Archiv der Kategorie: CD-Rezension

Boris Giltburgs formidabler Rachmaninow

Naxos, 8.574528, EAN: 7 47313 45287 3

Mit den Klavierkonzerten Nr. 1 und 4 und der Rhapsodie über ein Thema von Paganini vervollständigt der russischen Pianist Boris Giltburg seine Einspielungen der Werke für Klavier und Orchester von Sergej Rachmaninow. Begleitet wird er von den Brüsseler Philharmonikern unter der Leitung von Vassily Sinaisky.

Boris Giltburg kann mittlerweile getrost als eines der Aushängeschilder des Labels Naxos gelten, und neben – natürlich – Beethoven liegt ein besonderer Schwerpunkt seines Interesses auf der Musik Rachmaninows. Mit der vorliegenden Neuerscheinung (des vergangenen Jubiläumsjahres 2023) komplettiert er seine Einspielung von Rachmaninows Werken für Klavier und Orchester, wobei im Vergleich zu den bereits vor Jahren erschienenen mittleren Konzerten Orchester und Dirigent gewechselt haben und ihm nunmehr mit Vassily Sinaisky ein veritabler Altmeister der russischen Dirigentenschule zur Seite steht.

Im Fokus stehen diesmal also die im Vergleich zu den Konzerten Nr. 2 und 3 sicherlich ein gutes Stück unpopuläreren Klavierkonzerte Rachmaninows, was natürlich sehr stark in Relation zu betrachten ist – immerhin sind auch diese Werke um ein Vielfaches besser in Einspielungen dokumentiert als unzählige andere Konzerte weniger prominenter Komponisten. Die Gründe dafür liegen sicherlich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil in einem Rachmaninow-Bild, das wesentlich auf den romantischen Schmelz seiner mittleren Schaffensperiode ausgerichtet ist, von dem beide Werke unzweifelhaft weniger enthalten. Dass sie aber aus anderen Gründen ihre ganz eigenen Reize haben und in vielerlei Hinsicht nicht weniger lohnenswert sind, steht auf einem anderen Blatt.

So kann man natürlich im Klavierkonzert Nr. 1 fis-moll op. 1, entstanden 1890/91 und 1917 grundlegend revidiert, noch relativ direkt allerlei Einflüsse ausmachen wie Tschaikowski (gleich in der Eingangsfanfare oder im lyrischen Mittelsatz) oder die nationalrussische Schule, und damit, dass der Beginn etwas an Schumanns Klavierkonzert erinnert, ist Rachmaninow bekanntlich nicht allein (in der Tat orientiert sich die Urfassung deutlich an Griegs Konzert). Bei alledem handelt es sich aber – erst recht in der Revision – um ein durch und durch lohnenswertes, selbstständiges und inspiriertes Werk, dessen finaler Wirbel (in der revidierten Fassung) übrigens nicht als Apotheose einer „großen Melodie“ konzipiert ist, sondern stellenweise fast etwas Robust-Tänzerisches an sich hat.

Schumann ist bis zu einem gewissen Grade auch der Referenzpunkt für die Momente des Innehaltens, des zart-poetischen Zögerns, die für den ersten Satz des Konzerts (neben der gleich auf den ersten Blick auffallenden großen Geste) charakteristisch sind, und es sind gerade diese Stellen, an denen die Qualitäten von Giltburgs Spiel ganz besonders zur Geltung kommen. Giltburg ist ja jemand, dessen Spiel sich durch ausgesprochene Kultiviertheit, sehr sorgfältige Artikulation, feine Lyrik und beseelte Emotionalität auszeichnet, ein Meister des Rubatos und der wohldurchdachten, wunderbar austarierten Übergänge. Davon zeugt in exemplarischer Weise auch der erste Einsatz des Klaviers im zweiten Satz, dessen Atmosphärik des Suchens, des zarten Sich-Vortastens Giltburg perfekt zu realisieren versteht. Ähnliches gilt für das kapriziöse Hauptthema des Finales.

Selbst in den forciertesten Passagen, so etwa in der großen Kadenz im ersten Satz, lässt sich Giltburg Raum für Differenzierungen, setzt niemals nur auf Klangfülle. So lobenswert dies grundsätzlich ist: hier und da wäre es sicher möglich, die Grandezza, das Pathos, das diese Musik zweifelsohne besitzt, bedingungsloser auszuspielen. Insgesamt aber ist dies von Seiten Giltburgs eine ausgesprochen hochklassige Einspielung.

Das Album beschließt Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 4 g-moll op. 40, 1926 fertiggestellt, hier aber (wie zumeist) in der revidierten Fassung aus dem Jahre 1941 eingespielt. Die Rezeption dieses Werks ist von Anfang an kompliziert gewesen, inklusive verheerender Kritiken der amerikanischen Presse nach seiner Uraufführung. Was dieses Werk auszeichnet, ist seine herbe, distanzierte Lyrik, oft auch Nervosität, eine gewisse Lakonie, die stellenweise geradezu brüsk anmuten kann. Rachmaninow rezipiert hier diverse Einflüsse der Musik jüngerer Kollegen; darauf, dass manche Passagen auch durch Jazz inspiriert sind, wird gerne hingewiesen (und dieser Punkt manchmal vielleicht etwas überstrapaziert), aber manche Aspekte der im Vergleich zu früheren Werken deutlich aufgerauten Orchestrierung weisen auch zum Beispiel auf Prokofjew hin.

Nichtsdestoweniger findet man aber auch in diesem Werk die für Rachmaninow typischen Kantilenen, nur dass sie nun isolierter wirken, Episode bleiben, in Frage gestellt werden. So bleibt selbst die Apotheose gegen Ende des Finales nicht ohne Zwischentöne, und der Schluss ist sicher kein uneingeschränkter Triumph, sondern besitzt auch eine gewisse trockene, nüchterne, vielleicht ein Stück weit groteske Note. Wenn man so will, ist dies ein Rachmaninow in einer neuen, fremden Umgebung, und begreift man das Konzert auf diese Weise, erscheint es umso faszinierender und das Brodeln mal unter, mal über der Oberfläche, das gerade in den Ecksätzen stets präsent ist, umso aufregender – ein Werk, das seinen Geschwistern tatsächlich in keiner Weise nachsteht.

Giltburg legt erneut eine exzellente, fein differenzierte, eher zurückgenommene, zur Introspektion neigende Lesart dieser Musik vor, die nicht nur lokal stattfindet, sondern die großen Linien und die Dramaturgie des Werks nachvollzieht. Sein Spiel ist von einer großen Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit geprägt, nichts klingt gewollt oder inszeniert. Im dritten Satz wählt er ein eher verhaltenes, obwohl nicht explizit langsames Tempo, zu beobachten schon gleich zu Beginn, den er wiederum mit einem gewissen Zögern begreift; hier wäre stellenweise (speziell im Orchester) mehr Schärfe und mehr Dynamik möglich, obwohl die für diese Musik so charakteristische Ambivalenz sehr gut eingefangen wird.

Mit den Brüsseler Philharmonikern und Sinaisky hat Giltburg sehr kompetente Mitstreiter an seiner Seite, sodass sich auch der Orchesterpart auf hohem Niveau bewegt – allerdings mit einer Einschränkung: es muss wohl an der Tontechnik liegen, dass das Orchester an manchen Stellen schlicht nicht präsent genug ist. Dies betrifft Dialoge mit dem Klavier oder thematische Einwürfe wie etwa die Melodielinie in den Bratschen bei Ziffer 30 im 2. Satz des Konzerts Nr. 1, den Seufzer im Horn kurz vor Ende dieses Satzes (bei Ziffer 37) oder die Celli beim 2. Thema im 1. Satz des Konzerts Nr. 4, aber auch farbliche Nuancen wie die trillerartigen Horngesten wiederum in diesem Satz (kurz nach Ziffer 22). Generell sind es besonders die tiefen Lagen, die stärker vernehmbar sein müssten, so etwa die gelegentlichen Tubasoli im Konzert Nr. 4, die nun einmal ihren Teil zu der ganz speziellen Aura dieses Werks beitragen.

Zwischen den beiden Werken steht – minutiös in Tracks aufgeteilt – die 1934 entstandene Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43, die noch charakteristischer für Rachmaninows Spätstil ist als das (ein wenig als Werk des Übergangs zu begreifende) Vierte Klavierkonzert, aber aufgrund ihrer effektvollen Dramatik (inklusive reichlicher Verwendung des „Dies irae“), ihrer größeren Extravertiertheit und auch des schwelgerischen Melos gerade der Variation Nr. 18 (das aber tatsächlich durch Umkehrung direkt aus Paganinis Capricenthema entsteht) deutlich größere Popularität genießt.

Giltburg bleibt sich auch hier treu und lotet gerade auch die Variationen, in denen die Musik innehält, wie etwa noch relativ zu Beginn die Variation Nr. 6, mit der ihm eigenen Kunst des pianistischen „Sinnierens“ aus. Wenigstens am Anfang erscheint das Orchester hier präsenter, obwohl manche Passagen mehr Differenzierung, mehr orchestrale Schärfe vertragen könnten – man beachte etwa das letzte „Dies irae“ kurz vor dem (dann doch wieder mit trockener Geste etwas relativiertem) A-Dur-Triumph, das eher breit als packend gerät. Insgesamt eine Lesart, der das Besessene, das diesem Werk innewohnt, etwas abgeht, allerdings auf hohem Niveau und teilweise wohl auch bewusst, zumal Giltburg selbst dem Werk insbesondere auch eine unterhaltsame, vielleicht sogar humorvolle Note zuspricht.

Es ist zwar zu bedauern, dass Naxos mittlerweile offenbar weitgehend dazu übergegangen ist, lediglich englische Begleittexte anzubieten; inhaltlich aber ist der Text, den Boris Giltburg für diese Produktion selbst verfasst hat, vorzüglich: eine sehr sorgfältige, detaillierte, umfassend informierende, von großer Begeisterung für diese Musik getragene und durchaus persönlich gehaltene Einführung in diese Werke. So fällt das Fazit insgesamt ausgesprochen positiv aus: Giltburg hat hier eine Einspielung vorgelegt, an die man sehr hohe Maßstäbe anlegen kann.

[Holger Sambale, März 2024]

Claudio Santoros Orchesterwerke der 1960er bergen Erstaunliches

Naxos 8.574410; EAN: 7 47313 44107 5

In der dritten Folge der entstehenden Gesamtaufnahme der Symphonien Claudio Santoros (1919–1989) widmet sich das Goiás Philharmonic Orchestra unter Neil Thomson endlich der Phase des brasilianischen Komponisten während der 1960er Jahre, wo er sich mit der europäischen Avantgarde auseinandersetzt. Neben der 8. Symphonie hören wir noch die Três Abstrações, die Interações Assintóticas sowie das während der Errichtung der Berliner Mauer in Ost-Berlin entstandene Cellokonzert mit der Solistin Marina Martins. Das als Zugabe konzipierte One Minute Play schließlich dauert tatsächlich nicht länger als der Titel nahelegt.

Das Orquestra Filarmônica de Goiás unter seinem britischen Chef Neil Thomson hatte sich in der ersten Folge der Symphonik Claudio Santoros (dort findet der Leser auch nähere Infos zum Werdegang des Komponisten) mit seiner quasi nationalistischen Schaffensphase befasst, auf der zweiten CD dann Beispiele des Spätwerks vorgestellt. Nun folgen auf der dritten Veröffentlichung konsequenterweise Stücke aus den 1960er Jahren, wo Santoro – konfrontiert mit den verschiedenen Strömungen der damaligen europäischen Avantgarde – wieder höchst eigenwillig und mit beeindruckenden Ergebnissen seinen persönlichen Weg findet.

Den Sommer 1961 verbrachte Santoro auf Einladung des Komponistenverbandes der DDR in Ost-Berlin, wo er ganz unmittelbar die unruhigen Zeiten während des Mauerbaus erlebte. Diese Eindrücke gingen offenkundig ins Cellokonzert mit ein, das im August begonnen und im Oktober vollendet wurde. Das gut halbstündige Werk ist das symphonischste aller Konzerte Santoros und verlangt von Solisten, die sich daran wagen, technisch wie emotional alles ab. Die brasilianische Cellistin Marina Martins kann hier völlig überzeugen: engagiert und spannungsvoll, ohne je zu überdrehen oder auch nur eine Sekunde zu langweilen. Wenn das Cello im gewaltigen, insgesamt jedoch verhaltenen Kopfsatz erst nach gut 5½ Minuten eintritt, gilt es, sofort die ungeheure Entwicklung der langen Solokadenz nachzuvollziehen. Danach wird es deutlich dramatischer, später im langsamen 2. Satz noch desolater. Erst im Finale bewegt sich das Stück in zunächst gewohnt konzertanten Gefilden, endet jedoch pessimistisch: tief berührend, vielleicht nicht ganz so genial wie Dutilleux‘ Tout un monde lointain…, zumindest auf ähnlich hohem Niveau. Warum gab’s da bisher keine Aufnahme?

Die 8. Symphonie von 1963 hat mit ihrer inhärenten Zwölftönigkeit – nicht durch äußerlich vorgegebene Reihen – einen Sonderstatus innerhalb Santoros Symphonik, auch weil erst wieder knapp 20 Jahre später die nächsten Gattungsbeiträge folgen. Das nur 15-minütige Stück erweist sich als hochexpressionistisch und integriert im Mittelsatz überraschend eine Mezzosopran-Vokalise – hier von Denise de Freitas ausdrucksvoll dargeboten. Nachdem die Militärjunta den Komponisten 1966 quasi aus der Heimat vertrieben hatte, führte ihn ein DAAD-Stipendium wieder nach Deutschland, diesmal in den Westen. Dort setzte er sich intensiv mit den aktuellen Avantgarde-Strömungen auseinander, nachdem seine frühe Begegnung mit der Schönbergschen Zwölftontechnik über Hans-Joachim Koellreutter eher in Ablehnung gemündet war. Die Três Abstrações (nur für Streicher, 1966) und die Interações Assintóticas (Paris, 1969) sind so lediglich unterschwellig vom Serialismus geprägt: Erstere experimentieren mehr mit Clustern, Glissandi und unkonventionellen Spieltechniken, letztere – erst 1976 in Bonn uraufgeführt – mit Vierteltönigkeit und Aleatorik – für den Rezensenten doch die interessantesten Entdeckungen. Manches mag hier an Penderecki oder Ligeti erinnern, ist aber durchaus originell. One Minute Play (1967), von vornherein als kurzes Zugabenstück gedacht, ist ein witziges moto perpetuo mit achtstimmigem Fugato.

Nun schon erwartungsgemäß gelingt dem – ich kann es nicht oft genug wiederholen – Weltklasse-Orchester aus der Zwei-Millionenstadt Goiânia wieder eine positive Überraschung nach der anderen. Neil Thomson weiß mit diesen – bis auf Interações Assintóticas – Ersteinspielungen völlig zu begeistern, was freilich nicht zuletzt am höchst abwechslungsreichen Repertoire liegt, dessen spezifische Anforderungen der Dirigent punktgenau umzusetzen versteht. Das musikalische und aufnahmetechnische Niveau sowie die immer höchst informativen Booklets der Naxos-Serie The Music of Brazil führen auch diesmal zu einer ausdrücklichen Empfehlung.

[Martin Blaumeiser, März 2023]

Écoles de Paris — Paris pour École

EDA Records, EDA 048; EAN: 8 403087 10048

Das Album Écoles de Paris – Paris pour École vereint Werke vierer Komponisten, die wesentlich vom Paris der 1920er Jahre geprägt worden sind: George Antheil, Jacques Ibert, Simon Laks und Marcel Mihalovici. Es spielen Mitglieder des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Leitung von Johannes Zurl. Als Solisten sind Adele Bitter (Violoncello) und Holger Groschopp (Klavier) zu hören.

Frank Harders-Wuthenow wirkt seit Jahrzehnten nicht nur im Musikverlagsgeschäft, sondern ist auch einer der beschlagensten und kenntnisreichsten Musikforscher weltweit. Hauptfeld seiner Erkundungen ist gleichermaßen die verfemte wie überhaupt die unterschätzte und vernachlässigte Musik des 20. Jahrhunderts, wo er ein sehr gutes Gespür hat, wie die Spreu vom Weizen zu trennen ist. Außerdem hat er eine ausgesprochene Gabe für die dramatisch schlüssige Zusammenstellung von Programmen, und schon alleine von daher gehört er zu denjenigen, wie weniger Wert auf enzyklopädische Vollständigkeit und Übersichtlichkeit legen als auf eine künstlerisch anregende Gesamtgestaltung. Also ist es keine Überraschung, wenn eine CD mit erlesenstem gemischten Programm der klassischen Moderne auf seinem Label EDA Records erscheint – die übrigens mit tollen Überraschungen aufwartet.

Gleich vorweg: das Album weist einen hervorragend einstimmenden und informierenden, recht umfangreichen Begleittext aus der Feder des Produzenten auf. Es handelt sich allesamt um Komponisten, die im Paris der 1920er Jahre heranreiften und es mitgeprägt haben. Natürlich könnten – gerade auch von den vielen Migranten – auch ganz andere dabei sein, wie Alexandre Tansman, Tibor Harsányi, Gösta Nystroem, Arthur Lourié, Bohuslav Martinu, Conrad Beck, Filip Lazar, Knudåge Riisager oder Uuno Klami, um nur einige wenige zu nennen. Aus dieser immensen Vielfalt sind drei Meister herausgegriffen, mit deren Werk die Welt nur sehr randständig bis überhaupt nicht vertraut ist, die in Kombination mit einem französischen Meister vorgestellt werden.

Den Anfang macht der einzige Franzose, Jacques Ibert – am besten durch seine Konzerte für Flöte und für Saxophon sowie durch seine Bläsermusik bekannt –, mit seinem so kurzweiligen wie knapp geformten dreisätzigen Konzert für Cello und Bläserdezett (doppeltes Holz sowie je ein Horn und eine Trompete) von 1925. Die Musik sprüht von trocken artikuliertem Witz, weist eine größere Nähe zu Strawinsky aus als spätere Werke Iberts und auch jene beinahe trivialen, zum Mitpfeifen einladenden Motive, wie wir sie beispielsweise aus seinen köstlichen Trois pièces brèves für Bläserquintett kennen. Alles funkelt, alles blitzt, und Solistin Adele Bitter gewinnt aus der heiklen Aufgabe, mit dem dominant kompakten Klang des Bläserensembles zu konzertieren, ein veritables Fest des unvorhersehbaren Dialogs. Natürlich ist das ‚Neoklassizismus‘, mit einer einleitenden Pastorale und einer finalen Gigue, die eine skurrile ‚Romance‘, die sich so gar nicht schwelgerisch gibt, umrahmen. Diese Romance gleicht einer unnahbar flunkernden Dame, mindestens mit Sonnenbrille, aber so was Anzügliches darf ich heute vielleicht nicht sagen.

Darauf folgt das Hauptwerk, die horrend herausfordernde Étude en deux parties für konzertantes Klavier, Bläser, Celesta und Schlagzeug von 1951. Mihalovici, rumänischer Jude und Pariser Weltbürger, engster Vertrauter George Enescus und vielleicht sein bedeutendster Nachfolger (ihm hat Enescu die Vollendung seiner späten Symphonie de Chambre, jenes grandios einsätzigen Meisterwerks, anvertraut), geht in seiner gereiften Tonsprache selbstverständlich davon aus, dass die Musiker in der Lage sein müssen, eine hohe Komplexität zu entschlüsseln und zu bewältigen. Es folgt hier auf einen langsamen Satz von mysteriös vorbereitendem Charakter in durchbrochener Faktur ein zügiger Satz mit jazzigen und rumänischen Anteilen, die auf sehr organische und unaufdringliche Weise ins anspruchsvolle Gewebe eingewoben sind. Dies ist absolut keine gefällige Musik, man muss die ständig kräftige Dissonanz-Würzung schon mögen, um Zugang zu finden, wird aber dann sehr reich belohnt. Die Energie wird lange unterschwellig gehalten, bevor sie sich gegen Ende exaltierter manifestieren darf. Zwar ist die Instrumentation sehr abwechslungsreich, wobei Mihalovici es liebt, die Klanggruppen einander opponieren zu lassen, doch ist er vor allem ein symphonischer Architekt, der alles von Anfang an auf den Schluss hin berechnet. Und ein bisschen Mysterium darf ja auch dann noch bleiben.

George Antheil hat mich mit seinem humorvoll draufgängerischen Concerto for Chamber Orchestra (für Bläseroktett, wie Strawinsky) in einem Satz von 1932 überrascht. Nicht das Freche, Frische, Grelle, Schlagkräftige, das ist ja für seine frühe Musik selbstverständlich; sondern die gelassene Souveränität seiner Provokation! Es ist äußerst präzise und treffsicher geschrieben und verdankt natürlich unendlich viel dem neusachlichen Strawinsky. Und zugleich ist es eben ein amerikanischer Strawinsky, so amerikanisch, wie selbst der Großmeister der Chamäleon-Possen es nie sein sollte. Diese Musik ist unmittelbar verständlich und hat das Zeug, mit poppiger Direktheit die Zuhörer zu gewinnen.

Auch das abschließende dreisätzige Concerto da camera für Klavier, Bläser und Schlagzeug von 1963, geschrieben vom polnischen Juden und KZ-Überlebenden Simon (Szymon) Laks, ist leicht zugänglich, und überdies von einer idyllischen Fröhlichkeit (also mehr naturhaft als die großstädtische Musik Antheils) mit einem ganz wunderbar den Problemen und Forderungen der Welt entrückten langsamen Mittelsatz. Das ist musikantische Musik im besten Sinne, für den Klaviersolisten sehr dankbar, gerade auch in der an Bach’sche Inventionen gemahnenden Kontrapunktik (Finale!) – ein zeitloses Werk, das genau so auch hätte dreißig Jahre früher oder sechzig Jahre später (=heute) entstehen können. Diesem Schaffen liegt eine autonome Haltung zugrunde, die die Parteifragen der Gegenwart (fortschrittlich oder rückständig und dergleichen) vollkommen transzendiert hat. Es war Laks offensichtlich gleichgültig, wie die Fachwelt urteilte, und er hatte Schlimmeres überlebt als deren Ignoranz – und stimmte, als unmittelbar Betroffener, offenkundig nicht Adorno zu, der ja proklamiert hat, nach Auschwitz könne man kein Gedicht (bei Laks: Lied) mehr schreiben. („… nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben…“ – viele haben aus diesem dystopischen Giftbecher getrunken.) Denn Laks lebte mehr im Jetzt – und in sich – als all jene, die bis heute Vergeltung, Wiedergutmachung oder Verweigerung fordern. Die Aufführungen dieser insbesondere hinsichtlich Balance und Rhythmus sehr heiklen Werke sind durchgehend von überdurchschnittlich seriöser Qualität, und herausragend ist das Klavierspiel Holger Groschopps, der sich gleichzeitig als feiner Kammermusiker und echter Virtuose vorstellt – also ganz so, wie es die somnambul verschattete, katakombisch klaustrophobische Faktur Mihalovicis unbedingt einfordert und auch der Indian-Summer-Ausgelassenheit des abgeklärten Laks entspricht.

In seiner feinziselierten Buntheit kann dieses vortrefflich zusammengestellte Album nur empfohlen werden. Strawinskys Bläser-Oktett übrigens ist nicht enthalten, wie das Cover suggerieren mag, sondern nur online zu hören – was aber keine Rolle spielt, denn dieses Werk ist ja schon viel öfter aufgenommen worden als alle vier anderen Werke dieses Programms zusammen.

[Christoph Schlüren, Februar 2024]

Zwei faszinierende Schlüsselwerke von Almeida Prado

Naxos 8.574411; EAN: 7 47313 44117 4

Begeisterte der Brite Neil Thomson in der engagierten Naxos-Serie „The Music of Brazil“ bereits auf 3 CDs mit Symphonik Claudio Santoros, widmet er sich auf der vorliegenden Veröffentlichung – diesmal mit dem Orquestra Sinfônica do Estado de São Paulo samt Chor – zwei Schlüsselwerken von José Antônio de Almeida Prado: Den Pequenos funerais cantantes ao poeta Carlos Maria de Araújo von 1969 – mit den Solisten Clarissa Cabral und Sabah Teixeira – sowie der Sinfonia dos Orixás von 1985.

Das mit bald 400 Werken – darunter viel Klavier- und Kammermusik – äußerst umfangreiche Schaffen des Brasilianers José Antônio de Almeida Prado (1943–2010) hat es noch kaum nach Europa geschafft, obwohl der Komponist nach den Lehrjahren bei seinem Landsmann Camargo Guarnieri in den 1960ern an den Darmstädter Ferienkursen teilnahm – bei György Ligeti und Lukas Foss – und später noch bei Nadia Boulanger und Olivier Messiaen studierte. Bei dieser ihn prägenden stilistischen Vielfalt verwundert es nicht, dass Almeida Prados eigene Musik oft zunächst heterogen erscheint, aber bei allem Abwechslungsreichtum teils divergierender Elemente formal – gewissermaßen unter der Motorhaube versteckt – einer sehr persönlichen Strenge folgt.

Die hier vorgestellten Stücke darf man getrost als Schlüsselwerke – zumindest innerhalb der Gattungen von Chor- und Orchestermusik – bezeichnen. Die Pequenos funerais cantantes ao poeta Carlos Maria de Araújo erhielten 1969 den 1. Preis beim Guanabra Musikfestival, machten Almeida Prado über Brasilien hinaus bekannt. Die Sinfonia dos Orixás (1985) ist ein Hauptwerk seiner letzten Schaffensperiode. Die Pequenos funerais folgen Hilda Hilsts gleichnamigem Gedicht auf den Tod des aus Portugal stammenden, später in Brasilien lebenden Dichters Carlos Maria de Araújo (1921–1961), der bei einem Flugzeugunglück ums Leben kam, worauf sich der kurze, rein instrumentale Anfang (Corpo de fogo)bezieht. Die sechs zentralen Segmente (Corpo de terra I–VI) vertonen entsprechend weitere Strophen aus Hilsts Dichtung: Der Text wird emotional aufwühlend von Chören und später einem Bassbariton- und einem Mezzosopran-Solo gestaltet. Die Instrumentation ist jeweils völlig individuell – wie die unterschiedlichen, beleuchteten Facetten des Verstorbenen; nie gibt es ein Tutti. Im wiederum sehr kurzen Schlussteil verebbt die Musik bis zur Stille.

Das melodische und rhythmische Material der 50-minütigen, instrumentalen Sinfonia dos Orixás sammelte teilweise Almeida Prados Ehefrau im Umfeld der Umbanda-Religion. Der aus 15 Teilen bestehende Hauptteil (Manifestação dos orixás) wird wiederum von zwei knappen „Ritualen“ umrahmt. Enorm farbige, rein rhythmische Abschnitte – von quasi Ostinati bis zu komplexen Entwicklungen – wechseln mit ausdrucksstarken, von Soloinstrumenten getragenen Teilen ab. Auch wenn das Ganze zwar nie langweilig, dafür jedoch mehr wie eine Suite als eine Symphonie erscheint, rechtfertigt die thematisch-motivische Arbeit – mit jeweils den weiblichen bzw. männlichen Geistern (Orishas) zugeordneten Hauptthemen – den Titel. Freilich erschließt sich zumindest beim ersten Hören nicht wirklich die persönliche Haltung des eigentlich streng-katholischen Almeida Prado zu dieser synkretistischen Götterwelt.

Neil Thomson leitet diesmal nicht sein Orchester aus Goiás, sondern das große OSESP (São Paulo) samt Chor. Gerade die perkussiven Abschnitte erreichen eine höchst beeindruckende Durchschlagskraft, aber ebenso überzeugend agieren die hervorragenden Instrumentalsolisten dieses Spitzenorchesters in den lyrisch-melodischen Momenten. Der Chor setzt die höchstdifferenzierten Anforderungen der Pequenos funerais kongenial um; deren momentaner Chorleiter (William Coelho) wird leider nur am Rande im sonst informativen Booklet erwähnt. Die beiden Gesangssolisten (Clarissa Cabral und Sabah Teixeira) machen ihre Sache zumindest ordentlich. Auch die Aufnahmetechnik fängt das sehr dynamische Geschehen gekonnt ein. Mal wieder ist der Hörer fasziniert von der schillernden, exotischen Klangwelt einer letztlich unverkennbar eigenständigen Komponistenpersönlichkeit: Man darf bei dieser inspirierenden CD-Reihe wohl weiter auf positive Überraschungen gespannt sein.

[Martin Blaumeiser, Januar 2024]

Symphonische Urlandschaften: Die abenteuerlichen Reisen des Anders Eliasson

BIS, BIS-2368; EAN: 7 318599 923680

BIS hat ein Album mit drei symphonischen Werken Anders Eliassons herausgebracht. Zu hören sind die Symphonie Nr. 3 für Sopransaxophon und Orchester, gespielt von Anders Paulsson, Sopransaxophon, und den Göteborger Symphonikern unter Leitung von Johannes Gustavsson, sowie das Posaunenkonzert und die Symphonie Nr. 4, gespielt vom Königlichen Philharmonischen Orchester Stockholm unter Sakari Oramo. Solist im Posaunenkonzert ist Christian Lindberg, die Flügelhornsoli in der Vierten Symphonie spielt Joakim Agnas.

Anders Eliassons Musik ist ein Abenteuer. Irgendwo entspringt ein Quell – sei es dezent oder mit einem Knall, blitzschnell hervorzischend oder sanft plätschernd: Die Musik, als wäre sie bereits vor Erklingen des ersten Tons in Bewegung gewesen, fließt und fließt und bahnt sich ihren Weg. Mächtig anwachsend, dann wieder entschleunigend, bald dunkle, tiefe Seen, bald schäumende Katarakte bildend, drängt sie voran, unaufhaltsam wie das neptunische Element. Es ist, als hörte man Urstromtäler in Tönen sich formen – und so oft man den Werken Eliassons auch lauschen mag: Man wird doch jedes Mal von neuem der erste Mensch, der diese ewig unberührte Landschaft betreten darf.

Den Theoretikern hat dieser große Mann freilich härteste Nüsse zu knacken gegeben. Diese Musik ist ohne Frage tonal. Eliasson hat nie einer jener Theorien angehangen, denen zufolge sich angeblich Atonalität erzeugen und die vielbeschworenen (aber kaum je ordentlich definierten) „Grenzen der Tonalität“ überwinden ließen. Als Student studierte er fleißig alles, was es um 1970 an aktuellen Modernismen zu studieren gab – „Rhythmus, Melodien und gewisse Intervalle waren tabu“ –, aber heimlich ging er dabei dem nach, „was ich immer schon in mir gehört hatte“. Hört man Eliassons Musik, merkt man sofort, dass sie ebenso von harmonischen Spannungen bestimmt wird wie die Werke der Klassiker abendländischer Tonalität. Aber man gehe nur als Theoretiker heran und versuche Dominanten, Subdominanten etc. auszumachen! Wie würde man Bachs oder Mozarts Musik beschreiben, hätte man die ganzen Funktionsbegriffe nicht? Aber war es denn Bach oder Mozart so wichtig zu wissen, wie Riemann und andere Professoren ihre Stilmittel bezeichneten? Der Analytiker, der sich Eliasson mit dem üblichen Vokabular nähert, findet sich früher oder später ganz zurück an den Anfang versetzt – je nachdem wie lange er braucht, um zu merken, dass er einen am Ziel sicher vorbeiführenden Weg eingeschlagen hat. Aber ermahnt ein solcher Rückschlag nicht dazu, nun wirklich anzufangen?

Die musikalische Urlandschaft, die Anders Eliasson als erster betrat, zeigte sich mit jedem neuen Werk, das er schrieb, größer und reicher als zuvor vermutet. Er selbst war zu sehr mit ihrer Erkundung beschäftigt, als dass er in die Versuchung hätte geraten können, die Grundlagen seines Komponierens in ein theoretisch festgefügtes System zu überführen. Allenfalls sprach er von einem „System, das kein System ist“ und beschrieb sein musikalisches Material als „Alphabet“. Musik sei, so sagte er weiterhin, „wie H2O: Melos, Harmonik und Rhythmus sind eine Einheit. Und sie muss fließen.“ Versuche, absichtlich originell zu sein (wobei er „originell“ in Anführungszeichen setzte), waren ihm ein Ding der Unmöglichkeit, denn: „Man kann sich nicht von mehr als 1000 Jahren Tradition lösen, ohne unverständlich zu werden.“ Seine eigene Musik nannte er zwar „etwas völlig Neues“, doch bestand dieses Neue darin, „dass man das (tonale) Universum von einer neuen Position sieht“. Diese neue Perspektive verdeutlichte er einmal in einer Zeichnung, die in vereinfachter Form auch seinen Grabstein ziert: Eliasson ordnet darin die Töne des Quintenzirkels als eine Folge ineinander verschlungener Dreiecke an, wobei die einander entsprechenden Seiten der Dreiecke die drei möglichen Tonvorräte des verminderten Septakkords ergeben. Er überblickte die quintengestützte Ordnung also von einem Standpunkt aus, welcher deren Möglichkeiten zum Uneindeutigen deutlich hervortreten lässt. Nicht die Eindeutigkeit der Tonika-Dominant-Spannung, die ja selbst Schönbergs zwölftönige Werke gegen den Willen ihres Schöpfers beherrscht, interessierte Eliasson, sondern eine tonale Ordnung, die beständig mehrere Möglichkeiten der harmonischen Fokussierung anbietet. Die „triangulatorische“ Harmonik lässt die Musik auf eine Art und Weise flüssig erscheinen, wie dies zuvor bei keinem anderen Komponisten vorgekommen ist.

Eliassons Dreiecksskizze wurde als Titelbild zu einer CD-Veröffentlichung von BIS ausgewählt, die einen optimalen Einstieg in die Klangwelt des 1947 geborenen schwedischen Meisters bietet. Sie enthält ausschließlich Ersteinspielungen: Die Vierte Symphonie (2005) wurde vom Königlichen Philharmonischen Orchester Stockholm (Royal Stockholm Philharmonic Orchestra) unter der Leitung von Sakari Oramo aufgenommen, ebenso das Posaunenkonzert (2000), in dem Christian Lindberg, der das Werk seinerzeit uraufgeführt hat, als Solist zu hören ist. Die 1989 entstandene Dritte Symphonie erscheint bereits zum zweiten Mal auf CD, nun aber erstmals in ihrer überarbeiteten Fassung von 2010. Das Werk ist als konzertante Symphonie mit solistischem Saxophon angelegt und war ursprünglich für den Altsaxophonisten John-Edward Kelly geschrieben, auf dessen ausdrücklichen Wunsch hin der Komponist die Solostimme in Höhen führte, die außer Kelly selbst kaum ein anderer Spieler bewältigen konnte. Um Aufführungen des Werkes zu erleichtern, erstellte Eliasson schließlich 20 Jahre nach der Uraufführung eine Fassung für Sopransaxophon, deren erste Aufnahme hier durch den Solisten Anders Paulsson und die Göteborger Symphoniker unter Johannes Gustavsson vorgelegt wurde. Somit sind nun sämtliche vollendete Symphonien Eliassons für großes Orchester auf CD greifbar. Die Erste Symphonie (1986) wurde von Gennadij Roshdestwenskij und dem Symphonieorchester des Kulturministeriums der UdSSR aufgenommen (Caprice). Die Dritte in der Fassung für Altsaxophon liegt mit John-Edward Kelly und dem Finnischen Rundfunksymphonieorchester unter Leif Segerstam vor (NEOS). Seine Symphonie Nr. 2 hat Eliasson nie vollendet. Es existiert nur eine Anzahl von Skizzen, anhand derer sich kein geschlossener Werkverlauf erkennen lässt.

Die Dritte Symphonie besteht aus fünf Abschnitten, die nahtlos ineinander übergehen und gemeinsames Material verarbeiten. Sie sind mit Cerca (Suche), Solitudine (Einsamkeit), Fremiti (Schaudern), Lugubre (traurig) und Nebbie (Nebel) überschrieben. Zweimal lässt Eliasson einen raschen Satz in einen langsamen münden, wobei der Kontrast zwischen Teil 3 und Teil 4 denjenigen zwischen den ersten beiden deutlich übertrifft. Am Ende des dritten Abschnitts wird ein frenetischer Höhepunkt erreicht, auf den die düstere Musik des Lugubre antwortet. Der letzte Teil des Werkes ist kein umfangreicher Satz mehr, sondern eine kurze Coda, in der die Kontraste aufgehoben werden. Wenn der Nebel aufsteigt, beschleunigt sich die Musik wieder, ohne schnell zu werden. Helle Klangfarben scheinen auf, ohne zu strahlen. Kein Triumph, keine Tragödie, vielleicht das unvermutete Ergebnis der anfänglichen Suche, auf jeden Fall ein Ausatmen in frischer Luft. Das Saxophon ist eindeutig das führende Instrument. Es ist durchweg präsent, gibt meist die Richtung vor und hat Aufgaben zu bewältigen, die einen virtuosen Spieler verlangen. In John-Edward Kellys Worten hat Eliasson das Werk dennoch „Symphonie“ genannt, da „der ästhetische Schwerpunkt tiefer liegt als in einem Konzert“. Durch die Einspielung Paulssons kann man nun beide Fassungen der Symphonie vergleichend hören. Auf dem Sopransaxophon gespielt, wirkt sie deutlich leichtfüßiger, spielerischer als in Kellys Aufnahme mit Altsaxophon. Kelly hat den Komponisten ja explizit um höchste Anforderungen gebeten, er wollte mit der Materie kämpfen. Das ist ihm bravourös in seiner Einspielung gelungen. Einen vergleichbaren Existenzialismus strahlt Paulssons Aufnahme nicht aus. Das Werk zeigt sich hier allerdings von einer abgeklärten Seite, wie sie eine Aufführung der Altsaxophonversion kaum hervorbringen dürfte. Letzten Endes ist das Werk eine der größten Kompositionen für Saxophon und Orchester, die je geschrieben wurden, und sowohl Alt-, als auch Sopransaxophonisten erhalten höchst lohnende Aufgaben. Freilich wird die Fassung für Sopransaxophon wohl in Zukunft wesentlich häufiger gespielt werden als diejenige für Altsaxophon, da die Schwierigkeiten für letzteres Instrument wesentlich größer sind.

Das einsätzige Posaunenkonzert ist weniger virtuos als die Saxophon-Symphonie und betont nicht nur in der Einleitung und im Schlussteil, die beide in langsamem Tempo gehalten sind, die kantable Seite des Instruments. Im lebhaften Hauptteil, der in mehreren Steigerungswellen verläuft, fehlt es aber auch nicht an Machtworten in der Solostimme, namentlich wenn der Satz gegen Ende auf einen gewaltigen Höhepunkt zusteuert. Die Posaune steht nicht eigentlich im Gegensatz zum Orchester, eher scheint sie als ein Anführer die übrigen Instrumente aus dem Inneren des Orchesterverbandes heraus anzuspornen. Am deutlichsten tritt sie aus der Gruppe heraus, wenn sie zum Abschluss des Ganzen einen breit ausschwingenden Gesang anstimmt. Dass Eliasson mit diesem Stück auch den Posaunisten ein Werk höchsten Ranges geschenkt hat, braucht eigentlich nicht betont zu werden.

Wie die beiden anderen Werke auf der CD ist auch die Vierte Symphonie ein ununterbrochenes Kontinuum, das sich in mehrere Abschnitte in unterschiedlichen Tempi gliedert. Hier wechseln zweimal schnelle und langsame Musik einander ab, wobei der Schlussteil einen knappen Epilog darstellt, der das Werk mit der Musik des langsamen zweiten Teils beschließt. Das eigentliche Finale ist damit der dritte Teil, zugleich der lebhafteste der Symphonie. Lässt Eliasson die Musik in der Dritten Symphonie zu Beginn hervorsprudeln und im Posaunenkonzert mit dezenten Wellenschlägen einschwingen, eröffnet er die Vierte mit lauten Orchesterschlägen. Das Hauptmotiv besteht nur aus zwei Tönen, aber wie prägnant ist es formuliert und wie abwechslungsreich verwandelt! Tatsächlich erleben wir in diesem Werk, wie ein Motiv von alleräußerster Knappheit zur Grundlage eines höchst belebten Geschehens wird. Auch in der Vierten Symphonie spielt ein Soloinstrument, allerdings nicht durchgängig: Im langsamen zweiten Teil führt über weite Strecken ein Flügelhorn die Melodie (in der Aufnahme gespielt von Joakim Agnas), auch behält es in der Coda der Symphonie mit einem sanften Anschwellen, ohne laut zu werden, das letzte Wort. Virtuose Passagen, wie sie in der Dritten Symphonie und in geringerem Maße im Posaunenkonzert vorkommen, fehlen allerdings völlig. Die Vierte präsentiert sich als ein überwiegend lichtes, helles Werk. Mit ihrer markanten Thematik und der zarten Lyrik der Flügelhorngesänge kann sie als eine der unmittelbar ansprechendsten Kompositionen Eliassons bezeichnet werden.

Man kann nur wünschen, dass diese wunderbare CD, auf der hervorragende Dirigenten, Orchester und Solisten ihr Bestes geben, der Musik des 2013 vorzeitig gestorbenen Komponisten (der sich zum Zeitpunkt seines Todes mit Plänen zu einer Fünften Symphonie trug) viele Freunde gewinnen und zu weiteren Entdeckungsreisen in die abenteuerliche Welt des Anders Eliasson einladen wird. Angesichts solcher Werke in solchen Aufführungen ist eigentlich kein Zweifel mehr möglich: Anders Eliasson war einer der ganz großen Meister der Tonkunst nicht nur unserer Zeit.

[Norbert Florian Schuck, Januar 2024]

Eugen Engels „Grete Minde“: Wiederentdeckung der Oper eines Unentdeckten

Orfeo C260352; EAN: 4 011790 260228

Fast 90 Jahre nach ihrer Fertigstellung war die Uraufführung von Eugen Engels (18751943) Oper „Grete Minde“ im Februar 2022 am Theater Magdeburg unter Leitung von Generalmusikdirektorin Anna Skryleva schon eine kleine Sensation, die auch überregional hohe Beachtung fand. Ein erstaunliches Beispiel für bislang im Verborgenen schlummerndes Opernschaffen; hier eines der Öffentlichkeit bis dato völlig unbekannten deutsch-jüdischen Hobbykomponisten, der 1943 von den Nazis ermordet wurde, dessen einziges Bühnenwerk jedoch als Partitur überlebte, die erst von der Enkelin ihres Schöpfers ans Licht gebracht worden war. Der Live-Mitschnitt der Premiere auf Orfeo ist zumindest eine hörenswerte Rarität.

Nicht ganz zu Unrecht wurde bei der Wiederentdeckung und Uraufführung von Eugen Engels „Grete Minde“ hinterfragt, ob angesichts der Unmengen an Opern, die es bislang nie auf eine Bühne geschafft haben, nicht allein das persönliche Schicksal des Komponisten die entscheidende Rolle gespielt haben dürfte. Eugen Engel – geboren 1875 im masurischen Teil des damaligen Ostpreußens, später hauptberuflich Kaufmann in Berlin – war als engagierter deutsch-jüdischer Bildungsbürger insbesondere der Musik zugewandt. Privat hatte er Kompositionsunterricht bei Otto Ehlers genommen, war aber anscheinend weitgehend Autodidakt. Nach 1905 wurden zwar einige Werke von Laienmusikern aufgeführt – eine abendfüllende Oper war allerdings schon ein anderes Unterfangen. Dass Engels Wahl des Stoffes hier ausgerechnet auf Theodor Fontanes Novelle „Grete Minde“ fiel, der ein historisches Ereignis zugrunde liegt, erscheint zunächst merkwürdig, da die typische, distanzierte und lakonische Sprache des Dichters wenig Opernhaftes bietet. Engels Librettist Hans Bodenstedt – der später als überzeugtes NSDAP-Mitglied der Nazi-Propaganda zuarbeitete und nach dem 2. Weltkrieg Karriere beim NWDR machte – verfasste den Operntext bereits 1914, und der Komponist arbeitete somit bald 20 Jahre an seinem Projekt. Nach der Vollendung 1933 war natürlich an eine Aufführung in Deutschland nicht mehr zu denken, und auch die Korrespondenz mit Bruno Walter, Leo Blech und Edwin Fischer ebnete keine neuen Wege außerhalb der Heimat. Während Engels Tochter Eva 1935 nach Amsterdam floh und 1941 in die USA gelangte, wurde Eugens geplante Ausreise über Kuba im letzten Moment vereitelt: Sein Schicksal endete 1943 in der Mordmaschinerie des Vernichtungslagers Sobibor.

Eva Lowen versuchte kurz, den Namen ihres Vaters bekannt zu machen, aber erst Eugens Enkel beschäftigten sich ab 2006 intensiver mit dessen kompositorischen Hinterlassenschaften. Der Weg bis zur Uraufführung von „Grete Minde“ in Magdeburg ist einigen glücklichen Umständen geschuldet, hauptsächlich der Tatsache, dass die neue Generalmusikdirektorin, die Russin Anna Skryleva, von dem Stück absolut überzeugt war. Das Theater scheute dann keine Kosten und Mühen, das Werk auf die Bühne zu bringen. Einige Qualitäten von Engels Arbeit werden sofort deutlich: Zunächst einmal funktioniert – unerlässlich für eine Oper – das richtige Timing. Bodenstedt hat die Handlung klug gerafft, behielt die in Fontanes Fassung enthaltenen „Volkslieder“ bei, und bietet in den Szenen gelungene, essenzielle Psychogramme der Protagonisten. Die Geschichte der Margarete von Minden, die durch Fontane stark abgewandelt wird, soll hier nicht dargestellt werden. Engels Musik, inspiriert einerseits durch Werke wie Wagners Meistersinger oder Leoncavallos Verismo in I Pagliacci, andererseits durchaus noch von Carl Maria von Weber, wechselt geschickt zwischen Massenszenen, die oft heiter und gezielt volkstümlich wirken, und recht bewegenden Auseinandersetzungen der Hauptfiguren. Musikalisch erstaunt vor allem Engels versierte Instrumentation, die zumeist Richard Strauss, Humperdinck – mit dem der Komponist in Kontakt stand – und Schreker als Vorbildern folgt, teils (Glockenspiel etc.) Korngold-nah klingt. Skryleva hat das Orchester leicht ausgedünnt – etwa vier statt sechs Hörner –, erreicht so ein hohes Maß an Durchsichtigkeit und ermöglicht ihrem Sängerensemble immer adäquates Durchkommen.

Wollte Engel hier eine Art spätromantische „Volksoper“ schreiben? Die dafür aufgewandten Mittel erscheinen eher naiv und sind Anfang der 1930er schon klar aus der Zeit gefallen. Trotzdem gelingt, die stets unterschwellig vorhandenen Religionskonflikte kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg durchgängig zu thematisieren. Wirklich berühren dann etliche Dialog-Momente, so der Tod von Gretes Partner Valtin oder die Zuspitzungen im dritten Akt. Etwas übernommen hat sich der Komponist leider in der rein dramaturgisch durchaus zwingenden Schlussszene. Wenn Grete Tangermünde abfackelt und mit ihrem Sohn schließlich im brennenden Kirchturm als eine Art Fanal zu Tode kommt – die historische Figur endete auf dem Scheiterhaufen –, will die Musik dann trotz erkennbarer Rückgriffe auf Wagners „Feuerzauber“ der Walküre nicht so recht zünden. Sowas beherrschten etwa Schreker oder Strauss doch um Klassen besser.

Die Leistungen der Magdeburgischen Philharmonie und des Chores sind fast makellos. Skryleva schafft es, die heterogenen Momente dieser leicht querständigen Oper unter einen Hut zu bringen. Bei der Sängerriege zeigen sich die Damen den männlichen Protagonisten deutlich überlegen, allen voran die großartige Raffaela Lintl in der Titelrolle: emotional mitreißend, dabei immer mit klanglich ausgewogener Sopranglut. Auf gleichermaßen hohem Niveau bewegt sich Kristi Anna Isene als Trud. Von den Herren begeistern allenfalls Marko Pantelić als Gerdt sowie Benjamin Lee als Hanswurst, wo hingegen Zoltán Nyári (Valtin) ziemlich blass agiert. Bei den kleineren Rollen hört man teils nicht deutlich genug akzentuiertes Deutsch – sei’s drum.

Der Live-Mitschnitt – eine Co-Produktion mit Deutschlandradio Kultur – ist aufnahmetechnisch ohne Tadel, mit den üblichen Einschränkungen einer Bühnenaufnahme. Nur hätte man für eine CD-Veröffentlichung auf gute fünf Minuten (!) Schlussapplaus gerne verzichten können. Die Booklet-Infos der Dramaturgin Ulrike Schröder sind ausführlich, das Libretto ist komplett abgedruckt. Was bleibt? Zündende Melodien oder gar Ohrwürmer hat „Grete Minde“ nicht zu bieten; die Dramatik hält sich in Grenzen. Bruno Walter lobte zwar Eugen Engels solides Handwerk, vermisste dabei jedoch jegliche Individualität. Dem darf man zustimmen, muss dabei aber anerkennen, dass diese Oper zumindest funktioniert – wenn die Beteiligten mit so viel Herz an die Sache herangehen wie in Magdeburg. Einmal mehr reift die Erkenntnis, wie groß doch die Zahl ungehobener, hörenswerter Opernschätze tatsächlich sein mag. Auf CD eine willkommene Rarität – die es schon in die Vierteljahresliste des Preises der deutschen Schallplattenkritik schaffte –, muss sich die Repertoirefähigkeit dieser Entdeckung erst noch erweisen.

[Martin Blaumeiser, Dezember 2023]

Auf der Suche nach dem Glück

Capriccio, C5506; EAN: 0845221055060

Rundfunkchor und Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin haben unter der Leitung von Steffen Tast Engelbert Humperdincks Schauspielmusik zu Maurice Maeterlincks Weihnachtsmärchen Der Blaue Vogel eingespielt. Als Erzähler ist Juri Tetzlaff zu hören.

Die ultimative Weihnachtsoper für die Familie ist zweifelsohne Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel. Bei Jung und Alt gleichermaßen beliebt, ist sie zur Adventszeit nicht aus dem Spielplan deutschsprachiger Bühnen weg zu denken. Doch wer weiß schon, dass der 1854 geborene Komponist weitere märchenhafte, für Kinder geeignete Stoffe vertonte und Sammlungen volkstümlicher Lieder herausgab. Beispielsweise die Oper Dornröschen oder das Krippenspiel Bübchens Weihnachtstraum und auch die Schauspielmusik zu Maurice Maeterlincks Der blaue Vogel, um die es hier geht. 1911 hatte das Drama in Wien Premiere, ein Jahr später brachte es das Deutsche Theater Berlin heraus. Regie führte Max Reinhardt, der mit Humperdinck am gleichen Ort schon bei drei seiner Shakespeare-Inszenierungen und Aristophanes‘ Lysistrata zusammengearbeitet hatte. Die Aufführung wurde zum Publikumsrenner, aus kulturpolitischen Gründen jedoch bald aus dem Repertoire genommen. Die Musik geriet darüber in Vergessenheit, zumal Rechtsstreitigkeiten zwischen Maeterlincks und Humperdincks Verlag einen Druck verhinderten. So schlummerte die Partiturhandschrift in einer Bibliothek, bis sie der Dirigent und Geiger Steffen Tast aufspürte und die Orchesterstimmen herstellte. Zu guter Letzt entstand in Kooperation zwischen dem Deutschlandfunk Kultur und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) eine von Tast geleitete CD-Einspielung für das Label Capriccio.

Der blaue Vogel symbolisiert das Glück, das nicht zu greifen, aber manchmal näher ist, als gedacht. Das erfahren die Geschwister Mytyl und Tyltyl bei der Suche nach dem Tier, das allein die Schwermut einer Feentochter heilen kann. Auf der Reise durch fantastische Welten begegnen sie wunderlichen Figuren und lebendig gewordenen Gegenständen, das Federvieh jedoch finden sie nicht. Am Ende erkennen sie: alles war nur ein Traum. Den Vogel aber gibt es wirklich, es ist eine Stubentaube, die zu Hause von Tyltyl gehalten wird und das Mädchen – real die Nachbarin – gesund macht. Die Musik verbindet, für Humperdinck typisch, eingängige Melodik und spätromantische Üppigkeit. Nach einer sanft fließenden Ouvertüre, deren Hauptmotiv im Verlauf stetig wieder aufgegriffen wird, illustrieren schillernde Orchesterfarben das Geschehen. Es sind manchmal nur sinfonische Miniaturen, doch prägnant und stimmungsvoll instrumentiert: ein Flötensolo kennzeichnet etwa den Vogel, eine süße Geigenmelodie die Großeltern. Es gibt einen Sternenreigen im Walzerrhythmus, wuchtige Glocken und der Chor „O du fröhliche“ verbreiten Weihnachtsatmosphäre. Die kommt auch beim Anhören der Aufnahme auf. Der Rundfunkchor Berlin, das RSB und Steffen Tast als Spiritus rector schwelgen in so poetischen wie festlichen Klängen, dazu erzählt der KiKA-Moderator Juri Tetzlaff die von ihm und Tast zeitgemäß und kindgerecht aufpolierte Geschichte. Das macht der versierte Sprecher vorzüglich: variabel im Tonfall und pointiert charakterisierend, dabei aber nie übertreibend. Eine Bonus-CD enthält die als Sieben symphonische Bilder bezeichnete reine Musik Humperdincks. Der blaue Vogel verdient einen Platz unterm Christbaum. Denn wo kann man während der Festtage besser diesem Märchen lauschen.

[Karin Coper, Dezember 2023]

Klassiker der deutschen Romantik auf die Gitarre übertragen

Solo Musica, SM 424, EAN: 4 260123 644246

Der slowenische Gitarrist Aljaž Cvirn legt auf seinem Album Duality ein Programm vor, das ganz der deutschen Romantik gewidmet ist. Zusammen mit Jure Cerkovnik (Gitarre), Sebastian Bertoncelj (Violoncello) sowie Tanja Sonc (Violine) präsentiert er Bearbeitungen von Klavier- und Kammermusik von Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy und Franz Schubert.

Über Jahrhunderte hinweg war die Gitarre (ebenso wie ihre Vorgänger) ein Instrument, dessen Originalrepertoire sich in erster Linie aus den Werken komponierender Gitarristen zusammensetzte – in großem Stil hat sich dies erst im 20. Jahrhundert geändert. Und so besteht auch die Gitarrenliteratur des 19. Jahrhunderts überwiegend aus den Werken etwa von Sor, Giuliani, Aguado, Coste, Mertz und dann (nach längerer Pause) Tárrega, typischerweise also zudem aus dem südwesteuropäischen Raum, wo sich die Gitarre besonderer Popularität erfreute. Mit deutscher Romantik wird man die Gitarre kaum in Verbindung bringen, und dies ist der Punkt, an dem die neue CD des jungen slowenischen Gitarristen Aljaž Cvirn ansetzt. Bereits vor ein paar Jahren hat Cvirn Schuberts Arpeggione-Sonate in einer Bearbeitung für Violoncello und Gitarre eingespielt, seinerzeit als Teil eines Albums von Sonaten für Cello und Gitarre gemeinsam mit der Cellistin Isabel Gehweiler. Seine neue CD, „Duality“ genannt, ist zur Gänze der deutschen Romantik gewidmet von Franz Schubert über Felix Mendelssohn Bartholdy bis hin zu Johannes Brahms, naturgemäß in Bearbeitungen, die dieses Repertoire und seine Klangwelt der Gitarre „erschließen“.

Von den drei genannten Komponisten ist Brahms sicherlich derjenige, dessen Musik man am wenigsten auf einer CD mit Gitarrenmusik erwarten würde, und nicht von ungefähr stammen diese Transkriptionen aus jüngerer Zeit, namentlich von den Gitarristen Ansgar Krause (*1956) sowie Hubert Käppel (*1951). Bei den Vorlagen handelt es sich um eine Auswahl von Brahms’ späten Klavierstücken: Krause hat die Intermezzi op. 116 Nr. 2 & 6 und op. 118 Nr. 2 sowie die Romanze op. 118 Nr. 5 für zwei Gitarren übertragen (Cvirns Duopartner ist hierbei Jure Cerkovnik), und Käppel das Intermezzo op. 117 Nr. 2 für (eine) Gitarre. Natürlich ist es – zumal bei Musik dieses Bekanntheitsgrades – nicht ganz einfach, diese Werke unabhängig vom pianistischen Original zu hören. Dennoch: für sich betrachtet ergeben die fünf Stücke eine insgesamt reizvolle, ansprechende, angenehm zu hörende Folge, eher sacht timbriert und zurückgenommen als schwerblütig-melancholisch. Am besten, fast schon im Sinne einer kleinen Preziose, funktioniert vielleicht das Intermezzo op. 118 Nr. 2, dessen zarte, vergleichsweise lichte Introspektion sich in den Klängen der beiden Gitarren sehr gut wiederfinden lässt. Dem anderen Extrem begegnet man in den Trillerpassagen vor Wiederholung des ersten Teils der Romanze op. 118 Nr. 5, die sich auf den Gitarren schlicht nicht überzeugend darstellen lassen; hier stößt die Transkription an ihre Grenzen. Wenn überhaupt, wäre vermutlich ein entschiedenerer Eingriff in den Notentext vonnöten, wobei eine schlüssige Lösung freilich alles andere als auf der Hand liegt.

Ansonsten liegt vieles – und hier stellt sich am Ende doch mindestens teilweise die Frage nach dem Vergleich zum Original – in der Mitte. Sicherlich sind diese Stücke erst einmal vom Klavier her gedacht, und nicht jede klangfarbliche Schattierung (wie etwa der Registerwechsel im Mittelteil von op. 116 Nr. 2 oder die im Pedal gehaltenen Akkordbrechungen in op. 117 Nr. 2) erfahren wirkliche Entsprechungen. Mit dem Verzicht auf die Kontraoktave geht der Musik speziell in den akkordisch geprägten Passagen ein wenig ihre herbstliche Note verloren, dagegen gewinnen etwa die triolischen Figuren, die Brahms u. a. gerne in den Nebenstimmen einsetzt, in der Bearbeitung eine Bedeutung, die sie auf dem Klavier nicht haben; hier besteht zuweilen die Gefahr, dass sie die Melodielinie ein wenig überdecken. Am Ende steht also ein Balanceakt, der aber unter dem Strich Gewinn bedeutet, der Gitarrenliteratur Ausdruckssphären hinzufügt; dass man dieser Musik mit Vergnügen lauschen kann, steht ohnehin außer Frage.

Auf Brahms’ späte Klaviermusik folgen auf der CD zwei Stücke von Felix Mendelssohn Bartholdy. Sein Venetianisches Gondellied, das sechste des ersten Hefts seiner Lieder ohne Worte op. 19, hat bereits Francisco Tárrega (1852–1909) für Gitarre bearbeitet, und zwar in rundum geglückter Manier. Fast erwartungsgemäß – angesichts der feinen, gedämpften Melancholie des Originals – funktioniert das Stück auf der Gitarre vorzüglich, Flageoletts sorgen für ein gewisses zusätzliches schwärmerisch-atmosphärisches Moment. Neben den bekannten Klavierstücken hat Mendelssohn Bartholdy auch ein Lied ohne Worte für Violoncello komponiert, nämlich das Lied ohne Worte D-Dur op. 109, ein ganz bezauberndes, melodisch äußerst attraktives Werk, das 1845 für die junge Cellistin Lisa Christiani entstand. Der kroatische Cellist Valter Dešpalj (1947–2023; Bruder des Dirigenten und Komponisten Pavle Dešpalj) hat es für Violoncello und Gitarre arrangiert, eine Bearbeitung, die sich grundsätzlich eng am Original orientiert, abgesehen von einigen wenigen Stellen im Mittelteil, an welchen der Dialog zwischen Cello und Klavier so nicht realisiert werden kann. Cvirn wird dabei vom Cellisten Sebastian Bertoncelj unterstützt (auch er übrigens aus einer Musikerfamilie – der bekannte slowenische Pianist Aci Bertoncelj war sein Vater).

Ein zweites Mal wird die Gitarre in Schuberts Sonate für Violine D-Dur D 384 mit einem Streichinstrument kombiniert (nun mit Tanja Sonc an der Violine); die Bearbeitung stammt aus der Feder des schwedischen Gitarristen Mats Bergström (*1961). Schubert auf die Gitarre zu übertragen ist im Grunde genommen eine recht naheliegende Idee, es ist belegt, dass dies (im Falle seiner Lieder) bereits zu seinen Lebzeiten und auch in Anwesenheit des Komponisten geschah. So verwundert es vielleicht nicht, dass sich Bergströms vor rund 25 Jahren entstandenes Arrangement der (im Original ja ohnehin ebenso hinreißend charmanten wie äußerst populären) D-Dur-Sonate ganz offenbar einer nicht unbeträchtlichen Beliebtheit erfreut, jedenfalls erscheint es hier bereits zum dritten Mal auf CD. Dabei ist die Kombination Violine und Gitarre nicht einmal ganz unproblematisch (obwohl sie bereits im frühen 19. Jahrhundert u. a. von Giuliani oder Paganini mit Repertoire bedacht wurde), und an einigen wenigen Stellen – nämlich dann, wenn forciert wird – tendiert die Balance etwas zu sehr in Richtung Violine. Insgesamt aber ist dies eine reizvolle Bearbeitung (die sich zum Original ähnlich verhält wie Dešpaljs Mendelssohn-Arrangement).

Bereits 1845 gab der Wiener Gitarrenvirtuose Johann Kaspar Mertz (1806–1856) seine Sechs Schubert’schen Lieder heraus, Arrangements von Schubert-Liedern für die Gitarre also, teilweise übrigens unter Einbeziehung von Liszts Klaviertranskriptionen (vgl. etwa die Echoeffekte in der zweiten Strophe des Ständchens). Cvirn hat drei dieser Bearbeitungen ausgewählt und ans Ende seines Programms gestellt, und zwar Nr. 1 nach dem Lob der Tränen D 711 sowie Nr. 3 und Nr. 6 jeweils nach Vorlagen aus dem Schwanengesang (Nr. 4 Ständchen bzw. Nr. 10 Das Fischermädchen). Mertzs Arrangements sind ausgezeichnet gelungen, weil sie in sehr geglückter Manier Tonfall und Geist Schubert’scher Lieder mit der Idiomatik der Gitarre kombinieren; Mertz lässt die Gitarre auf mannigfaltige und im Detail bemerkenswert einfallsreiche Art und Weise regelrecht „singen“. Trotz auch hier relativ enger Orientierung am Original sind diese Stücke also nicht nur Bearbeitungen, sondern auch ein Stück weit poetische Nachschöpfungen von Schuberts Liedern.

Cvirns Plädoyer für diese Repertoireerweiterungen gerät insgesamt überzeugend. Besonders hervorzuheben sind seine Interpretationen von Mertz’ Schubert’schen Liedern. Hier ist Cvirn hörbar ganz in seinem Element und wartet mit beseeltem, sanglichem Spiel und viel Sinn für allerhand Details und Nuancierungen wie kleineren Rubati, Smorzandi oder delikatem Dolce-Spiel auf. Insofern ist es eigentlich zu bedauern, dass er nicht den gesamten Zyklus eingespielt hat (Platz genug wäre auf der CD gewesen – vermutlich eine Entscheidung im Sinne der Balance des Programms). Gut gelungen auch die Brahms-Adaptionen, in denen Cvirn und Cerkovnik immer wieder Sensibilität für kurze Momente des Innehaltens, des Zögerns beweisen. Hier und da wäre allerdings etwas mehr musikalischer Fluss möglich, vielleicht durch eine Spur zügigere Tempi (was dem naturgemäß rascheren Verklingen der Töne auf der Gitarre ein wenig entgegenwirken würde).

Mendelssohns Lied ohne Worte erfährt im Zusammenspiel mit Bertoncelj eine solide Interpretation; hier wäre allerdings noch mehr Differenzierung möglich, um die Eleganz, den Schmelz und die weiten kantablen Linien dieser Musik zu voller Geltung kommen zu lassen. Ansprechend ist die Lesart von Schuberts Sonate durch Sonc und Cvirn. Hier und da wäre noch etwas mehr Differenzierung möglich, etwa beim Rondothema des 3. Satzes, bei dem man zugleich etwas stärker ins Piano zurückgehen und der Musik mehr Esprit verleihen könnte. Im Vergleich musizieren Sparf/Bergström selbst dezidiert historisch informiert, während Migdal/Kellermann (auf BIS) in dieser Hinsicht einen Mittelweg gehen; ihre Lesart wirkt in Bezug auf Sonc/Cvirn sicherlich eleganter, feiner nuanciert und in der Balance (Fortissimo zwischen Ziffern B und C im ersten Satz) etwas überzeugender, allerdings immer wieder in puncto Agogik und auch Artikulation (gleich zu Beginn, wenn die Halben in der Violine immer wieder arg verkürzt werden) mit gewissen Eigenheiten, sodass Sonc/Cvirn hier als eine solide, unmanierierte Alternative gelten können. In der Totalen eine schöne Veröffentlichung.

[Holger Sambale, Dezember 2023]

Vom Wesen der Kammermusik – Wieniawski und Bruckner mit dem Glière-Quartett

DUX, DUX1918; EAN: 5 902547 019840

Das Glière-Quartett hat für Dux das Streichquartett a-Moll op. 32 von Józef Wieniawski (1837–1912) gemeinsam mit dem Streichquartett c-Moll WAB 111 von Anton Bruckner (1824–1896) eingespielt.

Es bedarf meist nur der ersten Töne einer Aufführung oder Aufnahme, um gleich zu wissen, mit wem man es zu tun hat. So ist es auch bei dem in Wien beheimateten Glière-Quartett und seiner neu herausgekommenen CD mit den Streichquartetten in a-moll op. 32 von Józef Wieniawski und dem in c-moll WAB 111 von Anton Bruckner.

Nach den ersten Tönen hören wir also bereits, dass wir es mit wirklichen Tonkünstlern zu tun haben, also mit Musikerinnen und Musikern, die die Werke vollkommen durchgehört und ihren Part individuell in Bezug auf das Ganze der Partitur nicht nur instrumental-musikantisch, sondern auch im symphonischen Sinne geistig durchdrungen haben und beherrschen. Und so hält der Rest der Einspielung, was schon die ersten Takte versprechen: Keine Note steht für sich allein, kein Tempo ist willkürlich, und kein noch so schöner Moment wird isoliert und damit an eine vordergründige Darstellung oder zweckfreie Virtuosität verschenkt.

Mit dieser freien, und im höchsten Maße einfachen wie komplexen Musizierhaltung des Glière-Quartetts ist es wohl möglich, aber kaum nötig, die eingespielten Quartette zu kontextualisieren, um sie aus einer vermeintlich zweiten Reihe des Streichquartett-Kanons hervorzuholen. Wir mögen den tonschönen, aber nie versüßten Wieniawski wohlklingend als Cousin ersten oder zweiten Grades von Brahms hören, und beim oft nicht ganz ernstgenommenen und als Studienwerk abgetanen Bruckner bestätigt finden, was in seinen Symphonien durch eine meist einseitige Klangorientierung zum Wagnerischen gerne mit falscher Verve überdeckt wird: dass er als Nachfolger von Haydn und Schubert deren Sinn für Klarheit und Form und für harmonisch subtile Farbgebung vereint.

Um so zu hören, bedarf es jedoch mit Wladislaw Winokurow (1. Geige), Dominika Falger (2. Geige), Martin Edelmann (Viola) und Endre F. Stankowsky (Cello) vier Musikerinnen und Musikern entsprechender Könnerschaft und Metierbeherrschung, und so geht die vorliegende Aufnahme noch einen Schritt weiter: beide Werke erklingen originär in ihrer Schönheit als das, was sie sind. Es wird, und das ist höchstes zu vergebendes Lob, nicht interpretiert und nicht dargestellt, sondern verwirklicht.

Das Glière-Quartett hat damit eine Referenzaufnahme der Werke, darüber hinaus aber ein Beispiel für das adjektivlose Wesen der Kammermusik, das so-wie-es-ist-wenn-man-aufeinander-hört, geliefert. Man kann es somit nur in den höchsten Tönen loben, ihm dankend auf weitere Zeugnisse ihrer Arbeit hoffen, und ihnen vor allem das Publikum wünschen, das die Ohren hat, so zu hören wie es selbst dazu in der Lage ist.

[Jacques W. Gebest, November 2023]

Moderne tschechische Cembalokonzerte mit Mahan Esfahani

Hyperion CDA68397; EAN: 0 34571 28397 5

Drei tschechische Cembalokonzerte des 20. Jahrhunderts präsentiert der aus Teheran stammende Meistercembalist Mahan Esfahani mit dem Prager Radiosinfonieorchester unter Leitung von Alexander Liebreich auf dem Hyperion-Label: Bohuslav Martinůs „Konzert für Cembalo und kleines Orchester“ H 246, Hans Krásas „Kammermusik für Cembalo und 7 Instrumente“ sowie Viktor Kalabis‘ „Konzert für Cembalo & Streichorchester“.

Die drei Werke für Cembalo und Ensemble bzw. kleines Orchester, die Hyperion hier mit Mahan Esfahani und dem Prager Radiosinfonieorchester unter Leitung von Alexander Liebreich vorgelegt hat, spiegeln in gewisser Weise die Vielfalt tschechischer Musik des 20. Jahrhunderts wider. Der aus Teheran stammende, in den USA aufgewachsene und zunächst dort ausgebildete Esfahani war der letzte Schüler der legendären Cembalistin Zuzana Růžičková (1927–2017) und lebt nun sogar in Prag. Neben seinen gefeierten Bach-Aufführungen und Einspielungen hat er sich schon immer gleichermaßen für zeitgenössische Literatur eingesetzt.

Abgesehen von der Musik des Barock, die – folgt man historischer Aufführungspraxis – selbstverständlich das Cembalo benötigt, war das Instrument durch die Fortschritte im Klavierbau als Soloinstrument mit Orchester lange obsolet geworden. Erst mit eben dem zunehmenden Interesse an historisch „korrekten“ Interpretationen Alter Musik sowie dem aufkommenden Neoklassizismus ab den 1920er Jahren, schrieben einige Komponisten dann auch wieder Cembalokonzerte. Die hier präsentierten Gattungsbeiträge waren schon Paradenummern von Růžičková und wurden von ihr ebenfalls eingespielt.

Bohuslav Martinůs (1890–1959) Konzert für Cembalo und kleines Orchester H 246 entstand 1935 für die französische Cembalistin Marcelle de Lacour, eine Schülerin der berühmten Wanda Landowska. Der Komponist traut allerdings insbesondere dem gegenüber tiefen Streichern mit Stahlsaiten eher schwachbrüstigen Bass nicht: So gibt es neben dem Cembalo noch ein obligates Klavier im kleinen Ensemble, das nicht nur den Bass unterstützt oder ganz übernimmt, sondern durchaus auch mal solistisch in den Vordergrund tritt und dem Cembalo zeitweise die Schau stiehlt. Andererseits ergeben sich dadurch feine, sehr interessante Klangkombinationen – das Zusammenspiel beider Instrumente haben später andere Komponisten, z. B. Elliott Carter oder Frank Martin, erneut aufgegriffen. Der Cembalosatz ist gegenüber dem nur oberflächlich an das Concerto Grosso erinnernden, recht brav agierenden Ensemble mit vielen Dissonanzen angereichert, ohne das Ganze zu dekonstruieren. Esfahani spielt mit Leidenschaft; Liebreich begleitet präzise, setzt aber kaum eigene Akzente. Zwar reicht Martinůs Stück nicht an die beiden folgenden Werke heran, man langweilt sich freilich keine Sekunde.

Hans Krása (1899–1944) wird heute gern zu den Theresienstädter Komponisten gezählt, obwohl natürlich die meisten seiner Werke vor der Internierung entstanden sind, darunter die wunderbare, zweisätzige Kammermusik für Cembalo und 7 Instrumente (1936). Krása entstammte einer deutschsprachigen, jüdischen Prager Familie, und in seiner Musik spielen ebenso deutsche Traditionen eine viel größere Rolle als etwa beim gleichaltrigen Pavel Haas – beide wurden am selben Tag in Auschwitz ermordet –, der mehr der Janáček-Nachfolge zuzurechnen ist. Esfahani steigt mutig in die hier vorherrschende, oft dichte Kontrapunktik ein – über Strecken nur die solistischen Bläser begleitend, in den eigenen Soli recht zerbrechlich wirkend, aber immer mit Charme. Das Stück ist mit seinen Anklängen sowohl an zeitgenössische Popularmusik (eigenes Liedzitat im 2. Satz, fast wie Kurt Weill) wie auch durch seinen klar kammermusikalischen Charakter vielschichtiger als Martinůs Konzert – wirklich großartige Musik.

Zuzana Růžičková dürfte Krása in Theresienstadt begegnet sein – später überlebte sie Auschwitz und Bergen-Belsen. Seit 1952 war sie mit dem Komponisten Viktor Kalabis (1923–2006) verheiratet, der ihr mehrere Werke gewidmet hat. Kalabis‘ Musik – u. a. fünf Symphonien – führt gerade in Deutschland noch immer ein Schattendasein: Dabei verbindet sie auf sehr persönliche Weise neoklassizistische Elemente mit avantgardistischeren Techniken bis hin zum Serialismus und ist quasi ein Musterbeispiel für die unterschiedlichen Tendenzen in der ehemaligen Tschechoslowakei nach dem 2. Weltkrieg. Trotz der Besetzung nur mit Streichern überzeugt sein Cembalokonzert von 1975 durch eine ungemeine Farbigkeit und Differenziertheit, die Liebreich wunderbar herüberbringt. Esfahani beherrscht die außerordentliche Virtuosität des Cembalosatzes souverän, kommt an seine Lehrerin durchaus heran. Dieses fast halbstündige Konzert ist ein Gipfelwerk der Gattung. Sowohl die Lyrik des Andantes als auch die atemberaubende Beweglichkeit des abschließenden Allegro vivos – hier alles sehr bewusst vorgetragen – versetzen den Zuhörer in Staunen. Jeder Cembalist sollte dieses Stück kennen!

Die Neuaufnahmen machen Růžičkovás Interpretationen keinesfalls überflüssig. Zumindest aufnahmetechnisch sind sie deren Einspielungen aus den 1980ern und 1990ern deutlich überlegen. Das Klangbild ist hier geradezu optimal – durchsichtig und hochdynamisch. Zudem sind die drei wertvollen Stücke so bislang nie auf einer CD zu hören gewesen, die schon deshalb eine klare Empfehlung verdient.

[Martin Blaumeiser, November 2023]

Die ersten Blüten der Musik für Solocello im 20. Jahrhundert

Wergo, WER 7409 2, EAN: 4 010228 740929

Auf seiner neuen Solo-CD erforscht Julius Berger die Anfänge der Sololiteratur für Violoncello zu Beginn des 20. Jahrhunderts, fast zwei Jahrhunderte nach Bachs epochalen Suiten. Neben Max Regers Suite d-moll op. 131c Nr. 2 hat Berger hierfür die Passacaglia aus der Solosonate von Donald Francis Tovey sowie – als Weltersteinspielungen – zwei Solowerke von Adolf Busch sowie die Suite Nr. 2 h-moll von Walter Courvoisier ausgewählt.

Dass Johann Sebastian Bachs Suiten für Solocello Anfang des 20. Jahrhunderts durch Pablo Casals aus einem veritablen Dornröschenschlaf erweckt werden mussten, dürfte vielen Musikliebhabern geläufig sein. In der Tat spielte man sie im 19. Jahrhundert wenn überhaupt, dann höchstens mit zusätzlicher Klavierbegleitung, wovon übrigens eine historische Aufnahme der Sarabande aus der Suite Nr. 6 durch Julius Klengel ein ebenso spätes wie in mancher Hinsicht skurriles Zeugnis ablegt. Diese Skepsis gegenüber Musik für solistisches Violoncello (und überhaupt solistische Melodieinstrumente) und ebenso ihre allmählich einsetzende Renaissance zu Beginn des 20. Jahrhunderts lässt sich dabei ebenso deutlich anhand der Literatur für Solocello nachvollziehen. In der Tat gibt es nach einer Reihe von Werken aus der Zeit des Barock eine lange Pause in etwa zwischen 1750 und 1900, in der nahezu überhaupt keine Solowerke entstanden, abgesehen von einigen Beiträgen komponierender Cellisten, besonders bekannt etwa die Capricen von Alfredo Piatti.

Um 1915 ändert sich das Bild allmählich, und gemeinhin werden Kodálys großartige Solosonate sowie Max Regers Drei Suiten op. 131c als die Werke genannt, mit denen die moderne Literatur für solistisches Violoncello beginnt, die also am Beginn einer Renaissance stehen, die bis zum heutigen Tag eine enorme Vielfalt an neuer Literatur hervorgebracht hat. Dieser Scheidepunkt ist es, der Julius Berger auf seinem neuen Album interessiert, und der ihn gleichzeitig dazu animiert hat, die Situation genauer unter die Lupe zu nehmen – und so weitere Solostücke aus jenen Jahren zum Vorschein gebracht hat abseits der bekannten Namen, unter anderem in Form von drei Ersteinspielungen. Es gab also nicht nur Kodály und Reger, sondern auch Donald Francis Tovey, Adolf Busch und Walter Courvoisier, die seinerzeit Musik für Solocello schrieben. Für dieses Wiederaufkeimen einer über Jahrhunderte vernachlässigten Gattung hat Berger das schöne Bild der ersten Blumen auf den Bergen seiner Allgäuer Heimat zu Beginn des Frühlings gefunden, der Soldanellen (oder Alpenglöckchen); daher der Titel des Albums.

Am Beginn steht mit Regers Suite Nr. 2 d-moll, wie alle drei Suiten um die Jahreswende 1914/15 entstanden, ein Klassiker. Berger präsentiert in seinem ausführlichen und von großem Enthusiasmus getragenen Begleittext eine Reihe von Gedanken und Thesen rund um dieses Werk. Man muss gar nicht notwendigerweise allen davon vollumfänglich zustimmen, um seine Ausführungen als eine ungemein anregende Lektüre zu empfinden und Einblicke in seine intensive Beschäftigung mit dieser Musik zu erhalten, die zu einer sehr persönlichen und charaktervollen Lesart der Suite geführt haben. Berger begreift sie als die „schmerzensreiche“ in Regers Triptychon, unter anderem mit Bezügen zu Bachs Choral Wenn ich einmal soll scheiden, und dieser Ansatz ist bereits im Präludium exzellent nachvollziehbar. Berger nimmt den Satz relativ rasch, übrigens durchaus in Einklang mit Regers Metronomangabe (Viertel=54, was bei einem Largo mit Notenwerten bis hin zu Zweiunddreißigsteln nicht eben langsam ist), und das Resultat ist weniger ein breit strömender langsamer Satz als vielmehr ein konfliktreicher, ausgesprochen expressiver, ja teils agitiert deklamierender (vgl. die bereits erwähnten Zweiunddreißigstel im Mittelteil) Monolog. Man beachte in diesem Kontext unter anderem Bergers relativ kurze, teil fast staccatohafte Artikulation in Takten 6 bis 8, die exemplarisch für das Momentum, den dramatisch-passionierten Vorwärtsdrang seiner Interpretation stehen mag.

In Regers viersätziger Suite findet sich an dritter Stelle ein zweites Largo, und es ist interessant zu beobachten, wie Berger in seinem bewegteren Mittelteil den expressiven Duktus des Präludiums wieder aufgreift, andererseits aber den Kontrast zu den breit ausgesungenen, weiten Bögen der Eckteile vorzüglich herausarbeitet. Hier weiß Berger die innige, tief empfundene Gesangslinie exzellent zu realisieren, die großen Zusammenhänge dabei stets im Blick. Bei der Wiederkehr des Anfangsteils spielt Berger offenbar weite Teile auf der D-Saite, was der Musik einen entrückten, sanft gedämpften Charakter verleiht. Bergers grundsätzliches Verständnis der Suite zeigt sich aber auch in den beiden schnellen Sätzen: so ist die Gavotte an zweiter Stelle bei ihm ein sehr wohl helleres, aber nicht leichtfüßiges Intermezzo, stets von einer gewissen Schwerblütigkeit geprägt, die natürlich im etwas verlangsamten, von Berger dezidiert auch verhalten, zögernd begriffenen Mittelteil besonders zum Tragen kommt. Ähnliches gilt für die finale Gigue: Berger lässt sich hier eher Zeit, eilt nicht, sondern nimmt sich sogar im Gegenteil immer wieder Momente des Innehaltens heraus, baut ein gewisses Maß an Rubato auch in diesem Vivace-Finale ein, arbeitet die Harmonik und die dramatischen Höhepunkte klar heraus. Etwas überrascht war ich zunächst darüber, dass er den Schluss etwas verhaltener nimmt als möglich wäre (immerhin Fortissimo al fine), aber tatsächlich kommt die „schmerzensreiche“ Note dieser Musik so ausgezeichnet zur Geltung.

Donald Francis Tovey (1875–1940), der große britische Musikgelehrte, war – wie in den letzten Dekaden durch eine Reihe von CD-Einspielungen allmählich wieder ins Bewusstsein gerufen wird – auch ein exzellenter Komponist, der ein verhältnismäßig schmales, aber sehr dezidiert die Auseinandersetzung mit der großen Form und der Tradition suchendes Œuvre hinterlassen hat. Anfang der 1910er Jahre beschäftigte er sich intensiv mit Musik für solistische Streichinstrumente und publizierte 1913 jeweils eine Sonate für Solovioline und Solocello. Aus der letzteren, der Sonate für Violoncello solo D-Dur op. 30, hat Berger den Schlusssatz, eine großartige, monumentale, an Bach (und natürlich speziell der Chaconne aus der Partita d-moll BWV 1004) geschulte Passacaglia ausgewählt, die bei Berger allein bereits 20 Minuten in Anspruch nimmt. Die Ausdrucksspanne dieser Musik ist enorm, unter anderem mit einem teils geradezu dramatischen Mittelteil in Moll, einer veritablen Apotheose und schließlich einem wie befreit wirkenden finalen Allegro. Faszinierend dabei ganz besonders die klug disponierten Höhepunkte, die sorgfältig über lange Zeiträume aufgebauten Steigerungen – man beachte etwa die stetig zunehmende Bewegung über die ersten Minuten hinweg.

Es gibt mindestens zwei Einspielungen der gesamten Sonate. Interessiert man sich für Toveys Schaffen insgesamt, ist die recht solide, aber im Vergleich doch etwas blasse Einspielung von Alice Neary bei Toccata von natürlichem Interesse. Die (mutmaßliche) Ersteinspielung der Sonate hat indes um die Jahrtausendwende herum die amerikanische Cellistin Nancy Green vorgenommen. Green nimmt die Passacaglia ein gutes Stück zügiger als Berger und kommt auf eine Spieldauer von 14 Minuten (bei neun gekürzten Takten direkt vor dem Moll-Mittelteil). Sie betont dabei eher den Vorwärtsdrang, die Dynamik der Musik, während Bergers Lesart über weite Strecken meditativer, vielleicht sogar ein wenig archaisch wirkt und die große, weiträumige Architektur des Stücks in den Vordergrund stellt. Dass beide Varianten sich als ausgesprochen valide Ansätze erweisen, spricht für die Qualitäten und den Facettenreichtum von Toveys Musik.

Mit den Solowerken von Adolf Busch (1891–1952) betritt Julius Berger gänzlich neues Terrain, denn bislang lagen von diesen Kompositionen keine Einspielungen vor. Busch war natürlich vor allem einer der berühmtesten Geiger der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat aber auch sein Leben lang komponiert. Völlig vergessen war sein Schaffen zwar nie, aber eine besonders große Rolle haben seine Werke auf Tonträger lange Zeit nicht gespielt. In jüngerer Zeit ist speziell seine Kammermusik, die sicherlich einen der Schwerpunkte seines Schaffens darstellt, ein wenig stärker in den Fokus gerückt. Busch war mit Max Reger befreundet, und so ganz möchte ich Bergers Aussage, diese Freundschaft habe zu keiner Verwandtschaft der Kompositionsstile geführt, nicht folgen – es gibt schon eine ganze Reihe von Werken Buschs, die recht deutlich an Reger gemahnen. Was allerdings sehr wohl zutrifft, ist, dass Buschs kompakt gehaltene Suite op. 8a, um 1914 und damit zeitgleich oder sogar vor Regers Suiten entstanden, sich überraschend deutlich von diesen unterscheidet, unter anderem deshalb, weil die Bezugnahme auf das Vorbild Bachs in Buschs Suite zwar auch vorhanden ist, aber weniger deutlich erscheint als in den übrigen Werken auf dieser CD.

Schon das Präludium lässt aufhorchen, eine sich chromatisch windende, dunkel-vergrübelt gehaltene Fantasie, die eigentlich erst mit den letzten Takten g-moll als Grundtonart bestätigt (nicht umsonst trägt die Suite, obwohl um G zentriert, keine Tonartenbezeichnung). Sehr originell, widerborstig und bocksprüngig das kurze Scherzo an zweiter Stelle. Mit den beiden letzten Sätzen, Romanze und Tarantelle, hellt sich der Charakter des Werks auf, wird freundlicher, obwohl selbst die abschließende Tarantelle, nun in G-Dur, nicht unbedingt von Leichtigkeit geprägt ist: vielmehr dominiert auch hier eine gewisse Erdenschwere, sind es die Kanten, die dieser Musik ihr ganz eigenes Profil geben, von Julius Berger mit Nachdruck und viel Sinn für diese spezifische Atmosphärik in Szene gesetzt. Einige Jahre später, 1922 nämlich, ließ Busch seiner Suite noch ein Präludium und Fuge d-moll op. 8b folgen, ein Diptychon, das sich nun wesentlich expliziter auf die Tradition Bachs bezieht. Im eher ruhig gehaltenen Präludium erweist sich Berger einmal mehr als souveräner Gestalter mit sorgfältig durchdachter Artikulation; in der Fuge überrascht erst einmal seine erstaunlich gemäßigte Tempowahl angesichts eines Allegro energico, doch wo das Fugenthema m. E. zu einem rascheren Puls einladen würde, wird dies durch einige Sechzehntelpassagen wenig später wieder relativiert.

Der vermutlich am wenigsten bekannte Komponist, der auf dieser CD vertreten ist, ist der gebürtige Schweizer Walter Courvoisier (1875–1931), der zunächst Medizin studierte und als Arzt praktizierte, bevor er sich doch für die Musik entschied und in München u. a. Schüler von Ludwig Thuille wurde. Nur wenig später wurde er selbst ein gefragter Kompositionslehrer an der Münchener Akademie der Tonkunst. Courvoisiers Œuvre ist eher überschaubar und konzentriert sich insbesondere auf Vokalmusik (Lieder, Chorwerke sowie drei Opern); im Bereich der Instrumentalmusik beschäftigte er sich vor allem mit Variationswerken für Klavier und Solosuiten für Streicher. Seine sechs Suiten für Violine solo op. 31 hat der Geiger Hansheinz Schneeberger auf CD eingespielt. Zeitgleich mit diesen Suiten komponierte Courvoisier 1921 auch zwei Suiten für Violoncello solo, die jedoch unveröffentlicht blieben; vermutlich war auch hier ein Zyklus von sechs Suiten geplant, der jedoch nicht realisiert wurde. Die zunächst vorgesehene Opuszahl 32 hat Courvoisier später seiner Oper Der Sünde Zauberei zugeteilt. Erst 2021 hat Florian Schuck die beiden Suiten herausgegeben.

Julius Berger hat sich auf diesem Album für die Suite Nr. 2 in h-moll entschieden. Courvoisier bezieht sich hier bereits in der Satzfolge deutlich auf Bachs Vorbild: zwar steht am Beginn kein Präludium, sondern eine Introduction, aber die Abfolge der übrigen Sätze folgt genau der Struktur der Bach’schen Suiten, mit dem einzigen Unterschied, dass es gewissermaßen zwei „fünfte Sätze“ (im Sinne Bachs) gibt, nämlich sowohl Bourrée als auch Menuett. Dabei ist die Introduction eher eine Art dramatisch akzentuiertes Vorspiel als ein Präludium à la Bach (mit attacca-Übergang zur nachfolgenden Allemande), in der Bourée gibt es (anders als bei Bach) kein Trio bzw. eine Bourrée II, und während ansonsten alle Sätze (analog zu Bach) in h-moll gehalten sind, steht das Menuett (I) in D-Dur – insofern fallen diese Sätze also auch sonst ganz leicht aus dem Rahmen.

Stilistisch kombiniert Courvoisier deutlich erkennbar Elemente, Formeln und Referenzen an die Musik Bachs mit Mitteln der (nachromantischen) Tonsprache des frühen 20. Jahrhunderts, etwa in Sachen Rhythmik, Harmonik und Modulationen oder gelegentlicher Verwendung von Pizzicato; die spieltechnischen Anforderungen liegen eher im Rahmen der späteren Bach-Suiten. Anders als Bach gibt Courvoisier umfassende Anweisungen zur Dynamik, ganz wie bei Bach sind die Angaben zur Artikulation dagegen sehr sparsam, sodass sich für den Interpret hier zahlreiche Freiräume ergeben, so zum Beispiel in der Allemande mit ihren weitgehend kontinuierlichen Sechzehntelbewegungen. Ein eigenes Profil haben alle sieben Sätze, kleine Charakterstücke etwa die Courante (eine Art Scherzo im 9/8-Takt) oder die abschließende, regelrecht trotzig daherkommende Gigue. Besonders melodiös gehalten sind Bourrée und Menuett, Herzstück der Suite die tief empfundene Sarabande, die meditative Versenkung, ja ein gewisses Maß an Zeitlosigkeit ausstrahlt. All dies erfährt durch Berger eine sprechende, klangvolle, durchdachte Darbietung; in Bourrée und Menuett etwa könnte man teils eine etwas breitere Artikulation wählen, aber dies fällt letztlich unter die besagten Freiräume, die Courvoisier dem Cellisten mit auf den Weg gibt.

Erwähnt sei auch, dass Julius Berger sich für dieses Album für Darmseiten und eine Frequenz von 432 Hz entschieden hat, was den Einspielungen ein warmes, rundes, volles Timbre verleiht. Eine zusätzliche Erwähnung verdient auch noch einmal sein exzellenter, persönlich gefärbter und inspirierender Begleittext (übrigens stammt auch das Foto auf dem Cover der CD von Berger, wie auch ein kleines Gedicht als Geleit). Ob Toveys Sonate wirklich das erste Solowerk nach Bach war, scheint mir ein wenig in einer Grauzone zu liegen, selbst wenn man Solowerke komponierender Cellisten (wie Klengels Opus 43, vielleicht auch noch die 1901 erschienenen Präludien und Fugen des Monegassen Louis Abbiate) ausklammert. Weitgehend zeitgleich mit Toveys Sonate ist z. B. offenbar die Solosuite des (wie übrigens auch Tovey) von Casals hochgeschätzten Emánuel Moór entstanden – dies also ebenfalls eine „Soldanelle“. Ein weiterer Name, den man in diesem Zusammenhang wohl a priori überhaupt nicht vermuten würde, ist Jean Sibelius, der bereits um 1887 einen gut zehnminütigen Zyklus von Variationen über ein eigenes Thema für Solocello komponiert hat, faktisch noch zu seinen Juvenilia zählend.

In den vergangenen Jahren sind aus naheliegenden Gründen zahlreiche (und oft genug hochklassige) Alben für Soloinstrumente und speziell auch Solocello erschienen. Aus dieser Vielzahl sticht Berger „Soldanella“ nichtsdestotrotz noch einmal heraus. Ein Grund hierfür ist die gestalterische Souveränität dieser Einspielungen, vor allem aber ist es der Mut, den Berger hier aufbringt, der Pioniergeist, mit dem er sich für hoch interessante Musik einsetzt, die eben nicht auf Effekt setzt, die nicht populär sein will, sondern sich durch ihre große Ernsthaftigkeit auszeichnet. Es sind expressive, durchdachte, vielleicht nicht immer bequeme, aber in ihrem Bekenntnis zu künstlerischer Größe umso fesselndere Kompositionen, die auf diesen fast 80 Minuten Musik versammelt sind. Hierin liegt der ganz besondere Reiz dieses großartigen Albums.

[Holger Sambale, Oktober 2023]

Drei neue Klaviersonaten von Roberto Sierra – gewöhnungsbedürftig mikrofoniert

IBS IBS122022; EAN: 8 436597 700399

Der venezolanische Pianist Alfredo Ovalles hat in Granada die ersten drei Werke eines – schon jetzt bereits deutlich umfänglicheren – Sonatenzyklus des puerto-ricanischen Komponisten und Ligeti-Schülers Roberto Sierra (*1953) eingespielt. Dazu erklingen noch die – ebenfalls neuen – Piezas íntimas sowie die Aphorisms.

Auf den Namen Roberto Sierra stößt unweigerlich, wer sich mit der Musik György Ligetis beschäftigt. Dieser erwähnte seinen puerto-ricanischen Schüler (von 1979 bis 1982) immer als Überbringer einer Langspielplatten-Rarität aus den 1970ern mit der erstaunlich komplexen Vokalpolyphonie der zentralafrikanischen Aka-Stämme: zusammen mit der mittelalterlichen ars subtilior und fraktaler Geometrie die Initialzündung für Ligetis weitere Entwicklung (Etüden, Klavierkonzert usw.). Ab Mitte der 1980er Jahre hat sich Sierra aber als Komponist selbst einen Namen gemacht und ist seit 1992 Professor an der angesehenen Cornell University in den USA. Obwohl durchaus Anknüpfungspunkte an charakteristische Techniken Ligetis nachweisbar sind – etwa die elaborierten Überlagerungen quasi selbstähnlicher rhythmischer Patterns –, ging Sierra immer eigene Wege, die insbesondere auf lateinamerikanische oder iberische Wurzeln – nicht zuletzt des Barock – zurückgehen. Die oft traditionell anmutenden Titel wie Symphonie (davon gibt es bislang sechs), Sonate etc. haben Kritiker ihm unüberlegt und teils pejorativ das Etikett postmodern oder gar „neoromantisch“ anheften lassen. Dabei wird unterschlagen, dass Sierra die scheinbar alten Formen durchaus neuartig mit Leben zu füllen vermag.

In den ganz neuen Klaviersonaten – die Folge wurde erst 2020 begonnen und umfasst mittlerweile bereits 15 Werke; laut Sierra ohne eine bestimmte Zielvorgabe – versucht der Komponist den „hegemonialen Charakter“ der Vorbilder aus der Wiener Klassik gezielt zu durchbrechen. Hierbei ist allerdings weniger Dekonstruktion im Spiel als vielmehr Nutzung neuer Beziehungen zwischen Struktur und klanglichem „Inhalt“. Da Sierra nicht Tonalität als Basis der Sonatenform nutzt, dienen oft vielfältige rhythmische Elemente, gerade auch aus volkstümlicher Popularmusik (Salsa, Tango, Joropo, Fandango …), symmetrische Skalen und musikalische Gesten als konstituierend. Die erste Sonate – wie die zweite viersätzig – sprüht nur so von südamerikanischen Rhythmen. Die knappere zweite Sonate kombiniert im Finale einen Militärmarsch mit einem Pasodoble, während die dreisätzige dritte Sonate sich vor allem an Modellen andalusischer Musik orientiert, etwa dem Fandango im Kopfsatz oder typischen Melodiefloskeln im Finale. Trotzdem überführt der Komponist mit alldem geschickt die erwartete Erzählstruktur von echten Sonaten in „heutige Alltagsrealität“.

Dass Sierra ebenso gewandt im Umgang mit kleinen – sprich: kurzen – Formen ist, deren Material ja unmittelbar ins Schwarze treffen muss, beweisen die beiden Zyklen der Piezas íntimas von 2017 – 8 Stücke mit einer Durchschnittsdauer von 1–2 Minuten und, bis aufs Extrem konzentriert, die Aphorisms von 2020: Diese 28 Fragmente benötigen gerade mal 12 Minuten.

Das spanische Label IBS bleibt im Booklet – mit persönlichen Einführungen des Komponisten und des Pianisten – der Tradition treu, kein Wort über seine Interpreten zu verlieren. Auf der Seite der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien erfährt man, dass der Venezolaner Alfredo Ovalles (Jahrgang 1986) nach Studien in Caracas und den Vereinigten Staaten schließlich den Weg nach Wien, seiner neuen Wahlheimat, gefunden hat. Er gilt als leidenschaftlicher Spezialist für zeitgenössische Musik und steht seit Jahren mit Roberto Sierra in persönlichem Kontakt. Mit rhythmischer Präzision und immer spürbarer, lateinamerikanischer Verve agiert der Pianist sowohl bei dessen Sonaten als auch Miniaturen souverän, bringt die doch recht komplizierten Strukturen zum Leuchten. Seine manuelle Virtuosität und die Fähigkeit, den Gestus kleinster Partikel musikalisch sofort auf den Punkt zu bringen, können ebenfalls überzeugen. Die dieser Musik innewohnenden, häufig schroffen Gegensätze übertreibt er jedoch, verwechselt bisweilen wilde Akzentuierungen mit klanglicher Barbarei. Im Dynamikbereich von forte aufwärts erscheint sein Spiel zu undifferenziert.

Das wird durch eine in den Ohren des Rezensenten katastrophale Mikrofonierung sogar noch überzeichnet: Selten habe ich bei einer klassischen Soloklavier-Produktion ein in den Bässen derartig wummeriges Klangbild gehört; so als ob ständig die „Loudness“-Taste gedrückt bliebe. Insgesamt ist alles zu hoch ausgesteuert, stellenweise an der Grenze zum Clipping, was nach wenigen Minuten mehr als nervt. Jeder Akzent wird so zum Nadelstich – und dass dies keineswegs nur dem zugegebenermaßen etwas harten Anschlag von Herrn Ovalles geschuldet ist, zeigen z. B. die zahlreichen Glissandi im vierten der Piezas íntimas [Track 08]. So scharf kann ein Steinway dabei gar nicht klingen. Trotzdem darf man sich fragen, ob das vom Interpreten nicht ausdrücklich so gewollt ist. Bei Jazz sind solch direkte Mikrofonierungen nicht unüblich – man denke an manche Soloalben von Keith Jarrett oder Chick Corea. Außerdem hat sich Ovalles intensiv mit der Musik u. a. George Crumbs beschäftigt, der beim Klavier gerne bereits live vorzugsweise präparierte Saiten elektronisch verstärken ließ.

Dass dies freilich ganz anders ginge, zeigt die nur ein halbes Jahr ältere Produktion von Sierras Klavieretüden mit dem Pianisten Matthew Bengtson: Gleiches Label, gleicher Aufnahmeort mit demselben Team (!), lediglich ein anderer Flügel (Shigeru Kawai): akustisch tadellos (s. u.). So versaut bei den Sonaten eine fragwürdige Tontechnik sehr respektable Erstaufnahmen des weiterhin hochinteressant zu werdenden Klavierzyklus‘ eines großartigen Komponisten, der immer wieder mit zeitgemäßen Ideen im Kleid bekannter Formen zu begeistern weiß.

Erwähnte Aufnahme: Sierra: Estudios rítmicos y sonoros, Piezas líricas, Album for the Young – Matthew Bengtson (IBS 72022, 2021)

[Martin Blaumeiser, September 2023]

Grundsolide und tiefgründig: Beethovens Klavierkonzerte Nr. 3 & 4 mit Boris Giltburg

Naxos 8.574152; EAN: 7 47313 41527 4

Nach der aufsehenerregenden Gesamteinspielung sämtlicher Beethoven-Sonaten 2020 setzt Boris Giltburg mit den Konzerten Nr. 3 & 4 des Bonner Meisters nun auch den Schlussstein zu seinem Konzertzyklus. Es begleitet das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko.

Wollte man das Spiel des russischstämmigen, in Israel aufgewachsenen Starpianisten Boris Giltburg charakterisieren, erscheinen sehr schnell Begriffe wie grundsolide oder seriös als zutreffend: geradezu das Gegenteil von spektakulär. Dann wären jedoch detailliert Qualitäten zu nennen, die in dieser Konzentration heutzutage ganz selten zusammentreffen: erstaunliche Tempokonstanz bei gleichzeitig atmender Agogik – sogar zwingender als beim legendären Swjatoslaw Richter. Dazu durchsichtigster, feiner Anschlag mit einem Schuss jeu perle wie bei Gieseking, vor allem jedoch die besondere Fähigkeit, Emotionalität gänzlich aus einem tiefen Verständnis des Komponierten heraus logisch zu entwickeln, ohne dabei auch nur einen Funken persönlicher Eitelkeit durchscheinen zu lassen. Das ist so in der Tat meilenweit entfernt von Künstlern wie Ivo Pogorelich, Lang Lang, Yuja Wang oder selbst Igor Levit, um nur einige schon wegen ihres eben bereits spektakulären Auftretens populäre Pianisten zu nennen.

Im Falle der Beethoven-Klavierkonzerte – kaum ein Werkzyklus dürfte durch unzählige Aufnahmen für die Hörerschaft mittlerweile derart bis ins kleinste Detail erschlossen sein – lässt Giltburgs Herangehensweise diese Meisterwerke trotzdem spannend, beinahe unverbraucht erklingen. Dass Giltburg nicht nur auf dem Podium ein wahrhaftig gestaltender Musiker ist, dazu ein exzellenter Pädagoge – man sehe sich nur die genialen Internet-Meisterklassen etwa zu Rachmaninoff an –, sondern ebenso ein befähigter Essayist, beweisen seine Booklettexte zu dieser Beethoven-Serie auf Naxos. Die sind mehr als lesenswert – gerade für Laien, denen hier nie musikalische Fachbegriffe um die Ohren gehauen werden. Mit größter Sorgfalt, Empathie und tiefen Einblicken in den viele Jahre währenden Entwicklungsprozess des eigenen künstlerischen Standpunkts gegenüber dieser Musik, beschreibt der Pianist die Stücke schon sprachlich auf höchstem Niveau.

Wer bei den vorliegenden Konzerten das Essay vor dem Anhören gelesen hat, darf zum Glück attestieren, dass Giltburg dann alles genauso gelingt, wie verbal erörtert. Katapultierte sich der Künstler 2019 mit den Konzerten Nr. 1 & 2 (Naxos 8.574151) nach Meinung des Rezensenten sofort in den Olymp der allerbesten Einspielungen und überzeugte ebenfalls mit dem Es-Dur-Konzert (Nr. 5, Naxos 8.574153), durfte man gespannt auf die beiden verbliebenen Werke sein, innerhalb des Zyklus offenkundig die Lieblingsstücke des Pianisten.

Das c-Moll Konzert wirkt bereits in der Orchestereinleitung niemals dick, die Phrasierung – bei sich wiederholenden Motiven wird die Dynamik eben beim dritten Mal meist zurückgenommen – ist stets Beethoven-gerecht. Das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Vasily Petrenko agiert wie auf den bisherigen CDs der Reihe als exzellenter Begleiter, freilich mit typisch britischer Routiniertheit, die kaum Überraschungen bietet. Allerdings entdeckt Petrenko gerade im 3. Konzert jeden noch so kleinen motivischen Anklang auch in den Mittelstimmen. Giltburg gestaltet den Solopart im ersten Satz zwar nachdrücklich bedrohlich, lässt der Musik aber immer wieder den nötigen Raum zur Entspannung, so dass man staunt, wie sehr sich selbst ein derart düsterer Topos doch ganz aus dem Geist der Improvisation vielschichtig zu entwickeln vermag. Im zweiten Satz – wiederum im exakt richtigen Tempo – werden die unzähligen kleinen Notenwerte zelebriert, ohne den intimen Charakter je zu stören: eine wunderschöne Insel der Ruhe. Im Rondo wählt man ein nicht zu schnelles Tempo, bleibt dennoch virtuos und spritzig. Die Presto-Coda wirkt keck, ohne den Rahmen zu sprengen.

Das vierte Konzert – pianistisch ja bekanntlich das anspruchsvollste der fünf – wurde erst im April 2022, also nach der Corona-Krise, aufgenommen. Selten hat man die klanglichen Delikatessen im Klavier derart bewusst, zugleich völlig locker gehört: Von für Beethoven ungewöhnlicher Introvertiertheit im Kopfsatz und einem sagenhaft angstvollen Klagegesang im Andante – von fast überpointiert scharfen, eiskalten Orchestereinwürfen unnachgiebig kleingehalten – wird so der zunächst zögerliche Beginn des Finales umso glaubhafter, steigert sich erst allmählich zu „reiner Lebensfreude“ (Giltburg) – Beethovens Teleologie in grandioser Umsetzung. Die Kadenzen beider Kopfsätze erfasst Giltburg mit faszinierender Überlegenheit und formaler Übersicht: Trotz ihrer Längen geraten sie unter seinen Händen deshalb auch nicht zu Fremdkörpern, vielmehr zu herrlich epischen Klaviererzählungen, die den emotionalen Gehalt des Materials nochmals überhöhen.

Der Fazioli-Flügel glänzt inmitten der wohl eher kleinen Orchesterbesetzung mit feinen Klangfarben – und Naxos kann hier einmal mehr aufnahmetechnisch mit den alteingesessenen Labels tadellos mithalten. Keine Referenzeinspielung – falls bei diesem Repertoire überhaupt noch so etwas auszumachen wäre –, jedoch unbestreitbar Weltklasseniveau mit tief empfundenem, erfülltem Musizieren, das den Geist Beethovens durchgängig verständlich macht. Daher auch eine eindeutige Empfehlung an alle, die schon ein paar gute Aufnahmen der Konzerte ihr Eigen nennen: Diese hier macht echt Laune.

[Martin Blaumeiser, August 2023]

Feminine Noten

In der kommenden Saison wird das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin in jedem Konzert das Stück einer Komponistin aufführen. Bahnbrechende Programmplanung oder Quotenregelung? Wer solch Regulativ kritisch sieht – wie die Pianistin Elena Bashkirova, die kürzlich in einem Interview mit der FAZ meinte, dass gute Musik gespielt werden soll, weil sie gut, nicht weil sie von Frauen ist – berücksichtigt nicht, dass diese nie die gleichen Chancen hatten. Der Weg zu einem Bewusstsein, dass Qualität nicht an das Geschlecht gebunden ist, ist noch nicht abgeschlossen, das Interesse an Komponistinnen aber merkbar gewachsen. Es schlägt sich auch auf dem CD- und Buchmarkt nieder. Die nachfolgende Auswahl gibt einen kleinen Einblick in die Flut von Veröffentlichungen der letzten Zeit.

Barbara Beuys: Emilie Mayer. Europas größte Komponistin. Eine Spurensuche

Dittrich Verlag; ISBN: 978-3-947373-69-7

Beginnen wir bei Emilie Mayer. 1812 im mecklenburgischen Friedland geboren, geht sie nach dem Selbstmord des Vaters zu ihren Brüdern nach Stettin. Dort wird Carl Loewe, der heute für seine Balladen bekannte Musikdirektor, ihr Lehrer. Er erkennt ihr Talent und fördert sie, woraufhin sie sich über Konventionen und Vorurteile hinwegsetzt: sie wird Komponistin. Dabei beschränkt sie sich nicht auf kleine Formen, wie viele ihrer Kolleginnen, sondern kreiert neben Kammer- und Klaviermusik auch acht Sinfonien. In jeder Hinsicht selbstständig, publiziert sie ihre Werke auf eigene Kosten und organisiert Konzerte, das erste 1850 im Berliner Königlichen Schauspielhaus. „Ganz von weiblicher Hand ins Leben gerufen“, sei es „ein Unicum“, wie die Vossische Zeitung 1850 meldet. Es bekommt großen Zuspruch und erhält gute Kritiken aber auch abfällige Resonanz, die sich mehr auf ihr Geschlecht bezieht und sich an der Ansicht des Philosophen Friedrich Schlegel orientiert: „Das Weib gebiert Menschen, der Mann das Kunstwerk.“ Mayer, die zwischen der Hauptstadt und Stettin pendelt, hat sich zu Lebzeiten gegen männliche Dominanz behauptet, doch nach ihrem Tod 1883 gerät sie schnell in Vergessenheit. Erst Ende des letzten Jahrhunderts werden die Musikerin und ihr Werk wiederentdeckt. 2021 erhält sie ein Ehrengrab in Berlin, danach erscheint die erste Biographie. „Eine Spurensuche“ nennt sie die Autorin Barbara Beuys im Untertitel, er spielt an auf die spärliche Quellenlage. Doch Beuys macht aus der Not eine Tugend. Sie entwirft rund um die fragmentarisch verbürgten Lebensstationen Emilie Mayers ein vielschichtiges, um kleine Porträts von Zeitgenossen angereichertes Gesellschaftspanorama, das das kulturelle Umfeld ebenso einbezieht wie die damalige Situation der Frauen und deren Emanzipationsbestrebungen.

Compositrices. New Light on French Romantic Women Composers (8 CDs)

Bru Zane, BZ 2006; EAN: 8055776010090

Die Willenskraft der Deutschen, alle Herausforderungen im Alleingang zu überwinden, brauchte die etwas ältere Französin Louise Farrenc nicht. Sie beginnt ihre Karriere als Pianistin und gründet mit ihrem Ehemann, dem Flötisten Aristide Farrenc, einen Musikverlag, in dem ihre Werke gedruckt werden. Mit ihren Kompositionen Symphonien, Klavier- und Kammermusik etabliert sie sich bald auf den Pariser Konzertbühnen. Als sie eine Klavierprofessur am Konservatorium erhält, jedoch mit einem geringeren Gehalt als ihre Kollegen, kämpft sie um Gleichberechtigung und erreicht tatsächlich eine Angleichung. 

Louise Farrenc ist eine von 21 Compositrices, denen das Forschungskollektiv des Palazzetto Bru Zane eine ganze Box geschenkt hat. Vor dem Hören der acht prall gefüllten CDs lernen wir sie beim Lesen des vorzüglichen Booklets näher kennen: Musikerinnen, die vom Anfang des 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein wirkten, damals eine gewisse Popularität genossen, heute aber bis auf wenige Ausnahmen kaum dem Namen nach bekannt sind. Die Rede ist beispielsweise von der 1764 geborenen Pianistin Hélène de Montgeroult und der Harfenistin Henriette Renié, Jahrgang 1875, die beide als Interpretinnen und Pädagoginnen Ansehen genossen, daneben komponierten und Lehrwerke für ihre Instrumente hinterließen. Oder von Marie Jaëll und Charlotte Sohy, die von ihren Gatten unterstützt und mit ihnen künstlerische Partnerschaften eingingen im Gegensatz zu vielen Kolleginnen, deren Kreativität durch häusliche Verpflichtungen und gesellschaftliche Zwänge eingeschränkt war. Von der Außenseiterin Rita Strohl, geboren 1865, die mit spirituell durchdrungenen Werken von sich reden machte. Und nicht zuletzt von Mel Bonis, die statt ihres Taufnamens Mélanie die neutrale Verkürzung benutzte, in der Hoffnung, bessere Chancen bei der Verbreitung ihrer Werke zu haben. Auf familiäre Hilfe konnte sie nicht bauen. Belastet durch ein uneheliches Kind und gedrängt zur Heirat mit einem verwitweten Industriellen, musste sie ihr Leben lang um künstlerische Anerkennung kämpfen. Trotzdem war ihre Produktivität beeindruckend, ihr Œuvre umfasst 300 Werke unterschiedlichster Prägung. Eine Auswahl zieht sich wie ein roter Faden durch die Anthologie, die allerdings nicht chronologisch oder nach Komponistinnen angeordnet ist. Jede CD steht für ein imaginäres, programmatisch die ganze stilistische und formale Bandbreite abdeckendes Konzert: Sinfonisches trifft auf Kammermusik, Vokalkantate auf Mélodies, Solo- auf vierhändige Klaviermusik.

Ein Beispiel: Die erste Silberscheibe beginnt mit einem in raffinierten Klangfarben schillernden Tongemälde von Mel Bonis, das thematisch um mythologische Frauen kreist. Dann erklingt eine Sonate für Cello und Klavier von Henriette Renié, die auf César Franck hinweist und anschließend führt ein Bouquet mit Liedern verschiedener Komponistinnen hinein in die feminine Vokalwelt u. a. maritime Miniaturen von Hedwige Chrétiens, Salonstücke von Cecile Chaminade und überschwängliche, fast opernhafte Gesänge von Charlotte Sohy. Interpretiert werden sie vom Tenor Cyrille Dubois und dem Pianisten Tristan Raës. Dabei gelingt dem langjährig vertrauten Duo große Liedkunst: eine perfekte Balance zwischen Stimme und Instrument, verbunden mit gestalterischer und dynamischer Subtilität. Auch die anderen Mitwirkenden sind stilistisch erfahrene Spitzenkräfte: Leo Hussain und das Orchestre national du Capitole de Toulouse sind darunter, das Piano-Duo Alessandra Ammara und Roberto Prosseda, der Cellist Victor Julien-Laferrière und die Sopranistin Anaïs Constans.

Nadia und Lili Boulanger: Les heures claires (3 CDs)

harmonia mundi, HMM 902356.58; EAN: 3149020946268

Die Compositrices bieten einen Querschnitt durch die feminine französische Musikgeschichte, der dazu anregt, tiefer in die Materie einzutauchen. Damit sind wir bei den Schwestern Nadia und Lili Boulanger, die in der Anthologie mit Nadias bombastischer Kantate La Sirène und drei Violinduos von Lili vertreten sind. Zur intensiveren Beschäftigung mit ihnen laden ihre kompletten Mélodies ein, die unter dem Titel Les heures claires bei Harmonia mundi herausgekommen sind. Das Booklet der Kassette beschreibt detailliert das Leben und Wirken der beiden fast symbiotisch miteinander verbundenen Künstlerinnen. Lili, die Jüngere, galt als Ausnahmetalent, errang als erste Frau 1913 den Prix de Rome, während Nadia 1908 den zweiten Platz erhielt. Nach Lilis frühem Tod mit nur 24 Jahren entschied sich die Ältere, nicht mehr zu komponieren. Sie wandte sich dem Dirigieren und Unterrichten zu und avancierte zu einer hoch angesehenen Pädagogin, die es bis zur Leiterin des Conservatoire Américain in Fontainebleau brachte. Die drei CDs führen ein in beider vokalen Kosmos, ergänzt um einige Stücke für Geige, Cello und Klavier. Im Mittelpunkt stehen zwei Zyklen, Nadias Les heures claires, den sie gemeinsam mit ihrem künstlerischen und privaten Partner Raoul Pugno kreierte, und Lilis Clairières dans le ciel. Beide greifen Strömungen ihrer Zeit auf, mal mit spätromantischem Überschwang, mal in impressionistischen Harmonien schillernd, Lili auch einmal Wagners Tristan zitierend. Viele Lieder sind melancholisch grundiert, eines sticht besonders hervor: Dans l’immense tristesse, das letzte, von Lili kurz vor ihrem Tod vollendete, erschüttert durch die Kargheit der Mittel. Interpretiert wird dieser Abschied von Lucile Richardot, die dabei ihren reichen, wandlungsfähigen Mezzo ganz zurücknimmt. Sie trägt zusammen mit der äußerst nuanciert spielenden Pianistin Anne de Fornel den Löwenanteil der Edition, in Teilen verstärkt durch Stéphane Degout und Raquel Camarinha, die er durch erlesene Klangkultur, sie durch zarte Soprangespinste Boulangers vokale Kostbarkeiten ebenso ins schönste Licht rücken.

Bruno Monsaingeon: Ich denke in Tönen. Gespräche mit Nadia Boulanger

Berenberg Verlag; ISBN: 978-3-949203-50-3

Näher lernt man Nadia Boulanger in dem Band Ich denke in Tönen kennen. Darin sind Gespräche zwischen ihr und dem Dokumentarfilmer Bruno Monsaingeon aufgezeichnet. Sie beinhalten biographische Skizzen, Reflexionen über ihre pädagogische Arbeit und Unterrichtsmethoden, ihre musikalischen Vorlieben sowie Erinnerungen an für sie wichtige Personen: etwa an den Lehrer Fauré, den Freund Igor Stravinsky, an Interpreten und Schüler, die sie prägte. Viele Berühmtheiten sind darunter: Aaron Copland, Leonard Bernstein, Phil Glass, um nur einen Bruchteil zu nennen. Einige von ihnen kommen auch selbst zu Wort: Leonard Bernstein oder Yehudi Menuhin zollen ihr gleichermaßen Verehrung, Respekt und Bewunderung. Mit Wärme gedenkt die manchmal streng Urteilende dem jung verstorbenen Pianisten Dinu Lipatti und vor allem Lili, die für die große Schwester zeitlebens präsent bleibt. Ihrer Meinung nach ist sie „die erste wirklich bedeutende Komponistin der Geschichte“. Ein Zeitschriftenartikel des Lyrikers Paul Valéry beendet das Buch. Er fasst zusammen, was diese „Grand Dame“ der Musik ausmachte: „Nadia dirigierte. Man hätte meinen können, sie atme das, was sie hörte, und existiere nur – und könne nur existieren in der Welt der Klänge“.

Matthias Henke: Emmy Rubensohn. Musikmäzenin/Music Patron (18841961)

Hentrich & Hentrich; ISBN: 978-3-95565-523-5

Aus dem Rahmen der Komponistinnen fällt Emmy Rubensohn. Denn die aus einer jüdischen Familie stammende, 1884 geborene Leipzigerin ist weder professionelle Tonschöpferin noch Ausführende. Und doch passt sie zu ihnen, weil auch sie für Musik brennt. Als Zuschauerin und hinter den Kulissen. Dort agiert sie als Mäzenin, Konzertmanagerin und Netzwerkerin. Und sie betreibt einen Salon Domäne des weiblichen Bürgertums , anknüpfend an historische Vorbilder wie Rahel Varnhagen. Berühmte Künstler gehen bei ihr ein und aus, davon zeugt ein Gäste- und Erinnerungsbuch, das sie seit ihrer Heirat mit dem Fabrikantin Ernst Rubensohn 1907 führt. Die Dirigenten Arthur Nikisch und Wilhelm Furtwängler sind darunter, die Primadonna Lilli Lehmann, der Maler Oskar Kokoschka und der Komponist Ernst Krenek. Er wohnt während seiner Kasseler Zeit bei dem Ehepaar, es ist der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, gehört Emmy zu den Gründungsmitgliedern des jüdischen Kulturvereins Kassel. 1940 emigriert sie mit ihrem Mann nach Shanghai, 1947 in die USA. Hier setzt sie bis zu ihrem Tod 1961 ihr förderndes Engagement für Musik und Kunst fort, gewinnt in Alma Mahler-Werfel eine Freundin und steht den Dirigenten Dimitri Mitropoulos und Joseph Rosenstock zur Seite. 2021 wird sie in ihrer Heimatstadt mit der Ausstellung Vorhang auf für Emmy Rubensohn! Musikmäzenin aus Leipzig gewürdigt, zunächst im Gewandhaus, momentan im Grassi-Museum. Vom Musikwissenschaftler Matthias Henke kuratiert, hat der Verlag Hentrich & Hentrich den üppig ausgestatteten, zweisprachigen Katalog herausgegeben. Die informativen Texte, zahlreichen Fotos und Dokumente machen ihn zu einer kulturhistorischen Fundgrube. Ans Licht kam die bisher kaum bekannte Vita von Emmy Rubensohn nach einer Spurensuche, wie Henke seine aufwendigen Recherchen bezeichnet. Womit sich der Kreis schließt.

[Karin Coper, September 2023]

Nur solides Mittelfeld: Fabio Luisis Nielsen-Zyklus

DG 486 3471 (3CD); EAN: 0028948634712

Der Italiener Fabio Luisi leitet das Danish National Symphony Orchestra seit 2017 und hat nun mit diesem seit jeher eng dem Werk Carl Nielsens verpflichteten Klangkörper einen neuen Zyklus von dessen sechs Symphonien auf Deutsche Grammophon eingespielt. Die Vokalisen in der „Sinfonia espansiva“ gestalten Fatma Said und Palle Knudsen. Kann die neue Box unter den mittlerweile zahlreichen Gesamtaufnahmen bestehen?

Von den im Zeitraum von 1892 bis 1925 entstandenen sechs Symphonien Carl Nielsens (1865–1931) brauchte selbst die berühmteste – Nr. 4 „Das Unauslöschliche“ – sehr lange, bis sie halbwegs ins feste, internationale Repertoire gefunden hat. Erst seit wenigen Jahren spielen selbst engagierte studentische Orchester dieses anspruchsvolle Werk. Dennoch setzen es auch die großen Profi-Institutionen nicht wirklich häufig auf ihre Programme – von den übrigen fünf Symphonien des dänischen Meisters, die sämtlich mit außergewöhnlichen Qualitäten aufwarten können, ganz zu schweigen. Dass Herbert von Karajan 1981 die Vierte mit den Berlinern für DG – sehr schön – eingespielt, aber praktisch nie im Konzert aufgeführt hat, spricht für sich.

Trotzdem existieren mittlerweile gut 20 Gesamtaufnahmen der 6 Nielsen-Symphonien, alleine vier mit dem Danish National Symphony Orchestra (identisch mit dem Dänischen Rundfunk-Symphonieorchester – DRSO). Deren erste aus den 1950er Jahren wurde noch von verschiedenen Dirigenten gestemmt (Erik Tuxen, Thomas Jensen und Launy Grøndahl), später folgten Zyklen mit Herbert Blomstedt (1975, EMI) und Michael Schønwandt (1999–2000, Danacord). Begonnen 2019, kurz vor dem Corona-Ausbruch, wollte man dann wohl auch dem seit 2017 amtierenden italienischen Chefdirigenten Fabio Luisi die Gelegenheit geben, sich mit diesen höchst individuellen Werken auseinanderzusetzen.

Um es gleich vorweg zu nehmen: Das Ergebnis fällt sehr uneinheitlich aus. Betrachtet man die Spielkultur des DRSO, so ist es eigentlich selbstverständlich, dass in den bald 50 Jahren seit Blomstedts EMI-Aufnahme die technische Qualität nochmals hörbar gewachsen ist. Und natürlich kennt das Orchester alle Symphonien Nielsens wahrscheinlich besser als jeder Dirigent: Sie gehören definitiv zu dessen Aushängeschildern.

Blomstedt hat dann Ende der 1980er mit der San Francisco Symphony eine der bis heute maßstabsetzenden Einspielungen präsentiert (Decca). Gerade bei diesem Vergleich – seine Kopenhagener ‚Box‘ wurde kürzlich wieder von Erato als Streaming-Version aufgelegt – erkennt man, inwieweit selbst ein hochgradig befähigter Dirigent an diesem Repertoire noch wachsen kann – und muss! Etwa auf diesem Level bewegte sich auch Schønwandts Lesart: klar, unprätentiös, ohne „Macken“ oder persönliche Eitelkeiten – das DRSO zelebrierte Nielsens Musik dabei makellos.

Vielleicht überraschend, dass gerade berufene Sibelius-Interpreten wie Paavo Berglund (unterkühlt), Colin Davis (völlig überhetzt und oberflächlich) oder John Storgårds (langweilig) Nielsens Symphonik überhaupt nicht gerecht wurden. Bei Fabio Luisi wäre man geneigt, anzunehmen, dass Nielsen seinen Repertoire-Vorlieben – man denke an die guten Franz Schmidt Einspielungen – entgegenkommen sollte. Nielsen hingegen verweigert sich jeglichen Profilierungsneurosen: Wenn ein Dirigent versucht, diese Musik zu „pushen“, rächt sich das ausnahmslos. Manches wirkt so sofort geschwollen, gewollt; der Charakter eines Satzes leidet schon unter geringen „aufgesetzten“ Tempomodifikationen, beträfen die das Grundzeitmaß oder zu auffällige agogische Freiheiten.

Zunächst das Positive: Abgesehen von der – wie bei Schønwandt – durchgehend souveränen Orchesterleistung, gelingen Luisi einige Sätze rundum zufriedenstellend: Dazu zählt – bis auf den eindeutig zu flotten 3. Satz, der eher Brahmssche Intermezzo-Qualitäten haben könnte – die 1. Symphonie; diese bereits ein toller Gattungsbeitrag. In der 2. Symphonie Die 4 Temperamente verlangt ja der Titel verbatim nach sehr klar modellierten „Charakterzügen“; der Choleriker zu Beginn wird noch gut getroffen. Der Phlegmatiker ist analog zum „Scherzo“ – Nielsen verwendet den Begriff nie – der Ersten zu hastig. Der melancholische dritte Satz wird dafür ein wenig zu breitgetreten, der Höhepunkt übertrieben. Das Finale geht ziemlich schief und der Sanguiniker kommt plump wie ein Dorftrottel daher: Undifferenziert rammt Luisi den Hauptrhythmus in den Boden. Blomstedt (Decca) oder Sakari Oramo (BIS) demonstrieren, welch tänzerische Offenbarungen hier stattfinden könnten.

Wie zuvor versteht Luisi auch in der Sinfonia espansiva (Nr. 3) zumindest einen Satz gar nicht – wiederum das Finale. Zu breit, zu laut: Der ganze Hymnus bläht sich so unehrlich auf. Das können die überaus ansprechenden, freilich marginalen Vokalisen im zweiten Satz – mit der fantastischen Fatma Said und Palle Knudsen – nicht aufwiegen. Sehr gut funktionieren die ersten drei Sätze der durchgehenden Unauslöschlichen – organisch im Aufbau und prägnanter als im Rest werden Sinn und Zweck der verschiedenen Themen klar. Das Finale mit seinem berühmten Paukenduell – das nur oberflächlich an Artillerie des Ersten Weltkriegs erinnern soll – nimmt Luisi für den Geschmack des Rezensenten um Einiges zu schnell. Karajan liegt hier goldrichtig; ein Übermaß an äußerlicher Virtuosität dient dem anschaulich vorgetragenen „Lebenskampf“ nicht wirklich. Unerträglich dann wieder Luisis völlig aus dem Ruder laufende Verbreiterung ganz zum Schluss – da übertrieb allerdings selbst der bekanntlich bescheidene Herbert Blomstedt.

Die beiden letzten Symphonien Nielsens aus den 1920ern sind tatsächlich wesentlich moderner: Der Komponist geht damit viel weiter als der gleichaltrige, freilich zu dieser Zeit weitgehend verstummte Jean Sibelius. Die geheimnisvollen wie irritierenden Klangflächen bzw. Ostinati zu Beginn der Fünften erscheinen etwa bei Blomstedt wie der Zaubertrank des Miraculix – unverzichtbare Ingredienzien eines starken, zugleich ambivalenten Mysteriums. Bei Luisi sind das eher Störfelder, die es zu übertünchen gilt. Kontrapunktische Abschnitte werden zwar durchsichtig, jedoch der wieder hymnische Schlussteil – durchaus mit Anspielungen an die Vierte – zu schreierisch, im Detail nicht annähernd ausbalanciert.

Die zunächst sehr verstörende 6. Symphonie – nichts ist da „semplice“ – mit ihren eigentümlichen, hohen Schlagwerkakzenten wirkt bei Luisi zwiegespalten. Nach einem schönen Kopfsatz kommt die Humoreske schon ordentlich schräg daher, was sie ja zweifellos ist; echten Humor sucht man dabei leider vergebens. Dasselbe gilt für den Variationssatz, vor allem erneut für dessen künstlich aufgepumpten Schluss. Insgesamt enttäuscht in Luisis Darbietungen eine deutlich zu pauschale Dynamik: Die Bläser überdecken sehr häufig die Streicher und alles ist über Strecken schlicht zu laut. Hier schaffen mehrere Kollegen einen konsequenteren Aufbau der Klangschichtungen.

Aufnahmetechnisch kommt die DG-Veröffentlichung zwar bei Weitem nicht an Oramos klanglich sensationelle drei BIS-SACDs heran, ist trotzdem ordentlich. Nur gibt es grenzwertig viel Hall, wodurch natürlich einige laute und komplexe Stellen etwas matschig und verschwommen ankommen. Der Rezensent fragt sich, ob DG mit der Abmischung von Dolby Atmos® Produktionen in simples Stereo noch generell Probleme hat: Besonders negativ fiel dies z. B. bei Richard Strauss‘ Orchesterwerken unter Andris Nelsons auf.

Fazit: Luisis Dirigate stellen keinen Fortschritt zur Schønwandt-Aufnahme des DRSO – mittlerweile in Lizenz bei Naxos erhältlich – dar: Der Maestro steht des Öfteren der Musik im Wege. Das Orchester setzt selbstverständlich bravourös Luisis Ideen um; die stören allerdings eher, als dass sie bestimmte Aspekte von Nielsens Symphonik klarstellen oder glaubwürdig unterstreichen würden. Im DG-Katalog ergibt sich so immerhin ein gewichtiges Upgrade zur ziemlich missratenen Gesamtaufnahme Neeme Järvis, die mit ganz heißer Nadel gestrickt war – Turbo ohne Sinn und Verstand. Blomstedts zweiter Zyklus aus San Francisco bildete offensichtlich in seiner durchdachten Profiliertheit den Nährboden für aktuellere, sehr gelungene Neueinspielungen. Neben Schønwandt bleiben dies insbesondere die Dacapo-Produktion mit New York Philharmonic unter Alan Gilbert sowie Sakari Oramos aufnahmetechnisch gleichermaßen absolut konkurrenzloser Zyklus aus Stockholm.

Vergleichsaufnahmen: San Francisco Symphony, Herbert Blomstedt (Decca 460 985-2 & 460 988-2, 1987-89); Göteborgs Symfoniker, Neeme Järvi (DG 00289 477 5514, 1990–92); Danish National Symphony Orchestra, Michael Schønwandt (Naxos 8.570737-39 [3 Einzel-CDs], 1999–2000); New York Philharmonic, Alan Gilbert (Dacapo 6.200003, 2011–14); Royal Stockholm Philharmonic Orchestra, Sakari Oramo (BIS-2028, BIS-2048 & BIS-2128, 2012–14) – [Nr. 4] Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan (DG 445-518, 1981)

[Martin Blaumeiser, August 2023]