Archiv der Kategorie: CD-Rezension

Etüden und Präludien von Chopin bis ins späte 20. Jahrhundert

hänssler CLASSIC, HC22083, EAN: 8 81488 22083 4

Die Pianistin Dora Deliyska präsentiert ein Programm von Etüden und Präludien von Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Anordnung der einzelnen Stücke, die eigenen Gesetzmäßigkeiten und dramaturgischen Ideen folgt.

Die Pianistin Dora Deliyska, gebürtige Bulgarin, mittlerweile seit Jahren in Wien lebend, hat seit ihrem CD-Debüt 2008 eine respektable Diskographie eingespielt, und so ist ihr im vergangenen Jahr erschienenes neues Album Études & Preludes (nach Angaben ihrer Homepage) bereits das dreizehnte mit ihr am Klavier. Die Palette, die sie abdeckt, ist breit, und neben Liszt-, Schubert- oder Schumann-CDs hat sie speziell in den letzten Jahren offenbar ein besonderes Faible für sogenannte Konzeptalben entwickelt, CDs also, deren Programm einer bestimmten Idee (oder eben: Konzeption) folgt und dabei immer wieder bewusst Grenzen überschreitet, Werke und Komponisten miteinander kombiniert, die man vielleicht a priori nicht unbedingt nebeneinander erwarten würde.

Im Falle von Études & Preludes widmet sich Deliyska zwei der populärsten Genres der Klaviermusik seit dem frühen 19. Jahrhundert, und zwar nicht zufälligerweise im Rahmen eines Programms von 24 Stücken, das sich aus je zwölf Etüden und Präludien zusammensetzt; klassische Zahlen also. Mit Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin geht es dabei vom frühen 19. bis ins späte 20. Jahrhundert auf den Spuren von Marksteinen der beiden Gattungen.

Als besonders raffiniert erweist sich das Konzept im Falle der zwölf Etüden, mit denen die CD beginnt. Deliyska hat hier Stücke aus Chopins 12 Etüden op. 25, Debussys Douze Études sowie György Ligetis 18 Etüden (1985–2001) ausgewählt, wobei sie von Debussy die Idee übernommen hat, die Etüden nach Intervallen anzuordnen. Und so startet das Programm mit der Prime (bzw. einer Etüde, in der die Prime eine prominente Rolle spielt), dann der kleinen Sekunde und so weiter, bis die Oktave erreicht ist; es folgen noch zwei Etüden zu Arpeggien und eine zu Akkorden, und damit ist das Bild vollständig, ohne dass dabei jemals zwei Stücke desselben Komponisten aufeinander folgen würden.

Es ist erstaunlich, wie gut diese Werke nebeneinander funktionieren, exemplarisch zu beobachten am Beginn der CD. Alles beginnt mit den rasenden Tonrepetitionen von Ligetis Etüde Nr. 10 Der Zauberlehrling, gefolgt von Debussys Etüde Nr. 7 Pour les Degrés chromatiques, die Deliyska fast ohne Pause folgen lässt. Gerade in den lapidaren Anfangstakten von Debussys Etüde wirkt der Übergang in der Tat verblüffend natürlich. Eine gewisse Rolle spielt dabei sicherlich auch, dass Ligetis Etüden zwar für den Pianisten horrend schwer sind, auch für den mit Musik des späten 20. Jahrhunderts nicht sonderlich vertrauten Hörer jedoch zu den zugänglichsten seiner Werke zählen dürften – Der Zauberlehrling etwa ist im Grunde genommen fast eine Etüde in C-Dur. Aber selbst, wenn anschließend mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 11 ein Sprung in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgt und, jedenfalls was das Melos betrifft, aus Chromatik Diatonik wird, fühlt man sich doch beim (abermals) chromatischen Wirbelwind in der rechten Hand an das, was in den beiden zuvor gehörten Etüden geschehen ist, erinnert. Allein dies ist bereits ein eindrucksvoller, sehr gelungener Brückenschlag.

Gleichzeitig schaffen diese ersten Stücke eine Atmosphäre permanenter Unruhe, Betriebsamkeit, stetigen Flirrens, auch Dramatik (gerade in Chopins Etüde), die auch in Ligetis Etüde Nr. 4 Fanfares mit ihren unregelmäßigen Rhythmen weitergeführt wird und insofern den Hörer in einen regelrechten pianistischen Strudel reißt, der erst in Track 5 mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 7 gebremst wird, dafür nun umso deutlicher. Ein Ruhepol, der einen Track später in Ligetis Etüde Nr. 2 Cordes à vide, die sanft den Klang leerer Streichersaiten heraufbeschwört, noch einmal bekräftigt wird. Neben dem Fokus auf Intervallen ergibt Deliyskas Auswahl also auch eine veritable Dramatik und Struktur mit Steigerungen, Höhepunkten und Momenten des Durchatmens.

Natürlich folgen nicht alle Etüden dem Intervallschema so deutlich wie etwa Ligeti in den Cordes à vide mit ihren Quinten oder (an neunter Stelle) die mal brausenden, mal innig singenden Oktaven in Chopins Etüde op. 25 Nr. 10, erst recht, zumal Debussys Etüden, die sich ja explizit auf Intervalle beziehen, hier (bis auf Track 2) ausgespart und erst gegen Ende der Abteilung Etüden das Bild mit Arpeggien bzw. Akkorden (Debussys Etüden Nr. 11 und 12) komplettieren. Dabei ergeben sich aber auch interessante Zwischenstellungen. So fallen in Ligetis Fanfares natürlich die Terzen in der rechten Hand auf, aber in der fortwährenden Achtelbewegung in der linken ist es die große Sekunde, die dominiert – eine Etüde „zwischen“ den Intervallen also. Ganz ähnlich verhält es sich mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 7: natürlich hört man hier zunächst Quarten in den Achteln in der linken Hand, aber das Melos wird doch auch stark von der Terz beherrscht.

Generell entsteht jedenfalls speziell in den ersten Etüden in der Tat ganz entschieden jener Eindruck des allmählichen Sich-Weitens der Intervalle, auf den Deliyska mit ihrem Programm offensichtlich abzielt. Dass am Ende Debussys Etüde Nr. 12 für einen robusten Abschluss mit Finalwirkung sorgt, versteht sich von selbst, zumal sie ja im ursprünglichen Zyklus dieselbe Stellung innehat.

Anders verhält es sich mit den Präludien: wieder drei Komponisten, und wieder werden Chopin (mit erneut fünf Stücken aus seinen 24 Préludes op. 28) und Debussy (diesmal mit vier statt drei Stücken aus seinen zwei Büchern von insgesamt ebenfalls 24 Préludes) um einen Komponisten der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ergänzt, nämlich durch Nikolai Kapustin (1937–2020) und drei seiner 24 Präludien im Jazzstil op. 53 (1988). Anders als bei den Etüden gruppiert Deliyska die Präludien aber (konventioneller) nach Komponisten.

So steht am Anfang ein Chopin-Block, der gleich mit dem enorm populären Des-Dur-Präludium (Nr. 15) beginnt, auf das Deliyska das e-moll-Präludium (Nr. 4) folgen lässt und so Parallelen zwischen den beiden Stücken aufzeigen will (die auf einer grundsätzlichen Ebene zweifelsohne vorhanden sind). Ansonsten scheint ihre Anordnung der Präludien vorwiegend von dramaturgischen Überlegungen motiviert, ein wenig auch Tonartenbeziehungen (auf fis-moll folgt, beruhigend, Fis-Dur); auf jeden Fall läuft der kleine Chopin-Zyklus auf einen stürmischen Presto-Abschluss (Nr. 16) hinaus, der in der Tat dann auch eine etwas längere Pause, einen Moment des Sich-Sammelns zur Folge hat.

Ähnlich ist der Debussy-Block aufgebaut: wieder ein ebenso verhaltener wie hochexpressiver Beginn (Des Pas sur la neige), der schließlich in Debussys Beschwörung des Westwindes gipfelt (Buch I, Nr. 7). Kapustins Präludien bilden schließlich ein kleines Triptychon in der „klassischen“ Reihenfolge schnell-langsam-schnell und verwandten Tonarten (gis-moll, H-Dur, h-moll), das hier ein wenig als Zugabe fungiert, als locker gefügter, spielerischer Abschluss eines Programms, das die vollen 80 Minuten der CD ausschöpft.

Deliyskas Argument (im Beiheft), durch die Anordnung gemäß Komponisten seien „die deutlichen Stilunterschiede noch genauer [zu] erkennen“, überzeugt sicher nicht völlig, denn ein Faszinosum am ersten Teil ist ja gerade das ganz leichte Verschwimmen dieser Unterschiede (wohlgemerkt: in kleinen Momenten und Augenblicken, in denen man kurz aufhorcht). Andererseits gibt es sicherlich eine Reihe anderer Gründe dafür, hier eben genau so vorzugehen; das Genre selbst, in dem es ja weniger um technische oder Materialfragen geht als um kurze Impressionen, mag eine Rolle spielen, aber vielleicht auch die Auswahl der Komponisten, denn insgesamt scheint mir Ligeti in seinen Etüden mit ihrem ausgeprägten, raffinierten Klangsinn doch näher an Chopin und Debussy zu liegen als Kapustins schon im Titel aufgezeigter (klassisch fundierter) „Jazzstil“.

Bei alledem überzeugt Deliyska als kompetente, pianistisch sehr gutklassige Anwältin ihrer Programmidee. Ihre Tempi sind insgesamt eher gemäßigt (etwa im Vergleich zu Ligetis Angaben zur Dauer seiner Etüden oder zu Kapustins eigener Interpretation seiner Jazzpräludien), obwohl nicht dezidiert langsam. Gerade bei den Präludien von Chopin fällt ein ausgeprägtes Interesse an Mittel- und Nebenstimmen auf (von ihr selbst im Beiheft im Falle des Préludes Nr. 4 gesondert erwähnt, aber auch an zahlreichen anderen Stellen zu beobachten wie etwa im più lento von Nr. 13).

Gewiss: es handelt sich hier in der Mehrzahl um Repertoire, das diskographisch in einer solchen Breite und Qualität erschlossen ist, dass man fast beliebig stark ins Detail gehen und differenzieren könnte. Im Falle von Ligetis Etüden etwa ist Aimards Lesart der Cordes à vide noch eine Nummer filigraner, ganz exquisit an der Grenze zwischen Stille und zartem Nachhall angesiedelt, während mir in der Teufelstreppe (Nr. 13) der Höhepunkt in Takt 43 (im achtfachen Forte) bei Deliyska deutlich zu wenig Wucht besitzt. Andererseits liegt der Reiz dieser CD ja gerade nicht darin, diese Zyklen (erst recht die ganz bekannten von Chopin und Debussy) wie gewohnt zu hören, sondern sie neu zu kontextualisieren und womöglich in einem etwas anderen Licht zu betrachten. Ebendies erfüllt Deliyskas Album in hervorragender Weise.

[Holger Sambale, Mai 2024]

Henzes „Floß der Medusa“ mit Cornelius Meister geht unter die Haut

Capriccio C5482; EAN: 8 4522105482 7

Capriccio hat eine weitere Aufführung von Hans Werner Henzes (1926-2012) Oratorium „Das Floß der Medusa“ veröffentlicht – diesmal live. Unter der Leitung von Cornelius Meister spielen und singen das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, der Arnold Schoenberg Chor sowie die Wiener Sängerknaben. Die Solisten sind: Sarah Wegener (La Mort), Dietrich Henschel (Jean-Charles) und Sven-Erich Bechtolf (Sprecher/Charon).

Nachdem es um Henzes Oratorium Das Floß der Medusa, dessen geplante Uraufführung Ende 1968 durch einen Polizeieinsatz vereitelt wurde und so den vielleicht größten Konzertskandal der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte verursachte, lange still war, sorgte wohl die Flüchtlingskrise im Mittelmeer in den letzten Jahren für eine gewisse Renaissance dieses echten Meisterwerks – bis hin zu szenischen Realisationen (Amsterdam, Berlin). Ende 2019 hatte SWR Classic eine Aufnahme aus der Elbphilharmonie (vom 15.–17. 11. 2017) mit dem kürzlich verstorbenen Dirigenten Peter Eötvös herausgebracht – siehe unsere Kritik mit ein paar näheren Infos zum Werk. Nun gibt es eine weitere – nur zwei Wochen ältere (!) – Einspielung, diesmal live aus dem Wiener Konzerthaus. Capriccio hätte mit dieser Veröffentlichung allerdings nicht sechs Jahre warten müssen: Die Aufführung mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Leitung von Cornelius Meister liegt auf demselben Niveau wie die des SWR Symphonieorchesters. Das fordert geradezu zum direkten Vergleich heraus. Die Erstaufnahme auf Deutsche Grammophon – der Mitschnitt der Generalprobe von 1968, dirigiert vom Komponisten – fällt nach Meinung des Rezensenten eigentlich in allen Belangen schwächer aus, bleibt als historisch ganz ungewöhnliches Dokument aber weiterhin interessant.

Die Akustik der Elbphilharmonie – sicher nicht jedermanns Sache – kommt Eötvös‘ Streben vor allem nach Durchsichtigkeit dieses riesig besetzten Oratoriums gut entgegen, was aufnahmetechnisch entsprechend eingefangen wurde. Das Wiener Konzerthaus hat bei etwas mehr Hall – wohl nicht zuletzt deswegen braucht Cornelius Meister auch ca. 4½ Minuten länger – gleichzeitig mehr Wärme. Dies kommt gerade den Chören der Lebenden zugute – die anfangs nur von Bläsern begleitet werden. Später wechseln sie ja – bis auf die dann solistisch agierenden 14 Überlebenden – ins von den Streichern dominierte Reich der Toten. Eine erstaunliche Transparenz wird jedoch gleichfalls in Wien erreicht. Die Dynamik über alles scheint dabei hier größer.

Meister zielt ganz bewusst auf Drama – das gelingt über weite Strecken. Die Bemerkung Christoph Bechers im ansonsten ordentlichen Booklet zum unmittelbaren Schluss des Werks, dass Meister sich hier dafür entschied, die ursprüngliche Version sogar zu verstärken, ist allerdings schlicht falsch: Tatsächlich lässt der Dirigent – ebenso wie Eötvös – nach Charons abschließenden Worten „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück[…], fiebernd, sie umzustürzen“ im Orchester Henzes Revision von 1990 spielen, wo der Schlagzeug-Rhythmus des „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“-Protestrufs melodisch eindringlich umwölkt wird, letzteren zusätzlich noch vom Chor verbatim skandieren. Das steht so in keiner Partitur, sondern reflektiert anscheinend nur die Situation, dass Henze sich seinerzeit als Reaktion auf die gar nicht erst begonnene Uraufführung zusammen mit einigen Studenten auf dem Podium eben dazu hinreißen ließ. Musikalisch widersprüchlich: Die ursprüngliche Fassung enthält zwar nur besagten, reinen Schlagzeug-Rhythmus, wirkt jedoch insbesondere durch die – auch nicht notierte – Beschleunigung in Henzes eigener Einspielung brandgefährlich, wohingegen die revidierte Fassung fast als visionäre Apotheose aufgefasst werden könnte. Beides zugleich ist eher Murks.

Waren schon die Leistungen der Chöre in der SWR-Aufnahme grandios, legen in der Wiener Aufführung der Arnold Schoenberg Chor – unter der erprobten Einstudierung Erwin Ortners – und die Wiener Sängerknaben noch eins drauf. Präzision und Ausdrucksstärke gehen hier derart Hand in Hand, dass man nur andächtig staunen kann. Die Qualitäten der Orchester lassen sich hingegen nicht gegeneinander ausspielen, beide Male absolut überzeugend. Meister wagt es allerdings, viele Details ganz unverfroren naturalistisch zu verstehen: Oft hört man bei seiner Darbietung etwa wirklich Klänge, die unmittelbar das Meer assoziieren usw. Also auch hier noch Hans Werner Henze auf den Spuren Richard Strauss‘? Diesen Vergleich hat der Komponist bekanntlich verabscheut…

Ungeachtet, wie die Rolle des Sprechers/Charons (Sven-Eric Bechtolf) live eingepegelt gewesen sein mag: In der Aufnahme gerät sie mir jedenfalls künstlich viel zu sehr in den Vordergrund. Bechtolf ist abgesehen davon o. k., kommt aber nicht wirklich an Peter Stein heran. Sarah Wegener als La Mort singt stimmlich ausgezeichnet, erscheint allerdings emotional blasser als Camilla Nylund. Dafür begeistert Dietrich Henschel in allen Belangen: Wärme, ergreifende Textausdeutung und intonatorische Treffsicherheit machen ihn zum bisher besten Jean-Charles auf Tonträgern. Dagegen wirkt Peter Schöne über Strecken fast zu artifiziell.

Muss man also eine der 2017er Aufnahmen klar vorziehen? Nein – aber Konkurrenz belebt nun hoffentlich auch für Henzes aufrüttelndes Oratorium das Geschäft. Mehr Dramatik, leichter Vorsprung für die Wiener Chöre und ein herausragender Dietrich Henschel bei Meister; mehr Analytik, stellenweise knackigere Tempi und ein beeindruckender Peter Stein bei Eötvös. Unter die Haut geht das in beiden Fällen und macht Cornelius Meisters Einspielung zumindest zu einer hochwertigen Alternative und unbedingt empfehlenswert.

Vergleichsaufnahmen: Camilla Nylund, Peter Schöne, Peter Stein, SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor, Freiburger Domsingknaben, SWR Symphonieorchester, Peter Eötvös (SWR Classic SWR19082CD, 2017); Edda Moser, Dietrich Fischer-Dieskau, Charles Regnier, RIAS-Kammerchor, Chor & Orchester des NDR, Hans Werner Henze (Deutsche Grammophon 449 871-2, 1968)

[Martin Blaumeiser, 7. April 2024]

Faust singt Mezzosopran -Louise Bertins Oper „Fausto“ ist eine Entdeckung

Bru Zane, BZ 1054; EAN: 8 055776 01014 4

Im letzten Jahr brachte das Forschungsteam Palazzetto Bru Zane die Anthologie „Compositrices“ heraus – Werke von 21 französischen Komponistinnen umfasst die editorische Großtat, sie ist nichts weniger als ein Streifzug durch die feminine Musikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Glücklicherweise verfolgen die Spürnasen um Alexandre Dratwicki dieses Projekt weiter und sind dabei auf Louise Bertin gestoßen. Deren Biographie, wenn auch teilweise nur auf Spekulationen beruhend, ist in mancher Hinsicht ungewöhnlich. Bertin, 1805 geboren, wuchs in einer bürgerlichen Familie auf. Die Eltern – der Vater, Inhaber der angesehenen Zeitung „Journal des débats“, die Mutter, eine begabte Pianistin – förderten die künstlerischen Ambitionen der malenden, dichtenden und musizierenden Tochter. Die Autodidaktin, die wegen einer Kinderlähmung auf Krücken angewiesen war, entschied sich fürs Komponieren und nahm Unterricht bei den Lehrkoryphäen François-Joseph Fétis und Anton Reicha. Bei letzterem lernte sie Berlioz kennen, mit dem sie sich anfreundete und der ihr als Zeichen der Wertschätzung den Gesangszyklus Les nuits d’été widmete.

In einer Zeit, als Frauen in der Regel Werke für den Hausgebrauch oder kleine Besetzungen kreierten, wagte sich Bertin an größere Formate und komponierte immerhin vier Opern. Die letzte jedoch – La Esmeralda nach Victor Hugo – führte 1837 zum frühen Ende ihrer Karriere, bedingt durch Vorwürfe, Berlioz habe ihr bei der Partitur geholfen und die Aufführung sei nur durch familiäre Beziehungen zu Stande gekommen. Infolgedessen mied sie bis zu ihrem Tod 1877 die Öffentlichkeit, publizierte allerdings noch Gedichte.

Gute Kritiken bekam Louise Bertin hingegen für ihren 1831 im Pariser Théâtre-Italien in Starbesetzung uraufgeführten Fausto. Trotzdem wurde er nach drei Vorstellungen abgesetzt und verstummte: bis ihn der Palazzetto Bru Zane 2023 gleich im Dreierpaket wiedererweckte, bei einem Konzert in Paris mit paralleler CD-Einspielung der Urfassung und anschließend szenisch im Aalto-Theater in Essen.

Fausto ist die erste Opernadaption des Goethe-Schauspiels und dass sie von einer Frau komponiert wurde, die auch das französische, für die Gepflogenheiten des Théâtre-Italien ins Italienische übersetzte Libretto verfasste, macht sie zu einer musikgeschichtlichen Besonderheit. Orchestrale Dramatik, romantisches Gefühl und Buffo-Elemente – deswegen die Gattungsbezeichnung „Semiseria“ – sind kennzeichnend für Bertins Vertonung. Einflüsse bedeutender Vorbilder, etwa von Mozart, Weber und Rossini, verbinden sich mit stilistischer Individualität, wie die Wahl eines Mezzosoprans für die Titelpartie (die Premiere sang allerdings ein Tenor), dem weitgehenden Verzicht auf zeittypische Bravour und dem eigenwilligen Finale: keine pompöse Apotheose, sondern nur ein Tam-Tam-Schlag, dann Stille. Der Dirigent Christophe Rousset, der die Rezitative selbst am Klavier begleitet, überträgt seine Begeisterung und Versiertheit in historischer Aufführungspraxis auf die Originalklangformation Les Talens Lyrique und ein erlesenes Ensemble. Karine Deshayes und Karina Gauvin singen Faust und Margarita mit viel Empfindung und Belcantokultur. In den terzenseligen Duetten harmonieren ihre Stimmen aufs Schönste, nur unterscheiden sie sich vom Timbre her kaum. Den Mephisto gibt Ante Jerkunica mit tiefschwarzem, wendigem Bass. Zu einem Kabinettstück gerät seine Szene über die Vielfalt weiblicher Schönheiten, die an Leporellos Registerarie in Don Giovanni erinnert. Einen spektakulären Auftritt legt Nico Darmanin als Valentin hin. In der einzigen explizit virtuosen Rolle brennt der Tenor ein Koloraturenfeuerwerk ab und brilliert mit schneidigen Spitzentönen. Eine dicke Empfehlung also für diesen auch in den Nebenrollen treffend besetzten Fausto, der – wie beim Palazzetto üblich – in einem informativen und schön illustrierten CD-Buch präsentiert wird.

[Karin Coper, April 2024]

Oh Augenblick!

Aldilà Records, ARCD 017; EAN: 9 003643 980174

Mit der Symphonia Momentum hat der Dirigent Christoph Schlüren die CD Quintessence vorgelegt, auf der fünfstimmig angelegte Werke versammelt sind, so die Streichersymphonie Nr. 13 von Felix Mendelssohn Bartholdy, die für Streichorchester eingerichteten Bitten aus Über die Schwelle von Reinhard Schwarz-Schilling, bearbeitet von Lucian Beschiu, sowie das Hauptwerk dieser CD, das Streichquintett von Anton Bruckner, für Streichorchester eingerichtet von Christoph Schlüren.

Der ausgiebige, der CD beigegebenen und vom Dirigenten verfassten Text informiert über alle Aspekte der Werke in einer Tiefe, die weit über das gängige hinausgeht; dies verdient besondere Erwähnung, weil wir zunächst lesen, und später hören, wie umfassend die Einsicht von Christoph Schlüren in die Werke, die Gattung des Streichquintetts sowie die Problematik der Bearbeitungen von Kammermusikwerken für Streichorchester ist.

Der größte Eingriff findet da meist durch die Hinzufügung einer Oktave unterhalb des Cellos durch den Kontrabass statt. Die dadurch entstehende Bassoktave erzeugt durch die veränderte Obertonreihe einen neuen Klangreichtum für die oberen Stimmen, der sorgfältig behandelt werden will. Dies ist auf dieser Aufnahme durchweg gut gelungen, auch wenn die untere Oktave manchmal nicht als Klangeinheit, sondern als zwei parallele Klänge erscheint, was dem Gesamtklang hier und da etwas Wärme, also möglichen Reichtum, nimmt. Ansonsten wurden die Stimmen in ihren üblichen Proportionen zueinander hervorragend besetzt. Letztlich ist dieses Detail jedoch nicht entscheidend für die Beurteilung dieser Aufnahme, da der Klang, wie er eigentlich war, im Nachhinein ohnehin nur unzureichend beurteilt werden kann – eine Aufnahme ist und bleibt eben eine Art Photographie eines musikalischen Ereignisses, das einmal stattgefunden hat.

Wenden wir uns also den wirklich wesentlichen Dingen zu, für die im Booklet mit einem Zitat von Werner Oehlmann zum Werk „Bitten“ anlässlich dessen Uraufführung im Jahr 1975 folgende Worte zu lesen sind:

Unsere Musik ist säkularisiert, sie beschäftigt sich mit den Realitäten der Erde, den Leiden der Menschheit, den Fragen der Gesellschaft, mit der Not, Angst und Hässlichkeit des Lebens, dem der Tod ein Ende setzt. Hier klingt ein anderer Ton… Diese Musik leistet, was die eigenste … Aufgabe der Musik ist: sie verbürgt die Wirklichkeit der Transzendenz.

Wenn man die vorliegende Aufnahme im Ganzen mit wenigen Worten charakterisieren möchte, so durch diese. Denn zum Gelingen der Wiedergabe von Musik gehört nach der spezifischen Qualität einer Komposition die entsprechende Ausführung, nenne man sie adaequat, kongenial oder finde man noch eine andere Bezeichnung, es tut nichts zur Sache: diese Aufnahme leistet die Verwirklichung der zu Gehör gebrachten Partituren.

Sie tut dies, gleichwohl, hier und da auf eigenwillige Weise. Der klar strukturierte Kontrapunkt bei Mendelssohn lässt wohl etwas Wärme vermissen, jedoch in keinem Augenblick die Klarheit der Stimmführung, und die Artikulation der Einleitung bedient sich in der Tongebung etwas zu sehr an der Manier der Alte-Musik-Praxis. Die Akustik des Raumes tut ihr Übriges, es durchweht die gesamte Aufnahme eine Kühle, die diese Ästhetik stärker hervortreten lässt als notwendig, da sie die bestechende Eigentlichkeit der Darbietung stellenweise in den Hintergrund treten lässt, obwohl diese eine geistige Präsenz besitzt, wie man sie sich nur wünschen kann.

Das berückend schöne und innerliche Werk Bitten aus Über die Schwelle ist eigentlich ein Chorsatz, eine Motette, deren Tonsatz hier ohne den Text wirken muss, was auch vortrefflich gelingt – oder besser gesagt: zutiefst gelingt angesichts der inneren Ruhe und Tiefe dieses einzigartig-eigentümlichen Werkes und seiner Ausführung. Schwarz-Schilling ist aus dem Kaminski-Kreis der durch innere Schönheit seines Werkes hervorstechende Komponist und ein weiteres der unzähligen beklagenswerten Beispiele für eine musikalische Epoche, die durch die kulturelle Weltkatastrophe der Nazi-Zeit und des 2. Weltkrieges nicht zu ihrer vollen Blüte und Entfaltung kommen konnte.

(Dem Dirigenten Christoph Schlüren ist hier, das sei nebenbei angemerkt, vieles an Wiederentdeckung und Erhellung zu verdanken, er gräbt tief und schaufelt mit viel Elan die jungen Vergessensschichten über Kompositionen hinweg, über die die eiligen Zeiten hinweggestürmt sind; wie dies im Übrigen auch Intendanzen und Dirigenten der institutionalisierten Orchester machen sollten. Es ist zweifellos ein ungeheures Manko im Konzertbetrieb, denn das Publikum unbekannte Werke auf diesem Niveau entdecken zu lassen wäre eine ernstzunehmende Alternative zur fortschreitenden Popularisierung des ewigen Kanons der Symphonik und seiner Protagonistinnen und Protagonisten).

Das Herz dieser Aufnahme ist nun das monumentale Streichquintett von Anton Bruckner. Vorweggenommen, gelingt diese Darstellung des Werkes im Ganzen auf schönste Weise, so dass sich die symphonische Dimension des Werkes entfaltet. Christoph Schlüren wählt im sehr gelungenen ersten Satz ein ruhiges Tempo wie vorgegeben, klanglich transparent und im Ausdruck innig, der Augenblick so schön wie der musikalische ruhig dahinfließende Fluss, und auch wenn er ein eingezeichnetes „Langsam“ einmal übergeht, und auch einmal eine Pausenfermate etwas zu lange hält, ein späteres „Langsamer“ nicht ganz organisch entstehen lässt, ist die Entwicklung des inneren Dramas der Musik konsistent und lässt die Form des Satzes entstehen, getragen von der Schönheit des Augenblicks und von einer nahezu perfekt intonierenden Symphonia Momentum.

Was im ersten Satz noch gut funktioniert, erweist sich im zweiten Satz, dem Scherzo, als nicht so förderlich. Von Bruckner mit „Schnell“ überschrieben, wählt Schlüren ein sehr gemächliches Ländler-Tempo, das an sich seinen Charme hat und hier und da ein wenig Dvorak’sche Farben aufscheinen lässt, die man dort eigentlich nicht vermutet hätte. Der Kontrast zum zweiten Gedanken des Satzes, „quasi Andante“ überschrieben, fällt dadurch weniger stark aus, als dies möglich und wünschenswert wäre – auch in der 5. Symphonie von Bruckner gibt es einen solchen formbildenden Tempokontrast im Scherzo; erscheint er jedoch so zart aus wie bei dieser Aufnahme, bleibt die Musik abermals mehr dem schönen Augenblick verhaftet, anstatt eine symphonische Perspektive, die alle vorgeschriebenen Tempoveränderungen berücksichtigt, in diesem Satz zu fördern. Scherzi dieser Art sind jedoch, wie auch gewisse Menuette von Haydn, durchaus elastisch und verschiedenen Tempoauffassungen zugänglich, wie eine berühmte Anekdote aus dessen Leben belegt, als er eine Gruppe von Wirtshausmusikern in der Frage eines Menuett-Tempos mit den Worten beruhigte: „Wenn man danach tanzen kann, ist es auch gut“. Aber nochmals: die gewählte Tempodisposition steht zwar der Geschlossenheit der Gesamterscheinung des Satzes im Wege, nicht aber der augenblicksverhafteten Schönheit des Musizierens, und das ist auch etwas.

Ist das Streichquintett von Bruckner das Herz dieser Veröffentlichung, so ist das Adagio das Herz des Quintetts. Nicht umsonst ist dieser Satz, der die Kammermusik auf wirklich symphonische Dimensionen hebt, schon immer der gewesen, der aus dem Verbund der anderen Sätze gelöst wurde und als Streichorchesterstück für sich alleine stehen kann.

Was wir von langsamen Sätzen der Symphonien von Bruckner lieben, ist auch in diesem Satz vorhanden. Diese Liebe ist dem Dirigat von Christoph Schlüren anzumerken, sein Sinn für Breite im Tempo, der Wille zu zelebrierter Langsamkeit entfaltet sich hier auf das Schönste, die Geduld, die es braucht, die einzelnen Phrasen und musikalischen Gedanken sich entwickeln zu lassen, ist vorbildhaft, da hier das langsame Tempo sehr natürlich schreitet. Ein wenig ist aber auch hier der Wunsch Vater des Gedankens, als am Beginn der Wille zum langsamen Tempo per se obsiegt über das Wunder, das entstünde, wenn das Tempo am Beginn nur eine Spur fließender wäre. Man möge den Rezensenten des Beckmessertums zeihen, aber es muss darauf hingewiesen werden, dass es keinen musikalischen Grund außer dem der nur zu verständlichen Verliebtheit in die möglichst breite Langsamkeit an sich gibt, das erste Thema bei seinem ersten Erscheinen in einem sehr langsamen Tempo zu spielen und bei der Rückkehr des Themas (könträr zur Angabe „früheres Zeitmaß“) deutlich fließender. Hier gibt es eine fehlende Konsistenz, deren Richtigstellung vielleicht eine Überraschung verbergen würde, nämlich die Einheit der musikalischen Bewegung des ganzen Satzes wie er von Bruckner als Ganzes geschaffen wurde.

Schlüren schafft allerdings das Kunststück, mittels abermals großer Schönheit und Konzentation im musikalischen Moment, und wie in allen anderen Sätzen mittels Klarheit der Stimmführung, über diese kaum merklich fehlende Kohärenz hinwegzuhelfen, wofür ihm ein Kompliment nicht verwehrt werden kann.

Welche leisen Unstimmigkeiten die vorherigen Sätze denn auch gehabt haben mögen, sind von solchen fast keine mehr im Finale zu finden. Die Verhältnisse der Themen und Stimmen zueinander, in Ausdruck und Klarheit, im Atem der Bewegung, im im höchsten Grade einfachen und direkten Musizieren der Stimmen miteinander, erscheinen wie sie kaum logischer und klarer denkbar sind. Warum aber am Ende einer offen bleibenden Phrase aus drei Vierteln Pause eine Kunstpause, ja eine Fermate machen? Es unterbricht den Fluss, der im Finale doch noch selbstverständlicher strömt als in den vorherigen Sätzen, wo man als Hörer ansonsten beglückt daran teilhaben kann, dass Orchester, Dirigent und Komponist in Meisterschaft zu einer vollkommenen Einheit gefunden haben.

Es wäre interessant, wenn ein dirigentischer Kopf vom Niveau von Christoph Schlüren auf diese ganz kleinen persönlichen Freiheiten verzichtete – ob das Ergebnis dann nicht noch schöner und noch richtiger wäre? Denn schön und richtig ist es, was wir auf dieser Aufnahme hören dürfen. Denn hier klingt ein anderer Ton.

[Jacques W. Gebest, April 2024]

Anmerkung der Redaktion: Hier geht es zur Besprechung des Konzerts, das auf der CD festgehalten wurde.

Feine und weise Mathematik der Töne – Andrea Vivanet spielt Jan Pieterszoon Sweelinck

Piano Classics, PCL10280; EAN: 5 029365 102803

Der italienische Pianist Andrea Vivanet hat eine in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Aufnahme von Werken für Tasteninstrumente von Jan Pieterszoon Sweelinck vorgelegt.

Die Flut der neu eingespielten CD’s nimmt nicht ab. Wozu dienen sie? Kommerziell sind sie längst bedeutungslos, auch Einnahmen aus diversen Streaming-Plattformen, deren Namen hier zu nennen sich aus Gründen des Respekts vor der Würde des Künstlertums vieler ernsthafter Musikerinnen und Musiker verbietet, sind ebenfalls marginal. Es wird wohl Geld damit verdient, aber dieses landet nicht bei den Ausübenden, deren Kunst auf diese Weise irgendwie hörbar gemacht wird.

Junge, alte, bekannte, unbekannte Künstlerinnen und Künstler, stehen einfach unter dem Druck, gehört zu werden, soll ihre Existenz kein Selbstzweck sein, mehr als l’art pour l’art (als wenn genau das nicht schon etwas wäre). Der oft aus gutem Grunde klarsichtig-nörgelnde Dirigent Sergiu Celibidache hat sehr richtig den zunehmenden Tod der Musik aufgrund der Kommerzialisierung durch die damals noch so genannte Plattenindustrie kommen sehen.

Lassen wir die technischen Aspekte außer Acht – dass keine Aufnahme so klingt wie ein Konzert in einem wirklichen Konzertsaal, weiß nun schon jedermann, und dass die Gewohnheit, den Klang aus dem Smartphone als normal zu akzeptieren, auch normal geworden ist. Die kommerzielle Aufnahmeindustrie ist noch machtvoll tätig, Aufnahmen sind aber kein Selbstzweck mehr, sondern auf einem gewissen Niveau ein Paketbaustein, um eine Karriere zu fördern oder zu bestätigen, z.B. wird ein Symphonien-Zyklus aufgenommen, um damit das Interesse an einer Tournee mit diesem Programm zu fördern, und umgekehrt.

Aufnahmen sind also irgendwie virtuell in dem Sinne, dass sie keine Tatsächlichkeiten, keinen Sinn als Dokumente haben, sondern Teil eines kommerziellen Zwecks sind. Das geht in Ordnung, denn das Geschäft muss laufen, daran gibt es rein gar nichts auszusetzen. Die klassische Musik ist auf diesem Niveau schon zu einer Popkultur geworden, was ganz in Ordnung geht, wenn man diese Popkultur nicht mit der Musik selber verwechselt. Sie, die Popkultur, ist nicht die Spitze eines Eisbergs, dessen größere Hälfte im Meer verborgen schwebt, sie ist mehr eine wolkenhafte Erscheinung, die sich von einer nie enden wollenden Kreativität von Komponistinnen und Komponisten und Musikerinnen und Musikern und von ihrem nie versiegenden schöpferischen Reichtum längst abgekoppelt hat.

Die viel beschworene Krise dieser Musik scheint daher auch eher eine Krise der Musikindustrie zu sein, als eine Krise der klassischen Musik und der in ihr lebenden und ausgeübten Kreativität selber. Eine Diskussion hierüber spielt an diesem Platz jedoch keine Rolle.

Denn es hat, und darauf läuft dieser kleine Text hinaus, die Flut der eigenspielten CD’s, oder „Alben“, noch einen anderen, gar nicht kommerziellen Effekt: die meist dem sogenannten breiten Publikum unbekannten Künstlerinnen und Künstler finden Unentdecktes, denken musikalisch-kuratorisch und werden im besten Fall mit ihrer vorangegangenen geistigen Beschäftigung mit den eingespielten Werken doch wahrgenommen – und gehört.

Und dann erscheint, trotz der erwähnten Kassandrarufe, in Einzelfällen eine Überraschung in Form einer positiven, ja zutiefst gute Seite der Aufnahmeflut: Sorgfalt ist am Werk, Respekt vor dem Werk, vor der humanen Dimension der künstlerischen Arbeit, womit Musik wieder im besten Sinne zum Selbstzweck, nämlich eine l’art pour la humanité wird. Aufnahmen werden dann nicht eingespielt, produziert, sondern als Ergebnis einer wirklichen Beschäftigung mit der Materie, von der sie handeln, tatsächlich v o r g e l e g t.

Einen solchen glückliche Fall haben wir hier mit der vom italienischen Pianisten Andrea Vivanet erschienenen Aufnahme von Werken für Tasteninstrumente von Jan Pieterszoon Sweelinck, der von 1562 bis 1621 lebte und Zeit seines Lebens Organist in der Oude Kerk in Amsterdam war. Die hier zu hörenden Werke wurden von Sweelinck selber nie veröffentlicht und überlebten die Zeitläufte nur durch glückliche Umstände, wie dem aufschlussreichen Booklet von Florian Schuck zu entnehmen ist.

Wer den Komponisten nicht kennt, hat hier eine wunderbare Gelegenheit, ihn kennenzulernen und dabei auch, im Vorbeigehen sozusagen, eine sympathische Freundschaft mit dem Kontrapunkt einzugehen und diesen als Klarheit, die zu Schönheit führt, zu erleben. Toccaten und Variationen legen Zeugnis ab dafür, wie aus einer geheimnisvollen, feinen und weisen Mathematik der Töne Musik wird.

Andrea Vivanet lässt uns in seiner Aufnahme hören, wie zeitlos Musik ist, die dieser seltsamen Mathematik entspringt, die ja keine Mathematik ist, sondern einfach nur vor lauter Klarheit unmöglich zu fassen und mit keinem Wort zu definieren. Schon die ersten erklingenden Töne zeigen uns die musikalische und instrumentale Beherrschung, die aus dem wirklichen Verständnis des Pianistischen und eines kontrapunktischen Tonsatzes entspringt. Vivanet verwirklicht auf das Schönste die Klarheit, Einfachheit und die natürliche Selbstverständlichkeit dieser feinen Partituren.

Eine bestimmte Form des Purismus mag gerne stirnrunzelnd bemängeln, dass der bemerkenswerte Pianist keine historischen Tasteninstrumente gewählt hat, um uns diese Musik näherzubringen, doch verhallt diese Beschwerde in einer anderen, ebenfalls strengen Form des Purismus, nämlich jener, die stirnglättend Wert darauf legt, dass ein Tonsatz wie vom Komponisten erdacht, gehört und niedergeschrieben, wieder in allen Parametern in der Aufführung neu entsteht.

Der moderne Flügel, den Andrea Vivanet hier wählt, scheint dabei für die feinen Sweelinck’schen Wahrheiten denn auch unter seinen Fingern gerade das perfekte Instrument zu sein.

[Jacques W. Gebest, März 2024]

Boris Giltburgs formidabler Rachmaninow

Naxos, 8.574528, EAN: 7 47313 45287 3

Mit den Klavierkonzerten Nr. 1 und 4 und der Rhapsodie über ein Thema von Paganini vervollständigt der russischen Pianist Boris Giltburg seine Einspielungen der Werke für Klavier und Orchester von Sergej Rachmaninow. Begleitet wird er von den Brüsseler Philharmonikern unter der Leitung von Vassily Sinaisky.

Boris Giltburg kann mittlerweile getrost als eines der Aushängeschilder des Labels Naxos gelten, und neben – natürlich – Beethoven liegt ein besonderer Schwerpunkt seines Interesses auf der Musik Rachmaninows. Mit der vorliegenden Neuerscheinung (des vergangenen Jubiläumsjahres 2023) komplettiert er seine Einspielung von Rachmaninows Werken für Klavier und Orchester, wobei im Vergleich zu den bereits vor Jahren erschienenen mittleren Konzerten Orchester und Dirigent gewechselt haben und ihm nunmehr mit Vassily Sinaisky ein veritabler Altmeister der russischen Dirigentenschule zur Seite steht.

Im Fokus stehen diesmal also die im Vergleich zu den Konzerten Nr. 2 und 3 sicherlich ein gutes Stück unpopuläreren Klavierkonzerte Rachmaninows, was natürlich sehr stark in Relation zu betrachten ist – immerhin sind auch diese Werke um ein Vielfaches besser in Einspielungen dokumentiert als unzählige andere Konzerte weniger prominenter Komponisten. Die Gründe dafür liegen sicherlich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil in einem Rachmaninow-Bild, das wesentlich auf den romantischen Schmelz seiner mittleren Schaffensperiode ausgerichtet ist, von dem beide Werke unzweifelhaft weniger enthalten. Dass sie aber aus anderen Gründen ihre ganz eigenen Reize haben und in vielerlei Hinsicht nicht weniger lohnenswert sind, steht auf einem anderen Blatt.

So kann man natürlich im Klavierkonzert Nr. 1 fis-moll op. 1, entstanden 1890/91 und 1917 grundlegend revidiert, noch relativ direkt allerlei Einflüsse ausmachen wie Tschaikowski (gleich in der Eingangsfanfare oder im lyrischen Mittelsatz) oder die nationalrussische Schule, und damit, dass der Beginn etwas an Schumanns Klavierkonzert erinnert, ist Rachmaninow bekanntlich nicht allein (in der Tat orientiert sich die Urfassung deutlich an Griegs Konzert). Bei alledem handelt es sich aber – erst recht in der Revision – um ein durch und durch lohnenswertes, selbstständiges und inspiriertes Werk, dessen finaler Wirbel (in der revidierten Fassung) übrigens nicht als Apotheose einer „großen Melodie“ konzipiert ist, sondern stellenweise fast etwas Robust-Tänzerisches an sich hat.

Schumann ist bis zu einem gewissen Grade auch der Referenzpunkt für die Momente des Innehaltens, des zart-poetischen Zögerns, die für den ersten Satz des Konzerts (neben der gleich auf den ersten Blick auffallenden großen Geste) charakteristisch sind, und es sind gerade diese Stellen, an denen die Qualitäten von Giltburgs Spiel ganz besonders zur Geltung kommen. Giltburg ist ja jemand, dessen Spiel sich durch ausgesprochene Kultiviertheit, sehr sorgfältige Artikulation, feine Lyrik und beseelte Emotionalität auszeichnet, ein Meister des Rubatos und der wohldurchdachten, wunderbar austarierten Übergänge. Davon zeugt in exemplarischer Weise auch der erste Einsatz des Klaviers im zweiten Satz, dessen Atmosphärik des Suchens, des zarten Sich-Vortastens Giltburg perfekt zu realisieren versteht. Ähnliches gilt für das kapriziöse Hauptthema des Finales.

Selbst in den forciertesten Passagen, so etwa in der großen Kadenz im ersten Satz, lässt sich Giltburg Raum für Differenzierungen, setzt niemals nur auf Klangfülle. So lobenswert dies grundsätzlich ist: hier und da wäre es sicher möglich, die Grandezza, das Pathos, das diese Musik zweifelsohne besitzt, bedingungsloser auszuspielen. Insgesamt aber ist dies von Seiten Giltburgs eine ausgesprochen hochklassige Einspielung.

Das Album beschließt Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 4 g-moll op. 40, 1926 fertiggestellt, hier aber (wie zumeist) in der revidierten Fassung aus dem Jahre 1941 eingespielt. Die Rezeption dieses Werks ist von Anfang an kompliziert gewesen, inklusive verheerender Kritiken der amerikanischen Presse nach seiner Uraufführung. Was dieses Werk auszeichnet, ist seine herbe, distanzierte Lyrik, oft auch Nervosität, eine gewisse Lakonie, die stellenweise geradezu brüsk anmuten kann. Rachmaninow rezipiert hier diverse Einflüsse der Musik jüngerer Kollegen; darauf, dass manche Passagen auch durch Jazz inspiriert sind, wird gerne hingewiesen (und dieser Punkt manchmal vielleicht etwas überstrapaziert), aber manche Aspekte der im Vergleich zu früheren Werken deutlich aufgerauten Orchestrierung weisen auch zum Beispiel auf Prokofjew hin.

Nichtsdestoweniger findet man aber auch in diesem Werk die für Rachmaninow typischen Kantilenen, nur dass sie nun isolierter wirken, Episode bleiben, in Frage gestellt werden. So bleibt selbst die Apotheose gegen Ende des Finales nicht ohne Zwischentöne, und der Schluss ist sicher kein uneingeschränkter Triumph, sondern besitzt auch eine gewisse trockene, nüchterne, vielleicht ein Stück weit groteske Note. Wenn man so will, ist dies ein Rachmaninow in einer neuen, fremden Umgebung, und begreift man das Konzert auf diese Weise, erscheint es umso faszinierender und das Brodeln mal unter, mal über der Oberfläche, das gerade in den Ecksätzen stets präsent ist, umso aufregender – ein Werk, das seinen Geschwistern tatsächlich in keiner Weise nachsteht.

Giltburg legt erneut eine exzellente, fein differenzierte, eher zurückgenommene, zur Introspektion neigende Lesart dieser Musik vor, die nicht nur lokal stattfindet, sondern die großen Linien und die Dramaturgie des Werks nachvollzieht. Sein Spiel ist von einer großen Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit geprägt, nichts klingt gewollt oder inszeniert. Im dritten Satz wählt er ein eher verhaltenes, obwohl nicht explizit langsames Tempo, zu beobachten schon gleich zu Beginn, den er wiederum mit einem gewissen Zögern begreift; hier wäre stellenweise (speziell im Orchester) mehr Schärfe und mehr Dynamik möglich, obwohl die für diese Musik so charakteristische Ambivalenz sehr gut eingefangen wird.

Mit den Brüsseler Philharmonikern und Sinaisky hat Giltburg sehr kompetente Mitstreiter an seiner Seite, sodass sich auch der Orchesterpart auf hohem Niveau bewegt – allerdings mit einer Einschränkung: es muss wohl an der Tontechnik liegen, dass das Orchester an manchen Stellen schlicht nicht präsent genug ist. Dies betrifft Dialoge mit dem Klavier oder thematische Einwürfe wie etwa die Melodielinie in den Bratschen bei Ziffer 30 im 2. Satz des Konzerts Nr. 1, den Seufzer im Horn kurz vor Ende dieses Satzes (bei Ziffer 37) oder die Celli beim 2. Thema im 1. Satz des Konzerts Nr. 4, aber auch farbliche Nuancen wie die trillerartigen Horngesten wiederum in diesem Satz (kurz nach Ziffer 22). Generell sind es besonders die tiefen Lagen, die stärker vernehmbar sein müssten, so etwa die gelegentlichen Tubasoli im Konzert Nr. 4, die nun einmal ihren Teil zu der ganz speziellen Aura dieses Werks beitragen.

Zwischen den beiden Werken steht – minutiös in Tracks aufgeteilt – die 1934 entstandene Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43, die noch charakteristischer für Rachmaninows Spätstil ist als das (ein wenig als Werk des Übergangs zu begreifende) Vierte Klavierkonzert, aber aufgrund ihrer effektvollen Dramatik (inklusive reichlicher Verwendung des „Dies irae“), ihrer größeren Extravertiertheit und auch des schwelgerischen Melos gerade der Variation Nr. 18 (das aber tatsächlich durch Umkehrung direkt aus Paganinis Capricenthema entsteht) deutlich größere Popularität genießt.

Giltburg bleibt sich auch hier treu und lotet gerade auch die Variationen, in denen die Musik innehält, wie etwa noch relativ zu Beginn die Variation Nr. 6, mit der ihm eigenen Kunst des pianistischen „Sinnierens“ aus. Wenigstens am Anfang erscheint das Orchester hier präsenter, obwohl manche Passagen mehr Differenzierung, mehr orchestrale Schärfe vertragen könnten – man beachte etwa das letzte „Dies irae“ kurz vor dem (dann doch wieder mit trockener Geste etwas relativiertem) A-Dur-Triumph, das eher breit als packend gerät. Insgesamt eine Lesart, der das Besessene, das diesem Werk innewohnt, etwas abgeht, allerdings auf hohem Niveau und teilweise wohl auch bewusst, zumal Giltburg selbst dem Werk insbesondere auch eine unterhaltsame, vielleicht sogar humorvolle Note zuspricht.

Es ist zwar zu bedauern, dass Naxos mittlerweile offenbar weitgehend dazu übergegangen ist, lediglich englische Begleittexte anzubieten; inhaltlich aber ist der Text, den Boris Giltburg für diese Produktion selbst verfasst hat, vorzüglich: eine sehr sorgfältige, detaillierte, umfassend informierende, von großer Begeisterung für diese Musik getragene und durchaus persönlich gehaltene Einführung in diese Werke. So fällt das Fazit insgesamt ausgesprochen positiv aus: Giltburg hat hier eine Einspielung vorgelegt, an die man sehr hohe Maßstäbe anlegen kann.

[Holger Sambale, März 2024]

Claudio Santoros Orchesterwerke der 1960er bergen Erstaunliches

Naxos 8.574410; EAN: 7 47313 44107 5

In der dritten Folge der entstehenden Gesamtaufnahme der Symphonien Claudio Santoros (1919–1989) widmet sich das Goiás Philharmonic Orchestra unter Neil Thomson endlich der Phase des brasilianischen Komponisten während der 1960er Jahre, wo er sich mit der europäischen Avantgarde auseinandersetzt. Neben der 8. Symphonie hören wir noch die Três Abstrações, die Interações Assintóticas sowie das während der Errichtung der Berliner Mauer in Ost-Berlin entstandene Cellokonzert mit der Solistin Marina Martins. Das als Zugabe konzipierte One Minute Play schließlich dauert tatsächlich nicht länger als der Titel nahelegt.

Das Orquestra Filarmônica de Goiás unter seinem britischen Chef Neil Thomson hatte sich in der ersten Folge der Symphonik Claudio Santoros (dort findet der Leser auch nähere Infos zum Werdegang des Komponisten) mit seiner quasi nationalistischen Schaffensphase befasst, auf der zweiten CD dann Beispiele des Spätwerks vorgestellt. Nun folgen auf der dritten Veröffentlichung konsequenterweise Stücke aus den 1960er Jahren, wo Santoro – konfrontiert mit den verschiedenen Strömungen der damaligen europäischen Avantgarde – wieder höchst eigenwillig und mit beeindruckenden Ergebnissen seinen persönlichen Weg findet.

Den Sommer 1961 verbrachte Santoro auf Einladung des Komponistenverbandes der DDR in Ost-Berlin, wo er ganz unmittelbar die unruhigen Zeiten während des Mauerbaus erlebte. Diese Eindrücke gingen offenkundig ins Cellokonzert mit ein, das im August begonnen und im Oktober vollendet wurde. Das gut halbstündige Werk ist das symphonischste aller Konzerte Santoros und verlangt von Solisten, die sich daran wagen, technisch wie emotional alles ab. Die brasilianische Cellistin Marina Martins kann hier völlig überzeugen: engagiert und spannungsvoll, ohne je zu überdrehen oder auch nur eine Sekunde zu langweilen. Wenn das Cello im gewaltigen, insgesamt jedoch verhaltenen Kopfsatz erst nach gut 5½ Minuten eintritt, gilt es, sofort die ungeheure Entwicklung der langen Solokadenz nachzuvollziehen. Danach wird es deutlich dramatischer, später im langsamen 2. Satz noch desolater. Erst im Finale bewegt sich das Stück in zunächst gewohnt konzertanten Gefilden, endet jedoch pessimistisch: tief berührend, vielleicht nicht ganz so genial wie Dutilleux‘ Tout un monde lointain…, zumindest auf ähnlich hohem Niveau. Warum gab’s da bisher keine Aufnahme?

Die 8. Symphonie von 1963 hat mit ihrer inhärenten Zwölftönigkeit – nicht durch äußerlich vorgegebene Reihen – einen Sonderstatus innerhalb Santoros Symphonik, auch weil erst wieder knapp 20 Jahre später die nächsten Gattungsbeiträge folgen. Das nur 15-minütige Stück erweist sich als hochexpressionistisch und integriert im Mittelsatz überraschend eine Mezzosopran-Vokalise – hier von Denise de Freitas ausdrucksvoll dargeboten. Nachdem die Militärjunta den Komponisten 1966 quasi aus der Heimat vertrieben hatte, führte ihn ein DAAD-Stipendium wieder nach Deutschland, diesmal in den Westen. Dort setzte er sich intensiv mit den aktuellen Avantgarde-Strömungen auseinander, nachdem seine frühe Begegnung mit der Schönbergschen Zwölftontechnik über Hans-Joachim Koellreutter eher in Ablehnung gemündet war. Die Três Abstrações (nur für Streicher, 1966) und die Interações Assintóticas (Paris, 1969) sind so lediglich unterschwellig vom Serialismus geprägt: Erstere experimentieren mehr mit Clustern, Glissandi und unkonventionellen Spieltechniken, letztere – erst 1976 in Bonn uraufgeführt – mit Vierteltönigkeit und Aleatorik – für den Rezensenten doch die interessantesten Entdeckungen. Manches mag hier an Penderecki oder Ligeti erinnern, ist aber durchaus originell. One Minute Play (1967), von vornherein als kurzes Zugabenstück gedacht, ist ein witziges moto perpetuo mit achtstimmigem Fugato.

Nun schon erwartungsgemäß gelingt dem – ich kann es nicht oft genug wiederholen – Weltklasse-Orchester aus der Zwei-Millionenstadt Goiânia wieder eine positive Überraschung nach der anderen. Neil Thomson weiß mit diesen – bis auf Interações Assintóticas – Ersteinspielungen völlig zu begeistern, was freilich nicht zuletzt am höchst abwechslungsreichen Repertoire liegt, dessen spezifische Anforderungen der Dirigent punktgenau umzusetzen versteht. Das musikalische und aufnahmetechnische Niveau sowie die immer höchst informativen Booklets der Naxos-Serie The Music of Brazil führen auch diesmal zu einer ausdrücklichen Empfehlung.

[Martin Blaumeiser, März 2023]

Écoles de Paris — Paris pour École

EDA Records, EDA 048; EAN: 8 403087 10048

Das Album Écoles de Paris – Paris pour École vereint Werke vierer Komponisten, die wesentlich vom Paris der 1920er Jahre geprägt worden sind: George Antheil, Jacques Ibert, Simon Laks und Marcel Mihalovici. Es spielen Mitglieder des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Leitung von Johannes Zurl. Als Solisten sind Adele Bitter (Violoncello) und Holger Groschopp (Klavier) zu hören.

Frank Harders-Wuthenow wirkt seit Jahrzehnten nicht nur im Musikverlagsgeschäft, sondern ist auch einer der beschlagensten und kenntnisreichsten Musikforscher weltweit. Hauptfeld seiner Erkundungen ist gleichermaßen die verfemte wie überhaupt die unterschätzte und vernachlässigte Musik des 20. Jahrhunderts, wo er ein sehr gutes Gespür hat, wie die Spreu vom Weizen zu trennen ist. Außerdem hat er eine ausgesprochene Gabe für die dramatisch schlüssige Zusammenstellung von Programmen, und schon alleine von daher gehört er zu denjenigen, wie weniger Wert auf enzyklopädische Vollständigkeit und Übersichtlichkeit legen als auf eine künstlerisch anregende Gesamtgestaltung. Also ist es keine Überraschung, wenn eine CD mit erlesenstem gemischten Programm der klassischen Moderne auf seinem Label EDA Records erscheint – die übrigens mit tollen Überraschungen aufwartet.

Gleich vorweg: das Album weist einen hervorragend einstimmenden und informierenden, recht umfangreichen Begleittext aus der Feder des Produzenten auf. Es handelt sich allesamt um Komponisten, die im Paris der 1920er Jahre heranreiften und es mitgeprägt haben. Natürlich könnten – gerade auch von den vielen Migranten – auch ganz andere dabei sein, wie Alexandre Tansman, Tibor Harsányi, Gösta Nystroem, Arthur Lourié, Bohuslav Martinu, Conrad Beck, Filip Lazar, Knudåge Riisager oder Uuno Klami, um nur einige wenige zu nennen. Aus dieser immensen Vielfalt sind drei Meister herausgegriffen, mit deren Werk die Welt nur sehr randständig bis überhaupt nicht vertraut ist, die in Kombination mit einem französischen Meister vorgestellt werden.

Den Anfang macht der einzige Franzose, Jacques Ibert – am besten durch seine Konzerte für Flöte und für Saxophon sowie durch seine Bläsermusik bekannt –, mit seinem so kurzweiligen wie knapp geformten dreisätzigen Konzert für Cello und Bläserdezett (doppeltes Holz sowie je ein Horn und eine Trompete) von 1925. Die Musik sprüht von trocken artikuliertem Witz, weist eine größere Nähe zu Strawinsky aus als spätere Werke Iberts und auch jene beinahe trivialen, zum Mitpfeifen einladenden Motive, wie wir sie beispielsweise aus seinen köstlichen Trois pièces brèves für Bläserquintett kennen. Alles funkelt, alles blitzt, und Solistin Adele Bitter gewinnt aus der heiklen Aufgabe, mit dem dominant kompakten Klang des Bläserensembles zu konzertieren, ein veritables Fest des unvorhersehbaren Dialogs. Natürlich ist das ‚Neoklassizismus‘, mit einer einleitenden Pastorale und einer finalen Gigue, die eine skurrile ‚Romance‘, die sich so gar nicht schwelgerisch gibt, umrahmen. Diese Romance gleicht einer unnahbar flunkernden Dame, mindestens mit Sonnenbrille, aber so was Anzügliches darf ich heute vielleicht nicht sagen.

Darauf folgt das Hauptwerk, die horrend herausfordernde Étude en deux parties für konzertantes Klavier, Bläser, Celesta und Schlagzeug von 1951. Mihalovici, rumänischer Jude und Pariser Weltbürger, engster Vertrauter George Enescus und vielleicht sein bedeutendster Nachfolger (ihm hat Enescu die Vollendung seiner späten Symphonie de Chambre, jenes grandios einsätzigen Meisterwerks, anvertraut), geht in seiner gereiften Tonsprache selbstverständlich davon aus, dass die Musiker in der Lage sein müssen, eine hohe Komplexität zu entschlüsseln und zu bewältigen. Es folgt hier auf einen langsamen Satz von mysteriös vorbereitendem Charakter in durchbrochener Faktur ein zügiger Satz mit jazzigen und rumänischen Anteilen, die auf sehr organische und unaufdringliche Weise ins anspruchsvolle Gewebe eingewoben sind. Dies ist absolut keine gefällige Musik, man muss die ständig kräftige Dissonanz-Würzung schon mögen, um Zugang zu finden, wird aber dann sehr reich belohnt. Die Energie wird lange unterschwellig gehalten, bevor sie sich gegen Ende exaltierter manifestieren darf. Zwar ist die Instrumentation sehr abwechslungsreich, wobei Mihalovici es liebt, die Klanggruppen einander opponieren zu lassen, doch ist er vor allem ein symphonischer Architekt, der alles von Anfang an auf den Schluss hin berechnet. Und ein bisschen Mysterium darf ja auch dann noch bleiben.

George Antheil hat mich mit seinem humorvoll draufgängerischen Concerto for Chamber Orchestra (für Bläseroktett, wie Strawinsky) in einem Satz von 1932 überrascht. Nicht das Freche, Frische, Grelle, Schlagkräftige, das ist ja für seine frühe Musik selbstverständlich; sondern die gelassene Souveränität seiner Provokation! Es ist äußerst präzise und treffsicher geschrieben und verdankt natürlich unendlich viel dem neusachlichen Strawinsky. Und zugleich ist es eben ein amerikanischer Strawinsky, so amerikanisch, wie selbst der Großmeister der Chamäleon-Possen es nie sein sollte. Diese Musik ist unmittelbar verständlich und hat das Zeug, mit poppiger Direktheit die Zuhörer zu gewinnen.

Auch das abschließende dreisätzige Concerto da camera für Klavier, Bläser und Schlagzeug von 1963, geschrieben vom polnischen Juden und KZ-Überlebenden Simon (Szymon) Laks, ist leicht zugänglich, und überdies von einer idyllischen Fröhlichkeit (also mehr naturhaft als die großstädtische Musik Antheils) mit einem ganz wunderbar den Problemen und Forderungen der Welt entrückten langsamen Mittelsatz. Das ist musikantische Musik im besten Sinne, für den Klaviersolisten sehr dankbar, gerade auch in der an Bach’sche Inventionen gemahnenden Kontrapunktik (Finale!) – ein zeitloses Werk, das genau so auch hätte dreißig Jahre früher oder sechzig Jahre später (=heute) entstehen können. Diesem Schaffen liegt eine autonome Haltung zugrunde, die die Parteifragen der Gegenwart (fortschrittlich oder rückständig und dergleichen) vollkommen transzendiert hat. Es war Laks offensichtlich gleichgültig, wie die Fachwelt urteilte, und er hatte Schlimmeres überlebt als deren Ignoranz – und stimmte, als unmittelbar Betroffener, offenkundig nicht Adorno zu, der ja proklamiert hat, nach Auschwitz könne man kein Gedicht (bei Laks: Lied) mehr schreiben. („… nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben…“ – viele haben aus diesem dystopischen Giftbecher getrunken.) Denn Laks lebte mehr im Jetzt – und in sich – als all jene, die bis heute Vergeltung, Wiedergutmachung oder Verweigerung fordern. Die Aufführungen dieser insbesondere hinsichtlich Balance und Rhythmus sehr heiklen Werke sind durchgehend von überdurchschnittlich seriöser Qualität, und herausragend ist das Klavierspiel Holger Groschopps, der sich gleichzeitig als feiner Kammermusiker und echter Virtuose vorstellt – also ganz so, wie es die somnambul verschattete, katakombisch klaustrophobische Faktur Mihalovicis unbedingt einfordert und auch der Indian-Summer-Ausgelassenheit des abgeklärten Laks entspricht.

In seiner feinziselierten Buntheit kann dieses vortrefflich zusammengestellte Album nur empfohlen werden. Strawinskys Bläser-Oktett übrigens ist nicht enthalten, wie das Cover suggerieren mag, sondern nur online zu hören – was aber keine Rolle spielt, denn dieses Werk ist ja schon viel öfter aufgenommen worden als alle vier anderen Werke dieses Programms zusammen.

[Christoph Schlüren, Februar 2024]

Zwei faszinierende Schlüsselwerke von Almeida Prado

Naxos 8.574411; EAN: 7 47313 44117 4

Begeisterte der Brite Neil Thomson in der engagierten Naxos-Serie „The Music of Brazil“ bereits auf 3 CDs mit Symphonik Claudio Santoros, widmet er sich auf der vorliegenden Veröffentlichung – diesmal mit dem Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo samt Chor – zwei Schlüsselwerken von José Antônio de Almeida Prado: Den Pequenos funerais cantantes ao poeta Carlos Maria de Araújo von 1969 – mit den Solisten Clarissa Cabral und Sabah Teixeira – sowie der Sinfonia dos Orixás von 1985.

Das mit bald 400 Werken – darunter viel Klavier- und Kammermusik – äußerst umfangreiche Schaffen des Brasilianers José Antônio de Almeida Prado (1943–2010) hat es noch kaum nach Europa geschafft, obwohl der Komponist nach den Lehrjahren bei seinem Landsmann Camargo Guarnieri in den 1960ern an den Darmstädter Ferienkursen teilnahm – bei György Ligeti und Lukas Foss – und später noch bei Nadia Boulanger und Olivier Messiaen studierte. Bei dieser ihn prägenden stilistischen Vielfalt verwundert es nicht, dass Almeida Prados eigene Musik oft zunächst heterogen erscheint, aber bei allem Abwechslungsreichtum teils divergierender Elemente formal – gewissermaßen unter der Motorhaube versteckt – einer sehr persönlichen Strenge folgt.

Die hier vorgestellten Stücke darf man getrost als Schlüsselwerke – zumindest innerhalb der Gattungen von Chor- und Orchestermusik – bezeichnen. Die Pequenos funerais cantantes ao poeta Carlos Maria de Araújo erhielten 1969 den 1. Preis beim Guanabra Musikfestival, machten Almeida Prado über Brasilien hinaus bekannt. Die Sinfonia dos Orixás (1985) ist ein Hauptwerk seiner letzten Schaffensperiode. Die Pequenos funerais folgen Hilda Hilsts gleichnamigem Gedicht auf den Tod des aus Portugal stammenden, später in Brasilien lebenden Dichters Carlos Maria de Araújo (1921–1961), der bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam, worauf sich der kurze, rein instrumentale Anfang (Corpo de fogo)bezieht. Die sechs zentralen Segmente (Corpo de terra I–VI) vertonen entsprechend weitere Strophen aus Hilsts Dichtung: Der Text wird emotional aufwühlend von Chören und später einem Bassbariton- und einem Mezzosopran-Solo gestaltet. Die Instrumentation ist jeweils völlig individuell – wie die unterschiedlichen, beleuchteten Facetten des Verstorbenen; nie gibt es ein Tutti. Im wiederum sehr kurzen Schlussteil verebbt die Musik bis zur Stille.

Das melodische und rhythmische Material der 50-minütigen, instrumentalen Sinfonia dos Orixás sammelte teilweise Almeida Prados Ehefrau im Umfeld der Umbanda-Religion. Der aus 15 Teilen bestehende Hauptteil (Manifestação dos orixás) wird wiederum von zwei knappen „Ritualen“ umrahmt. Enorm farbige, rein rhythmische Abschnitte – von quasi Ostinati bis zu komplexen Entwicklungen – wechseln mit ausdrucksstarken, von Soloinstrumenten getragenen Teilen ab. Auch wenn das Ganze zwar nie langweilig, dafür jedoch mehr wie eine Suite als eine Symphonie erscheint, rechtfertigt die thematisch-motivische Arbeit – mit jeweils den weiblichen bzw. männlichen Geistern (Orishas) zugeordneten Hauptthemen – den Titel. Freilich erschließt sich zumindest beim ersten Hören nicht wirklich die persönliche Haltung des eigentlich streng-katholischen Almeida Prado zu dieser synkretistischen Götterwelt.

Neil Thomson leitet diesmal nicht sein Orchester aus Goiás, sondern das große OSESP (São Paulo) samt Chor. Gerade die perkussiven Abschnitte erreichen eine höchst beeindruckende Durchschlagskraft, aber ebenso überzeugend agieren die hervorragenden Instrumentalsolisten dieses Spitzenorchesters in den lyrisch-melodischen Momenten. Der Chor setzt die höchstdifferenzierten Anforderungen der Pequenos funerais kongenial um; deren momentaner Chorleiter (William Coelho) wird leider nur am Rande im sonst informativen Booklet erwähnt. Die beiden Gesangssolisten (Clarissa Cabral und Sabah Teixeira) machen ihre Sache zumindest ordentlich. Auch die Aufnahmetechnik fängt das sehr dynamische Geschehen gekonnt ein. Mal wieder ist der Hörer fasziniert von der schillernden, exotischen Klangwelt einer letztlich unverkennbar eigenständigen Komponistenpersönlichkeit: Man darf bei dieser inspirierenden CD-Reihe wohl weiter auf positive Überraschungen gespannt sein.

[Martin Blaumeiser, Januar 2024]

Symphonische Urlandschaften: Die abenteuerlichen Reisen des Anders Eliasson

BIS, BIS-2368; EAN: 7 318599 923680

BIS hat ein Album mit drei symphonischen Werken Anders Eliassons herausgebracht. Zu hören sind die Symphonie Nr. 3 für Sopransaxophon und Orchester, gespielt von Anders Paulsson, Sopransaxophon, und den Göteborger Symphonikern unter Leitung von Johannes Gustavsson, sowie das Posaunenkonzert und die Symphonie Nr. 4, gespielt vom Königlichen Philharmonischen Orchester Stockholm unter Sakari Oramo. Solist im Posaunenkonzert ist Christian Lindberg, die Flügelhornsoli in der Vierten Symphonie spielt Joakim Agnas.

Anders Eliassons Musik ist ein Abenteuer. Irgendwo entspringt ein Quell – sei es dezent oder mit einem Knall, blitzschnell hervorzischend oder sanft plätschernd: Die Musik, als wäre sie bereits vor Erklingen des ersten Tons in Bewegung gewesen, fließt und fließt und bahnt sich ihren Weg. Mächtig anwachsend, dann wieder entschleunigend, bald dunkle, tiefe Seen, bald schäumende Katarakte bildend, drängt sie voran, unaufhaltsam wie das neptunische Element. Es ist, als hörte man Urstromtäler in Tönen sich formen – und so oft man den Werken Eliassons auch lauschen mag: Man wird doch jedes Mal von neuem der erste Mensch, der diese ewig unberührte Landschaft betreten darf.

Den Theoretikern hat dieser große Mann freilich härteste Nüsse zu knacken gegeben. Diese Musik ist ohne Frage tonal. Eliasson hat nie einer jener Theorien angehangen, denen zufolge sich angeblich Atonalität erzeugen und die vielbeschworenen (aber kaum je ordentlich definierten) „Grenzen der Tonalität“ überwinden ließen. Als Student studierte er fleißig alles, was es um 1970 an aktuellen Modernismen zu studieren gab – „Rhythmus, Melodien und gewisse Intervalle waren tabu“ –, aber heimlich ging er dabei dem nach, „was ich immer schon in mir gehört hatte“. Hört man Eliassons Musik, merkt man sofort, dass sie ebenso von harmonischen Spannungen bestimmt wird wie die Werke der Klassiker abendländischer Tonalität. Aber man gehe nur als Theoretiker heran und versuche Dominanten, Subdominanten etc. auszumachen! Wie würde man Bachs oder Mozarts Musik beschreiben, hätte man die ganzen Funktionsbegriffe nicht? Aber war es denn Bach oder Mozart so wichtig zu wissen, wie Riemann und andere Professoren ihre Stilmittel bezeichneten? Der Analytiker, der sich Eliasson mit dem üblichen Vokabular nähert, findet sich früher oder später ganz zurück an den Anfang versetzt – je nachdem wie lange er braucht, um zu merken, dass er einen am Ziel sicher vorbeiführenden Weg eingeschlagen hat. Aber ermahnt ein solcher Rückschlag nicht dazu, nun wirklich anzufangen?

Die musikalische Urlandschaft, die Anders Eliasson als erster betrat, zeigte sich mit jedem neuen Werk, das er schrieb, größer und reicher als zuvor vermutet. Er selbst war zu sehr mit ihrer Erkundung beschäftigt, als dass er in die Versuchung hätte geraten können, die Grundlagen seines Komponierens in ein theoretisch festgefügtes System zu überführen. Allenfalls sprach er von einem „System, das kein System ist“ und beschrieb sein musikalisches Material als „Alphabet“. Musik sei, so sagte er weiterhin, „wie H2O: Melos, Harmonik und Rhythmus sind eine Einheit. Und sie muss fließen.“ Versuche, absichtlich originell zu sein (wobei er „originell“ in Anführungszeichen setzte), waren ihm ein Ding der Unmöglichkeit, denn: „Man kann sich nicht von mehr als 1000 Jahren Tradition lösen, ohne unverständlich zu werden.“ Seine eigene Musik nannte er zwar „etwas völlig Neues“, doch bestand dieses Neue darin, „dass man das (tonale) Universum von einer neuen Position sieht“. Diese neue Perspektive verdeutlichte er einmal in einer Zeichnung, die in vereinfachter Form auch seinen Grabstein ziert: Eliasson ordnet darin die Töne des Quintenzirkels als eine Folge ineinander verschlungener Dreiecke an, wobei die einander entsprechenden Seiten der Dreiecke die drei möglichen Tonvorräte des verminderten Septakkords ergeben. Er überblickte die quintengestützte Ordnung also von einem Standpunkt aus, welcher deren Möglichkeiten zum Uneindeutigen deutlich hervortreten lässt. Nicht die Eindeutigkeit der Tonika-Dominant-Spannung, die ja selbst Schönbergs zwölftönige Werke gegen den Willen ihres Schöpfers beherrscht, interessierte Eliasson, sondern eine tonale Ordnung, die beständig mehrere Möglichkeiten der harmonischen Fokussierung anbietet. Die „triangulatorische“ Harmonik lässt die Musik auf eine Art und Weise flüssig erscheinen, wie dies zuvor bei keinem anderen Komponisten vorgekommen ist.

Eliassons Dreiecksskizze wurde als Titelbild zu einer CD-Veröffentlichung von BIS ausgewählt, die einen optimalen Einstieg in die Klangwelt des 1947 geborenen schwedischen Meisters bietet. Sie enthält ausschließlich Ersteinspielungen: Die Vierte Symphonie (2005) wurde vom Königlichen Philharmonischen Orchester Stockholm (Royal Stockholm Philharmonic Orchestra) unter der Leitung von Sakari Oramo aufgenommen, ebenso das Posaunenkonzert (2000), in dem Christian Lindberg, der das Werk seinerzeit uraufgeführt hat, als Solist zu hören ist. Die 1989 entstandene Dritte Symphonie erscheint bereits zum zweiten Mal auf CD, nun aber erstmals in ihrer überarbeiteten Fassung von 2010. Das Werk ist als konzertante Symphonie mit solistischem Saxophon angelegt und war ursprünglich für den Altsaxophonisten John-Edward Kelly geschrieben, auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin der Komponist die Solostimme in Höhen führte, die außer Kelly selbst kaum ein anderer Spieler bewältigen konnte. Um Aufführungen des Werkes zu erleichtern, erstellte Eliasson schließlich 20 Jahre nach der Uraufführung eine Fassung für Sopransaxophon, deren erste Aufnahme hier durch den Solisten Anders Paulsson und die Göteborger Symphoniker unter Johannes Gustavsson vorgelegt wurde. Somit sind nun sämtliche vollendete Symphonien Eliassons für großes Orchester auf CD greifbar. Die Erste Symphonie (1986) wurde von Gennadij Roshdestwenskij und dem Symphonieorchester des Kulturministeriums der UdSSR aufgenommen (Caprice). Die Dritte in der Fassung für Altsaxophon liegt mit John-Edward Kelly und dem Finnischen Rundfunksymphonieorchester unter Leif Segerstam vor (NEOS). Seine Symphonie Nr. 2 hat Eliasson nie vollendet. Es existiert nur eine Anzahl von Skizzen, anhand derer sich kein geschlossener Werkverlauf erkennen lässt.

Die Dritte Symphonie besteht aus fünf Abschnitten, die nahtlos ineinander übergehen und gemeinsames Material verarbeiten. Sie sind mit Cerca (Suche), Solitudine (Einsamkeit), Fremiti (Schaudern), Lugubre (traurig) und Nebbie (Nebel) überschrieben. Zweimal lässt Eliasson einen raschen Satz in einen langsamen münden, wobei der Kontrast zwischen Teil 3 und Teil 4 denjenigen zwischen den ersten beiden deutlich übertrifft. Am Ende des dritten Abschnitts wird ein frenetischer Höhepunkt erreicht, auf den die düstere Musik des Lugubre antwortet. Der letzte Teil des Werkes ist kein umfangreicher Satz mehr, sondern eine kurze Coda, in der die Kontraste aufgehoben werden. Wenn der Nebel aufsteigt, beschleunigt sich die Musik wieder, ohne schnell zu werden. Helle Klangfarben scheinen auf, ohne zu strahlen. Kein Triumph, keine Tragödie, vielleicht das unvermutete Ergebnis der anfänglichen Suche, auf jeden Fall ein Ausatmen in frischer Luft. Das Saxophon ist eindeutig das führende Instrument. Es ist durchweg präsent, gibt meist die Richtung vor und hat Aufgaben zu bewältigen, die einen virtuosen Spieler verlangen. In John-Edward Kellys Worten hat Eliasson das Werk dennoch „Symphonie“ genannt, da „der ästhetische Schwerpunkt tiefer liegt als in einem Konzert“. Durch die Einspielung Paulssons kann man nun beide Fassungen der Symphonie vergleichend hören. Auf dem Sopransaxophon gespielt, wirkt sie deutlich leichtfüßiger, spielerischer als in Kellys Aufnahme mit Altsaxophon. Kelly hat den Komponisten ja explizit um höchste Anforderungen gebeten, er wollte mit der Materie kämpfen. Das ist ihm bravourös in seiner Einspielung gelungen. Einen vergleichbaren Existenzialismus strahlt Paulssons Aufnahme nicht aus. Das Werk zeigt sich hier allerdings von einer abgeklärten Seite, wie sie eine Aufführung der Altsaxophonversion kaum hervorbringen dürfte. Letzten Endes ist das Werk eine der größten Kompositionen für Saxophon und Orchester, die je geschrieben wurden, und sowohl Alt-, als auch Sopransaxophonisten erhalten höchst lohnende Aufgaben. Freilich wird die Fassung für Sopransaxophon wohl in Zukunft wesentlich häufiger gespielt werden als diejenige für Altsaxophon, da die Schwierigkeiten für letzteres Instrument wesentlich größer sind.

Das einsätzige Posaunenkonzert ist weniger virtuos als die Saxophon-Symphonie und betont nicht nur in der Einleitung und im Schlussteil, die beide in langsamem Tempo gehalten sind, die kantable Seite des Instruments. Im lebhaften Hauptteil, der in mehreren Steigerungswellen verläuft, fehlt es aber auch nicht an Machtworten in der Solostimme, namentlich wenn der Satz gegen Ende auf einen gewaltigen Höhepunkt zusteuert. Die Posaune steht nicht eigentlich im Gegensatz zum Orchester, eher scheint sie als ein Anführer die übrigen Instrumente aus dem Inneren des Orchesterverbandes heraus anzuspornen. Am deutlichsten tritt sie aus der Gruppe heraus, wenn sie zum Abschluss des Ganzen einen breit ausschwingenden Gesang anstimmt. Dass Eliasson mit diesem Stück auch den Posaunisten ein Werk höchsten Ranges geschenkt hat, braucht eigentlich nicht betont zu werden.

Wie die beiden anderen Werke auf der CD ist auch die Vierte Symphonie ein ununterbrochenes Kontinuum, das sich in mehrere Abschnitte in unterschiedlichen Tempi gliedert. Hier wechseln zweimal schnelle und langsame Musik einander ab, wobei der Schlussteil einen knappen Epilog darstellt, der das Werk mit der Musik des langsamen zweiten Teils beschließt. Das eigentliche Finale ist damit der dritte Teil, zugleich der lebhafteste der Symphonie. Lässt Eliasson die Musik in der Dritten Symphonie zu Beginn hervorsprudeln und im Posaunenkonzert mit dezenten Wellenschlägen einschwingen, eröffnet er die Vierte mit lauten Orchesterschlägen. Das Hauptmotiv besteht nur aus zwei Tönen, aber wie prägnant ist es formuliert und wie abwechslungsreich verwandelt! Tatsächlich erleben wir in diesem Werk, wie ein Motiv von alleräußerster Knappheit zur Grundlage eines höchst belebten Geschehens wird. Auch in der Vierten Symphonie spielt ein Soloinstrument, allerdings nicht durchgängig: Im langsamen zweiten Teil führt über weite Strecken ein Flügelhorn die Melodie (in der Aufnahme gespielt von Joakim Agnas), auch behält es in der Coda der Symphonie mit einem sanften Anschwellen, ohne laut zu werden, das letzte Wort. Virtuose Passagen, wie sie in der Dritten Symphonie und in geringerem Maße im Posaunenkonzert vorkommen, fehlen allerdings völlig. Die Vierte präsentiert sich als ein überwiegend lichtes, helles Werk. Mit ihrer markanten Thematik und der zarten Lyrik der Flügelhorngesänge kann sie als eine der unmittelbar ansprechendsten Kompositionen Eliassons bezeichnet werden.

Man kann nur wünschen, dass diese wunderbare CD, auf der hervorragende Dirigenten, Orchester und Solisten ihr Bestes geben, der Musik des 2013 vorzeitig gestorbenen Komponisten (der sich zum Zeitpunkt seines Todes mit Plänen zu einer Fünften Symphonie trug) viele Freunde gewinnen und zu weiteren Entdeckungsreisen in die abenteuerliche Welt des Anders Eliasson einladen wird. Angesichts solcher Werke in solchen Aufführungen ist eigentlich kein Zweifel mehr möglich: Anders Eliasson war einer der ganz großen Meister der Tonkunst nicht nur unserer Zeit.

[Norbert Florian Schuck, Januar 2024]

Eugen Engels „Grete Minde“: Wiederentdeckung der Oper eines Unentdeckten

Orfeo C260352; EAN: 4 011790 260228

Fast 90 Jahre nach ihrer Fertigstellung war die Uraufführung von Eugen Engels (18751943) Oper „Grete Minde“ im Februar 2022 am Theater Magdeburg unter Leitung von Generalmusikdirektorin Anna Skryleva schon eine kleine Sensation, die auch überregional hohe Beachtung fand. Ein erstaunliches Beispiel für bislang im Verborgenen schlummerndes Opernschaffen; hier eines der Öffentlichkeit bis dato völlig unbekannten deutsch-jüdischen Hobbykomponisten, der 1943 von den Nazis ermordet wurde, dessen einziges Bühnenwerk jedoch als Partitur überlebte, die erst von der Enkelin ihres Schöpfers ans Licht gebracht worden war. Der Live-Mitschnitt der Premiere auf Orfeo ist zumindest eine hörenswerte Rarität.

Nicht ganz zu Unrecht wurde bei der Wiederentdeckung und Uraufführung von Eugen Engels „Grete Minde“ hinterfragt, ob angesichts der Unmengen an Opern, die es bislang nie auf eine Bühne geschafft haben, nicht allein das persönliche Schicksal des Komponisten die entscheidende Rolle gespielt haben dürfte. Eugen Engel – geboren 1875 im masurischen Teil des damaligen Ostpreußens, später hauptberuflich Kaufmann in Berlin – war als engagierter deutsch-jüdischer Bildungsbürger insbesondere der Musik zugewandt. Privat hatte er Kompositionsunterricht bei Otto Ehlers genommen, war aber anscheinend weitgehend Autodidakt. Nach 1905 wurden zwar einige Werke von Laienmusikern aufgeführt – eine abendfüllende Oper war allerdings schon ein anderes Unterfangen. Dass Engels Wahl des Stoffes hier ausgerechnet auf Theodor Fontanes Novelle „Grete Minde“ fiel, der ein historisches Ereignis zugrunde liegt, erscheint zunächst merkwürdig, da die typische, distanzierte und lakonische Sprache des Dichters wenig Opernhaftes bietet. Engels Librettist Hans Bodenstedt – der später als überzeugtes NSDAP-Mitglied der Nazi-Propaganda zuarbeitete und nach dem 2. Weltkrieg Karriere beim NWDR machte – verfasste den Operntext bereits 1914, und der Komponist arbeitete somit bald 20 Jahre an seinem Projekt. Nach der Vollendung 1933 war natürlich an eine Aufführung in Deutschland nicht mehr zu denken, und auch die Korrespondenz mit Bruno Walter, Leo Blech und Edwin Fischer ebnete keine neuen Wege außerhalb der Heimat. Während Engels Tochter Eva 1935 nach Amsterdam floh und 1941 in die USA gelangte, wurde Eugens geplante Ausreise über Kuba im letzten Moment vereitelt: Sein Schicksal endete 1943 in der Mordmaschinerie des Vernichtungslagers Sobibor.

Eva Lowen versuchte kurz, den Namen ihres Vaters bekannt zu machen, aber erst Eugens Enkel beschäftigten sich ab 2006 intensiver mit dessen kompositorischen Hinterlassenschaften. Der Weg bis zur Uraufführung von „Grete Minde“ in Magdeburg ist einigen glücklichen Umständen geschuldet, hauptsächlich der Tatsache, dass die neue Generalmusikdirektorin, die Russin Anna Skryleva, von dem Stück absolut überzeugt war. Das Theater scheute dann keine Kosten und Mühen, das Werk auf die Bühne zu bringen. Einige Qualitäten von Engels Arbeit werden sofort deutlich: Zunächst einmal funktioniert – unerlässlich für eine Oper – das richtige Timing. Bodenstedt hat die Handlung klug gerafft, behielt die in Fontanes Fassung enthaltenen „Volkslieder“ bei, und bietet in den Szenen gelungene, essenzielle Psychogramme der Protagonisten. Die Geschichte der Margarete von Minden, die durch Fontane stark abgewandelt wird, soll hier nicht dargestellt werden. Engels Musik, inspiriert einerseits durch Werke wie Wagners Meistersinger oder Leoncavallos Verismo in I Pagliacci, andererseits durchaus noch von Carl Maria von Weber, wechselt geschickt zwischen Massenszenen, die oft heiter und gezielt volkstümlich wirken, und recht bewegenden Auseinandersetzungen der Hauptfiguren. Musikalisch erstaunt vor allem Engels versierte Instrumentation, die zumeist Richard Strauss, Humperdinck – mit dem der Komponist in Kontakt stand – und Schreker als Vorbildern folgt, teils (Glockenspiel etc.) Korngold-nah klingt. Skryleva hat das Orchester leicht ausgedünnt – etwa vier statt sechs Hörner –, erreicht so ein hohes Maß an Durchsichtigkeit und ermöglicht ihrem Sängerensemble immer adäquates Durchkommen.

Wollte Engel hier eine Art spätromantische „Volksoper“ schreiben? Die dafür aufgewandten Mittel erscheinen eher naiv und sind Anfang der 1930er schon klar aus der Zeit gefallen. Trotzdem gelingt, die stets unterschwellig vorhandenen Religionskonflikte kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg durchgängig zu thematisieren. Wirklich berühren dann etliche Dialog-Momente, so der Tod von Gretes Partner Valtin oder die Zuspitzungen im dritten Akt. Etwas übernommen hat sich der Komponist leider in der rein dramaturgisch durchaus zwingenden Schlussszene. Wenn Grete Tangermünde abfackelt und mit ihrem Sohn schließlich im brennenden Kirchturm als eine Art Fanal zu Tode kommt – die historische Figur endete auf dem Scheiterhaufen –, will die Musik dann trotz erkennbarer Rückgriffe auf Wagners „Feuerzauber“ der Walküre nicht so recht zünden. Sowas beherrschten etwa Schreker oder Strauss doch um Klassen besser.

Die Leistungen der Magdeburgischen Philharmonie und des Chores sind fast makellos. Skryleva schafft es, die heterogenen Momente dieser leicht querständigen Oper unter einen Hut zu bringen. Bei der Sängerriege zeigen sich die Damen den männlichen Protagonisten deutlich überlegen, allen voran die großartige Raffaela Lintl in der Titelrolle: emotional mitreißend, dabei immer mit klanglich ausgewogener Sopranglut. Auf gleichermaßen hohem Niveau bewegt sich Kristi Anna Isene als Trud. Von den Herren begeistern allenfalls Marko Pantelić als Gerdt sowie Benjamin Lee als Hanswurst, wo hingegen Zoltán Nyári (Valtin) ziemlich blass agiert. Bei den kleineren Rollen hört man teils nicht deutlich genug akzentuiertes Deutsch – sei’s drum.

Der Live-Mitschnitt – eine Co-Produktion mit Deutschlandradio Kultur – ist aufnahmetechnisch ohne Tadel, mit den üblichen Einschränkungen einer Bühnenaufnahme. Nur hätte man für eine CD-Veröffentlichung auf gute fünf Minuten (!) Schlussapplaus gerne verzichten können. Die Booklet-Infos der Dramaturgin Ulrike Schröder sind ausführlich, das Libretto ist komplett abgedruckt. Was bleibt? Zündende Melodien oder gar Ohrwürmer hat „Grete Minde“ nicht zu bieten; die Dramatik hält sich in Grenzen. Bruno Walter lobte zwar Eugen Engels solides Handwerk, vermisste dabei jedoch jegliche Individualität. Dem darf man zustimmen, muss dabei aber anerkennen, dass diese Oper zumindest funktioniert – wenn die Beteiligten mit so viel Herz an die Sache herangehen wie in Magdeburg. Einmal mehr reift die Erkenntnis, wie groß doch die Zahl ungehobener, hörenswerter Opernschätze tatsächlich sein mag. Auf CD eine willkommene Rarität – die es schon in die Vierteljahresliste des Preises der deutschen Schallplattenkritik schaffte –, muss sich die Repertoirefähigkeit dieser Entdeckung erst noch erweisen.

[Martin Blaumeiser, Dezember 2023]

Auf der Suche nach dem Glück

Capriccio, C5506; EAN: 0845221055060

Rundfunkchor und Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin haben unter der Leitung von Steffen Tast Engelbert Humperdincks Schauspielmusik zu Maurice Maeterlincks Weihnachtsmärchen Der Blaue Vogel eingespielt. Als Erzähler ist Juri Tetzlaff zu hören.

Die ultimative Weihnachtsoper für die Familie ist zweifelsohne Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel. Bei Jung und Alt gleichermaßen beliebt, ist sie zur Adventszeit nicht aus dem Spielplan deutschsprachiger Bühnen weg zu denken. Doch wer weiß schon, dass der 1854 geborene Komponist weitere märchenhafte, für Kinder geeignete Stoffe vertonte und Sammlungen volkstümlicher Lieder herausgab. Beispielsweise die Oper Dornröschen oder das Krippenspiel Bübchens Weihnachtstraum und auch die Schauspielmusik zu Maurice Maeterlincks Der blaue Vogel, um die es hier geht. 1911 hatte das Drama in Wien Premiere, ein Jahr später brachte es das Deutsche Theater Berlin heraus. Regie führte Max Reinhardt, der mit Humperdinck am gleichen Ort schon bei drei seiner Shakespeare-Inszenierungen und Aristophanes‘ Lysistrata zusammengearbeitet hatte. Die Aufführung wurde zum Publikumsrenner, aus kulturpolitischen Gründen jedoch bald aus dem Repertoire genommen. Die Musik geriet darüber in Vergessenheit, zumal Rechtsstreitigkeiten zwischen Maeterlincks und Humperdincks Verlag einen Druck verhinderten. So schlummerte die Partiturhandschrift in einer Bibliothek, bis sie der Dirigent und Geiger Steffen Tast aufspürte und die Orchesterstimmen herstellte. Zu guter Letzt entstand in Kooperation zwischen dem Deutschlandfunk Kultur und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) eine von Tast geleitete CD-Einspielung für das Label Capriccio.

Der blaue Vogel symbolisiert das Glück, das nicht zu greifen, aber manchmal näher ist, als gedacht. Das erfahren die Geschwister Mytyl und Tyltyl bei der Suche nach dem Tier, das allein die Schwermut einer Feentochter heilen kann. Auf der Reise durch fantastische Welten begegnen sie wunderlichen Figuren und lebendig gewordenen Gegenständen, das Federvieh jedoch finden sie nicht. Am Ende erkennen sie: alles war nur ein Traum. Den Vogel aber gibt es wirklich, es ist eine Stubentaube, die zu Hause von Tyltyl gehalten wird und das Mädchen – real die Nachbarin – gesund macht. Die Musik verbindet, für Humperdinck typisch, eingängige Melodik und spätromantische Üppigkeit. Nach einer sanft fließenden Ouvertüre, deren Hauptmotiv im Verlauf stetig wieder aufgegriffen wird, illustrieren schillernde Orchesterfarben das Geschehen. Es sind manchmal nur sinfonische Miniaturen, doch prägnant und stimmungsvoll instrumentiert: ein Flötensolo kennzeichnet etwa den Vogel, eine süße Geigenmelodie die Großeltern. Es gibt einen Sternenreigen im Walzerrhythmus, wuchtige Glocken und der Chor „O du fröhliche“ verbreiten Weihnachtsatmosphäre. Die kommt auch beim Anhören der Aufnahme auf. Der Rundfunkchor Berlin, das RSB und Steffen Tast als Spiritus rector schwelgen in so poetischen wie festlichen Klängen, dazu erzählt der KiKA-Moderator Juri Tetzlaff die von ihm und Tast zeitgemäß und kindgerecht aufpolierte Geschichte. Das macht der versierte Sprecher vorzüglich: variabel im Tonfall und pointiert charakterisierend, dabei aber nie übertreibend. Eine Bonus-CD enthält die als Sieben symphonische Bilder bezeichnete reine Musik Humperdincks. Der blaue Vogel verdient einen Platz unterm Christbaum. Denn wo kann man während der Festtage besser diesem Märchen lauschen.

[Karin Coper, Dezember 2023]

Klassiker der deutschen Romantik auf die Gitarre übertragen

Solo Musica, SM 424, EAN: 4 260123 644246

Der slowenische Gitarrist Aljaž Cvirn legt auf seinem Album Duality ein Programm vor, das ganz der deutschen Romantik gewidmet ist. Zusammen mit Jure Cerkovnik (Gitarre), Sebastian Bertoncelj (Violoncello) sowie Tanja Sonc (Violine) präsentiert er Bearbeitungen von Klavier- und Kammermusik von Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy und Franz Schubert.

Über Jahrhunderte hinweg war die Gitarre (ebenso wie ihre Vorgänger) ein Instrument, dessen Originalrepertoire sich in erster Linie aus den Werken komponierender Gitarristen zusammensetzte – in großem Stil hat sich dies erst im 20. Jahrhundert geändert. Und so besteht auch die Gitarrenliteratur des 19. Jahrhunderts überwiegend aus den Werken etwa von Sor, Giuliani, Aguado, Coste, Mertz und dann (nach längerer Pause) Tárrega, typischerweise also zudem aus dem südwesteuropäischen Raum, wo sich die Gitarre besonderer Popularität erfreute. Mit deutscher Romantik wird man die Gitarre kaum in Verbindung bringen, und dies ist der Punkt, an dem die neue CD des jungen slowenischen Gitarristen Aljaž Cvirn ansetzt. Bereits vor ein paar Jahren hat Cvirn Schuberts Arpeggione-Sonate in einer Bearbeitung für Violoncello und Gitarre eingespielt, seinerzeit als Teil eines Albums von Sonaten für Cello und Gitarre gemeinsam mit der Cellistin Isabel Gehweiler. Seine neue CD, „Duality“ genannt, ist zur Gänze der deutschen Romantik gewidmet von Franz Schubert über Felix Mendelssohn Bartholdy bis hin zu Johannes Brahms, naturgemäß in Bearbeitungen, die dieses Repertoire und seine Klangwelt der Gitarre „erschließen“.

Von den drei genannten Komponisten ist Brahms sicherlich derjenige, dessen Musik man am wenigsten auf einer CD mit Gitarrenmusik erwarten würde, und nicht von ungefähr stammen diese Transkriptionen aus jüngerer Zeit, namentlich von den Gitarristen Ansgar Krause (*1956) sowie Hubert Käppel (*1951). Bei den Vorlagen handelt es sich um eine Auswahl von Brahms’ späten Klavierstücken: Krause hat die Intermezzi op. 116 Nr. 2 & 6 und op. 118 Nr. 2 sowie die Romanze op. 118 Nr. 5 für zwei Gitarren übertragen (Cvirns Duopartner ist hierbei Jure Cerkovnik), und Käppel das Intermezzo op. 117 Nr. 2 für (eine) Gitarre. Natürlich ist es – zumal bei Musik dieses Bekanntheitsgrades – nicht ganz einfach, diese Werke unabhängig vom pianistischen Original zu hören. Dennoch: für sich betrachtet ergeben die fünf Stücke eine insgesamt reizvolle, ansprechende, angenehm zu hörende Folge, eher sacht timbriert und zurückgenommen als schwerblütig-melancholisch. Am besten, fast schon im Sinne einer kleinen Preziose, funktioniert vielleicht das Intermezzo op. 118 Nr. 2, dessen zarte, vergleichsweise lichte Introspektion sich in den Klängen der beiden Gitarren sehr gut wiederfinden lässt. Dem anderen Extrem begegnet man in den Trillerpassagen vor Wiederholung des ersten Teils der Romanze op. 118 Nr. 5, die sich auf den Gitarren schlicht nicht überzeugend darstellen lassen; hier stößt die Transkription an ihre Grenzen. Wenn überhaupt, wäre vermutlich ein entschiedenerer Eingriff in den Notentext vonnöten, wobei eine schlüssige Lösung freilich alles andere als auf der Hand liegt.

Ansonsten liegt vieles – und hier stellt sich am Ende doch mindestens teilweise die Frage nach dem Vergleich zum Original – in der Mitte. Sicherlich sind diese Stücke erst einmal vom Klavier her gedacht, und nicht jede klangfarbliche Schattierung (wie etwa der Registerwechsel im Mittelteil von op. 116 Nr. 2 oder die im Pedal gehaltenen Akkordbrechungen in op. 117 Nr. 2) erfahren wirkliche Entsprechungen. Mit dem Verzicht auf die Kontraoktave geht der Musik speziell in den akkordisch geprägten Passagen ein wenig ihre herbstliche Note verloren, dagegen gewinnen etwa die triolischen Figuren, die Brahms u. a. gerne in den Nebenstimmen einsetzt, in der Bearbeitung eine Bedeutung, die sie auf dem Klavier nicht haben; hier besteht zuweilen die Gefahr, dass sie die Melodielinie ein wenig überdecken. Am Ende steht also ein Balanceakt, der aber unter dem Strich Gewinn bedeutet, der Gitarrenliteratur Ausdruckssphären hinzufügt; dass man dieser Musik mit Vergnügen lauschen kann, steht ohnehin außer Frage.

Auf Brahms’ späte Klaviermusik folgen auf der CD zwei Stücke von Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Venetianisches Gondellied, das sechste des ersten Hefts seiner Lieder ohne Worte op. 19, hat bereits Francisco Tárrega (1852–1909) für Gitarre bearbeitet, und zwar in rundum geglückter Manier. Fast erwartungsgemäß – angesichts der feinen, gedämpften Melancholie des Originals – funktioniert das Stück auf der Gitarre vorzüglich, Flageoletts sorgen für ein gewisses zusätzliches schwärmerisch-atmosphärisches Moment. Neben den bekannten Klavierstücken hat Mendelssohn Bartholdy auch ein Lied ohne Worte für Violoncello komponiert, nämlich das Lied ohne Worte D-Dur op. 109, ein ganz bezauberndes, melodisch äußerst attraktives Werk, das 1845 für die junge Cellistin Lisa Christiani entstand. Der kroatische Cellist Valter Dešpalj (1947–2023; Bruder des Dirigenten und Komponisten Pavle Dešpalj) hat es für Violoncello und Gitarre arrangiert, eine Bearbeitung, die sich grundsätzlich eng am Original orientiert, abgesehen von einigen wenigen Stellen im Mittelteil, an welchen der Dialog zwischen Cello und Klavier so nicht realisiert werden kann. Cvirn wird dabei vom Cellisten Sebastian Bertoncelj unterstützt (auch er übrigens aus einer Musikerfamilie – der bekannte slowenische Pianist Aci Bertoncelj war sein Vater).

Ein zweites Mal wird die Gitarre in Schuberts Sonate für Violine D-Dur D 384 mit einem Streichinstrument kombiniert (nun mit Tanja Sonc an der Violine); die Bearbeitung stammt aus der Feder des schwedischen Gitarristen Mats Bergström (*1961). Schubert auf die Gitarre zu übertragen ist im Grunde genommen eine recht naheliegende Idee, es ist belegt, dass dies (im Falle seiner Lieder) bereits zu seinen Lebzeiten und auch in Anwesenheit des Komponisten geschah. So verwundert es vielleicht nicht, dass sich Bergströms vor rund 25 Jahren entstandenes Arrangement der (im Original ja ohnehin ebenso hinreißend charmanten wie äußerst populären) D-Dur-Sonate ganz offenbar einer nicht unbeträchtlichen Beliebtheit erfreut, jedenfalls erscheint es hier bereits zum dritten Mal auf CD. Dabei ist die Kombination Violine und Gitarre nicht einmal ganz unproblematisch (obwohl sie bereits im frühen 19. Jahrhundert u. a. von Giuliani oder Paganini mit Repertoire bedacht wurde), und an einigen wenigen Stellen – nämlich dann, wenn forciert wird – tendiert die Balance etwas zu sehr in Richtung Violine. Insgesamt aber ist dies eine reizvolle Bearbeitung (die sich zum Original ähnlich verhält wie Dešpaljs Mendelssohn-Arrangement).

Bereits 1845 gab der Wiener Gitarrenvirtuose Johann Kaspar Mertz (1806–1856) seine Sechs Schubert’schen Lieder heraus, Arrangements von Schubert-Liedern für die Gitarre also, teilweise übrigens unter Einbeziehung von Liszts Klaviertranskriptionen (vgl. etwa die Echoeffekte in der zweiten Strophe des Ständchens). Cvirn hat drei dieser Bearbeitungen ausgewählt und ans Ende seines Programms gestellt, und zwar Nr. 1 nach dem Lob der Tränen D 711 sowie Nr. 3 und Nr. 6 jeweils nach Vorlagen aus dem Schwanengesang (Nr. 4 Ständchen bzw. Nr. 10 Das Fischermädchen). Mertzs Arrangements sind ausgezeichnet gelungen, weil sie in sehr geglückter Manier Tonfall und Geist Schubert’scher Lieder mit der Idiomatik der Gitarre kombinieren; Mertz lässt die Gitarre auf mannigfaltige und im Detail bemerkenswert einfallsreiche Art und Weise regelrecht „singen“. Trotz auch hier relativ enger Orientierung am Original sind diese Stücke also nicht nur Bearbeitungen, sondern auch ein Stück weit poetische Nachschöpfungen von Schuberts Liedern.

Cvirns Plädoyer für diese Repertoireerweiterungen gerät insgesamt überzeugend. Besonders hervorzuheben sind seine Interpretationen von Mertz’ Schubert’schen Liedern. Hier ist Cvirn hörbar ganz in seinem Element und wartet mit beseeltem, sanglichem Spiel und viel Sinn für allerhand Details und Nuancierungen wie kleineren Rubati, Smorzandi oder delikatem Dolce-Spiel auf. Insofern ist es eigentlich zu bedauern, dass er nicht den gesamten Zyklus eingespielt hat (Platz genug wäre auf der CD gewesen – vermutlich eine Entscheidung im Sinne der Balance des Programms). Gut gelungen auch die Brahms-Adaptionen, in denen Cvirn und Cerkovnik immer wieder Sensibilität für kurze Momente des Innehaltens, des Zögerns beweisen. Hier und da wäre allerdings etwas mehr musikalischer Fluss möglich, vielleicht durch eine Spur zügigere Tempi (was dem naturgemäß rascheren Verklingen der Töne auf der Gitarre ein wenig entgegenwirken würde).

Mendelssohns Lied ohne Worte erfährt im Zusammenspiel mit Bertoncelj eine solide Interpretation; hier wäre allerdings noch mehr Differenzierung möglich, um die Eleganz, den Schmelz und die weiten kantablen Linien dieser Musik zu voller Geltung kommen zu lassen. Ansprechend ist die Lesart von Schuberts Sonate durch Sonc und Cvirn. Hier und da wäre noch etwas mehr Differenzierung möglich, etwa beim Rondothema des 3. Satzes, bei dem man zugleich etwas stärker ins Piano zurückgehen und der Musik mehr Esprit verleihen könnte. Im Vergleich musizieren Sparf/Bergström selbst dezidiert historisch informiert, während Migdal/Kellermann (auf BIS) in dieser Hinsicht einen Mittelweg gehen; ihre Lesart wirkt in Bezug auf Sonc/Cvirn sicherlich eleganter, feiner nuanciert und in der Balance (Fortissimo zwischen Ziffern B und C im ersten Satz) etwas überzeugender, allerdings immer wieder in puncto Agogik und auch Artikulation (gleich zu Beginn, wenn die Halben in der Violine immer wieder arg verkürzt werden) mit gewissen Eigenheiten, sodass Sonc/Cvirn hier als eine solide, unmanierierte Alternative gelten können. In der Totalen eine schöne Veröffentlichung.

[Holger Sambale, Dezember 2023]

Vom Wesen der Kammermusik – Wieniawski und Bruckner mit dem Glière-Quartett

DUX, DUX1918; EAN: 5 902547 019840

Das Glière-Quartett hat für Dux das Streichquartett a-Moll op. 32 von Józef Wieniawski (1837–1912) gemeinsam mit dem Streichquartett c-Moll WAB 111 von Anton Bruckner (1824–1896) eingespielt.

Es bedarf meist nur der ersten Töne einer Aufführung oder Aufnahme, um gleich zu wissen, mit wem man es zu tun hat. So ist es auch bei dem in Wien beheimateten Glière-Quartett und seiner neu herausgekommenen CD mit den Streichquartetten in a-moll op. 32 von Józef Wieniawski und dem in c-moll WAB 111 von Anton Bruckner.

Nach den ersten Tönen hören wir also bereits, dass wir es mit wirklichen Tonkünstlern zu tun haben, also mit Musikerinnen und Musikern, die die Werke vollkommen durchgehört und ihren Part individuell in Bezug auf das Ganze der Partitur nicht nur instrumental-musikantisch, sondern auch im symphonischen Sinne geistig durchdrungen haben und beherrschen. Und so hält der Rest der Einspielung, was schon die ersten Takte versprechen: Keine Note steht für sich allein, kein Tempo ist willkürlich, und kein noch so schöner Moment wird isoliert und damit an eine vordergründige Darstellung oder zweckfreie Virtuosität verschenkt.

Mit dieser freien, und im höchsten Maße einfachen wie komplexen Musizierhaltung des Glière-Quartetts ist es wohl möglich, aber kaum nötig, die eingespielten Quartette zu kontextualisieren, um sie aus einer vermeintlich zweiten Reihe des Streichquartett-Kanons hervorzuholen. Wir mögen den tonschönen, aber nie versüßten Wieniawski wohlklingend als Cousin ersten oder zweiten Grades von Brahms hören, und beim oft nicht ganz ernstgenommenen und als Studienwerk abgetanen Bruckner bestätigt finden, was in seinen Symphonien durch eine meist einseitige Klangorientierung zum Wagnerischen gerne mit falscher Verve überdeckt wird: dass er als Nachfolger von Haydn und Schubert deren Sinn für Klarheit und Form und für harmonisch subtile Farbgebung vereint.

Um so zu hören, bedarf es jedoch mit Wladislaw Winokurow (1. Geige), Dominika Falger (2. Geige), Martin Edelmann (Viola) und Endre F. Stankowsky (Cello) vier Musikerinnen und Musikern entsprechender Könnerschaft und Metierbeherrschung, und so geht die vorliegende Aufnahme noch einen Schritt weiter: beide Werke erklingen originär in ihrer Schönheit als das, was sie sind. Es wird, und das ist höchstes zu vergebendes Lob, nicht interpretiert und nicht dargestellt, sondern verwirklicht.

Das Glière-Quartett hat damit eine Referenzaufnahme der Werke, darüber hinaus aber ein Beispiel für das adjektivlose Wesen der Kammermusik, das so-wie-es-ist-wenn-man-aufeinander-hört, geliefert. Man kann es somit nur in den höchsten Tönen loben, ihm dankend auf weitere Zeugnisse ihrer Arbeit hoffen, und ihnen vor allem das Publikum wünschen, das die Ohren hat, so zu hören wie es selbst dazu in der Lage ist.

[Jacques W. Gebest, November 2023]

Moderne tschechische Cembalokonzerte mit Mahan Esfahani

Hyperion CDA68397; EAN: 0 34571 28397 5

Drei tschechische Cembalokonzerte des 20. Jahrhunderts präsentiert der aus Teheran stammende Meistercembalist Mahan Esfahani mit dem Prager Radiosinfonieorchester unter Leitung von Alexander Liebreich auf dem Hyperion-Label: Bohuslav Martinůs „Konzert für Cembalo und kleines Orchester“ H 246, Hans Krásas „Kammermusik für Cembalo und 7 Instrumente“ sowie Viktor Kalabis‘ „Konzert für Cembalo & Streichorchester“.

Die drei Werke für Cembalo und Ensemble bzw. kleines Orchester, die Hyperion hier mit Mahan Esfahani und dem Prager Radiosinfonieorchester unter Leitung von Alexander Liebreich vorgelegt hat, spiegeln in gewisser Weise die Vielfalt tschechischer Musik des 20. Jahrhunderts wider. Der aus Teheran stammende, in den USA aufgewachsene und zunächst dort ausgebildete Esfahani war der letzte Schüler der legendären Cembalistin Zuzana Růžičková (1927–2017) und lebt nun sogar in Prag. Neben seinen gefeierten Bach-Aufführungen und Einspielungen hat er sich schon immer gleichermaßen für zeitgenössische Literatur eingesetzt.

Abgesehen von der Musik des Barock, die – folgt man historischer Aufführungspraxis – selbstverständlich das Cembalo benötigt, war das Instrument durch die Fortschritte im Klavierbau als Soloinstrument mit Orchester lange obsolet geworden. Erst mit eben dem zunehmenden Interesse an historisch „korrekten“ Interpretationen Alter Musik sowie dem aufkommenden Neoklassizismus ab den 1920er Jahren, schrieben einige Komponisten dann auch wieder Cembalokonzerte. Die hier präsentierten Gattungsbeiträge waren schon Paradenummern von Růžičková und wurden von ihr ebenfalls eingespielt.

Bohuslav Martinůs (1890–1959) Konzert für Cembalo und kleines Orchester H 246 entstand 1935 für die französische Cembalistin Marcelle de Lacour, eine Schülerin der berühmten Wanda Landowska. Der Komponist traut allerdings insbesondere dem gegenüber tiefen Streichern mit Stahlsaiten eher schwachbrüstigen Bass nicht: So gibt es neben dem Cembalo noch ein obligates Klavier im kleinen Ensemble, das nicht nur den Bass unterstützt oder ganz übernimmt, sondern durchaus auch mal solistisch in den Vordergrund tritt und dem Cembalo zeitweise die Schau stiehlt. Andererseits ergeben sich dadurch feine, sehr interessante Klangkombinationen – das Zusammenspiel beider Instrumente haben später andere Komponisten, z. B. Elliott Carter oder Frank Martin, erneut aufgegriffen. Der Cembalosatz ist gegenüber dem nur oberflächlich an das Concerto Grosso erinnernden, recht brav agierenden Ensemble mit vielen Dissonanzen angereichert, ohne das Ganze zu dekonstruieren. Esfahani spielt mit Leidenschaft; Liebreich begleitet präzise, setzt aber kaum eigene Akzente. Zwar reicht Martinůs Stück nicht an die beiden folgenden Werke heran, man langweilt sich freilich keine Sekunde.

Hans Krása (1899–1944) wird heute gern zu den Theresienstädter Komponisten gezählt, obwohl natürlich die meisten seiner Werke vor der Internierung entstanden sind, darunter die wunderbare, zweisätzige Kammermusik für Cembalo und 7 Instrumente (1936). Krása entstammte einer deutschsprachigen, jüdischen Prager Familie, und in seiner Musik spielen ebenso deutsche Traditionen eine viel größere Rolle als etwa beim gleichaltrigen Pavel Haas – beide wurden am selben Tag in Auschwitz ermordet –, der mehr der Janáček-Nachfolge zuzurechnen ist. Esfahani steigt mutig in die hier vorherrschende, oft dichte Kontrapunktik ein – über Strecken nur die solistischen Bläser begleitend, in den eigenen Soli recht zerbrechlich wirkend, aber immer mit Charme. Das Stück ist mit seinen Anklängen sowohl an zeitgenössische Popularmusik (eigenes Liedzitat im 2. Satz, fast wie Kurt Weill) wie auch durch seinen klar kammermusikalischen Charakter vielschichtiger als Martinůs Konzert – wirklich großartige Musik.

Zuzana Růžičková dürfte Krása in Theresienstadt begegnet sein – später überlebte sie Auschwitz und Bergen-Belsen. Seit 1952 war sie mit dem Komponisten Viktor Kalabis (1923–2006) verheiratet, der ihr mehrere Werke gewidmet hat. Kalabis‘ Musik – u. a. fünf Symphonien – führt gerade in Deutschland noch immer ein Schattendasein: Dabei verbindet sie auf sehr persönliche Weise neoklassizistische Elemente mit avantgardistischeren Techniken bis hin zum Serialismus und ist quasi ein Musterbeispiel für die unterschiedlichen Tendenzen in der ehemaligen Tschechoslowakei nach dem 2. Weltkrieg. Trotz der Besetzung nur mit Streichern überzeugt sein Cembalokonzert von 1975 durch eine ungemeine Farbigkeit und Differenziertheit, die Liebreich wunderbar herüberbringt. Esfahani beherrscht die außerordentliche Virtuosität des Cembalosatzes souverän, kommt an seine Lehrerin durchaus heran. Dieses fast halbstündige Konzert ist ein Gipfelwerk der Gattung. Sowohl die Lyrik des Andantes als auch die atemberaubende Beweglichkeit des abschließenden Allegro vivos – hier alles sehr bewusst vorgetragen – versetzen den Zuhörer in Staunen. Jeder Cembalist sollte dieses Stück kennen!

Die Neuaufnahmen machen Růžičkovás Interpretationen keinesfalls überflüssig. Zumindest aufnahmetechnisch sind sie deren Einspielungen aus den 1980ern und 1990ern deutlich überlegen. Das Klangbild ist hier geradezu optimal – durchsichtig und hochdynamisch. Zudem sind die drei wertvollen Stücke so bislang nie auf einer CD zu hören gewesen, die schon deshalb eine klare Empfehlung verdient.

[Martin Blaumeiser, November 2023]