Timbre verleiht. Eine zusätzliche Erwähnung verdient auch noch einmal sein exzellenter, persönlich gefärbter und inspirierender Begleittext (übrigens stammt auch das Foto auf dem Cover der CD von Berger, wie auch ein kleines Gedicht als Geleit). Ob Toveys Sonate wirklich das erste Solowerk nach Bach war, scheint mir ein wenig in einer Grauzone zu liegen, selbst wenn man Solowerke komponierender Cellisten (wie Klengels Opus 43, vielleicht auch noch die 1901 erschienenen Präludien und Fugen des Monegassen Louis Abbiate) ausklammert. Weitgehend zeitgleich mit Toveys Sonate ist z. B. offenbar die Solosuite des (wie übrigens auch Tovey) von Casals hochgeschätzten Emánuel Moór entstanden – dies also ebenfalls eine „Soldanelle“. Ein weiterer Name, den man in diesem Zusammenhang wohl a priori überhaupt nicht vermuten würde, ist Jean Sibelius, der bereits um 1887 einen gut zehnminütigen Zyklus von Variationen über ein eigenes Thema für Solocello komponiert hat, faktisch noch zu seinen Juvenilia zählend.

In den vergangenen Jahren sind aus naheliegenden Gründen zahlreiche (und oft genug hochklassige) Alben für Soloinstrumente und speziell auch Solocello erschienen. Aus dieser Vielzahl sticht Berger „Soldanella“ nichtsdestotrotz noch einmal heraus. Ein Grund hierfür ist die gestalterische Souveränität dieser Einspielungen, vor allem aber ist es der Mut, den Berger hier aufbringt, der Pioniergeist, mit dem er sich für hoch interessante Musik einsetzt, die eben nicht auf Effekt setzt, die nicht populär sein will, sondern sich durch ihre große Ernsthaftigkeit auszeichnet. Es sind expressive, durchdachte, vielleicht nicht immer bequeme, aber in ihrem Bekenntnis zu künstlerischer Größe umso fesselndere Kompositionen, die auf diesen fast 80 Minuten Musik versammelt sind. Hierin liegt der ganz besondere Reiz dieses großartigen Albums.

[Holger Sambale, Oktober 2023]

Drei neue Klaviersonaten von Roberto Sierra – gewöhnungsbedürftig mikrofoniert

IBS IBS122022; EAN: 8 436597 700399

Der venezolanische Pianist Alfredo Ovalles hat in Granada die ersten drei Werke eines – schon jetzt bereits deutlich umfänglicheren – Sonatenzyklus des puerto-ricanischen Komponisten und Ligeti-Schülers Roberto Sierra (*1953) eingespielt. Dazu erklingen noch die – ebenfalls neuen – Piezas íntimas sowie die Aphorisms.

Auf den Namen Roberto Sierra stößt unweigerlich, wer sich mit der Musik György Ligetis beschäftigt. Dieser erwähnte seinen puerto-ricanischen Schüler (von 1979 bis 1982) immer als Überbringer einer Langspielplatten-Rarität aus den 1970ern mit der erstaunlich komplexen Vokalpolyphonie der zentralafrikanischen Aka-Stämme: zusammen mit der mittelalterlichen ars subtilior und fraktaler Geometrie die Initialzündung für Ligetis weitere Entwicklung (Etüden, Klavierkonzert usw.). Ab Mitte der 1980er Jahre hat sich Sierra aber als Komponist selbst einen Namen gemacht und ist seit 1992 Professor an der angesehenen Cornell University in den USA. Obwohl durchaus Anknüpfungspunkte an charakteristische Techniken Ligetis nachweisbar sind – etwa die elaborierten Überlagerungen quasi selbstähnlicher rhythmischer Patterns –, ging Sierra immer eigene Wege, die insbesondere auf lateinamerikanische oder iberische Wurzeln – nicht zuletzt des Barock – zurückgehen. Die oft traditionell anmutenden Titel wie Symphonie (davon gibt es bislang sechs), Sonate etc. haben Kritiker ihm unüberlegt und teils pejorativ das Etikett postmodern oder gar „neoromantisch“ anheften lassen. Dabei wird unterschlagen, dass Sierra die scheinbar alten Formen durchaus neuartig mit Leben zu füllen vermag.

In den ganz neuen Klaviersonaten – die Folge wurde erst 2020 begonnen und umfasst mittlerweile bereits 15 Werke; laut Sierra ohne eine bestimmte Zielvorgabe – versucht der Komponist den „hegemonialen Charakter“ der Vorbilder aus der Wiener Klassik gezielt zu durchbrechen. Hierbei ist allerdings weniger Dekonstruktion im Spiel als vielmehr Nutzung neuer Beziehungen zwischen Struktur und klanglichem „Inhalt“. Da Sierra nicht Tonalität als Basis der Sonatenform nutzt, dienen oft vielfältige rhythmische Elemente, gerade auch aus volkstümlicher Popularmusik (Salsa, Tango, Joropo, Fandango …), symmetrische Skalen und musikalische Gesten als konstituierend. Die erste Sonate – wie die zweite viersätzig – sprüht nur so von südamerikanischen Rhythmen. Die knappere zweite Sonate kombiniert im Finale einen Militärmarsch mit einem Pasodoble, während die dreisätzige dritte Sonate sich vor allem an Modellen andalusischer Musik orientiert, etwa dem Fandango im Kopfsatz oder typischen Melodiefloskeln im Finale. Trotzdem überführt der Komponist mit alldem geschickt die erwartete Erzählstruktur von echten Sonaten in „heutige Alltagsrealität“.

Dass Sierra ebenso gewandt im Umgang mit kleinen – sprich: kurzen – Formen ist, deren Material ja unmittelbar ins Schwarze treffen muss, beweisen die beiden Zyklen der Piezas íntimas von 2017 – 8 Stücke mit einer Durchschnittsdauer von 1–2 Minuten und, bis aufs Extrem konzentriert, die Aphorisms von 2020: Diese 28 Fragmente benötigen gerade mal 12 Minuten.

Das spanische Label IBS bleibt im Booklet – mit persönlichen Einführungen des Komponisten und des Pianisten – der Tradition treu, kein Wort über seine Interpreten zu verlieren. Auf der Seite der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien erfährt man, dass der Venezolaner Alfredo Ovalles (Jahrgang 1986) nach Studien in Caracas und den Vereinigten Staaten schließlich den Weg nach Wien, seiner neuen Wahlheimat, gefunden hat. Er gilt als leidenschaftlicher Spezialist für zeitgenössische Musik und steht seit Jahren mit Roberto Sierra in persönlichem Kontakt. Mit rhythmischer Präzision und immer spürbarer, lateinamerikanischer Verve agiert der Pianist sowohl bei dessen Sonaten als auch Miniaturen souverän, bringt die doch recht komplizierten Strukturen zum Leuchten. Seine manuelle Virtuosität und die Fähigkeit, den Gestus kleinster Partikel musikalisch sofort auf den Punkt zu bringen, können ebenfalls überzeugen. Die dieser Musik innewohnenden, häufig schroffen Gegensätze übertreibt er jedoch, verwechselt bisweilen wilde Akzentuierungen mit klanglicher Barbarei. Im Dynamikbereich von forte aufwärts erscheint sein Spiel zu undifferenziert.

Das wird durch eine in den Ohren des Rezensenten katastrophale Mikrofonierung sogar noch überzeichnet: Selten habe ich bei einer klassischen Soloklavier-Produktion ein in den Bässen derartig wummeriges Klangbild gehört; so als ob ständig die „Loudness“-Taste gedrückt bliebe. Insgesamt ist alles zu hoch ausgesteuert, stellenweise an der Grenze zum Clipping, was nach wenigen Minuten mehr als nervt. Jeder Akzent wird so zum Nadelstich – und dass dies keineswegs nur dem zugegebenermaßen etwas harten Anschlag von Herrn Ovalles geschuldet ist, zeigen z. B. die zahlreichen Glissandi im vierten der Piezas íntimas [Track 08]. So scharf kann ein Steinway dabei gar nicht klingen. Trotzdem darf man sich fragen, ob das vom Interpreten nicht ausdrücklich so gewollt ist. Bei Jazz sind solch direkte Mikrofonierungen nicht unüblich – man denke an manche Soloalben von Keith Jarrett oder Chick Corea. Außerdem hat sich Ovalles intensiv mit der Musik u. a. George Crumbs beschäftigt, der beim Klavier gerne bereits live vorzugsweise präparierte Saiten elektronisch verstärken ließ.

Dass dies freilich ganz anders ginge, zeigt die nur ein halbes Jahr ältere Produktion von Sierras Klavieretüden mit dem Pianisten Matthew Bengtson: Gleiches Label, gleicher Aufnahmeort mit demselben Team (!), lediglich ein anderer Flügel (Shigeru Kawai): akustisch tadellos (s. u.). So versaut bei den Sonaten eine fragwürdige Tontechnik sehr respektable Erstaufnahmen des weiterhin hochinteressant zu werdenden Klavierzyklus‘ eines großartigen Komponisten, der immer wieder mit zeitgemäßen Ideen im Kleid bekannter Formen zu begeistern weiß.

Erwähnte Aufnahme: Sierra: Estudios rítmicos y sonoros, Piezas líricas, Album for the Young – Matthew Bengtson (IBS 72022, 2021)

[Martin Blaumeiser, September 2023]

Grundsolide und tiefgründig: Beethovens Klavierkonzerte Nr. 3 & 4 mit Boris Giltburg

Naxos 8.574152; EAN: 7 47313 41527 4

Nach der aufsehenerregenden Gesamteinspielung sämtlicher Beethoven-Sonaten 2020 setzt Boris Giltburg mit den Konzerten Nr. 3 & 4 des Bonner Meisters nun auch den Schlussstein zu seinem Konzertzyklus. Es begleitet das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko.

Wollte man das Spiel des russischstämmigen, in Israel aufgewachsenen Starpianisten Boris Giltburg charakterisieren, erscheinen sehr schnell Begriffe wie grundsolide oder seriös als zutreffend: geradezu das Gegenteil von spektakulär. Dann wären jedoch detailliert Qualitäten zu nennen, die in dieser Konzentration heutzutage ganz selten zusammentreffen: erstaunliche Tempokonstanz bei gleichzeitig atmender Agogik – sogar zwingender als beim legendären Swjatoslaw Richter. Dazu durchsichtigster, feiner Anschlag mit einem Schuss jeu perle wie bei Gieseking, vor allem jedoch die besondere Fähigkeit, Emotionalität gänzlich aus einem tiefen Verständnis des Komponierten heraus logisch zu entwickeln, ohne dabei auch nur einen Funken persönlicher Eitelkeit durchscheinen zu lassen. Das ist so in der Tat meilenweit entfernt von Künstlern wie Ivo Pogorelich, Lang Lang, Yuja Wang oder selbst Igor Levit, um nur einige schon wegen ihres eben bereits spektakulären Auftretens populäre Pianisten zu nennen.

Im Falle der Beethoven-Klavierkonzerte – kaum ein Werkzyklus dürfte durch unzählige Aufnahmen für die Hörerschaft mittlerweile derart bis ins kleinste Detail erschlossen sein – lässt Giltburgs Herangehensweise diese Meisterwerke trotzdem spannend, beinahe unverbraucht erklingen. Dass Giltburg nicht nur auf dem Podium ein wahrhaftig gestaltender Musiker ist, dazu ein exzellenter Pädagoge – man sehe sich nur die genialen Internet-Meisterklassen etwa zu Rachmaninoff an –, sondern ebenso ein befähigter Essayist, beweisen seine Booklettexte zu dieser Beethoven-Serie auf Naxos. Die sind mehr als lesenswert – gerade für Laien, denen hier nie musikalische Fachbegriffe um die Ohren gehauen werden. Mit größter Sorgfalt, Empathie und tiefen Einblicken in den viele Jahre währenden Entwicklungsprozess des eigenen künstlerischen Standpunkts gegenüber dieser Musik, beschreibt der Pianist die Stücke schon sprachlich auf höchstem Niveau.

Wer bei den vorliegenden Konzerten das Essay vor dem Anhören gelesen hat, darf zum Glück attestieren, dass Giltburg dann alles genauso gelingt, wie verbal erörtert. Katapultierte sich der Künstler 2019 mit den Konzerten Nr. 1 & 2 (Naxos 8.574151) nach Meinung des Rezensenten sofort in den Olymp der allerbesten Einspielungen und überzeugte ebenfalls mit dem Es-Dur-Konzert (Nr. 5, Naxos 8.574153), durfte man gespannt auf die beiden verbliebenen Werke sein, innerhalb des Zyklus offenkundig die Lieblingsstücke des Pianisten.

Das c-Moll Konzert wirkt bereits in der Orchestereinleitung niemals dick, die Phrasierung – bei sich wiederholenden Motiven wird die Dynamik eben beim dritten Mal meist zurückgenommen – ist stets Beethoven-gerecht. Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko agiert wie auf den bisherigen CDs der Reihe als exzellenter Begleiter, freilich mit typisch britischer Routiniertheit, die kaum Überraschungen bietet. Allerdings entdeckt Petrenko gerade im 3. Konzert jeden noch so kleinen motivischen Anklang auch in den Mittelstimmen. Giltburg gestaltet den Solopart im ersten Satz zwar nachdrücklich bedrohlich, lässt der Musik aber immer wieder den nötigen Raum zur Entspannung, so dass man staunt, wie sehr sich selbst ein derart düsterer Topos doch ganz aus dem Geist der Improvisation vielschichtig zu entwickeln vermag. Im zweiten Satz – wiederum im exakt richtigen Tempo – werden die unzähligen kleinen Notenwerte zelebriert, ohne den intimen Charakter je zu stören: eine wunderschöne Insel der Ruhe. Im Rondo wählt man ein nicht zu schnelles Tempo, bleibt dennoch virtuos und spritzig. Die Presto-Coda wirkt keck, ohne den Rahmen zu sprengen.

Das vierte Konzert – pianistisch ja bekanntlich das anspruchsvollste der fünf – wurde erst im April 2022, also nach der Corona-Krise, aufgenommen. Selten hat man die klanglichen Delikatessen im Klavier derart bewusst, zugleich völlig locker gehört: Von für Beethoven ungewöhnlicher Introvertiertheit im Kopfsatz und einem sagenhaft angstvollen Klagegesang im Andante – von fast überpointiert scharfen, eiskalten Orchestereinwürfen unnachgiebig kleingehalten – wird so der zunächst zögerliche Beginn des Finales umso glaubhafter, steigert sich erst allmählich zu „reiner Lebensfreude“ (Giltburg) – Beethovens Teleologie in grandioser Umsetzung. Die Kadenzen beider Kopfsätze erfasst Giltburg mit faszinierender Überlegenheit und formaler Übersicht: Trotz ihrer Längen geraten sie unter seinen Händen deshalb auch nicht zu Fremdkörpern, vielmehr zu herrlich epischen Klaviererzählungen, die den emotionalen Gehalt des Materials nochmals überhöhen.

Der Fazioli-Flügel glänzt inmitten der wohl eher kleinen Orchesterbesetzung mit feinen Klangfarben – und Naxos kann hier einmal mehr aufnahmetechnisch mit den alteingesessenen Labels tadellos mithalten. Keine Referenzeinspielung – falls bei diesem Repertoire überhaupt noch so etwas auszumachen wäre –, jedoch unbestreitbar Weltklasseniveau mit tief empfundenem, erfülltem Musizieren, das den Geist Beethovens durchgängig verständlich macht. Daher auch eine eindeutige Empfehlung an alle, die schon ein paar gute Aufnahmen der Konzerte ihr Eigen nennen: Diese hier macht echt Laune.

[Martin Blaumeiser, August 2023]

Feminine Noten

In der kommenden Saison wird das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin in jedem Konzert das Stück einer Komponistin aufführen. Bahnbrechende Programmplanung oder Quotenregelung? Wer solch Regulativ kritisch sieht – wie die Pianistin Elena Bashkirova, die kürzlich in einem Interview mit der FAZ meinte, dass gute Musik gespielt werden soll, weil sie gut, nicht weil sie von Frauen ist – berücksichtigt nicht, dass diese nie die gleichen Chancen hatten. Der Weg zu einem Bewusstsein, dass Qualität nicht an das Geschlecht gebunden ist, ist noch nicht abgeschlossen, das Interesse an Komponistinnen aber merkbar gewachsen. Es schlägt sich auch auf dem CD- und Buchmarkt nieder. Die nachfolgende Auswahl gibt einen kleinen Einblick in die Flut von Veröffentlichungen der letzten Zeit.

Barbara Beuys: Emilie Mayer. Europas größte Komponistin. Eine Spurensuche

Dittrich Verlag; ISBN: 978-3-947373-69-7

Beginnen wir bei Emilie Mayer. 1812 im mecklenburgischen Friedland geboren, geht sie nach dem Selbstmord des Vaters zu ihren Brüdern nach Stettin. Dort wird Carl Loewe, der heute für seine Balladen bekannte Musikdirektor, ihr Lehrer. Er erkennt ihr Talent und fördert sie, woraufhin sie sich über Konventionen und Vorurteile hinwegsetzt: sie wird Komponistin. Dabei beschränkt sie sich nicht auf kleine Formen, wie viele ihrer Kolleginnen, sondern kreiert neben Kammer- und Klaviermusik auch acht Sinfonien. In jeder Hinsicht selbstständig, publiziert sie ihre Werke auf eigene Kosten und organisiert Konzerte, das erste 1850 im Berliner Königlichen Schauspielhaus. „Ganz von weiblicher Hand ins Leben gerufen“, sei es „ein Unicum“, wie die Vossische Zeitung 1850 meldet. Es bekommt großen Zuspruch und erhält gute Kritiken aber auch abfällige Resonanz, die sich mehr auf ihr Geschlecht bezieht und sich an der Ansicht des Philosophen Friedrich Schlegel orientiert: „Das Weib gebiert Menschen, der Mann das Kunstwerk.“ Mayer, die zwischen der Hauptstadt und Stettin pendelt, hat sich zu Lebzeiten gegen männliche Dominanz behauptet, doch nach ihrem Tod 1883 gerät sie schnell in Vergessenheit. Erst Ende des letzten Jahrhunderts werden die Musikerin und ihr Werk wiederentdeckt. 2021 erhält sie ein Ehrengrab in Berlin, danach erscheint die erste Biographie. „Eine Spurensuche“ nennt sie die Autorin Barbara Beuys im Untertitel, er spielt an auf die spärliche Quellenlage. Doch Beuys macht aus der Not eine Tugend. Sie entwirft rund um die fragmentarisch verbürgten Lebensstationen Emilie Mayers ein vielschichtiges, um kleine Porträts von Zeitgenossen angereichertes Gesellschaftspanorama, das das kulturelle Umfeld ebenso einbezieht wie die damalige Situation der Frauen und deren Emanzipationsbestrebungen.

Compositrices. New Light on French Romantic Women Composers (8 CDs)

Bru Zane, BZ 2006; EAN: 8055776010090

Die Willenskraft der Deutschen, alle Herausforderungen im Alleingang zu überwinden, brauchte die etwas ältere Französin Louise Farrenc nicht. Sie beginnt ihre Karriere als Pianistin und gründet mit ihrem Ehemann, dem Flötisten Aristide Farrenc, einen Musikverlag, in dem ihre Werke gedruckt werden. Mit ihren Kompositionen Symphonien, Klavier- und Kammermusik etabliert sie sich bald auf den Pariser Konzertbühnen. Als sie eine Klavierprofessur am Konservatorium erhält, jedoch mit einem geringeren Gehalt als ihre Kollegen, kämpft sie um Gleichberechtigung und erreicht tatsächlich eine Angleichung. 

Louise Farrenc ist eine von 21 Compositrices, denen das Forschungskollektiv des Palazzetto Bru Zane eine ganze Box geschenkt hat. Vor dem Hören der acht prall gefüllten CDs lernen wir sie beim Lesen des vorzüglichen Booklets näher kennen: Musikerinnen, die vom Anfang des 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkten, damals eine gewisse Popularität genossen, heute aber bis auf wenige Ausnahmen kaum dem Namen nach bekannt sind. Die Rede ist beispielsweise von der 1764 geborenen Pianistin Hélène de Montgeroult und der Harfenistin Henriette Renié, Jahrgang 1875, die beide als Interpretinnen und Pädagoginnen Ansehen genossen, daneben komponierten und Lehrwerke für ihre Instrumente hinterließen. Oder von Marie Jaëll und Charlotte Sohy, die von ihren Gatten unterstützt und mit ihnen künstlerische Partnerschaften eingingen im Gegensatz zu vielen Kolleginnen, deren Kreativität durch häusliche Verpflichtungen und gesellschaftliche Zwänge eingeschränkt war. Von der Außenseiterin Rita Strohl, geboren 1865, die mit spirituell durchdrungenen Werken von sich reden machte. Und nicht zuletzt von Mel Bonis, die statt ihres Taufnamens Mélanie die neutrale Verkürzung benutzte, in der Hoffnung, bessere Chancen bei der Verbreitung ihrer Werke zu haben. Auf familiäre Hilfe konnte sie nicht bauen. Belastet durch ein uneheliches Kind und gedrängt zur Heirat mit einem verwitweten Industriellen, musste sie ihr Leben lang um künstlerische Anerkennung kämpfen. Trotzdem war ihre Produktivität beeindruckend, ihr Œuvre umfasst 300 Werke unterschiedlichster Prägung. Eine Auswahl zieht sich wie ein roter Faden durch die Anthologie, die allerdings nicht chronologisch oder nach Komponistinnen angeordnet ist. Jede CD steht für ein imaginäres, programmatisch die ganze stilistische und formale Bandbreite abdeckendes Konzert: Sinfonisches trifft auf Kammermusik, Vokalkantate auf Mélodies, Solo- auf vierhändige Klaviermusik.

Ein Beispiel: Die erste Silberscheibe beginnt mit einem in raffinierten Klangfarben schillernden Tongemälde von Mel Bonis, das thematisch um mythologische Frauen kreist. Dann erklingt eine Sonate für Cello und Klavier von Henriette Renié, die auf César Franck hinweist und anschließend führt ein Bouquet mit Liedern verschiedener Komponistinnen hinein in die feminine Vokalwelt u. a. maritime Miniaturen von Hedwige Chrétiens, Salonstücke von Cecile Chaminade und überschwängliche, fast opernhafte Gesänge von Charlotte Sohy. Interpretiert werden sie vom Tenor Cyrille Dubois und dem Pianisten Tristan Raës. Dabei gelingt dem langjährig vertrauten Duo große Liedkunst: eine perfekte Balance zwischen Stimme und Instrument, verbunden mit gestalterischer und dynamischer Subtilität. Auch die anderen Mitwirkenden sind stilistisch erfahrene Spitzenkräfte: Leo Hussain und das Orchestre national du Capitole de Toulouse sind darunter, das Piano-Duo Alessandra Ammara und Roberto Prosseda, der Cellist Victor Julien-Laferrière und die Sopranistin Anaïs Constans.

Nadia und Lili Boulanger: Les heures claires (3 CDs)

harmonia mundi, HMM 902356.58; EAN: 3149020946268

Die Compositrices bieten einen Querschnitt durch die feminine französische Musikgeschichte, der dazu anregt, tiefer in die Materie einzutauchen. Damit sind wir bei den Schwestern Nadia und Lili Boulanger, die in der Anthologie mit Nadias bombastischer Kantate La Sirène und drei Violinduos von Lili vertreten sind. Zur intensiveren Beschäftigung mit ihnen laden ihre kompletten Mélodies ein, die unter dem Titel Les heures claires bei Harmonia mundi herausgekommen sind. Das Booklet der Kassette beschreibt detailliert das Leben und Wirken der beiden fast symbiotisch miteinander verbundenen Künstlerinnen. Lili, die Jüngere, galt als Ausnahmetalent, errang als erste Frau 1913 den Prix de Rome, während Nadia 1908 den zweiten Platz erhielt. Nach Lilis frühem Tod mit nur 24 Jahren entschied sich die Ältere, nicht mehr zu komponieren. Sie wandte sich dem Dirigieren und Unterrichten zu und avancierte zu einer hoch angesehenen Pädagogin, die es bis zur Leiterin des Conservatoire Américain in Fontainebleau brachte. Die drei CDs führen ein in beider vokalen Kosmos, ergänzt um einige Stücke für Geige, Cello und Klavier. Im Mittelpunkt stehen zwei Zyklen, Nadias Les heures claires, den sie gemeinsam mit ihrem künstlerischen und privaten Partner Raoul Pugno kreierte, und Lilis Clairières dans le ciel. Beide greifen Strömungen ihrer Zeit auf, mal mit spätromantischem Überschwang, mal in impressionistischen Harmonien schillernd, Lili auch einmal Wagners Tristan zitierend. Viele Lieder sind melancholisch grundiert, eines sticht besonders hervor: Dans l’immense tristesse, das letzte, von Lili kurz vor ihrem Tod vollendete, erschüttert durch die Kargheit der Mittel. Interpretiert wird dieser Abschied von Lucile Richardot, die dabei ihren reichen, wandlungsfähigen Mezzo ganz zurücknimmt. Sie trägt zusammen mit der äußerst nuanciert spielenden Pianistin Anne de Fornel den Löwenanteil der Edition, in Teilen verstärkt durch Stéphane Degout und Raquel Camarinha, die er durch erlesene Klangkultur, sie durch zarte Soprangespinste Boulangers vokale Kostbarkeiten ebenso ins schönste Licht rücken.

Bruno Monsaingeon: Ich denke in Tönen. Gespräche mit Nadia Boulanger

Berenberg Verlag; ISBN: 978-3-949203-50-3

Näher lernt man Nadia Boulanger in dem Band Ich denke in Tönen kennen. Darin sind Gespräche zwischen ihr und dem Dokumentarfilmer Bruno Monsaingeon aufgezeichnet. Sie beinhalten biographische Skizzen, Reflexionen über ihre pädagogische Arbeit und Unterrichtsmethoden, ihre musikalischen Vorlieben sowie Erinnerungen an für sie wichtige Personen: etwa an den Lehrer Fauré, den Freund Igor Stravinsky, an Interpreten und Schüler, die sie prägte. Viele Berühmtheiten sind darunter: Aaron Copland, Leonard Bernstein, Phil Glass, um nur einen Bruchteil zu nennen. Einige von ihnen kommen auch selbst zu Wort: Leonard Bernstein oder Yehudi Menuhin zollen ihr gleichermaßen Verehrung, Respekt und Bewunderung. Mit Wärme gedenkt die manchmal streng Urteilende dem jung verstorbenen Pianisten Dinu Lipatti und vor allem Lili, die für die große Schwester zeitlebens präsent bleibt. Ihrer Meinung nach ist sie „die erste wirklich bedeutende Komponistin der Geschichte“. Ein Zeitschriftenartikel des Lyrikers Paul Valéry beendet das Buch. Er fasst zusammen, was diese „Grand Dame“ der Musik ausmachte: „Nadia dirigierte. Man hätte meinen können, sie atme das, was sie hörte, und existiere nur – und könne nur existieren in der Welt der Klänge“.

Matthias Henke: Emmy Rubensohn. Musikmäzenin/Music Patron (18841961)

Hentrich & Hentrich; ISBN: 978-3-95565-523-5

Aus dem Rahmen der Komponistinnen fällt Emmy Rubensohn. Denn die aus einer jüdischen Familie stammende, 1884 geborene Leipzigerin ist weder professionelle Tonschöpferin noch Ausführende. Und doch passt sie zu ihnen, weil auch sie für Musik brennt. Als Zuschauerin und hinter den Kulissen. Dort agiert sie als Mäzenin, Konzertmanagerin und Netzwerkerin. Und sie betreibt einen Salon Domäne des weiblichen Bürgertums , anknüpfend an historische Vorbilder wie Rahel Varnhagen. Berühmte Künstler gehen bei ihr ein und aus, davon zeugt ein Gäste- und Erinnerungsbuch, das sie seit ihrer Heirat mit dem Fabrikantin Ernst Rubensohn 1907 führt. Die Dirigenten Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler sind darunter, die Primadonna Lilli Lehmann, der Maler Oskar Kokoschka und der Komponist Ernst Krenek. Er wohnt während seiner Kasseler Zeit bei dem Ehepaar, es ist der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, gehört Emmy zu den Gründungsmitgliedern des jüdischen Kulturvereins Kassel. 1940 emigriert sie mit ihrem Mann nach Shanghai, 1947 in die USA. Hier setzt sie bis zu ihrem Tod 1961 ihr förderndes Engagement für Musik und Kunst fort, gewinnt in Alma Mahler-Werfel eine Freundin und steht den Dirigenten Dimitri Mitropoulos und Joseph Rosenstock zur Seite. 2021 wird sie in ihrer Heimatstadt mit der Ausstellung Vorhang auf für Emmy Rubensohn! Musikmäzenin aus Leipzig gewürdigt, zunächst im Gewandhaus, momentan im Grassi-Museum. Vom Musikwissenschaftler Matthias Henke kuratiert, hat der Verlag Hentrich & Hentrich den üppig ausgestatteten, zweisprachigen Katalog herausgegeben. Die informativen Texte, zahlreichen Fotos und Dokumente machen ihn zu einer kulturhistorischen Fundgrube. Ans Licht kam die bisher kaum bekannte Vita von Emmy Rubensohn nach einer Spurensuche, wie Henke seine aufwendigen Recherchen bezeichnet. Womit sich der Kreis schließt.

[Karin Coper, September 2023]

Nur solides Mittelfeld: Fabio Luisis Nielsen-Zyklus

DG 486 3471 (3CD); EAN: 0028948634712

Der Italiener Fabio Luisi leitet das Danish National Symphony Orchestra seit 2017 und hat nun mit diesem seit jeher eng dem Werk Carl Nielsens verpflichteten Klangkörper einen neuen Zyklus von dessen sechs Symphonien auf Deutsche Grammophon eingespielt. Die Vokalisen in der „Sinfonia espansiva“ gestalten Fatma Said und Palle Knudsen. Kann die neue Box unter den mittlerweile zahlreichen Gesamtaufnahmen bestehen?

Von den im Zeitraum von 1892 bis 1925 entstandenen sechs Symphonien Carl Nielsens (1865–1931) brauchte selbst die berühmteste – Nr. 4 „Das Unauslöschliche“ – sehr lange, bis sie halbwegs ins feste, internationale Repertoire gefunden hat. Erst seit wenigen Jahren spielen selbst engagierte studentische Orchester dieses anspruchsvolle Werk. Dennoch setzen es auch die großen Profi-Institutionen nicht wirklich häufig auf ihre Programme – von den übrigen fünf Symphonien des dänischen Meisters, die sämtlich mit außergewöhnlichen Qualitäten aufwarten können, ganz zu schweigen. Dass Herbert von Karajan 1981 die Vierte mit den Berlinern für DG – sehr schön – eingespielt, aber praktisch nie im Konzert aufgeführt hat, spricht für sich.

Trotzdem existieren mittlerweile gut 20 Gesamtaufnahmen der 6 Nielsen-Symphonien, alleine vier mit dem Danish National Symphony Orchestra (identisch mit dem Dänischen Rundfunk-Symphonieorchester – DRSO). Deren erste aus den 1950er Jahren wurde noch von verschiedenen Dirigenten gestemmt (Erik Tuxen, Thomas Jensen und Launy Grøndahl), später folgten Zyklen mit Herbert Blomstedt (1975, EMI) und Michael Schønwandt (1999–2000, Danacord). Begonnen 2019, kurz vor dem Corona-Ausbruch, wollte man dann wohl auch dem seit 2017 amtierenden italienischen Chefdirigenten Fabio Luisi die Gelegenheit geben, sich mit diesen höchst individuellen Werken auseinanderzusetzen.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Ergebnis fällt sehr uneinheitlich aus. Betrachtet man die Spielkultur des DRSO, so ist es eigentlich selbstverständlich, dass in den bald 50 Jahren seit Blomstedts EMI-Aufnahme die technische Qualität nochmals hörbar gewachsen ist. Und natürlich kennt das Orchester alle Symphonien Nielsens wahrscheinlich besser als jeder Dirigent: Sie gehören definitiv zu dessen Aushängeschildern.

Blomstedt hat dann Ende der 1980er mit der San Francisco Symphony eine der bis heute maßstabsetzenden Einspielungen präsentiert (Decca). Gerade bei diesem Vergleich – seine Kopenhagener ‚Box‘ wurde kürzlich wieder von Erato als Streaming-Version aufgelegt – erkennt man, inwieweit selbst ein hochgradig befähigter Dirigent an diesem Repertoire noch wachsen kann – und muss! Etwa auf diesem Level bewegte sich auch Schønwandts Lesart: klar, unprätentiös, ohne „Macken“ oder persönliche Eitelkeiten – das DRSO zelebrierte Nielsens Musik dabei makellos.

Vielleicht überraschend, dass gerade berufene Sibelius-Interpreten wie Paavo Berglund (unterkühlt), Colin Davis (völlig überhetzt und oberflächlich) oder John Storgårds (langweilig) Nielsens Symphonik überhaupt nicht gerecht wurden. Bei Fabio Luisi wäre man geneigt, anzunehmen, dass Nielsen seinen Repertoire-Vorlieben – man denke an die guten Franz Schmidt Einspielungen – entgegenkommen sollte. Nielsen hingegen verweigert sich jeglichen Profilierungsneurosen: Wenn ein Dirigent versucht, diese Musik zu „pushen“, rächt sich das ausnahmslos. Manches wirkt so sofort geschwollen, gewollt; der Charakter eines Satzes leidet schon unter geringen „aufgesetzten“ Tempomodifikationen, beträfen die das Grundzeitmaß oder zu auffällige agogische Freiheiten.

Zunächst das Positive: Abgesehen von der – wie bei Schønwandt – durchgehend souveränen Orchesterleistung, gelingen Luisi einige Sätze rundum zufriedenstellend: Dazu zählt – bis auf den eindeutig zu flotten 3. Satz, der eher Brahmssche Intermezzo-Qualitäten haben könnte – die 1. Symphonie; diese bereits ein toller Gattungsbeitrag. In der 2. Symphonie Die 4 Temperamente verlangt ja der Titel verbatim nach sehr klar modellierten „Charakterzügen“; der Choleriker zu Beginn wird noch gut getroffen. Der Phlegmatiker ist analog zum „Scherzo“ – Nielsen verwendet den Begriff nie – der Ersten zu hastig. Der melancholische dritte Satz wird dafür ein wenig zu breitgetreten, der Höhepunkt übertrieben. Das Finale geht ziemlich schief und der Sanguiniker kommt plump wie ein Dorftrottel daher: Undifferenziert rammt Luisi den Hauptrhythmus in den Boden. Blomstedt (Decca) oder Sakari Oramo (BIS) demonstrieren, welch tänzerische Offenbarungen hier stattfinden könnten.

Wie zuvor versteht Luisi auch in der Sinfonia espansiva (Nr. 3) zumindest einen Satz gar nicht – wiederum das Finale. Zu breit, zu laut: Der ganze Hymnus bläht sich so unehrlich auf. Das können die überaus ansprechenden, freilich marginalen Vokalisen im zweiten Satz – mit der fantastischen Fatma Said und Palle Knudsen – nicht aufwiegen. Sehr gut funktionieren die ersten drei Sätze der durchgehenden Unauslöschlichen – organisch im Aufbau und prägnanter als im Rest werden Sinn und Zweck der verschiedenen Themen klar. Das Finale mit seinem berühmten Paukenduell – das nur oberflächlich an Artillerie des Ersten Weltkriegs erinnern soll – nimmt Luisi für den Geschmack des Rezensenten um Einiges zu schnell. Karajan liegt hier goldrichtig; ein Übermaß an äußerlicher Virtuosität dient dem anschaulich vorgetragenen „Lebenskampf“ nicht wirklich. Unerträglich dann wieder Luisis völlig aus dem Ruder laufende Verbreiterung ganz zum Schluss – da übertrieb allerdings selbst der bekanntlich bescheidene Herbert Blomstedt.

Die beiden letzten Symphonien Nielsens aus den 1920ern sind tatsächlich wesentlich moderner: Der Komponist geht damit viel weiter als der gleichaltrige, freilich zu dieser Zeit weitgehend verstummte Jean Sibelius. Die geheimnisvollen wie irritierenden Klangflächen bzw. Ostinati zu Beginn der Fünften erscheinen etwa bei Blomstedt wie der Zaubertrank des Miraculix – unverzichtbare Ingredienzien eines starken, zugleich ambivalenten Mysteriums. Bei Luisi sind das eher Störfelder, die es zu übertünchen gilt. Kontrapunktische Abschnitte werden zwar durchsichtig, jedoch der wieder hymnische Schlussteil – durchaus mit Anspielungen an die Vierte – zu schreierisch, im Detail nicht annähernd ausbalanciert.

Die zunächst sehr verstörende 6. Symphonie – nichts ist da „semplice“ – mit ihren eigentümlichen, hohen Schlagwerkakzenten wirkt bei Luisi zwiegespalten. Nach einem schönen Kopfsatz kommt die Humoreske schon ordentlich schräg daher, was sie ja zweifellos ist; echten Humor sucht man dabei leider vergebens. Dasselbe gilt für den Variationssatz, vor allem erneut für dessen künstlich aufgepumpten Schluss. Insgesamt enttäuscht in Luisis Darbietungen eine deutlich zu pauschale Dynamik: Die Bläser überdecken sehr häufig die Streicher und alles ist über Strecken schlicht zu laut. Hier schaffen mehrere Kollegen einen konsequenteren Aufbau der Klangschichtungen.

Aufnahmetechnisch kommt die DG-Veröffentlichung zwar bei Weitem nicht an Oramos klanglich sensationelle drei BIS-SACDs heran, ist trotzdem ordentlich. Nur gibt es grenzwertig viel Hall, wodurch natürlich einige laute und komplexe Stellen etwas matschig und verschwommen ankommen. Der Rezensent fragt sich, ob DG mit der Abmischung von Dolby Atmos® Produktionen in simples Stereo noch generell Probleme hat: Besonders negativ fiel dies z. B. bei Richard Strauss‘ Orchesterwerken unter Andris Nelsons auf.

Fazit: Luisis Dirigate stellen keinen Fortschritt zur Schønwandt-Aufnahme des DRSO – mittlerweile in Lizenz bei Naxos erhältlich – dar: Der Maestro steht des Öfteren der Musik im Wege. Das Orchester setzt selbstverständlich bravourös Luisis Ideen um; die stören allerdings eher, als dass sie bestimmte Aspekte von Nielsens Symphonik klarstellen oder glaubwürdig unterstreichen würden. Im DG-Katalog ergibt sich so immerhin ein gewichtiges Upgrade zur ziemlich missratenen Gesamtaufnahme Neeme Järvis, die mit ganz heißer Nadel gestrickt war – Turbo ohne Sinn und Verstand. Blomstedts zweiter Zyklus aus San Francisco bildete offensichtlich in seiner durchdachten Profiliertheit den Nährboden für aktuellere, sehr gelungene Neueinspielungen. Neben Schønwandt bleiben dies insbesondere die Dacapo-Produktion mit New York Philharmonic unter Alan Gilbert sowie Sakari Oramos aufnahmetechnisch gleichermaßen absolut konkurrenzloser Zyklus aus Stockholm.

Vergleichsaufnahmen: San Francisco Symphony, Herbert Blomstedt (Decca 460 985-2 & 460 988-2, 1987-89); Göteborgs Symfoniker, Neeme Järvi (DG 00289 477 5514, 1990–92); Danish National Symphony Orchestra, Michael Schønwandt (Naxos 8.570737-39 [3 Einzel-CDs], 1999–2000); New York Philharmonic, Alan Gilbert (Dacapo 6.200003, 2011–14); Royal Stockholm Philharmonic Orchestra, Sakari Oramo (BIS-2028, BIS-2048 & BIS-2128, 2012–14) – [Nr. 4] Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (DG 445-518, 1981)

[Martin Blaumeiser, August 2023]

Packende Orchesterwerke von Dieter Ammann auf Naxos

Naxos 8.551474; EAN: 7 3009914743 9

Die Basel Sinfonietta unter ihrem scheidenden Chefdirigenten Baldur Brönnimann hat im Mai 2022 die drei großbesetzten Orchesterstücke Core – Turn – Boost des schweizerischen Komponisten Dieter Ammann (*1962) erstmals als Trilogie aufgeführt und zusammen mit unbalanced instability für Violine und Kammerorchester (Solistin: Simone Zgraggen) auf Naxos eingespielt. Die Stücke wie ihre Darbietungen erweisen sich als ganz großer Wurf.

Dieter Ammann, 1962 in Aarau geboren und in Zofingen aufgewachsen, wo er immer noch lebt, darf man seit einigen Jahren als wohl bedeutendsten schweizerischen Komponisten seiner Generation bezeichnen. Nach dem Schulmusikstudium und einer Jazzausbildung bewegte sich Ammann in den 1980ern musikalisch vorwiegend in der Jazz- und Funkszene und war mit verschiedenen Instrumenten (Keyboard, Trompete, Bassgitarre…) gerade auch improvisatorisch unterwegs. Erst danach studierte er in Basel Theorie und Komposition, belegte dann Meisterkurse u. a. bei Wolfgang Rihm und Witold Lutosławski. Ammann komponiert langsam, dafür mit der vielzitierten Präzision eines Schweizer Uhrmachers. Daher ist sein Werkkatalog recht schmal geblieben, aber die Musik – ganz gleich, ob für großes Orchester oder kleines Ensemble – immer einfallsreich, von teils unbändiger Energie mit raffinierten Kontrasten und spannenden Entwicklungen geprägt. Vor allem jedoch überzeugt der Komponist durch seine bis ins letzte Detail allerfeinst ausgetüftelten Klänge – selbst bei größter Orchesterbesetzung wirkt das keine Sekunde al fresco oder pauschal, schon gar nicht eklektizistisch. Zuletzt erregte sein gewaltiges Klavierkonzert Gran Toccata (2016–19) weltweites Interesse – dessen Siegeszug wurde lediglich durch die Corona-Pandemie unterbrochen: auch in den Augen des Rezensenten offenkundig ein Meisterwerk.

Die drei hier erstmals als Triptychon aufgeführten, ebenfalls großbesetzten Orchesterwerke Core (UA 2002), Turn (UA 2010) und Boost (UA 2002) entstanden jeweils als Auftragswerke des Lucerne Festivals bzw. des Luzerner Sinfonieorchesters und wurden auch dort aus der Taufe gehoben – Core von der Basel Sinfonietta. Als auf die Pflege zeitgenössischer Musik spezialisiertes Orchester in sinfonischer Stärke (~ 80 Mitglieder) ist dieser 1980 gegründete Klangkörper – keinesfalls zu verwechseln mit dem als Nachfolge von Paul Sachers Basler Kammerorchester zu verstehenden Kammerorchester Basel – ziemlich einzigartig. Die Basel Sinfonietta ist in demokratischer Selbstverwaltung organisiert und hat erst seit 2016 einen Chefdirigenten, Baldur Brönnimann, der die hier vorliegenden Live-Mitschnitte vom 26. Mai 2022 leitet. Ab diesem Herbst wird Titus Engel sein Nachfolger.

Der Konzertsatz unbalanced instability für Violine und Kammerorchester (2013) liegt als Aufnahme mit der Wittener Uraufführungsbesetzung – dann später aus der Kölner Philharmonie – bereits auf CD vor. Brönnimann und die Geigerin Simone Zgraggen (Schülerin u. a. von Ulf Hoelscher, zurzeit Professorin in Freiburg im Breisgau und Konzertmeisterin der Basel Sinfonietta) lassen sich mit knapp 26 Minuten gut drei Minuten mehr Zeit als Carolin Widmann unter Emilio Pomàrico. Besonders zu Beginn tauchen sie ein wenig tiefer in Stellen mit spektralen Schönklängen ein, versuchen bei alldem, was der Komponist als „intuitive Logik“ charakterisiert (Zit: „eine Logik der Subjektivität, der Assoziation und des inneren Ohrs, die ihre eigenen Regeln zu jedem Zeitpunkt neu erstellen beziehungsweise verwerfen kann“), irgendwie einen großen Bogen zu spannen inmitten aller Unberechenbarkeiten. Geigerisch können Zgraggen wie Widmann gleichermaßen überzeugen; die beinahe schon konventionell wirkende Solokadenz gegen Schluss gerät Zgraggen beruhigender. Insgesamt richtet sich die Neueinspielung mehr nach innen als die äußerlichen Gegensätze zusätzlich zu betonen. Aufnahmetechnisch ist die Basler Produktion dem etwas diffusen Klangbild des WDR-Mitschnitts überlegen, präsenter und durchsichtiger. Lediglich Pomàrico steuert die vielen Facetten, die das Orchester zu beleuchten hat, noch ein wenig bewusster als Brönnimann, setzt dabei – wie gesagt – stärker auf Kontraste. Insgesamt sind die beiden Aufnahmen auf demselben Top-Niveau.

Bei der Trilogie Core – TurnBoost machen alle drei Stücke (10, 13 bzw. 16 Minuten lang) einen ungeheuren Spaß: Üppiger, wild zupackender Orchesterklang voller Vitalität, aber ebenso enorm sensible Momente mit immer neuen, vielschichtigen Überraschungen langweilen zu keiner Zeit, lassen den Zuhörer schon mal den Atem anhalten. Hatten die einzelnen Teile bei Publikum wie Kritik bereits jeweils höchst positive Resonanz erfahren, erscheinen sie als Gesamtschau nochmals beeindruckender. Insbesondere versteht man so Turn klar als geplanten Mittelteil: Ein tiefgründiges „Adagio“, welches dann abrupt völlig umschlägt. Die Basel Sinfonietta und Brönnimann sind bei dieser hinreißenden und zwingenden Musik offensichtlich in ihrem Element und die Hommage zum sechzigsten Geburtstag des Komponisten wird zu einem echten Fest neuer Orchesterkultur. Dieter Ammanns prächtige Tonkunst sollte ab jetzt wirklich in keiner Sammlung fehlen: Der Mann beherrscht nicht nur perfekt sein Handwerk, sondern hat uns zeitgemäß unglaublich viel zu sagen. Für den Rezensenten ist diese fürs Repertoire wichtige Naxos-Veröffentlichung eine der bislang faszinierendsten Neuerscheinungen des Jahres 2023 mit ganz klarer Empfehlung.

Vergleichsaufnahme: [unbalanced instability] Carolin Widmann, WDR Sinfonieorchester, Emilio Pomàrico (in: Grammont Sélection 7 – Schweizer Uraufführungen 2013, Musiques Suisses MGB CTS-M 142, 2013)

[Martin Blaumeiser, Juli 2023]

Ersteinspielung dreier Orchesterwerke Hans Winterbergs

Capriccio, C5475; EAN: 84522105476

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Johannes Kalitzke präsentiert auf diesem bei Capriccio erschienenen Album erstmals Orchestermusik Hans Winterbergs (1901–1991) auf CD. Es erklingen die Symphonie Nr. 1 Sinfonia drammatica (1936), das Klavierkonzert Nr. 1 (1948) und die Rhythmophonie (1967). Solist im Klavierkonzert ist Jonathan Powell.

Der 1901 in Prag geborene, 1991 im oberbayerischen Stepperg gestorbene Hans Winterberg ist ein Komponist, der sich schwerlich in eine Schublade stecken und mit einem Etikett versehen lässt. Die zeitgenössischen Strömungen reflektierend, ohne sich aber dezidiert einer von ihnen anzuschließen, schuf er in relativer Abgeschiedenheit ein umfangreiches Gesamtwerk, das vor allem Orchester-, Kammer- und Klaviermusik umfasst. Eine ganze Reihe seiner Kompositionen wurde zu seinen Lebzeiten vom Bayerischen Rundfunk aufgezeichnet, jedoch gelangte keines seiner Werke in den Druck. Nachdem der Nachlass Winterbergs lange Zeit der Öffentlichkeit nicht zugänglich gewesen war, wird seine Musik nun systematisch erforscht, wieder zu Gehör gebracht, erstmals publiziert und auf Tonträgern festgehalten. Nach Veröffentlichungen von Klavier- und Kammermusikwerken bei Toccata Classics hat nun Capriccio erstmals eine CD mit Orchesterwerken Winterbergs vorgelegt.

In Winterbergs Biographie haben die Umbrüche und Katastrophen des 20. Jahrhunderts tiefe Spuren hinterlassen. In eine assimilierte jüdische Familie hineingeboren, wuchs er, ähnlich wie Franz Kafka und Max Brod einige Jahre vor ihm, als Kind der späten Habsburgerzeit zwischen Tschechen und Deutschböhmen auf. Obwohl deutschsprachig, ließ sich seine Familie bei der tschechoslowakischen Volkszählung 1930 aus Sympathie mit der tschechischen Kultur als „tschechisch“ registrieren (Hans Winterberg schreib seinen Vornamen darum auch „Hanuš“). Nach der Besetzung Tschechiens durch das nationalsozialistische Deutschland musste Winterberg erleben, wie seine Mutter und mehrere weitere Verwandte deportiert und ermordet wurden. Die Ehe mit der Pianistin Maria Maschat, die nach der NS-Ideologie als „Arierin“ galt, bewahrte ihn lange Zeit vor der Verhaftung, doch wurde er schließlich im Januar 1945 ins KZ Theresienstadt verschleppt. Am Tag des Kriegsendes befreit, kehrte er nach Prag zurück. Von der Vertreibung der Deutschböhmen blieb er aufgrund seines Status als Tscheche zwar verschont, doch fühlte er sich in der Nachkriegs-Tschechoslowakei zunehmend unwohl, sodass er eine 1946 bewilligte Auslandsreise („um nach seinen handschriftlichen Kompositionen zu suchen“), zur Übersiedelung nach Bayern nutzte. Er lebte, nun als Sudetendeutscher wahrgenommen, bis 1969 meist in der Gegend am Ammersee, dann in Bad Tölz, zuletzt, ab 1981, in Stepperg.

Winterberg war Schüler namhafter Lehrer. In Prag hatte er bei Fidelio F. Finke und Alois Hába Komposition, bei Alexander Zemlinsky Dirigieren studiert. Spürbare Einflüsse dieser recht unterschiedlichen Musikerpersönlichkeiten finden sich in seinen Kompositionen allerdings nicht. Winterberg war ein durchaus eigener Kopf. Seine Musik ist überwiegend introvertierten Charakters und bewegt sich, meist linear-kontrapunktisch gesetzt, in einer freien Tonalität, der Quartenharmonien nicht fremd sind. In der Instrumentation setzt er auf schwarz-weiß-Kontraste mittels klar voneinander getrennter Klanggruppen, auch auf schroffe Gegensätze zwischen Tutti- und kammermusikalisch ausgedünnten Abschnitten, wobei in letzteren oft Soli vor kontrastierenden Hintergründen spielen. Immer wieder auftauchende abtaktige Motive in markanten Rhythmen zeugen von der tschechischen Herkunft des Komponisten. Auch kommen regelmäßig Abschnitte vor, in denen ein eindeutig böhmischer Musikantengeist durchschlägt. Die nationalen Elemente in Winterbergs Musik dominieren insgesamt jedoch nicht so sehr, dass man ihn einen folkloristischen Komponisten nennen möchte. Sie klingen eher aus der Ferne an, wirken abstrahiert. Das unbekümmerte Losmusizieren, wie es beispielsweise in den Werken des etwas älteren Landsmannes Martinů beständig anzutreffen ist, weicht bei Winterberg einem grüblerischen Ernst. Der Reiz dieser Musik liegt in ihrer Knorrigkeit.

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin hat unter der Leitung Johannes Kalitzkes drei Orchesterwerke Hans Winterbergs aus verschiedenen Schaffensphasen aufgenommen. Die Sinfonia drammatica, die erste der beiden Symphonien des Komponisten, stammt aus dem Jahr 1936. Es handelt sich um eine viertelstündige Komposition in einem einzigen Satz, in welchem zwei miteinander korrespondierende, bewegtere Eckteile einen zurückgenommenen, karg instrumentierten Mittelteil umschließen. Das Stück basiert auf wenigen kurzen Grundmotiven, die einem permanenten Verwandlungsprozess unterworfen werden. Charakteristisch für die Außenteile ist, dass die Aufschwünge stets durch ein resignierendes Zurücksinken aufgefangen werden, was dem Ganzen den Eindruck des In-Sich-Kreisens verleiht. In den letzten rund zwei Minuten stellt sich ein paradoxes Gleichgewicht zwischen Aufschwung und Abklingen in Form eines ruhelosen Brütens und Grübelns ein. Unwillkürlich kommt mir ein Vers Georg Heyms in den Sinn, mit welchem sich die Stimmung dieser Takte gut beschreiben lässt: „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen.“

Von einer anderen Seite zeigt sich Winterberg in seinem ersten Klavierkonzert von 1948. Die drei Sätze sind als „Vorspiel“, „Zwischenspiel“ und „Nachspiel“ bezeichnet und sämtlich in knappen Dimensionen gehalten, namentlich der erste, der nur drei Minuten dauert. Die etüdenartigen Klaviermotive und die Perpetuum-Mobile-Rhythmik der Ecksätze lassen französische Einflüsse vermuten, wobei sich im letzten Satz – der beinahe zur Hälfte aus einer Solokadenz besteht – dem „jeu“ hörbar Tschechisches hinzugesellt. In der Instrumentation bleibt Winterberg jedoch seinem Klangideal treu und verzichtet weitgehend auf Mischklänge in der Art seiner französischen Zeitgenossen, wie sich vor allem im langsamen zweiten Satz zeigt, dem längsten des Werkes, der über weite Strecken von Konduktrhythmen geprägt ist.

Das Programm wird beschlossen durch die 1967 vollendete Rhythmophonie, ein Werk, das zu Lebzeiten des Komponisten aufgrund seiner hohen spieltechnischen Anforderungen nie erklungen ist. In drei Sätze nach dem Modell schnell-langsam-schnell gegliedert und gut eine halbe Stunde lang, erscheint es rein äußerlich wie eine Symphonie. Bei näherer Betrachtung wird aber recht schnell deutlich, warum der Komponist diese Gattungsbezeichnung vermieden hat. Man kann in diesem Stück kaum noch von Motiven oder gar Themen sprechen. Auch lassen sich keine exponierenden, durchführenden oder rekapitulierenden Abschnitte ausmachen. Die beständige metamorphotische Umbildung des Materials, wie sie sich in der Sinfonia drammatica angewendet findet, wird hier auf die Spitze getrieben. Das musikalische Geschehen wird von rhythmischen Verwandlungsprozessen dominiert. Es entsteht eine Art klingendes Kaleidoskop. Das Ganze wirkt dabei keineswegs spielerisch, sondern ist von dem gleichem Ernst durchdrungen, der auch die frühe Symphonie auszeichnet.

Johannes Kalitzke, der mit dieser CD seinen Ruf als Fürsprecher wertvoller, zu wenig beachteter Musik des 20. Jahrhunderts aufs Neue unterstreicht, hat sich mit dem Idiom Winterbergs gut vertraut gemacht und führt das hervorragend disponierte Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin mit sicherer Hand durch die anspruchsvollen Partituren. Ein besonderes Plus besteht darin, dass für das Klavierkonzert mit Jonathan Powell ein wahrhaft meisterlicher Pianist gewonnen wurde, der mit Leichtigkeit, Energie und viel Sinn für die Dramaturgie des musikalischen Geschehens Winterbergs Musik lebendig macht.

Eine Fortsetzung dieses Projekts ist durchaus erwünscht!

Zum an sich guten und informativen Begleittext aus der Feder von Michael Haas ist kritisch anzumerken, dass „der lebendige Verbund tschechischer Komponisten“ während des Zweiten Weltkriegs zwar tatsächlich wegen der Ermordung zahlreicher jüdischer Meister durch die Nationalsozialisten empfindlich geschwächt wurde, die Behauptung jedoch, seine musikalische Sprache wäre ohne Bohuslav Martinů oder Hans Winterberg spurlos ausgelöscht worden, angesichts beispielsweise eines Ladislav Vycpálek, Otakar Jeremiáš, Iša Krejčí, Miloslav Kabeláč oder Jan Hanuš eine Übertreibung darstellt.

[Norbert Florian Schuck, Juli 2023]

[Meinem geschätzten Kollegen Martin Blaumeiser danke ich für die Hinweisung auf ein 2019 von der Pierian Recording Society veröffentlichtes Doppelalbum mit historischen Rundfunkeinspielungen mehrerer Orchesterwerke Hans Winterbergs, das auf CD 2 eine Aufnahme der Sinfonia drammatica enthält. Im Falle dieses Werkes hat Capriccio also keine Erstaufnahme vorgelegt. N. F. Schuck, 31. August 2023]

Vier hochinteressante Spätwerke Claudio Santoros

Naxos 8.574406; EAN: 7 47313 44067 2

Auch die zweite Folge der geplanten Naxos-Gesamtaufnahme sämtlicher 14 Symphonien des Brasilianers Claudio Santoro (1919–1989) erweist sich als hörenswerte Fundgrube. Neben den Symphonien Nr. 11 & 12 spielt das Goiás Philharmonic Orchestra unter seinem britischen Chef Neil Thomson noch das Concerto Grosso für Streichquartett & Orchester sowie Três Fragmentos sobre BACH.

Das Orquestra Filarmônica de Goiás hatte bereits mit der ersten Folge sämtlicher Symphonien Claudio Santoros absolut begeistert – siehe unsere Rezension hier, wo man ebenfalls grundlegende Infos zum Komponisten nachlesen kann. Nun legt der brasilianische Klangkörper unter seinem britischen Chef Neil Thomson noch eins drauf: Dergestalt, dass sowohl in der Symphonie Nr. 12 ‚Sinfonia concertante‘ als auch dem Concerto Grosso insgesamt 11 Mitglieder des Orchesters zudem anspruchsvolle Soloparts meistern.

Die vier hier vorgestellten Orchesterwerke stammen alle aus Santoros letzter Schaffensphase nach seiner Rückkehr 1978 aus Deutschland, wo er ein knappes Jahrzehnt an der Musikhochschule Heidelberg-Mannheim eine Dirigierprofessur bekleidet hatte. Nach einer Zeit ausgiebigen Experimentierens mit Avantgarde-Elementen wie Elektronik, Aleatorik, teilweise graphischer Notation usw. zeigt sich nun eine gewisse Konsolidierung seines Stils, wobei er die vorherigen Erfahrungen jedoch keineswegs über den Haufen wirft, sondern auf sehr persönliche Weise in traditionellere Formen integriert. So hören wir im Concerto Grosso (1980) für Streichquartett und Streichorchester neben strikt motivischer Arbeit auch Clusterbildungen sowie aleatorische Momente. Ein intensives Werk für die ja nach wie vor seltene Besetzung; der Verzicht auf Bläserfarben bewirkt zusätzliche Dichte.

Die nur knapp 17-minütige 11. Symphonie (1984) charakterisiert der Verfasser des informativen Booklettexts, Gustavo de Sá, als überwiegend tragisch. Gerade die herausgestellten Soli (Oboe bzw. Violine) im Kopfsatz evozieren von Beginn eine desolate Atmosphäre. Das höchst virtuose Scherzo – es gibt keinen eigenen, langsamen Satz – dient lediglich zur Vorbereitung des sich aus bisherigem Material gewaltig zusammenballenden Konflikts des Finales, der sich schließlich geradezu kataklysmisch entlädt – emotional überwältigend. Anscheinend darf man den Hinweis am Schluss der Partitur („Brahms Haus, 12-6-84, Baden-Baden“) als deutlichen Fingerzeig auf gewisse Allusionen zu Brahms 1. Symphonie durchaus ernst nehmen.

Entstanden zum 300. Geburtstag des Barockmeisters, benutzen die Três Fragmentos sobre BACH für Streichorchester das Namensmotiv auf vielfältige Weise durchaus im Sinne serieller Techniken, greifen dabei jedoch ebenso auf barockes Handwerk (Fuge) zurück. Wieder dominiert eine düstere Stimmung, der die formal hochorganisierte Ordnung quasi wie ein tröstliches Regulativ entgegenwirkt. Für ein Jugendorchester – wofür die Stücke eigentlich konzipiert wurden – wären Santoros BACH-Fragmente in der Tat eine gewaltige Nummer; den brasilianischen Profi-Musikern gelingt selbstverständlich eine absolut souveräne Darbietung.

Die 12. Sinfonie (1987, 1988/89 nochmals revidiert) hat ihren Ursprung in 15 Solostücken für einen Jugendwettbewerb 1983 in Rio de Janeiro. Santoro wollte diese zunächst als „Fantasia Concertante“ orchestrieren und zusammenfassen, nutzte sie aber schließlich als Basis für die Symphonie, die tatsächlich eine echte „Concertante“ ist. Kontrastierend, sich öfters zum Duo ergänzend, gibt dieses Stück den neun Solisten – Flöte, Oboe, Klarinette, Horn, Trompete, Posaune, Violine, Bratsche und Violoncello – dann reichlich Gelegenheit zum befreiten Musizieren, ist endlich von freundlicher Farbigkeit, immenser klanglicher Finesse, ohne den hohen Anspruch an die symphonische Gattung preiszugeben. Nur zu schade, dass der Komponist das inspirierte Werk nicht mehr hören durfte: Die Uraufführung fand erst 2019 in São Paulo statt.

Neil Thomson legt mit seinem wirklich fantastischen Orchester erneut eine Glanzleistung nach der anderen hin: Abgesehen von der großartigen Spielfreude der erwähnten Solisten, gelingt es allen beteiligten Musikern, die Gratwanderung zwischen Santoros formaler Strenge und einer stellenweise überbordenden Emotionalität feinsinnig nachzuzeichnen und allen Parametern guten orchestralen Miteinanders völlig gerecht zu werden. Offenkundig ist man sich der kulturellen Bedeutung dieser Naxos-Reihe für die weltweite Reputation der bislang unterbelichteten klassischen Musik Brasiliens klar bewusst – und drei der vier präsentierten Werke sind hier sogar wieder Erstaufnahmen. Großes Lob gebührt darüber hinaus ebenso der stimmigen Tontechnik. Dieses Repertoire hat eindeutig die ganz große Bühne verdient! Man darf sich schon auf Santoros 8. Symphonie freuen, die im Juli erscheinen soll.

[Martin Blaumeiser, Juni 2023]

Ein Panorama georgischer und russischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts

Thorofon, CTH2677, EAN: 4 003913 126771

Der junge georgische Pianist Misho Kandashvili präsentiert auf seinem Debütalbum ein buntes Spektrum an georgischer und russischer Klaviermusik des 20. Jahrhunderts. Neben bekannten Namen wie Kantscheli, Prokofjew oder (frühem) Schnittke gibt es hier etliche auf CD nur spärlich vertretene Komponisten zu entdecken.

Für seine (bereits im letzten Jahr erschienene) Debüt-CD beim Label Thorofon hat der georgische Pianist Misho Kandashvili, 1993 in Tiflis geboren, ein recht vielfältiges Programm von Werken georgischer und russischer Komponisten zusammengestellt. Dabei dürfte gerade der georgische Teil des Albums für viele Musikfreunde unserer Gefilde einen anregenden Einblick in die Musikszene eines bislang womöglich eher weniger beachteten Landes bieten, während der russische Teil die bekannteren Namen und am Ende mit Prokofjews Klaviersonate Nr. 3 ein genuines Repertoirestück aufbietet.

Es lohnt sich, zu Beginn wenigstens einen kurzen Blick auf die Geschichte der georgischen klassischen Musik zu werfen. Die Entwicklungen, die man im Russland des 19. Jahrhunderts mit Glinka, der Gruppe der Fünf, Tschaikowski und vielen mehr verzeichnen kann, setzte in der Peripherie des Russischen Reichs, den späteren Sowjetrepubliken, einige Jahrzehnte, im Falle Zentralasiens sogar eher ein Jahrhundert später in durchaus vergleichbarer Form ein. In Georgien etwa gab es eine erste Generation von Komponisten, geboren ab den 1860er Jahren (wie Meliton Balantschiwadse, Sakaria Paliaschwili, Dmitri Arakischwili oder Viktor Dolidse), die in erster Linie Vokalmusik schufen, besonders prominent natürlich (National-) Opern. Ungefähr mit der Gründung der Sowjetunion und der allmählichen Etablierung von Institutionen wie Konservatorien oder Orchestern kam eine zweite Generation ins Spiel, die nun auch verstärkt Instrumentalmusik schuf. So war es etwa Andria Balantschiwadse (der Sohn des oben erwähnten Meliton Balantschiwadse und Bruder des Choreographen Georges Balanchine), der das erste georgische Ballett komponierte, und seine Sinfonie Nr. 1 aus dem Jahre 1944 wurde allgemein als Meilenstein der georgischen Sinfonik betrachtet. Man beachte insbesondere: die Geschichte der georgischen Sinfonik beginnt also faktisch erst in den 1940er Jahren! So jung ist diese Musikszene (jedenfalls, was klassische Musik westlicher Prägung anbelangt), und gleichzeitig ist es beeindruckend zu sehen, wie rasch sich in der Folge eine Musikkultur von mehr als beachtlichem Niveau entwickelte (um beim Beispiel der Sinfonik zu bleiben, kommen dann noch in den 1940ern Namen wie Schalwa Mschwelidse, Aleksi Matschawariani oder Otar Taktakischwili hinzu, nur wenig später auch Sulchan Zinzadse oder Sulchan Nassidse). Auch dies sind Aspekte sowjetischer Musikgeschichte, die freilich häufig unbeachtet bleiben. Insofern kann man Kandashvilis Album auch als einen Überblick, eine Sammlung von Kostproben vom Schaffen dieser Komponisten begreifen.

Am Beginn der CD stehen acht der zwölf Romantischen Stücke des bereits erwähnten Andria Balantschiwadse (1906–1992). Dabei handelt es sich um einen Zyklus aus dem Jahre 1972, was insofern von Bedeutung ist, als dass man Balantschiwadse hier zu einer Zeit erlebt, zu der er sich intensiver mit moderneren Tendenzen befasste als in früheren Jahren (wenigstens tendenziell schrieben die meisten sowjetischen Komponisten – natürlich insbesondere politisch bedingt – im Spätstalinismus ihre traditionellsten Werke, spätestens ab den 1960er Jahren werden dann in unterschiedlichem Maße modernere Einflüsse rezipiert). Balantschiwadse bewegt sich dabei in eher gemäßigten Bahnen, Atonalität spielt keine Rolle, wohl aber Bi- und Polytonalität, und ganz generell ist der Titel leicht irreführend, denn so romantisch wirken diese eher etwas herben Miniaturen eigentlich nicht. In der Tat, denkt man dabei an einen warmen, vollen Klaviersatz, wird man von der eher kargen Zweistimmigkeit (und den gelegentlichen Sekundreibungen) von Nr. 2 und Nr. 4 überrascht werden, die Freude in Nr. 7 ist ebenfalls keine überschäumende, und auch dann, wenn sich Nr. 10 als eine Art folkloristisch kolorierte Aria in Es-Dur darstellt, ähnlich wie sie Otar Taktakischwili meisterhaft zu komponieren wusste, sorgt Balantschiwadse mit allerlei herberen Einsprengseln für eine gewisse Distanz. Überhaupt könnte man davon sprechen, dass die romantischen Topoi, die die Titel der Stücke zweifelsohne suggerieren, eben aus der Distanz betrachtet, ein wenig verfremdet werden. Einen Bogen schlagen dabei die an Prokofjew gemahnenden Grüße (Nr. 1), die am Ende des letzten Stücks zitiert werden. Ein nicht immer unbedingt eingängiger und teilweise auch etwas spröder, aber insgesamt nicht uninteressanter Zyklus.

Deutlich früher, nämlich bereits 1951, entstand das Poem von Balantschiwadses Schüler Otar Taktakischwili (1924–1989). Taktakischwili konnte bereits als junger Mann mit seinen Kompositionen reüssieren; dass er mit seinem Beitrag den Wettbewerb für die Hymne der Georgischen SSR gewann, war offenbar für ihn selbst zunächst eine Überraschung, aber gegen Ende der 1940er Jahre trat er mit einer Reihe größerer Werke hervor, die durch ihre ungemein einprägsame Melodik, effektvolle Dramatik, farbenreiche Orchestrierung und große Geste bestechen – dabei stets deutlich an der georgischen Folklore orientiert – und entsprechende Resonanz fanden. Sein Klavierkonzert Nr. 1 etwa ist ein echter Reißer, eigentlich wohl eines der publikumswirksamsten Klavierkonzerte jener Zeit, wenn es denn nur einmal aufgeführt würde. Später wandte sich Taktakischwili, der u. a. auch Generalsekretär des georgischen Komponistenverbands und langjähriger Kulturminister der Georgischen SSR war, verstärkt, aber nicht ausschließlich Vokalmusik zu, etwa in Form von Opern oder national getönten Oratorien; zu seinen inspiriertesten Instrumentalwerken jener Zeit zählen das Violinkonzert Nr. 1 f-moll von 1976 oder das Mitte der 1980er komponierte Streichquartett. Moderne Tendenzen spielen in Taktakischwilis Schaffen auch in späteren Jahren eine eher untergeordnete Rolle, auch wenn es sicherlich einen Unterschied gemacht hätte, wenn sich Kandashvili beispielsweise für die Klaviersuite Imitation georgischer Volksinstrumente (1973) entschieden hätte. Das kurze Poem, das auch unter dem Titel Elegie durchgehen könnte, ist ein eher kleineres Werk, wobei das lyrische, melismatisch geprägte Melos dieses Stücks die charakteristische Handschrift seines Schöpfers deutlich verrät.

Besonders als Komponistin von Musik für Kinder hervorgetreten ist die gleichaltrige Meri Dawitaschwili (1924–2014), ebenfalls Schülerin Balantschiwadses. Ihr Chorumi (ein georgischer Kriegstanz) aus dem Jahre 1949 (oder bereits 1945?) ist ein kurzes, rhythmisch pointiertes, sehr effektvolles Konzertstück im 5/8-Takt, das nicht nur in der Wahl der Tonart (es-moll) einen gewissen Einfluss von Chatschaturjans Toccata verrät (man beachte etwa die markante Akkordik des Beginns). Der bei weitem bekannteste georgische Komponist dieser Zusammenstellung ist Gija Kantscheli (1935–2019), der hier mit vier Stücken aus seiner Simple Music, einer Sammlung von 33 Miniaturen nach (eigenen) Filmmusiken, vertreten ist, kurze Skizzen, Petitessen, von leichter Hand gezeichnet, betont schlicht gehalten und mit einer gewissen Nähe zur Salonmusik gekonnt spielend.

Wascha Asaraschwili (* 1936) schließlich, einmal mehr ein Schüler Balantschiwadses, hat neben einem expressiven, durchaus national getönten Neoklassizismus (repräsentiert z. B. durch sein Cellokonzert Nr. 1, für das sich in jüngerer Zeit Maximilian Hornung eingesetzt hat) auch eine Vielzahl von Werken geschaffen, die eher in Richtung Unterhaltungsmusik gehen, u. a. zahlreiche Lieder. In diesen Kontext gehört auch sein Nocturne aus dem Jahr 1986, das zudem in einer Version für Orchester vorliegt, eine Art Arie zunächst in G-Dur, später dann nach E- und schließlich – emphatisch gesteigert, am Ende Harfenklänge suggerierend – C-Dur wechselnd; ein Stück, das man sich auch sehr gut als Filmmusik vorstellen könnte. Im Unterschied zu Kantscheli spielt Asaraschwili weniger mit entsprechenden Vorlagen, sondern adaptiert sie. Für mich bleibt hier ein leicht zwiespältiger Eindruck, weil sich die Musik doch arg direkt an Paradigmen westlicher Unterhaltungsmusik orientiert (wobei Asaraschwili damit kein Einzelfall ist, man denke etwa an Andrei Eschpais leichtere Ader).

So interessant ein georgisches Programm per se ist, ist die Idee, ihm einen russischen Part gegenüberzustellen, grundsätzlich berechtigt, allein schon deshalb, weil die russische Musik natürlich – wie in nahezu allen ehemaligen Sowjetrepubliken – bei der Entwicklung der georgischen klassischen Musik eine wichtige Rolle gespielt hat. Man darf sich die zweite Programmhälfte allerdings weniger als Spiegelbild der ersten vorstellen, denn bereits angesichts des obigen kurzen historischen Abrisses ist ziemlich klar, dass es keinen georgischen Prokofjew oder georgischen Mossolow gegeben haben kann. Insofern darf die Wahl der russischen Beiträge auf dieser CD wohl insbesondere als Zusammenstellung von Werken gelten, die Kandashvili selbst wichtig sind.

Alexander Mossolow (1900–1973) gehört zweifelsohne zu den Komponisten, deren Schaffen durch die politischen Rahmenbedingungen der Sowjetunion am stärksten und am nachhaltigsten beeinflusst wurde, sodass man in seinem Fall ganz deutlich von zwei sehr unterschiedlichen Schaffensperioden sprechen kann: auf der einen Seite das radikale, expressionistische, avantgardistische Frühwerk, auf der anderen die Zeit nach dem Gulag (1937/38), die zu großen Teilen einen völlig veränderten Komponisten zeigt. Mossolows Klaviersonate Nr. 4 op. 11 (1925) gehört zu seinem frühen Schaffen, ein Einsätzer, dessen tritonusgesättigte Harmonik, voller Klaviersatz (manchmal Glockenklänge beschwörend) und dunkel-fatalistisch getönte Ausdruckssphären weniger an Prokofjew erinnern, dessen Musik Mossolow grundsätzlich wesentlich beeinflusst hat, sondern entschieden an den späten Skrjabin anknüpfen.

Bei den hier eingespielten Drei Präludien von Alfred Schnittke (1934–1998) handelt es sich um Juvenilia aus den Jahren 1953/54, präziser um die ersten drei Stücke einer Sammlung, die bei Toccata Classics als Sechs Präludien auf CD veröffentlicht worden bzw. unter dem Titel Fünf Präludien und Fuge im Druck erschienen ist. Man darf bei diesen (hübschen) Stücken nicht an den reifen Schnittke denken; vielmehr vollzieht der junge Komponist hier Muster aus der Klaviermusik des 19. Jahrhunderts nach bis hin zu Einflüssen von Nikolai Mjaskowski (sehr deutlich im zweiten Präludium), bei dessen Schüler Jewgeni Golubew (1910–1988) Schnittke seinerzeit im Übrigen selbst am Moskauer Konservatorium studierte. Am Ende des Programms steht Sergei Prokofjews (1891–1953) kompakte, energisch-brillante Klaviersonate Nr. 3 a-moll op. 28, wiederum ein Einsätzer also, den Prokofjew 1917 „nach alten Skizzen“ (aus dem Jahr 1907) verfasste.

Misho Kandashvili präsentiert sich auf dieser CD als technisch beschlagener, umsichtig und kontrolliert musizierender Pianist. Seine Interpretationen muten in der Tendenz eher sachlich-ausgeglichen als (emotional) zugespitzt an. So wirkt Balantschiwadses eigene Interpretation seiner Romantischen Stücke eine Spur wärmer, aber andererseits lässt Kandashvili z. B. den Glückseligen Abend in Nr. 6 sehr schön, die ruhigen, wohlig-entspannten Linien dieser Musik vorzüglich nachvollziehend zur Entfaltung kommen, überzeugt er in der Erleuchtung von Nr. 10 durch differenzierte Anschlagskultur. Voll in seinem Element ist er in Kantschelis Miniaturen, Taktakischwilis Poem könnte vielleicht etwas mehr Emphase und Dawitaschwilis Chorumi etwas mehr Ekstase vertragen, wobei er das treibende rhythmische Element im Chorumi klar herausarbeitet und seine Interpretation nie rabiat oder über Gebühr forciert wirkt.

Insgesamt überzeugend und im Vergleich zu den anderen Stücken eigentlich fast überraschend massiv, wuchtig auch die Interpretation von Mossolows Sonate Nr. 4, deren bedrohliche, düster-vergrübelte Atmosphärik Kandashvili gekonnt zu realisieren weiß. Tatsächlich ist es vor allem Prokofjews Dritte Sonate, die etwas schwächer gerät, nicht nur angesichts der natürlich extrem dichten diskographischen Konkurrenz. Die fulminante Verve etwa von Gilels’ Live-Mitschnitten geht Kandashvilis – gewiss solider – Lesart ab, aber auch generell wären hier intensiver nachvollzogene musikalische Linien (speziell in den zurückgenommeneren Abschnitten), präziser herausarbeitete Kontraste und stärkere Differenzierung möglich (nur als Beispiel beachte man etwa die kurzen Quasi-tromba-Einwürfe in der Coda, die bei Kandashvili zu kurz kommen). Etwas schade ist, dass sich das Beiheft im Wesentlichen mit Kurzbiographien der hier präsentierten Komponisten begnügt.

Am Ende steht ein gelungenes Debütalbum zu Buche, auf dem sich Kandashvili als junger Pianist von beachtlichem technischen und musikalischen Niveau vorstellt und – ganz besonders hervorzuheben – ein Programm vorstellt, das dem interessierten Hörer eine ganze Reihe von Anregungen bietet, sich intensiver mit der Musik Georgiens auseinanderzusetzen.

[Holger Sambale, Juni 2023]

[Rezensionen im Vergleich 2] Felix Woyrschs Orgelwerke erstmals komplett auf CD

Toccata Classics TOCC 0120; EAN: 5 060113 441201

Erstaunlich, dass das Orgelwerk des lange das Altonaer Musikleben prägenden Komponisten Felix Woyrsch (1860–1944) erst 2019 von Ruth Forsbach auf CD eingespielt wurde, ist es doch stilistisch ein wertvolles Bindeglied zwischen Brahms und Reger und in der Zeit um den 1. Weltkrieg ein einzigartiges Zeugnis norddeutscher Orgelkunst. Bis auf ein Choralvorspiel sind die Darbietungen sogar kommerzielle Erstaufnahmen: für Orgelfreunde eine längst überfällige Ausgrabung.

Der aus Troppau stammende Felix Woyrsch (1860–1944) war als Komponist weitgehend Autodidakt. Über Jahrzehnte prägte er als Organist und Dirigent – später Musikdirektor – das Musikleben der bis 1938 selbständigen, schleswig-holsteinischen (!) Großstadt Altona, leitete u. a. die dortige Singakademie und das Orchester des „Vereins Hamburgischer Musikfreunde“. Obwohl als Interpret durchaus aufgeschlossen gegenüber der sich zunehmend etablierenden Moderne, blieb er in seinen Werken zeitlebens einer spätromantischen Tradition in der Nachfolge Griegs, Bruckners und Brahms‘ treu. Sein Orgelwerk ist mit einer Gesamtspieldauer von knapp 63 Minuten nicht sehr umfangreich und besteht neben 10 Choralvorspielen lediglich noch aus einem Festpraeludium über den Choral „Nun danket alle Gott“ (1895) sowie aus einer – freilich phänomenalen – Passacaglia über das „Dies irae“.

Bereits im Festpraeludium zeigen sich Woyrschs sicheres kontrapunktisches Geschick und wirkungsvolle Registrierungsvorstellungen; das Stück steht allerdings noch ganz in der Tradition etwa von Liszt und Rheinberger. Sehr persönlich zeigen sich dann schon die 10 Choralvorspiele op. 59, entstanden zwischen 1909 und 1918, vor allem also während des 1. Weltkriegs. Entsprechend pessimistisch ist deren Tonfall. Im letzten Stück „Verleih uns Frieden gnädiglich“ schreibt der Komponist ausdrücklich „im Kriegsjahr 1918“ über die Partitur, den tatsächlich dringlichen Wunsch nach Frieden vor Augen. Aber auch in einigen der anderen Choralvorspiele wird die Tragik der geschichtlichen Ereignisse hörbar, besonders in den beiden, den liturgischen Rahmen schon durch ihre Längen von um die acht Minuten sprengenden Nummern 5 und 7 („O Haupt voll Blut und Wunden“ – höchst chromatisch – sowie „Was mein Gott will, das gescheh‘ allzeit“).

Ein wahres Meisterwerk ist dann schließlich die Passacaglia über das „Dies irae“, 1921 veröffentlicht, aber höchstwahrscheinlichkeit noch im oder kurz nach dem Kriege verfasst. Das 12-minütige Stück kann sich qualitativ durchaus mit entsprechenden Werken Max Regers messen, ist technisch enorm anspruchsvoll, kompositorisch auf der Höhe der Zeit und verfehlt durch seine Auseinandersetzung mit der Totentanz-Thematik – Woyrsch selbst hatte bereits ein Mysterium mit dem Titel Totentanz (op. 51) komponiert – seine Wirkung nicht.

Die erfahrene Organistin und ehemalige Remscheider Kirchenmusikdirektorin Ruth Forsbach (* 1949) – u. a. Schülerin von Gerd Zacher, Lionel Rogg und Gaston Litaize – spielt Woyrschs Musik absolut souverän und begeistert den Hörer nicht nur mit einer überwältigenden Darbietung der Passacaglia, sondern bringt auch sensibel die vielen Zwischentöne bei den Choralvorspielen zum Vorschein. Der Klang des historisch perfekt passenden Instruments – der Wilhelm-Sauer-Orgel der reformierten Kirche Wuppertal-Ronsdorf von 1908 – unterstreicht den konzertanten Charakter der meisten Choralvorspiele und wurde aufnahmetechnisch in Co-Produktion mit dem WDR sehr schön eingefangen. Forsbach gelingt es, trotz eines ein wenig verschwenderischen Umgangs mit den 16‘-Registern, durchsichtig zu bleiben, ohne den doch etwas bombastischen Zeitgeist zu verleugnen. Diese Veröffentlichung schließt auf erfreuliche Weise eine offenkundig viel zu lange bestehende Repertoirelücke – hörenswert!

[Martin Blaumeiser, Juni 2023]

[Rezensionen im Vergleich 1] Erste Gesamtaufnahme der Orgelmusik Felix Woyrschs

Toccata Classics TOCC 0120; EAN: 5 060113 441201

Für Toccata Classics hat Ruth Forsbach auf der Wilhelm-Sauer-Orgel der reformierten Kirche in Wuppertal-Ronsdorf sämtliche Orgelkompositionen von Felix Woyrsch eingespielt.

Der 1860 geborene Felix Woyrsch, von 1914 bis 1931 erster (und einziger) Städtischer Musikdirektor im damals noch nicht zu Hamburg gehörenden Altona, wurde vor allem durch seine Oratorien und Symphonien bekannt. Auf beiden Gebieten kann er als der bedeutendste norddeutsche Komponist aus der Generation nach Johannes Brahms gelten. Angesichts der überregionalen Erfolge seiner Chor- und Orchesterwerke (das Passionsoratorium und das Mysterium Totentanz drangen bis nach Großbritannien und in die USA vor), sowie seiner Leistungen als Chorleiter und Orchesterdirigent, der erstmals in Altona regelmäßige Symphoniekonzerte veranstaltete, wird mitunter vergessen, dass Woyrsch immerhin drei Jahrzehnte lang, von 1895 bis 1925, einer regelmäßigen Organistentätigkeit nachging. Freilich verlief dieser Teil seines Wirkens wenig aufsehenerregend und beschränkte sich auf die Begleitung von Gottesdiensten in Altonaer Kirchen. Auch der Umstand, dass Woyrsch nur relativ wenige Kompositionen für die Orgel schrieb, mag dazu beigetragen haben, dass sein Name meist nicht in erster Linie mit der „Königin der Instrumente“ in Verbindung gebracht wird. Keineswegs sollte man daraus jedoch den Schluss ziehen, es handle sich bei den Orgelstücken des Komponisten um qualitativ hinter seinen symphonischen und oratorischen Werken zurückstehende Musik.

Woyrschs gesamtes Orgelschaffen umfasst insgesamt zwölf Einzelstücke, die sich auf drei Opuszahlen verteilen und allesamt in seiner mittleren Schaffensperiode entstanden. Am Beginn steht das 1895 komponierte Festpraeludium über den Choral „Nun danket alle Gott“ op. 43. Die übrigen Kompositionen wurden 1921 veröffentlicht. Es handelt sich um die zwischen 1909 und 1918 entstandenen Zehn Choralvorspiele op. 59 und die Passacaglia über das „Dies Irae“ op. 62. So wenig umfangreich dieser Werkbestand rein zahlenmäßig sein mag, bieten die Stücke doch eine gute Einführung in Woyrschs Kompositionsstil. Man lernt aus ihnen einen Künstler kennen, dem der Kontrapunkt nicht bloß Handwerksmittel, sondern Träger poetischer Ideen ist, einen wahren Großmeister der Tonalität, der seine Musik souverän durch Nebenharmonien und Zwischenstufen führen kann, ohne das Zentrum aus dem Blick zu verlieren, und nicht zuletzt einen vielseitigen Tondichter, der der Orgel ein breites Spektrum musikalischer Charaktere abzugewinnen weiß. Die Stimmung verschiebt sich, hört man die Stücke in der Reihenfolge ihrer Nummerierung, allerdings immer mehr hin zum Düsteren, was offensichtlich mit der zeitlichen Nähe der meisten Choralvorspiele und der Passacaglia zum Ersten Weltkrieg zusammenhängt. Wie Andreas Dreibrodt und Andreas Willscher, zwei der besten Kenner von Woyrschs Schaffen, in ihrem sehr informativen Begleittext schreiben, passt auch das Festpraeludium op. 43, obwohl viel früher und ohne jeden militärischen Bezug entstanden, durchaus in die Kriegszeit, liegt ihm doch jene Melodie zugrunde, die die Soldaten Friedrichs des Großen einst als „Choral von Leuthen“ anstimmten, – und in Erinnerung daran tausende Deutsche zu Beginn des Krieges vor dem Berliner Schloss. Man beginnt die Reise durch Woyrschs Orgelwerk also in festlicher Aufbruchsstimmung, die jedoch in den Choralvorspielen op. 59 ziemlich bald zurückgenommen wird. Die ersten drei sind Weihnachtsstücke (Nun komm der Heiden Heiland, Es ist ein Ros entsprungen, Vom Himmel hoch, da komm ich her), dann folgen Werke der Klage und Trauer (Ach Gott, vom Himmel sieh darein, O Haupt voll Blut und Wunden, O Traurigkeit, o Herzeleid), und ein gleichfalls dunkel getöntes Vorspiel über Was mein Gott will, das g’scheh allzeit. Wenn mit Nr. 8 doch noch einmal ein Festpraeludium auftaucht, dann eines über Valet will ich dir geben [du arge, falsche Welt]. Nr. 9, Nun ruhen alle Wälder, ist als Trio mit kanonischen Oberstimmen komponiert, die permanent andere Harmonien ansteuern als von der im Bass liegenden Choralmelodie eigentlich impliziert – in den „ruhigen“ Wäldern rauscht es unheimlich. Schließlich spricht Woyrsch offen aus, was viele „im Kriegsjahr 1918“ (so fügt er ausdrücklich dem Titel hinzu) dachten, und setzt ans Ende der Sammlung ein Vorspiel über Verleih uns Frieden gnädiglich. Die vermutlich noch im oder kurz nach dem Krieg entstandene Passacaglia op. 62 entpuppt sich als Totentanz in bester Lisztscher Tradition (wenngleich man rein stilistisch eher Bach und Brahms als Vorbilder ausmachen mag) – ein passender Abschluss dieses Orgelschaffens, das, ohne dass der Komponist dies zu Beginn intendiert haben kann, ihm gleichsam unter der Hand zu einem bemerkenswert in sich geschlossenen Kriegszyklus geworden ist.

Obwohl alle Werke auf vorhandene Themen komponiert sind, legen sie von Woyrsch nicht nur als Kontrapunktiker und Harmoniker ein höchst günstiges Zeugnis ab, sondern auch als Melodiker, der sich trefflich darauf versteht, aus dem Material der Choralmelodien neue Themen zu bilden (op. 43, op. 59/8) bzw. freie Begleitmotive zu ihnen zu erfinden (op. 59/5, op. 59/10). Freilich verschmäht er streng aus der Melodie abgeleitete Vorimitationen keineswegs, wie op. 59/4 und op. 59/5 zeigen. In der Passacaglia feiert das zum Dies-Irae-Thema mit unerschöpflichem Einfallsreichtum stets neue Gegenstimmen erfindende melodische Talent des Komponisten Triumphe von Variation zu Variation. So schmal der Werkbestand Woyrschs für die Orgel sein mag, so qualitativ hochwertig ist er auch. Man kann jedes einzelne dieser Orgelstücke bedenkenlos neben Werken von Bach, Brahms oder Reger aufführen.

Der Düsseldorfer Organistin Ruth Forsbach, seit 1999 Kirchenmusikdirektorin der Evangelischen Kirche im Rheinland, ist nun die erste Gesamteinspielung des Woyrschschen Orgelschaffens zu verdanken, die, mit Ausnahme von op. 59/5, zugleich die Ersteinspielung aller Stücke auf CD darstellt. Wie bereits erwähnt, ist das Album, wie bei Veröffentlichungen von Toccata Classics häufig, mit einem vorzüglichen Einführungstext ausgestattet. Ich wünschte, ich könnte gleiches von der Aufführung der Werke selbst sagen!

Gewiss hat Ruth Forsbach mit der 1908 erbauten Sauer-Orgel der reformierten Kirche in Wuppertal-Ronsdorf ein zur Wiedergabe der Kompositionen Felix Woyrschs bestens geeignetes Instrument ausgewählt, auch registriert sie ansprechend. Dennoch lassen ihre Darbietungen manche Wünsche offen, sodass man hier keineswegs von einer idealen Aufnahme sprechen kann. Es fängt mit der wenig kantablen Ausführung der Choralmelodien selbst an. Gerade Choralvorspiele sollten doch daran erinnern, dass Telemanns Spruch vom Singen als „Fundament der Musik in allen Dingen“ auch für das Musizieren auf der Orgel gilt! Gerade weil sie zu den Instrumenten zählt, deren Tonerzeugung derjenigen der menschlichen Stimme eher unähnlich ist, ist ein möglichst gesanglicher Vortrag, mit viel Sinn für weite melodische Entwicklungen, wichtig. Forsbachs Spiel wirkt dagegen oft zu zaghaft. Sie spielt gleichsam „auf Sicht“, von Takt zu Takt, sodass sich kaum einmal der Eindruck ausgedehnterer Formzusammenhänge einstellt. Durch Rubati scheint sie die Musik beleben zu wollen, doch klingen diese seltsam ungelenk, da sie regelmäßig quer zum jeweiligen harmonischen Gefälle stehen. Man fragt sich: Wo bleibt das „fernhören“, die Ausrichtung des Vortrags auf die kommenden musikalischen Ereignisse?

Im Vorspiel über Vom Himmel hoch (op. 59/3) z. B. stehen die einzelnen Glieder der rhythmisch markanten Einleitung zu sehr für sich sich und finden nicht zu einer längeren Periode zusammen. Was tänzerisch beschwingt hätte klingen können (und, wie ich meine, müssen), wirkt ruppig und kurzatmig. Nach Einsetzen der Choralmelodie verlangsamt Forsbach bei 0:23 merklich das Tempo, wobei der Eindruck entsteht, als wäre sie nachträglich auf den Gedanken gekommen, zu rasch angefangen zu haben. Bei 4:02 im op. 43 lässt sie die sich rasch bewegende Oberstimme stets kurz auf den in ihre Haltepunkte hineinklingenden Akkord der Unterstimmen warten, was der Stelle den Schwung nimmt. Wenn im Folgenden der Choral einsetzt, lässt sie ihn bei den Luftpausen abrupt abreißen und spielt die raschen Figuren zwischen den Choralzeilen rhythmisch verwaschen. Ähnliches passiert in der ersten Variation der Passacaglia. Die Einleitung von op. 59/7 wird verschleppt, wie generell bei Kadenzen und Halbschlüssen regelmäßig Ritardandi zu hören sind, die weder die Stimmung intensivieren noch formgliedernde Folgerichtigkeit ausstrahlen, sondern lediglich die Musik schwerfällig erscheinen zu lassen. Als Beispiel möge die Kadenz in op. 59/5 ab 5:15 dienen. Über diese Takte, besonders die von Pausen durchsetzten ab 5:29 erstreckt sich schlicht kein Spannungsbogen, der die Wiederkehr des Anfangs als Ziel erwarten lässt. Das harmonisch und kontrapunktisch höchst interessante Trio Nun ruhen alle Wälder gerät zu einem trockenen Notenreferat. Welch ein Spiel beständiger gegenseitiger Anziehung und Abstoßung der innig ineinander verschlungenen Kanonstimmen hätte hier geboten werden können!

Kurzum: Dieses gewiss gut gemeinte Album sollte ein Ansporn sein, Woyrschs exzellente Orgelmusik in Wiedergaben auf CD festzuhalten, die ihrer kompositorischen Qualität besser entsprechen. Wer eine echte Referenzaufnahme dieser Werke wünscht, wird sich also weiterhin in Geduld üben müssen.

[Norbert Florian Schuck, Juni 2023]

Markus Bellheim zelebriert András Hamarys exzellenten Préludes-Zyklus

NEOS 12305 + 52301 (CD+DVD); EAN: 4 260063 123054

András Hamarys Zyklus von 24 Préludes für Klavier (2021/22) ist nun, gespielt vom Widmungsträger Markus Bellheim, in Koproduktion mit BR Klassik bei NEOS erschienen. Die Musik wie ihre Darbietung können nur als herausragend betrachtet werden.

András Hamary (*1950) kam nach ersten Studien in Budapest bald nach Deutschland, wo Hans Leygraf (Klavier) in Hannover und Thomas Ungar (Dirigieren) in Stuttgart seine wichtigsten Lehrer waren. In beiden Fächern wurde er mehrfach ausgezeichnet, so beim Debussy-Wettbewerb in Paris oder für seine Interpretation von Adriana Hölszkys Oper Bremer Freiheit bei der 1. Münchner Biennale. Von 1986 bis zu seiner Emeritierung hatte Hamary in Würzburg eine Professur für Klavier und Kammermusik inne und lebt nun in Berlin. Als Dirigent konzentrierte sich der Künstler ganz auf die Neue Musik und widmete sich dann seit Mitte der 1970er Jahre auch – zunehmend erfolgreich – der Komposition. Den Pianisten Markus Bellheim, seit 2011 Professor an der Münchner Hochschule für Musik und Theater, lernte er bereits in dessen Würzburger Zeit kennen. Während der Corona-Einsamkeit entstand – ausgehend von zunächst wenigen Einzelstücken – nach und nach ein Zyklus von 24 Préludes für Klavier, der Bellheim gewidmet ist und von ihm uraufgeführt und inzwischen mehrmals öffentlich gespielt wurde.

Mit 24 Klavierpréludes tritt man fast unweigerlich in die Fußstapfen einer Reihe historischer Vorbilder: Im Falle Hamarys sind dies vor allem Chopin, Skrjabin, Rachmaninoff, Debussy und Schostakowitsch (op. 34). Daneben spürt der Hörer Einflüsse diverser, nicht nur Klavierkomponisten, die keine Prélude-Zyklen geschrieben haben. In ihrer rhythmischen Komplexität oder Motorik weisen manche Abschnitte auf Hamarys Landsmann György Ligeti – insbesondere dessen Klavieretüden. Auch Schubert, Schumann, gar Mahler oder Nancarrow schimmern stellenweise durch. Nicht, dass der Komponist im gut 70-minütigen Werk aus 2 x 12 Stücken wörtlich daraus zitierte; jedoch gibt es zahlreiche Allusionen, die an konkrete musikalische Situationen bei jenen Kollegen anknüpfen, die hier natürlich nicht alle aufgezählt werden können und sollen. Klar ist, dass sich Hamary diesem nicht wegzudenkenden musikhistorischen Bewusstsein stellt, ohne Elemente simpel zu imitieren oder „einzubauen“. So wird aus dem vermeintlichen „Ballast“ eine Quelle für ganz eigene Inspiration. Literatur bildet bei zumindest zwei Préludes den Ausgangspunkt: Attila Jószefs Gedicht Ringató für das „Wiegenlied“ (1. Heft, Nr. 7) und die Erzählung El milagro segreto des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges (2. Heft, Nr. 2).

Das besondere Problem, bei relativ wenig Zeit – die einzelnen Préludes dauern hier zwischen 1‘20“ und knapp 5 Minuten – ohne Umschweife sofort zum Punkt kommen zu müssen, erfordert große Klarheit des musikalischen Materials und eine geradezu plastische Vorstellung der damit erzeugten Klangwelten. Hamary scheut in den meisten der Miniaturen keineswegs tonale Anklänge: Gleich im ersten Prélude haut er die Hörer quasi übers Ohr, indem er deren Erwartungen bezüglich angedeuteter Dominantseptakkorde und der Leittonwirkung des Tritonus zum Mäandern durch den gesamten Quintenzirkel irreführt.

Ihre erstaunliche Überzeugungskraft gewinnt Hamarys Musik allerdings auffällig mittels extrem durchdachter und konsequenter Einbeziehung von Resonanzen und Obertoneffekten, was virtuose Nutzung aller Möglichkeiten des Sostenuto-Pedals verlangt. Allseits überraschen stimmige Modifikationen sogar während des Verklingens, eines ja sonst als eher statisch wahrgenommenen Klangphänomens, die dann immer den Raum mit einbeziehen.

Dies öffnet in einer Reihe von Préludes („Zyklus im Zyklus“ [Hamary]), darunter die drei Funerals des ersten Hefts, eine schon erschütternde emotionale Tiefe: Musik sozusagen als Vorbote des Totenreichs – und Aufarbeitung des eigenen Pandemie-Traumas? Im zweiten Heft unterstreichen zudem wiederkehrende Fragmente des anfänglichen Chorals (Track [13]) dessen zyklische Anlage. Weiterhin finden sich einige bildhafte (Terramoto [„Erdbeben“], Der Trommler) sowie heitere, „helle“ Stücke mit einer gehörigen Prise Humors: z. B. Paganini met Gershwin on 5th Avenue (2. Heft, Nr. 10), das Paganinis Caprice Nr. 9 La caccia pianistisch höchst wirkungsvoll paraphrasiert.

Markus Bellheim spielt diese Tour de Force absolut kongenial. Der ihm quasi auf den Leib geschriebene, enorm anspruchsvolle Klaviersatz wirkt unter seinen Händen – und Füßen! – trotzdem nie angestrengt. Bellheims Konzentration und hochdifferenzierte Anschlagskunst, wie man sie ja längst von seinen Messiaen-Aufführungen kennt, kommt bei jedem der 24 Stücke voll zur Geltung. Die rasanten Nummern (etwa Nr. 10 Csillagszóró [„Wunderkerzen“] oder die zunächst an Ligeti erinnernde, später hemmungslos tonale Nr. 12 Mandolin), aber genauso die perfekt dargebotenen, oft wie eine Fata Morgana erscheinenden besagten Oberton-Kunststücke gelingen ihm staunenswert. Die unmittelbare Entfaltung der musikalischen Ideen hinter den Einzelstücken und das Erfassen des großen Ganzen – oft fordert Hamary Attacca-Übergänge zwischen zwei Préludes – gehen stets Hand in Hand und erhalten den Spannungsbogen unentwegt aufrecht: Empathie, die sich sofort auf den Hörer überträgt.

Interessant, dass als Instrument bei der im März 2023 entstandenen Aufnahme aus dem Reitstadel in Neumarkt (Oberpfalz) ein Steingraeber Grand Piano E zum Einsatz kommt, wo gerade die basslastigen Préludes (Terramoto: Heft I, Nr. 4 oder Schwarze Trompeten: Heft II, Nr. 3) einerseits etwas weicher, zugleich jedoch bedrohlicher klingen als auf den gewohnten Steinways. Aufnahmetechnisch ist die CD makellos, das Booklet mit Liner Notes vom Komponisten und Detlef Heusinger – wie von Neos gewohnt – sehr ansprechend aufgemacht. Als entbehrliche Zugabe erweist sich die DVD: 24 mit computergenerierter Musik unterlegte Videoanimationen Hamarys aus den letzten 15 Jahren, die in keinem Zusammenhang mit den Préludes zu stehen scheinen. Der Komponist präsentiert sich damit – sowie dem Cover-Gemälde – zusätzlich als bildender Künstler.

Hamarys Zyklus seiner 24 Préludes ist, verglichen mit mancher – polemisch ausgedrückt – „Massenware“ z. B. aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, ein echter Markstein in der Gattungsgeschichte, offenkundig ein sensibles Meisterwerk mit – hoffentlich – nachhaltiger Repertoirefähigkeit. Der Rezensent kann jedenfalls das Erscheinen der Notenausgabe (Musikverlag V. Nickel, München) kaum erwarten. Die CD-Einspielung hat jetzt schon eine vorbehaltlose Empfehlung an alle Freunde der Klaviermusik verdient.

[Martin Blaumeiser, Mai 2023]

Von Bruch zu Tveitt, von Violine zu Hardangerfiedel

Berlin Classics, LC06203 0302757BC, EAN: 8 85470 02757 9

Auf ihrem neuesten Album beschreibt die junge norwegische Violinistin Ragnhild Hemsing eine musikalische Route von konzertanten Werken für Violine und Orchester, die von der Romantik bis in die Musik des 20. Jahrhunderts sowie von Deutschland nach Norwegen reicht und schließlich auch die Hardangerfiedel als Soloinstrument mit Orchester einsetzt. Begleitet wird sie vom Philharmonischen Orchester Bergen unter der Leitung von Eivind Aadland.

Ein Markenzeichen, das einen signifikanten Teil der CD-Veröffentlichungen der 1988 geborenen Norwegerin Ragnhild Hemsing (nicht zu verwechseln mit ihrer etwas jüngeren Schwester Eldbjørg) durchzieht, ist, dass man sie nicht nur auf der Violine, sondern auch auf der traditionellen norwegischen Hardangerfiedel erleben darf. Die Hardangerfiedel, benannt nach der Region Hardanger in Westnorwegen, verfügt neben vier gestrichenen Saiten auch noch über eine Reihe von unter dem Steg verlaufenden Resonanzsaiten, die für ein ganz eigenes, obertonreiches Timbre sorgen; nebenbei sei bemerkt, dass die Instrumente in der Regel bereits optisch durch ihre reichen Verzierungen einen prächtigen Eindruck hinterlassen. So kombiniert auch Hemsings neueste CD drei konzertante Werke für Violine von Max Bruch, Johan Svendsen und Sigurd Lie mit einem Konzert für Hardangerfiedel und Orchester von Geirr Tveitt.

Grundsätzlich also eindeutig ein Album mit Schwerpunkt auf norwegischer Musik, beginnt die CD allerdings mit einem der populärsten Violinkonzerte der deutschen Romantik, nämlich dem Violinkonzert Nr. 1 g-moll op. 26 von Max Bruch (1838–1920). Einerseits möchte Hemsing dadurch eine „historische Linie“ von Bruch bis hin zu Tveitt aufzeigen, andererseits ist Bruch in einem Programm mit folkloristischem Einschlag natürlich per se alles andere als eine abwegige Wahl, und zwar noch wesentlich tiefgreifender als im Beiheft diskutiert (das sich auf die Nennung seiner Schottischen Fantasie und Kol Nidrei beschränkt). Tatsächlich hat sich Bruch auch mit skandinavischer, in seinem Fall schwedischer Folklore befasst, wovon die in diversen Besetzungen vorliegenden Schwedischen Tänze op. 63, die Suite für Orchester Nr. 2 nach schwedischen Volksmelodien (posthum unter dem Titel Nordland-Suite publiziert) und die Serenade nach schwedischen Melodien für Streichorchester zeugen; daneben hat er sich (natürlich neben deutscher) u. a. mit russischer (op. 79, op. 79b), keltischer (op. 56), italienischer (op. 88b) und rumänischer (op. 83) Folklore befasst. Bezeichnend, wie er es selbst in einem Brief an seinen Verleger Simrock in Worte fasste: „In der Regel ist eine gute Volksmelodie mehr werth als 200 Kunstmelodien. Ich hätte es nie in der Welt zu etwas gebracht, wenn ich nicht seit meinem 24. Jahr mit Ernst und Ausdauer und nie endendem Interesse die Volksmusik aller Nationen studiert hätte. Denn an Innigkeit, Kraft, Originalität und Schönheit ist nichts mit dem Volkslied zu vergleichen.“

Natürlich ist sein erstes Violinkonzert sein um Längen am häufigsten gespieltes Werk (und Bruchs Unmut darüber ist vielfach zitiert worden), sodass sich Hemsings Neueinspielung in eine kaum zu überschauende Phalanx von Aufnahmen einreiht. Insgesamt schlägt sie sich dabei sehr beachtlich: Hemsing und Aadland haben beide eine tendenziell temperament- und kraftvolle, beherzt zupackende Vorstellung von dieser Musik, ohne dabei in Extreme zu verfallen. Den rhapsodischen Passagen (etwa im ersten Satz) gibt Hemsing viel Raum und Zeit, und überhaupt wirken die Tempi zwar manchmal straff, aber nie gehetzt. Die großen gesanglichen Linien des langsamen Satzes vollzieht Hemsing expressiv, dabei stets geschmackvoll und niemals sentimental nach, und ganz generell zeigt sie sich als sehr agile, wache Solistin, die zahlreiche Details (der Agogik, der Artikulation) ausgesprochen bewusst und sorgfältig realisiert.

Was der Einspielung – auf hohem Niveau! – etwas abgeht, ist ein gewisses Maß an Ruhe sowie der (orchestrale) Schmelz, der für diese Musik so charakteristisch ist. Bruch ist zuvorderst ein Melodiker, ein Lyriker, was er nicht einmal dann verleugnen kann, wenn er etwa in seiner Zweiten Sinfonie ein explizit dramatisches, wuchtiges, expressives und konflikthaftes Werk anstrebt, denn auch hier ist der Übergang zum dritten Satz, wenn der Himmel sich lichtet und in ein freundliches, gelöstes Finale mündet, im Grunde genommen das Analogon eben jenes Moments der lyrischen Katharsis, den Bruch in seinen (famosen) Konzertstücken für Streichinstrument und Orchester perfektionierte. Insofern kann man diese Musik zwar sicher etwas kühler, mit einem stärkeren Fokus auf ihren dramatischen Seiten interpretieren, aber das Muster bleibt eben doch die Wärme, der melodisch-kantable Fluss, wie ihn zum Beispiel ein Arthur Grumiaux ganz außergewöhnlich zu gestalten wusste. Es sei aber betont, dass es sich dabei um eine Kritik im Kontext von Spitzeneinspielungen handelt; insgesamt liegt hier fraglos eine hochrangige Neuaufnahme vor.

Mit der Romanze G-Dur op. 26 (1881) von Johan Svendsen (1840–1911) folgt einmal mehr das deutlich populärste Werk seines Schöpfers; dass es sich dabei eigentlich um eine Gelegenheitsarbeit handelt, wird im Beiheft durch eine hübsche Anekdote illustriert. Überhaupt: natürlich ist Svendsen als Komponist bei weitem nicht so bekannt wie sein fast exakter Zeitgenosse und Freund Edvard Grieg. Ein Blick auf seinen Werkkatalog verrät aber auch, dass diese Romanze bereits eines seiner letzten Werke ist, denn die Majorität seines Schaffens entstand in einem Zeitraum von kaum mehr als 15 Jahren von Mitte der 1860er (damals noch als Student u. a. von Reinecke in Leipzig) bis zu den frühen 1880er Jahren. Sein Einfluss auf seine Zeitgenossen als Dirigent (ab 1883 in Kopenhagen) und Persönlichkeit des Musiklebens war indes sein Leben lang immens.

Svendsen Romanze ist in ihren Außenteilen ein echtes Idyll und legt insbesondere ein beredtes Zeugnis von der Orchestrierungskunst ihres Schöpfers ab. Man beachte etwa die Wiederkehr des Anfangs (das Stück ist – natürlich – in ternärer Form gehalten): hier wird der Solist, der das Hauptthema in variierter, mit allerhand Ornamenten versehener Form vorträgt, von einem Teppich aus Tremoli sul ponticello und Pizzicati begleitet, ergänzt um einige helle Flötentupfer, was alles zusammen ein ausnehmend apartes Klangbild ergibt. Im bedeckteren Mittelteil in g-moll beschleunigt sich das Tempo, eine Art Volkstanz; das Ende der Romanze ist Verklärung. Hemsings Ton ist insgesamt hell und lyrisch-expressiv; speziell in den Außenteilen gibt sie der Musik wiederum viel Zeit zur Entfaltung, zur runden gesanglichen Linie, und scheut auch die große Geste nicht, die in dieser Musik durchaus inbegriffen ist. Bemerkenswert dabei zudem, wie sie im Mittelteil sehr bewusst ihren Ton variiert und der Musik gekonnt eine wesentlich nervösere, flüchtigere Aura verleiht.

Der eindeutig am wenigsten bekannte Komponist auf diesem Album ist der in Drammen geborene Sigurd Lie (1871–1904), ein Schüler von Iver Holter und dann (wiederum!) von Reinecke in Leipzig. Der berühmte Mathematiker Sophus Lie war sein Onkel, wohingegen mir eine verwandtschaftliche Beziehung zum Komponisten Harald Lie (1902–1942, wie Sigurd Lie jung an Tuberkulose verstorben) nicht bekannt ist. Eingespielt ist hier Lies Konzertstück über die norwegische Volksweise „Huldra aa’n Elland“ (1894/95). Das besagte Volkslied taucht bereits in den Døleviser von Edvard Storm (1749–1794) auf, eine Geschichte über den jungen Elland, der ermattet von der Sommerhitze Rast sucht und von einer Huldra, also einer kuhschwänzigen Waldnymphe, bezirzt wird (was selbstverständlich zum Scheitern verurteilt ist). Dabei besteht das Lied aus zwei Teilen, nämlich Ellands Klagelied und dem Lied bzw. Tanz der Huldra; den ersten Teil findet man auch in Griegs Norwegischen Melodien für Klavier EG 108 (dort Nr. 100), den zweiten in Svendsens (orchestraler) Norwegischer Rhapsodie Nr. 2.

Lie überführt dies in ein dreiteiliges Konzertstück in e-moll, dessen Eckteile auf Ellands Klage basieren, während der lebhafte Mittelteil in G-Dur auf dem Lied der Huldra beruht. Grundsätzlich ist Lies Tonsprache speziell harmonisch nicht wesentlich avancierter als Bruchs oder Svendsens Musik, eine Ausnahme bilden allerdings die übermäßigen Akkorde in der Coda, die dem Konzertstück für einen Moment einen geradezu leicht übernatürlichen Hauch verleihen. Im Vergleich zu Svendsens Romanze wirkt Lies (ebenfalls grundsätzlich langsames) Konzertstück atmosphärisch fast wie ihr Negativ: hier Idyll, dort Elegie, hier eine kurze Eintrübung in der Mitte, dort eine temporäre Aufhellung. Außerdem zeugt gerade dieses Werk von der intelligenten Zusammenstellung der CD, denn im Mittelteil scheint hier und da durchaus das Finale von Bruchs g-moll-Konzert als Vorbild durch, während an anderen Stellen die Violinstimme an eine Hardangerfiedel denken lässt. Das Konzertstück ist bereits vorher auf einem Album des norwegischen Labels 2L eingespielt worden, das zur Gänze Sigurd Lies Orchesterwerken gewidmet ist. Im Vergleich überzeugt die Neueinspielung durch Hemsings sattes, kraftvolles Spiel, ein exzellentes Orchester und eine etwas direktere Akustik; ich möchte aber auch die Alternativeinspielung explizit empfehlen, allein schon um Lies sehr hörenswerte Sinfonie a-moll kennenzulernen.

Am Ende des Programms steht mit dem großen Norweger Geirr Tveitt (1908–1981) ein Komponist, der um die Jahrtausendwende durch eine ganze Reihe von Veröffentlichungen der Labels Naxos, BIS und Simax einige Präsenz auf dem Tonträgermarkt erhalten hat; in den letzten Jahren ist dies leider etwas abgeebbt (sodass man auf CDs mit Werken wie seiner Sinfonie Nr. 1 Julabend oder auch seinem Violinkonzert offenbar bis auf weiteres noch vergeblich warten muss). Umso erfreulicher ist die vorliegende Neueinspielung seines Konzerts für Hardangerfiedel und Orchester Nr. 2 op. 252 „Drei Fjorde“ aus dem Jahre 1965. Auch Tveitt studierte (wie alle auf diesem Album versammelten Komponisten) in Leipzig (bei Grabner), dann in Wien bei Wellesz und anschließend in Paris bei Honegger und Villa-Lobos, eine sehr illustre Schar von Lehrern also. Grundsätzlich tief in der norwegischen Folklore verwurzelt, die er sammelte, arrangierte oder auch einfach mehr oder weniger selbst komponierte, ist es ganz besonders die französische Musik (des Impressionismus), die in den schillernden Farben und der faszinierenden Atmosphärik seiner Partituren ihren Niederschlag gefunden hat. Tragischerweise brannte im Jahre 1970 sein Hof nieder, sodass eine erhebliche Anzahl seines auch zahlenmäßig eindrucksvollen Œuvres unwiederbringlich verloren ging – ein Jammer, wenn man bedenkt, was dort alles in den Flammen aufgegangen sein muss.

Der erste Komponist, der die Hardangerfiedel mit einem Orchester kombinierte, war Johan Halvorsen in seiner Fossegrimen-Suite (1904); der erste Komponist, der ein Konzert für Hardangerfiedel und Orchester schrieb, war offenbar Tveitt (1955). Dass er zehn Jahre später ein zweites folgen ließ, ging auf einen Kompositionsauftrag zurück. Dabei ist sein zweites das etwas kompaktere der beiden Konzerte, eigentlich eine Folge von drei Tonbildern, die jeweils einem norwegischen Fjord gewidmet sind. So blüht im ersten Satz nach einem kurzen orchestralen Vorhang eine Landschaft mit dem Hardangerfjord regelrecht vor dem Hörer auf, gleich einem großen, weiten Panorama. Tveitts exquisiter Klangsinn ist in den fein ausgehörten, leise verklingenden Schlusstakten exemplarisch zu bestaunen: hier ist jeder Ton, jedes Detail der Orchestrierung ein kleines Ereignis. In den Eckteilen des dem Sognefjord gewidmeten langsamen zweiten Satzes steht die schlichte Weise der Hardangerfiedel sich bedrohlich auftürmenden Blechbläserfiguren wie schroff in die Höhe ragenden Berggipfeln gegenüber. Und schließlich steht am Ende mit dem Nordfjord ein Satz, den Tveitt selbst gegenüber Sigbjørn Bernhoft Osa, dem Solisten der Uraufführung, mit den Worten „Her kan du bare juble på“ in Worte fasste: nichts als jubilieren soll das Soloinstrument hier. Und abgesehen von einer kurzen Reminiszenz an den zweiten Satz ist tatsächlich das ganze Finale von urwüchsigem Optimismus bestimmt, eine Musik in nahezu ungetrübtem (stark modal, insbesondere lydisch bzw. mixolydisch gefärbtem) D-Dur, festlich-ausgelassen und voller Lebensfreude.

Ragnhild Hemsings Spiel auf der Hardangerfiedel ist ungemein klangvoll, sonor und reich an Resonanzen; die improvisatorischen Passagen spielt sie frei und mit großer Selbstverständlichkeit, als würde die Musik in diesem Moment gerade entstehen. Im Vergleich zur Alternativeinspielung mit Arve Moen Bergset (BIS) fallen eine Reihe von kleineren Freiheiten wie Ornamenten auf, die Hemsing offenbar selbst eingebaut hat (vgl. etwa die Solopassagen zu Beginn des zweiten Satzes), ein wenig wie ein eigener Zungenschlag. Eine rhythmisch pointierte, kraftvolle, in der Leistung des Orchesters in vielen Details prägnantere Einspielung als die BIS-Aufnahme (Hemsings Spiel ist ohnehin spektakulär gut und extrem idiomatisch), sodass man hier entschieden von einer neuen Referenz sprechen kann. Faszinierend, und allein deswegen schon den Kauf voll und ganz Wert.

Das Beiheft vom Grieg-Experten Erling Dahl jr. ist insgesamt solide, obwohl man an einigen Stellen noch stärker ins Detail gehen könnte (z. B. im Falle der Werke von Lie und Tveitt). Dass Bruchs Beziehung zur Volksmusik weniger „tief“ war als diejenige Tveitts, mag erst einmal trivial richtig sein; Bruchs Blick auf die Volksmusik anderer Länder ist eben der eines deutschen, akademisch geprägten Romantikers, was im Übrigen völlig ohne Wertung zu verstehen ist. Die von Ragnhild Hemsing aufgezeigte Linie zwischen Bruch und Tveitt würde ich vielleicht vorwiegend als eine Reihe von Parallelen, ähnlicher Schwerpunkte und Konstellationen begreifen, eine direkte, unmittelbar zwangsläufige Linie zwischen den beiden (im Übrigen auch von mir persönlich hochgeschätzten!) Komponisten sehe ich eher nicht. Die Tonqualität entspricht sehr guten zeitgenössischen Standards.

Alles in allem ein sehr empfehlenswertes Album.

[Holger Sambale, Mai 2023]

Sensationelle Kapustin-Einspielungen mit Drive und Herzblut

Capriccio C5495; EAN: 8 45221 05495 7

In seiner nunmehr dritten Einspielung mit Werken des ukrainisch-russischen Jazzkomponisten Nikolai Kapustin für Capriccio glänzt Frank Dupree zunächst mit dem 5. Klavierkonzert op. 72 – unterstützt vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Dominik Beykirch. Mit seinem Kollegen Adrian Brendle erklingen dann noch das Konzert für zwei Klaviere und Schlagwerk op. 104 sowie die Sinfonietta op. 49 in der vierhändigen Klavierfassung. Am Schlagzeug: Meinhard ‚Obi‘ Jenne und Franz Bach.

Der aus der ostukrainischen Provinz Donezk stammende Nikolai Kapustin (1937–2020) kam über Kirgisistan nach Moskau, wo er u. a. bei Alexander Goldenweiser studierte. Früh entdeckte er jedoch seine Liebe zum Jazz, spielte in mehreren entsprechenden Ensembles, später dann als Orchesterpianist unter Gennadi Roschdestwenski beim Großen Symphonieorchester des Moskauer Rundfunks. Die ca. 160 Werke Kapustins – mehrheitlich für Klavier, darunter allein 20 Sonaten – folgen alle dem Jazz-Idiom, wobei aber sämtliche Details auskomponiert sind und demzufolge auf Improvisation gänzlich verzichtet wird. Seine Fusion klassischer Formen mit Jazz- oder gar Rock-Elementen wirkt vielleicht auf den ersten Blick ein wenig rückwärtsgewandt, behält jedoch stets ihren eigenen, unverwechselbaren Stil. Wer den brillanten Pianisten selbst am Klavier erlebt hat, war fasziniert, wie der Mann mit Hornbrille und Erscheinung eines gewissenhaften Beamten souverän, aber ohne jede äußere Regung – absolute Ökonomie der Bewegungen war eines der Prinzipien Goldenweisers – seinen abstrus virtuosen „Jazz“ ablieferte, damit absolut überzeugte und ungläubiges Staunen hervorrief. Schade nur, dass diese Musik erst den Westen erreichte, als der Komponist schon über fünfzig war.

Die dritte Kapustin-CD mit Frank Dupree enthält zwar keine Ersteinspielung, ist jedoch dafür rundum großartig. Das 5. Klavierkonzert op. 72 von 1993 verwendet ein ganz klassisches Symphonieorchester und gehört sicherlich zu Kapustins ambitioniertesten Werken. Der gut zwanzigminütige Einsätzer mit vier klaren Abschnitten, die an ähnliche Konzepte des 19. Jahrhunderts anknüpfen, strotzt nur so von zündenden Ideen, wirkt ein wenig wie Gershwin mit Turbo und Booster, dennoch jede Sekunde authentisch. Gegenüber der bislang einzigen Konkurrenzaufnahme (Masahiro Kawakami unter dem Dirigenten Norichika Iimori), die das Orchester eher wie eine merkwürdig aufgeblasene Bigband behandelt, stellt Dominik Beykirch gerade die klangliche Opulenz der großen Besetzung als besondere Qualität heraus. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin hat offensichtlich Spaß an dieser Musik und begeistert mit dem nötigen Drive sowie einer Palette toller Klangfarben. Dupree folgt der zwingenden Dramaturgie des Konzerts mit Hingabe, bleibt auch bei den komplexesten und rasantesten Passagen absolut durchsichtig. Rhythmisch prägnant, trotzdem elastisch, wirkt der abenteuerlich schwere Solopart bei ihm eben doch über weite Strecken wie improvisierter Jazz – immer Kapustins Ziel. Die große Kadenz vor der Schlussapotheose gelingt hinreißend, zielführend und erscheint so keinesfalls als konventioneller, eigentlich überflüssiger Schnickschnack. Zudem überzeugt die exzellente Aufnahmetechnik – räumlich wie dynamisch. Was für ein grandioses Konzert!

Ein etwas intellektuelleres Bild ergibt sich beim Konzert für zwei Klaviere und Schlagwerk op. 104 (2002), das natürlich sofort an Bartóks Sonate für diese Besetzung erinnert. Hierbei erweist sich Adrian Brendle als idealer Partner. Solch perfektes Zusammenspiel bei derartiger rhythmischer Komplexität – man höre nur den irrwitzig raschen Presto-Mittelteil des langsamen Satzes, wo sich zusätzlich die beiden Schlagzeuger Meinhard ‚Obi‘ Jenne und Franz Bach teils mit melodischen Verdopplungen von Klavierstimmen synchronisieren müssen – ist schon sensationell: Klavierkammermusik in Vollendung. Hier bringt die Neuaufnahme – etwa gegenüber der Einspielung mit del Pino, Angelov und Neopercusión – nochmals eine deutliche Steigerung.

Dagegen ist die Sinfonietta op. 49 – eine Aufnahme der originalen Orchesterfassung steht leider noch aus – tatsächlich „easy listening“. Das viersätzige Werk (Ouvertüre, Slow Waltz, Intermezzo & Rondo) gibt sich heiter optimistisch, im als Walzer verkleideten Blues leicht sentimental. Dupree und Brendle spielen das entspannt – selbst die anspruchsvollen rhythmischen Verzahnungen im Intermezzo – und sind dynamisch noch eine Spur differenzierter als Yukari und Masahiro Kawakami. Das hat durchaus Anspruch, ist allerdings fast zu gefällig. Insgesamt bietet diese CD nicht nur wirklich unübertreffliche Kapustin-Darbietungen, die sehr schön unterschiedliche Ansätze des Komponisten aufzeigen – sie ist eindeutig eines der bisherigen Highlights des Jahres 2023 und verdient eine klare Empfehlung an wirklich jeden (!) Klassik-Hörer.

Vergleichsaufnahmen: [op. 72] Masahiro Kawakami, Japan Century Symphony Orchestra, Norichika Iimori (Triton OVCT-00163, 2018) – [op. 104] Daniel del Pino, Ludmil Angelov, Neopercusión (Non Profit Music 1011, 2009) – [op. 49] Yukari und Masahiro Kawakami (Nippon Acoustic Records NARD-5030, 2010)

[Martin Blaumeiser, April 2023]

Nostalgische Reflexionen über die Godowsky/Hofmann-Ära: Abram Chasins Soloklavierwerk

Toccata Classics TOCC 0678 (2CD); EAN: 5 060113 446787

Der US-amerikanische Pianist und Autor Abram Chasins (1903–1987) hinterließ als Komponist zwischen 1925 und 1951 neben zwei bislang ungedruckten Klavierkonzerten auch etliche Soloklavierwerke, die auf Toccata Classics nun erstmals als Gesamtaufnahme vorliegen. Neben 24 Preludes durch alle Tonarten spielt die russisch-stämmige Pianistin Margarita Glebov meist recht witzige Zyklen kürzerer, teils selbstironischer Stücke sowie eine hinreißende Fantasie über Themen aus Jaromír Weinbergers Oper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“.

Abram Chasins, in New York als Sohn russischer Immigranten geboren, studierte zunächst u. a. bei Richard Epstein und an der dortigen (späteren) Juilliard School bei Ernest Hutcheson und Rubin Goldmark (Komposition). Tante und „Onkel“ – Vera und Mark Fonaroff – waren gut mit vielen berühmten Musikerpersönlichkeiten (Kreisler, Casals, Godowsky usw.) vernetzt. Ab 1926 wurde Abram dann von Josef Hofmann – dem seinerzeit wohl erfolgreichsten Pianisten überhaupt – in Philadelphia unter seine Fittiche genommen, wo er bald selbst am Curtis Institute lehrte. Dort spielte er 1929 sein erstes Klavierkonzert unter Ossip Gabrilowitsch (vor dem 1. Weltkrieg Dirigent des Münchner Konzertvereins, der heutigen Münchner Philharmoniker, danach Gründungsdirigent des Detroit Symphony Orchestra), 1933 sein zweites unter Leopold Stokowski. Seine aktive Zeit als durchaus gefragter Konzertpianist währte relativ kurz, von 1927–1947, worauf er sich seiner Familie, dem Unterrichten und vor allem der musikalischen Erziehung mittels des Rundfunks widmete – beim CBS, NBC und dem New Yorker Sender WQXR, der ab 1944 der New York Times gehörte. Im wirklich lesenswerten Buch Speaking of Pianists… (1957, 3. Aufl. 1981) beschreibt Chasins auf sprachlich köstliche Weise u. a. das Freundschaftsverhältnis zwischen Leopold Godowsky und Josef Hofmann. Außerdem verfasste er Monographien über Van Cliburn und Stokowski.

Blieben die beiden Klavierkonzerte bis heute ungedruckt, spielt die aus St. Petersburg stammende, dann in den USA ausgebildete und nun dort lebende Pianistin Margarita Glebov auf der neu erschienenen, exakt 90 Minuten dauernden Doppel-CD alle veröffentlichten Soloklavierwerke Chasins, vieles davon als Ersteinspielung. Die 24 Preludes durch alle Dur- und Molltonarten erschienen 1928 – jeweils 6 unter den Opusnummern 10–13 – und tragen Widmungen auch an mehrere Pianisten. Obwohl technisch recht anspruchsvoll, kommt der Zyklus keinesfalls an Vorbilder wie Skrjabin, Cui, geschweige denn Chopin heran. Trotzdem finden sich darunter einige recht hübsche Miniaturen: z. B. der Gershwin gewidmete „Marsch“ (Nr. 5 D-Dur), Nr. 12 H-Dur mit seinen wilden Girlanden, Nr. 13 Ges-Dur an Godowsky oder Nr. 18 f-Moll an Myra Hess. Glebov macht immerhin das Beste aus diesen etwas nostalgischen Stücken: klanglich fein artikuliert und insbesondere agogisch äußerst schlüssig.

Viel interessanter sind die meisten der übrigen Werke. Neben den tatsächlich pädagogischen Zwecken für angehende Klavierspieler dienenden sieben Stücken aus Piano Playtime (1951) begegnet der Hörer sehr vergnüglichen, selbstironisch den Klavierzirkus als solchen karikierenden Opera: The Master Class zeichnet parodistisch die Ängste vierer Probanden solcher Veranstaltungen nach; die Keyboard Karikatures op. 6 porträtieren witzig Rachmaninoff, Godowsky und Bachaus (Wilhelm Backhaus schrieb sich in den USA stets ohne „k“!). Chasins Erfolgsstücke – sie erreichten sofort hohe Auflagen – waren jedoch die Three Chinese Pieces: A Shanghai Tragedy, Flirtation in a Chinese Garden (nur für weiße Tasten) und Rush Hour in Hongkong sind effektvolle, ein wenig dramatische, in jedem Fall salonfähige Klavierstücke – für uns heute herrlich genussvolle Fettnäpfchen kultureller Aneignung: „Ich habe sie mit der ganzen Autorität eines Menschen geschrieben, der nie in der Nähe des Orients gewesen ist.“

Musikalisch am anspruchsvollsten, auch nach Chasins eigener Meinung, ist die gut achtminütige Ballade Narrative: Remembrance of Things Past (1942) – Romantik im Stile Rachmaninoffs, aber mit dann doch erkennbar eigenständigen Mitteln. Ebenso dankbar: Fairy-Tale op. 16/1, die Etude Appassionato und die Bearbeitung von Glucks Reigen seliger Geister. Als echter Virtuosenkracher mit geradezu irrwitzigen pianistischen Anforderungen erweist sich hingegen Chasins Schwanda Fantasy über die Polka-Themen aus Jaromír Weinbergers Oper Schwanda, der Dudelsackpfeifer, die 1931 auch die New Yorker MET erobert hatte. Spätestens hier kann Margarita Glebov – die schon für ihre vorherigen CD-Aufnahmen viel Lob erhielt – so richtig zeigen, was sie wirklich draufhat: Mit Sinn für formalen Aufbau, die exquisiten harmonischen Feinheiten und den dabei gleichzeitig nötigen Schwung legt sie diesen Rausschmeißer absolut mitreißend hin. Diese Bearbeitung gehört in einem Atemzug mit den wirkungsvollsten Transkriptionen Godowskys oder den berüchtigten Carmen-Variationen von Vladimir Horowitz genannt. Diesbezüglich sei hier auf Chasins noch verrücktere Carmen Fantasy für zwei Klaviere hingewiesen, die er für seine Frau Constance Keene und sich komponiert hat (s. u.).

Die 2019–2022 entstandenen Einspielungen sind aufnahmetechnisch mehr als in Ordnung; nur ist der Flügel nicht bei allen Sitzungen gleich gut gestimmt, was leider auffällt. Der 11-seitige Booklettext von Donald Manildi bietet ausführliche Informationen sorgfältig dar, allerdings nur auf Englisch. Glebovs Spiel kann jedenfalls durchgehend überzeugen, und jeder Klavierbegeisterte, der sich für die composer pianists in der Nachfolge Godowskys interessiert, sollte sich diese bisher teils ungehobenen Schätze nicht entgehen lassen.

Ergänzende Empfehlung: Chasins: Carmen Fantasy & Fledermaus Fantasy, in: Masques – Theatrical Reminiscences – Piano Duo Chipak-Kushnir (Genuin GEN 14295, 2013)

[Martin Blaumeiser, März 2023]