Archiv der Kategorie: CD-Rezension

Ein verstümmeltes Requiem

Naxos, 8.573952; EAN: 7 47313 39527 9

Johannes Brahms‘ „Ein deutsches Requiem“ hören wir in der Londoner Version von 1871, also mit englischen Texten. Statt eines Orchesters begleiten die beiden Pianisten Madeline Slettedahl und Craig Terry den Chor Bella Voce unter Andrew Lewis. Die Solisten sind Michelle Areyzaga und Hugh Russell.

Dass die Sänger das Deutsche Requiem von Brahms auf Englisch vortragen, lasse ich mir durchaus noch eingehen: schließlich ging es Brahms nicht zuletzt um die Verständlichkeit des Textes, damit dieser auf den Hörer wirken kann. Die Übersetzung von Lara Hoggard ist musikalisch auf die Originalpartien abgestimmt, so dass sie den Gesangslinien nicht im Wege steht. Überhaupt nicht nachvollziehen kann ich hingegen, dass diese Version auf Brahms‘ herrliche Orchestration verzichtet, sondern auf eine Fassung für zwei Klaviere zurückgreift. Wie damals üblich, arrangierte Brahms die Orchesterstimmen für zwei Pianisten: dies war allerdings zu keiner Zeit für öffentliche Aufführungen gedacht, sondern fürs häusliche Musizieren. Der hier zu hörende Chor Bella Voce scheint die Berechtigung einer Aufnahme daraus zu ziehen, dass die erste Aufführung des Requiems in England eben nur mit zwei Klavieren stattfand – allerdings auch im Rahmen eines Hauskonzerts.

Die Klavierbesetzung rächt sich alleine schon durch den gewählten Aufnahmeort, die St. Luke’s Episcopal Church. Durch die hohe und bogenförmig zugeschnittene Decke entschwindet der Klavierklang, ohne dass die Aufnahmetechnik ihn sauber einfangen könnte. Entsprechend fern und leer klingen die Instrumente. Der Chor selbst hat ein gutes Gespür für die Polyphonie der einzelnen Linien und für die zarten Dissonanzen in der Musik von Brahms – doch er scheint sich etwas zurückzuhalten wegen des mangelnden instrumentalen Unterbaus. Wenig begeistern können mich die beiden Solisten: Michelle Areyzaga besitzt zwar ein herrlich klares und direktes Timbre, unterminiert dieses allerdings durch ununterbrochenes Vibrato mit beachtlichem Ambitus; Hugh Russell verkünstelt seine Stimme, die Partie und das Colorit seiner Stimme allgemein wirken aufgesetzt und nicht echt beziehungsweise auch nicht echt empfunden.

Mit der fahlen Akustik der Kirche, der auf Dauer eintönigen Begleitung ohne dynamische Vielfalt und ohne deren Möglichkeit, Töne lange zu halten, ermüdet die London Version des Deutschen Requiems schnell und wirkt beinahe wie ein verstümmelter Abklatsch des Originals.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2019]

Gekürzte Strahlkraft

Naxos, 8.574023-24; EAN: 7 47313 40237 3

Leoš Svárovský dirigiert Chor und Orchester der Slowakischen Philharmonie mit Antonin Dvořáks drittem Oratorium: Svatá Ludmilla. Die Solisten sind Adriana Kohútková als Ludmilla, Karla Bytnarová als Svatava, Tomáš Černý als Bořivoj, Ondrej Šaling als Bauer und Peter Mikuláš als Ivan.

Als Dvořák während seines ersten Englandaufenthalts vom Verleger Lilleton den Auftrag erhielt, ein Oratorium zu komponieren, reizte ihn die Idee sofort. Er wusste um die hohen Standards englischer Chöre und Orchester und hatte auch Gefallen gefunden an den Musikfestivals, die auf der Insel ausgetragen wurden. Bei der Wahl des Sujets machte sich Dvořák allerdings wenig beliebt, da er sich die böhmische Schutzheilige Ludmilla erwählte, die in England nicht von Interesse war. Um die Bekehrung und den Beginn des Wirkens von Ludmilla errichtete der Komponist ein Oratorium von über drei Stunden Länge mit 45 Musiknummern. Nach dem Misserfolg der Uraufführung kürzte Dvořák das Werk und schrieb einige Teile um.

Die hier vorliegende Aufnahme von Leoš Svárovský ist mit 1:41 die am stärksten zusammengekürzte Fassung des Werks, die mir bekannt ist. Die hinreißende, leider beinahe ebenso gestauchte Version des vor zwei Jahren verstorbenen Bělohlávek dauert immerhin 12 Minuten länger, Hrůša knackt die zweieinhalb Stunden und Albrecht liegt nur etwas darunter. Gerade für ein Konzert verstehe ich vollkommen, dass einige Passagen entschlackt werden, um den Hörer nicht zu überfordern oder gar zu langweilen. Für eine CD-Aufnahme würde ich mir allerdings doch wünschen, das Werk in Gänze und nicht nur fragmentarisch zu hören. Svárovský streicht teils an gänzlich unpassenden Stellen, wodurch manche Nummern enden, bevor sie sich erst entfalten können. Beim Mitlesen in der Partitur kommt man teils kaum aus dem Suchen raus. Insgesamt hören wir auf dieser Doppel-CD nur 26 der 45 Stücke, von denen wiederum etwa ein Viertel nicht in voller Länge erklingt.

Besonders schade finde ich die Kürzungen angesichts der hohen Qualität der vorliegenden Aufnahme, die selbst im Licht solch überragender Konkurrenz wie Bělohlávek und Hrůša nicht blass erscheint. Mit andächtig frommem Gestus stellt sich Svárovský der Partitur und zieht die Kraft der Musik aus dieser Haltung, wodurch eine Echtheit entsteht. Gerade die langen Steigerungen erhalten unter Svárovskýs Stabführung eine zwingende Kraft und gipfeln in Erhabenheit. Der Chor, dynamisch stets ein wenig über dem Orchester, bezaubert durch kontrapunktische Finesse und ausgewogene Wechsel. In das so entstehende Geflecht können sich die Solisten gut einfügen, lediglich der Bass wirkt gegen Ende stellenweise unterbeleuchtet. Adriana Kohútková wirkt als strahlende Ludmilla und präsentiert vor allem im Wechselspiel mit der Altistin Karla Bytnarová prächtige Duetti.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2019]

Skride folgt der Musik

Orfeo, C 950 191; EAN: 4 011790 950129

Béla Bartók steht im Zentrum von Baiba Skrides neuen CD-Produktion. Gemeinsam mit dem WDR Sinfonieorchester Köln unter Eivind Aadland spielt sie das zweite Violinkonzert Sz 112 und die beiden Rhapsodien für Violine und Orchester Sz 87 und Sz 90.

Neben dem Klavier inspirierte vor allem die Geige die musikalische Vorstellungskraft von Béla Bartók. Durch ihre Verwandtschaft mit Fiedeln eignet sich dieses Instrument perfekt für die Darstellung folkloristisch angehauchter Werke; außerdem kann sie problemlos Mikrointervalle realisieren. Die beiden Violinkonzerte und die beiden Rhapsodien (insbesondere die erste) zählen nach wie vor zu den meistgespielten Konzertstücken der Moderne, ihre rhythmische Kraft, prächtige Virtuosität und die formale Ausgewogenheit machen sie zu wahren Publikumslieblingen.

Baiba Skride folgt der Musik. Die technisch-mechanischen Höchstschwierigkeiten meistert sie beiläufig, während sie sich mental auf den Fluss der Musik fokussiert. Skride hält das Ganze im Auge, sie weiß um die verwinkelten Abzweigungen und plötzlichen Charakterwechsel, deren Übergänge sie adäquat ausgestaltet. So entsteht ein nachvollziehbarer Zusammenhang selbst in den großen Dimensionen des Violinkonzerts. Dabei besitzt sie eine hinreißende Tongebung, die entsprechend der Musik nicht zu lyrisch, ebenso aber nicht zu harsch erscheint, sondern kernig und voll; ergriffen, aber nicht sentimental; distanziert, aber nicht kalt. Die beiden volksmusiknahen Rhapsodien, die Béla Bartók traditionell in Lassù und Friss teilte, erklingen beinahe spielerisch leicht nach dem gewaltigen Violinkonzert. Dennoch nimmt Skride sie nicht leitfertig, sondern sucht auch in ihnen die innermusikalischen Bezüge und entlockt den Werken durch ihre Spielfreude reinste Eleganz.

Das Orchester integriert Skride als prima inter parens, so dass sie trotz der deutlichen Zurschaustellung des Soloparts nicht herausbricht, sondern nur in der Gemeinschaft wirken kann. Eivind Aadland erweist sich als präziser und luzide hörender Dirigent, der jede Stimme hörbar macht und ein geklärtes Bild freigibt, in dem die Effekte der Musik umso frappierender zur Geltung kommen. In den kleiner besetzten Passagen entsteht so eine beinahe kammermusikalische Wirkung, wonach die Tuttis deutlich kontrastieren.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2019]

Sehr und weniger Entdeckenswertes

Hyperion, CDA68268; EAN: 0 34571 28268 8

Linus Roth spielt die Violinkonzerte D-Dur op. 87 von Eduard Lassen, G-Dur op. 95 von Philipp Scharwenka sowie das Konzert BVN289 aus der Feder Rued Langgaards. Begleitet wird er durch das BBC Scottish Symphony Orchestra unter Stabführung von Antony Hermus.

In der Reihe „The Romantic Violin Concerto“ von Hyperion entdecken Künstler zu wenig beachtete Konzerte der romantischen und postromantischen Epoche. Auch im nunmehr 22. Teil der Serie werden wieder Schätze gehoben, die man nur selten aufgenommen findet.

Besonders hervorzuheben ist hierbei die Aufnahme von Philipp Scharwenkas Violinkonzert G-Dur op. 95, das vom ersten Ton an fesselt und die Spannung das gesamte Werk über aufrecht hält. Den Namen Scharwenka verbindet man heute in erster Linie mit Philipps jüngerem Bruder Xaver, einem der gefragtesten Klaviervirtuosen seiner Zeit, und dem von den beiden Geschwistern in Berlin gegründeten Musikinstitut. Außer Acht gelassen wird dabei meist die Tatsache, dass beide Brüder zu den substanziellsten Komponisten ihrer Epoche gehören. Das hier zu hörende Violinkonzert besticht durch große Bögen, orchestrale Vielfalt, ansprechenden Kontrapunkt und herrliche Melodien. Die rhythmisch mannigfaltigen Randsätze reißen mit, der Mittelsatz bannt den Hörer mit innigster Lyrik. Gerade im Vergleich weniger überzeugend erscheint das D-Dur-Konzert Eduard Lassens: die Läufe des Solisten brechen immer wieder ab, die virtuosen Passagen wirken holprig und gewollt, teils gar unpassend. Zudem langweilt der Orchesterpart durch rhythmische Eintönigkeit und mangelnde Stimmvielfalt, die im Kopfsatz in blanke Nacktheit umschlägt. Das Finale gelang am ehesten. Gewiss gibt es manch interessante Effekte wie eine stets mit der gleichen Note gedoppelte Passage und auch die Themen sind durchaus attraktiv, hingegen die Umsetzung in die große Form mit den Möglichkeiten eines Orchesterapparats scheiterte. Langgaard gehört dagegen wieder zu den Komponisten, die mehr beachtet werden sollten, aber noch zu Lebzeiten (schon nach der Uraufführung der ersten seiner sechzehn Symphonien) in Vergessenheit gerieten. Das einsätzige Violinkonzert wirkt konfrontiert mit anderen Gattungsbeiträgen der Zeit schlicht und unprätentiös, dafür umso intensiver, gespickt mit Finessen und inspirierten Details.

Der Solist Linus Roth stellt sich ausdauernd allen drei hoch anspruchsvollen Werken. Selbst durch den langatmigen Lassen kämpft er sich wacker und versucht, das Beste aus den verqueren Laufpassagen zu ziehen, oftmals eben dadurch, das Fragmentarische zu betonen und daraus eine Ästhetik werden zu lassen. Den knappen Orchesterstimmen versucht er eine volle Solopartie anbeizustellen, um den Gesamteindruck klanglich aufzufüllen. Bei Scharwenka vereinen sich Solist und das BBC Scottish Symphony Orchestra unter Antony Hermus klanglich wie musikalisch – dieses Meisterwerk kann nur in enger Absprache und perfekter Symbiose bewältigt werden. Auch die Aufnahmetechnik spielt glücklicherweise mit und wir erleben die volle Vielseitigkeit und Fülle von Scharwenkas Musik. Auch bei Langgaard hält dies an; die Musiker präsentieren dieses traditionelle, aber doch mit Eigenheiten gewürzte Konzert in aller Frische und Lebendigkeit.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2019]

Lieder aus aller Welt

Naxos 8.574072; EAN: 7 47313 40727 9

Basierend auf die neue kritische Edition aller Klavierlieder von Isaac Albéniz nahmen die Mezzosopranistin Magdalena Llamas und der Pianist Guillermo Gonzáles vorliegende CD auf. Wir hören Chanson de Barberine, Deux Morceaux de prose, Il en est de l’amour, To Nellie, Six Songs, Quatre Mélodies, Seis baladas und Rimas de Bécquer.

Leben und Wirken von Isaac Albéniz erstaunen gleichermaßen. Als Kind schon lief er von zu Hause weg und finanzierte sich reisend durchs Konzertieren, bevor er sich im Alter von 12 Jahren auf ein Schiff über Buenos Aires und Puerto Rico bis nach Kuba schlich. Selbst als ihn sein Vater dort entdeckte, konnte der Sohn ihn überreden, weiter nach New York fahren zu dürfen. Seine Rückkehr nach Spanien war von kurzer Dauer, denn Förderer finanzierten Studien in Leipzig bei Reinecke, wo er Liszt kennenlernte, der ihn als Student aufnahm. Zwei weitere Jahre in Spanien brachten Albéniz die Einsicht, sich mehr auf den spanischen Stil zu fokussieren. Seine letzten Jahre verbrachte er in Frankreich, wo er weiter bei d’Indy und Dukas studierte – hier entstand auch sein berühmtester Zyklus: Iberia.

Umgarnt von so vielen Einflüssen und verschiedenartigsten Erlebnissen näherte sich Albéniz einem unverkennbaren Stil an, den er schließlich in Frankreich perfektionierte. Auf dem Weg dorthin komponierte er hunderte, meist angenehm zu hörende – wenngleich nie zum reinen Vergnügen intendierte – und vornehmlich kurze Werke in gänzlich unterschiedlichen Stilen, wobei ihn Tanzformen besonders reizten. Er probierte sich aus in verschiedenen Genres und charakteristischen Einschlägen, um die daraus gewonnenen Erfahrungen subtil in Darauffolgendes zu integrieren.

Seine Lieder sind auf die Jahre 1888 bis 1909 datiert, umspannen also eine Zeit von kurz nach der Suite España op. 47 bis nach Fertigstellung von Iberia, und nutzen spanische, englische und französische Vorlagen. Jedes dieser Werke zeigt neue Facetten von Albéniz‘ Stilwelt beginnend bei frühen, romantisch anmutenden über recht folkloristische bis hin zu den schwebend-sensiblen Klängen der französischen Musik um die Jahrhundertwende. Ein wahre Erkundungstour, die Einflüsse verschiedener Länder und Leute durchscheinen lässt.

Schade nur, dass weder die Aufnahmetechnik, noch die künstlerische Leistung diese Musik wirklich leben lässt. Das Klavier ist nie auf den Klang der Stimme eingerichtet, mal wirkt es zu distanziert (beispielsweise in Chanson de Barberine), dann (in Quatre Mélodies) zu sehr im Vordergrund; zudem wirkt es stets fahl, mit grauem Schimmer überzogen. Guillermo Gonzáles gehört zu den Kennern von Albéniz‘ Musik, ihm verdanken wir unter anderem die grandiose Urtextausgabe von Iberia. Er bemüht sich auch, die fein schattierten Facetten aus den Liedern hervorzuholen, was bei den spanisch angehauchten Stücken durchaus funktioniert, oft jedoch auch in Gleichförmigkeit ausartet – dies könnte allerdings auch der Aufnahmetechnik geschuldet sein. Der Stimme von Magdalena Llamas fehlt es an Abwechslung und Feinheit, wodurch sich in diesen subtilen, fragilen Liedern eine Gleichgültigkeit bis hin zur Langeweile einstellt. Ihr ewig gleiches Vibrato ermüdet und sie raubt den Miniaturen die Zartheit, oft eine Stufe zu laut und das Piano nicht auskostend.

[Oliver Fraenzke, September 2019]

Grazil bis Pompös

Naxos 8.573572; EAN: 7 47313 35727 7

Im sechsten Teil der Gesamtaufnahme des Ravel’schen Orchesterwerks mit dem Orchestre National de Lyon unter Leonard Slatkin hören wir die drei Werke für ein Soloinstrument mit Orchester: das Klavierkonzert in G-Dur, das Klavierkonzert für die linke Hand allein – jeweils gespielt von François Dumont – und die Tzigane für Geige und Orchester, in der die Konzertmeisterin Jennifer Gilbert ans Solistenpult tritt.

Ravel komponierte seine beiden grundverschiedenen Klavierkonzerte annähernd zur selben Zeit: Als Paul Wittgenstein ihn beauftragte, ein Konzert für die linke Hand zu schreiben, reizte ihn diese Aufgabe so sehr, dass er die Arbeit an seinem G-Dur-Konzert pausierte. Zwar gab es bereits zuvor Klavierliteratur für die linke Hand, aber Ravel kannte kein Werk großer Form, das sich diesem Problem stellte: trotz der Beschränkungen auf eine Hand ein mehrstimmiges und in sich stimmiges Geflecht zu bilden. Das resultierende Konzert besteht aus einem einzigen etwa 20-minütigen Satz, das dem Klavier bis zu drei parallel ablaufende Stimmen zuspricht. Akkordbrechungen bringen die Hand rasch von einer Lage des Klaviers in eine andere, wobei sich aus den Spitzentönen eine oder in der Schlusskadenz sogar zwei Melodien herausschälen. Weit gespannte Harmonien geben den Eindruck von zwei Händen. Das Orchester beginnt in der Tiefe und Konturlosigkeit, erst nach und nach treten nachvollziehbare Linien aus dem Nebel und die Musik entwickelt sich zu einer düsteren und noch immer schwebenden Atmosphäre, bevor ein Bruch in ein Perpetuum-Mobile-Allegro führt. Gegen Ende kommt die Musik zu ihrem Ausgangsmotiv zurück, wenngleich wesentlich dichter. Mit großer Besetzung wirkt das Konzert bedrohlich, zerrüttet und aufbegehrend; ganz anderes als das leichte G-Dur-Konzert, das Ravel ursprünglich als Divertissement bezeichnen wollte. Baskische Motive und jazzig-bluesige Anklänge geben sich die Hand, während das Klavier unbeschwert präludiert. Das dreisätzige Werk bezieht sich auf die klassischen und frühromantischen Ausdruckswelten zurück, womit es Poulencs Konzert für zwei Klaviere nahesteht. Als Ruhepol dient ein lyrischer Mittelsatz von hinreißender Schlichtheit und Tragfähigkeit (inspiriert von Mozarts Klarinettenkonzert), bevor das Finale die präzise Beständigkeit der Rhythmik zelebriert. Einige Jahre vor den Klavierkonzerten komponierte Ravel seine Tzigane, um mit ihr das Genre der von Zigeunern inspirierten Phantasien und Rhapsodien zu beenden. Als die ungarische Geigerin Jelly d’Arányi das Werk spielte und eigene Improvisationen einfließen ließ, nahm Ravel diese in die Partitur auf: er wisse nicht, was sie mache, aber es gefalle ihm.

Ohne große Effekthascherei begleitet das Orchestre National de Lyon die beiden Solisten; Leonard Slatkin lässt die Musik für sich sprechen und greift nur dort aktiv ein, wo es nötig ist. So entsteht ein natürlicher Fluss der Musik, der zugleich präzise geführt wird und vor subtilen Details nur so sprießt. Begeistern kann der Pianist François Dumont, Gewinner u.a. des internationalen Chopin Wettbewerbs und der Queen Elisabeth Competition, der die beiden Klavierkonzerte mit größter Leichtigkeit und Spielfreude nimmt. Das G-Dur-Konzert erhält jugendliche Frische mit glitzernden Läufen und rhythmischer Finesse; das Konzert für die linke Hand wirkt trüber und grollender, bestimmt im Gestus. Wie Slatkin genießt Dumont die Schlichtheit der Musik, in die er nicht zu viel von außen hineingeben will, sondern seine Darbietung ausschließlich aus den in den Noten enthaltenen Details zieht. Einen anderen Zugang präsentiert Jennifer Gilbert, welche in der Tzigane einen pompöseren Auftritt hinlegt. Mit kräftigem, manchmal aufgesetzten, Vibrato mit herbem Ton setzt sie die Soloeinleitung an und bleibt die gesamte Rhapsodie über in dieser Haltung.

[Oliver Fraenzke, Oktober 2019]

Musik – zeitlos

Baroque Masterpieces

Artis Gitarrenduo (Julia und Christian Zielinski); Musik von Georg Friedrich Händel (1685-1759), Francois Couperin (1668-1733), Sylvius Leopold Weiss (1687-1750), Johann Sebastian Bach (1685-1750), Antonio Vivaldi (1678-1741)

Naxos 8551420; EAN: 73009914203

Seit dem internationalen Aufstieg des Naxos-Labels haben Gitarren-CDs schon immer eine große Rolle im Repertoire gespielt. Mal gelungener, mal misslungener, denn bei der klassischen Gitarre scheiden sich die Geister. Seit Julian Bream dieses Instrument zu einem vollwertigen „Musik-Vermittler“ gemacht hat, ist es ein Liebling für alle und jeden geworden, sei es in der Klassik, sei es im Jazz oder in der Pop-Musik. Was der klassischen Gitarre nicht immer gut bekommen ist, wie man an vielen CDs sehen resp. hören kann. Denn was bei der Geige oder mehr noch bei der Flöte selbstverständlich ist, nämlich die mitvollziehbare Gestaltung der Melodie, ist bei der Gitarre für viele Spielerinnen und Spieler unerreichbar, weil äusserst schwierig zu verwirklichen, was einerseits in der leichten Handhabung und andererseits in der absolut schwierigen Verfügbarkeit wurzelt.

Soweit erst einmal die Vorrede…!

Nun ist bei Naxos eine CD erschienen, die all’ diese Schwierigkeiten sich in Luft bzw. eben in Musik auflösen lässt. Was Julia und Christian Zielinski da nämlich mit ihren zwei Gitarren erleben lassen, habe ich seit dem berühmten Duo Julian Bream/John Williams nicht mehr gehört: Musik vom Feinsten, gespielt mit allem, was dazu gehört. Vom ersten bis zum letzten Ton ein hinreißender, dergestalt auch selten gehörter wunderbarer Klang, wie ihn eben nur zwei – nicht eine – Gitarren zusammen hervorbringen können. Dazu eine Agogik, die den Melodien und ihren Harmonien alle Freiräume geben, die gerade die Barockmusik so nötig hat, soll sie nicht nähmaschinenhaft – wie so oft – abschnurren. Dass die beiden auf ihren Gitarren wirklich „singen“, was bei ach so vielen „Klassikern“ leider nie zu hören ist, hebt diese Scheibe aus dem globalen Gitarrenpool himmelhoch heraus.

Besonders gelungen sind dabei die Stücke, wo die beiden ihre ganze Innigkeit ausspielen, also die langsamen Sätze, die oft berückend schön und berührend geraten. Kommt dann die Geschwindigkeit ins  Spiel, zeigen sie natürlich ebenso ihre stupende Virtuosität. Allerdings ist das dann eben auch der Punkt, der mich als einziger stört: Dann geht darüber die strukturelle und musikalische Feinheit ein wenig den Bach runter. Nicht unzutreffend sagte einst ein Gitarrist, dem immer wieder dieser Satz eines Kritikers einfiel: „Die Gitarristen mögen sich doch bitte nicht so anstrengen, ein Maschinengewehr ist doch immer noch viel, viel schneller!“

Fazit: Endlich mal wieder eine Gitarren-CD, die Musik in sich hat. (Was man von der zeitgleich erschienenen Naxos-CD „ Beethoven on Guitar“ übrigens nicht sagen kann!)

[Ulrich Hermann, September 2019]

Lacrimae Lyrae – Tears of Exile

Fuga Libera Fug 763 (Outhere Music), EAN: 5400439007536

Crossover mit der Musik von John Dowland (1562-1626) gab und gibt es in allen möglichen – auch instrumentalen – Zusammenstellungen. Ob mit modernen Instrumenten oder historisch, die Musik des „Golden Age of English Music“ hat ihre Faszination bis heute bewahrt: Auch Sting hat ja vor Jahren ein Dowland-Projekt in sein Repertoire aufgenommen.

Aber diese Zusammenstellung mit dem griechischen Lyra-Spieler Sokratis Sinopoulos spielt in einer ganz anderen, eigenen Liga – um es flapsig auszudrücken. Anders als bei der Geige oder Gambe wird bei der griechischen Lyra nicht auf die Saite gegriffen sondern – neben ihr, das heißt, die Saite berührt den Nagel der entsprechenden linken Hand. Das erzeugt einen Ton, der sofort  ein wenig „schnarrt“, der Obertongehalt ist ähnlich wie bei einer Sitar. Und indem Sinopoulos ein absoluter Könner auf seinem Instrument ist, mit allen Segnungen des Orients – was man vor allem an seinem Melodie-Gefühl und der Agogik merkt –, ist es ein sehr aufregendes und beeindruckendes Zusammentreffen mit dem französischen Gamben-Ensemble L’Achéron.

Ob die sieben Pavanen, die der Dowland’schen Komposition ihren Name geben, oder die dazwischen eingeschobenen Tänze, Dowlands Gönnern gewidmet, die Stücke bekommen in der Ausführung dieser fünf Musiker eine neue Bedeutung, neue Klanglichkeit und damit neue Spannung, wie sie Dowlands Musik durchaus angemessen ist. Ebenso die improvisatorischen Einschübe, angeregt von der dichten Polyphonie des Originals, die zeigen, wie zeitlos und selbstverständlich die Ideen und Klänge von einst und jetzt miteinander eine faszinierende und höchste anregende Verbindung eingehen können.

Wobei anzumerken ist, dass sich die vier Gamben-Spieler durchaus nicht immer nur an ihre sonst üblichen durchgängigen Melodien anhand der Noten halten, sie variieren ihre „Begleitung“ in reichem Maß und bilden zusammen mit dem äusserst überzeugenden Melodie-Spiel der Lyra ein neuartiges Ganzes, das die Unsterblickeit der Musik des John Dowland wieder einmal eindrucksvollst zu Gehör bringt.

[Ulrich Hermann, September 2019]

Diese Kammermusik ist dreidimensional!

Nathanael Carré geht seinen eigenen Weg, wenn er seine Lieblingstücke für das Ensemble Nuanz neu arrangiert

Der Flötist Nathanael Carré holt unverbrauchtes, seltenes Repertoire aus der Versenkung und taucht scheinbar bekanntes in leuchtende Farben eines virtuosen Neuarrangements. So hat er aus den Klavierparts der Kompositionen von Gabriel Fauré, Jean Francaix, Jacques Ibert, aber auch selten gespielten Stücken von Georges Hüe, Paul Taffanel, André Jolivet oder Francois Borne etwas neues gemacht, nämlich kunstvoll differenzierte Orchestrierungen für das hellhörig aufspielende, von ihm im Jahr 2015 gegründete Ensemble Nuanz. Vereint sind hier die beiden Geiger Evgeny Popov und Alexander Jussow, Jan Melichar und Robin Porta an den Violen, der Cellist Jan Pas sowie Stefan Koch-Roos am Kontrabass.

Carrés profunden Erfahrungen als Orchestermusiker und Dirigent ist zu verdanken, dass er die einstigen Klavierparts in wirkungsvolle orchestrale Dimensionen hinein ausgeweitet hat. Alleinstellungsmerkmale finden, Klischeevorstellungen konterkarieren: Das ist die Devise des jungen Franzosen, der gerne mal das Spezialistentum von Wettbewerbsjurys fröhlich ignoriert und sich stattdessen über Crowdfunding-Kampagnen des Publikumserfolges und über seine Unabhängigkeit versichert. Auch über eine aufgeklärte künstlerische Haltung sprach er mit Stefan Pieper.

Herr Carré, Sie haben gerade ein sehr ungewöhnliches Video veröffentlicht. Sie öffnen Ihren Flötenkoffer und entnehmen ihm Farbe und Pinsel, beginnen zu malen. Welche Farben wollen Sie mit dem Repertoire dieser CD kreieren?

Das Ziel war, zu zeigen, dass die Palette französischer Musik viel breiter als Debussy und Ravel ist. Hier gibt es doch so viele Klischees, die dringend überwunden werden müssen. Ich musste sogar die Erfahrung machen, dass selbst manche Wettbewerbsjury von Klischees dominiert ist: Als ich dort mal die Sonate von Poulenc spielte, wurde mein Spiel abqualifiziert, der dritte Satz höre sich „unschön“ und wie Straßenmusik an. Aber genau darum geht es doch hier! Nicht alles, was aus Frankreich kommt, klingt wie Daphne oder Syrinx. Viele Menschen glauben, französische Musik ist wie Chanel Nr 5. Georges Hüe kennt doch auch kaum jemand, aber es ist eine berückende Musik. Oder betrachten wir André Jolivets „Fantaisie Caprice“ – dieses Stück baut auf einer modalen Skala auf, die von der balinesischen und afrikanischen Musik dominiert ist.

Sämtliche Stücke der neuen CD sind im Original bzw. ihrer Ursprungsversion für Soloflöte und Klavier geschrieben. Was für neue Aspekte wollen Sie aus den Kompositionen heraus holen, wenn Sie sie einem Streichensemble auf den Leib geschrieben haben?

Ich wollte den Rahmen ausweiten. Sechs Streichinstrumente erzeugen viel mehr Dynamik. Entsprechend entfaltet sich das Stimmengeflecht der Kompositionen noch weiter. Außerdem wird das Gefüge reicher, weil auf einmal sechs Menschen ihre ganze Sichtweise in die Sache einbringen.  Alles wird transparenter und damit einfacher, die Musik als Ganzes zu verstehen. Die Linien werden weiter ausdifferenziert. Jeder kann musikalisch seine Phrase gestalten und ein größeres Ganzes kreieren, wo jede Stimme ihre Kraft hat. Mein Dank gilt nicht zuletzt meiner Frau, die mich zur Verwirklichung der Idee dieses französische Repertoire neu zu arrangieren ermutigt hat!

Herr Carré, kann es sein, dass Sie in der schnöden Konnotation des Klavierparts als Begleitung eine Diskriminierung sehen?

Musik wird erst lebendig, wenn man aus einer rigiden Rolle heraustritt. Wenn ich verantwortungsvoll musiziere, dann fokussiere ich mich ja auch nicht auf meine eigene Solostimme, sondern konzentriere mich vor allem auf meinen Gegenpart. Schon meine Mutter, bei der ich die ersten musikalischen Gehversuche machte, hat mich immer aufgefordert, bei Lernen eines Stückes auf den Klavierpart zu hören. Wer dieses Prinzip wirklich ernst nimmt, kann viel tiefer in die Musik eintauchen. Umso mehr wird das Ganze erfahrbar und es gelingt, den Sinn des Komponisten weiterleben und sprechen zu lassen.

Also ist Musizieren für Sie vor allem eine Kunst des Zuhörens?

Ich möchte mit meiner Energie und Persönlichkeit alles entfalten, was in der Musik enthalten ist. Musizieren hat immer etwas mit höchster Aufmerksamkeit zu tun und ist ein Spiel mit der Energie der anderen Musikern und des Publikums. So kann jedes Konzert einzigartig werden. Durch diese Symbiose können tiefe Emotionen erreicht werden.

Wie wird Ihr eigenes Spiel durch die erweiterte Besetzung beeinflusst? Was ist anders, als wenn Sie mit einem Klavier zusammen musizieren?

Diese Neuarrangements sind eine sehr komplexe Kammermusik geworden. Jede Stimme ist anders. Es gibt keine Wiederholungen. Ebenso muss ich kräftiger spielen, wenn ich sechs Instrumenten gegenüber stehe. Außerdem muss ich dirigieren phasenweise. So etwas braucht im Konzert deutlich mehr Energie. Meine Aufmerksamkeit ist überall gefordert. Diese Kammermusik ist dreidimensional.

Der Klassikmarkt ist übersättigt mit viel Standard-Repertoire, das sich wiederholt. Wenn Sie hier etwas neues anbieten, ist es schwer, sich damit öffentlich durchzusetzen?

Ich habe mich immer sehr frei gefühlt und es geht mir einfach nur darum, etwas Gutes und Interessantes anzubieten. Es muss nicht unbedingt bekannt sein dafür. Für meine Debüt-CD habe ich zum Glück ein Label gefunden, dass sehr offen für ungewöhnliche, zugleich hochqualitative Projekte ist. Das Publikum war bisher sehr begeistert. Warum soll ich etwas aufnehmen, was schon viele andere aufgenommen haben? Wenn es um Standardrepertoire geht, kaufen die Leute doch von vornherein die Einspielung mit dem prominenteren Namen. Da konzentriere ich mich lieber auf eigene Projekte, die mir Spaß machen und finde meine eigene Richtung. Nur so kann ich eine echte künstlerische Persönlichkeit entwickeln. Dieses Projekt liegt mir auch besonders am Herzen, und ich wollte davon eine Spur in der Musikwelt hinterlassen.

Es wird ja überall getönt, dass die CD tot ist. Warum produzieren Sie und alle Ihre Kollegen weiterhin so viele CDs?

Allein, weil es ohne CD schwer ist, Konzerte zu bekommen. Man muss einfach eine CD machen! Sie ist und bleibt ein Türöffner.

Welche Rolle haben Wettbewerbe für Ihre Karriere gespielt?

Als Student hatte ich den Wunsch, internationale Wettbewerbe zu machen. Sie werden als einfache Autobahn zum Erfolg angesehen. Wer einen Wettbewerb gewinnt, bekommt ein paar Konzerte und kann oft kostenlos eine CD aufnehmen. Ich selbst bin aber kein Wettbewerbstyp – mein Profil deckte oft nicht die Vorlieben der ganzen Jury ab. Deswegen musste ich einen anderen Weg finden: So habe ich eine Stelle im Orchester bekommen und mich weiter als Künstler entwickelt. Das hat meine Kreativität und Unabhängigkeit gestärkt.

Sie gehen aktuell einen sehr modernen Weg, um sich über Crowdfunding ein Feedback über den eigenen Publikumserfolg einzuholen. Wie kam es dazu?

Das hatte erstmal rein praktische Gründe. Für dieses Projekt brauchte ich eine finanzielle Unterstützung. Es ist auch eine interessante Möglichkeit, das Interesse an meinem Projekt zu prüfen – obwohl ich schon sehr sicher über den Wert meiner Arbeit war. Aber ich bin sehr dankbar, dass mich so viele Leute übers Netz und darüber hinaus privat unterstützt haben.

Das Grundprinzip ist ja einfach: Es geht darum, Menschen zu überzeugen. Keine Spezialisten-Jury, sondern ein Publikum.

Ich habe mich immer um eine gute Vernetzung mit vielen Menschen bemüht. Und gerade, weil ein  Crowdfunding viel Netzöffentlichkeit herstellt, ist es ein guter Weg, an mehr junges Publikum heran zu kommen. Das Prinzip einer solchen Präsentation ist es, ein konkretes „Produkt“ anzubieten und dafür Begeisterung zu wecken. Natürlich ist es wichtig, mit künstlerischer Qualität zu begeistern und nicht mit kommerzielle Methoden.

Was muss ein gutes Produkt ausmachen?

Wir leben in einer Zeit, in der neue Erfahrungen wichtig sind. In jeder Werbung werden diese „neuen Erfahrungen“ ja auch versprochen. Man muss aber zugleich etwas hervor bringen, was qualitativ hervorragend ist. Das ist dringend nötig, um der klassischen Musik ein neues Publikum zu bringen. Ich begegne immer wieder Menschen, die keinen speziellen Bezug zur Musik haben, aber doch sehr neugierig sind. Es geht darum, auch den Nicht-Spezialisten etwas zu bieten, was deren Erwartungen übertrifft.

Welche persönlichen Ideale verbergen sich dahinter?

Es gibt in unserer Gesellschaft viele menschliche und geistige Einsamkeit. Die Musik, live erlebt, hat die Kapazität, Menschen zu sammeln und in eine andere Sphäre zu bringen. Eine Sphäre, die weit von Materialismus und menschlichen Sorgen entfernt ist. Jeder Mensch hat das tiefe Bedürfnis, etwas mit anderen Menschen zu erleben und teilzunehmen. 

Was ist Ihr Zukunftsplan?

Die Arbeit mit größeren Kammerensembles, aber auch Orchestern fasziniert mich sehr. Deswegen  studiere ich aktuell auch das Dirigieren. Vor allem möchte ich jetzt mit meinem Ensemble Nuanz und diesem Programm und später mit anderem Repertoire möglichst viele Konzerte spielen. Ich wünsche mir, dass ein breites Publikum diese wunderbare Musik erleben kann!

CD:  Palette; Nathanae Carré, Ensebmle Nuanz – ARS Produktion 2019

Interview geführt von Stefan Pieper, September 2019

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Belzebub mit E-Gitarre

ex oriente – Music by George Ivanovitch Gurdjieff; Gunter Herbig : Electric Guitar

BIS 2435, EAN: 7 318590 024355

Gurdjieff? War das nicht der Verrückte, der… und Musik hat der auch noch geschrieben?

Doch, das stimmt, auch wenn er dafür einen richtigen Komponisten: Thomas de Hartmann (1885-1956) gebraucht hat, der die Melodien, die Gurdjieff auf einer Gitarre gespielt oder ihm vorgesungen hat, in Noten aufschreiben und somit auch für andere verfügbar machen konnte. Dass dieser Prozess hin und wieder auch – wegen der Schnelligkeit Gurdjieff’scher Einfälle – chaotisch ablief, kann man im Booklet nachlesen, auch wie Gunter Herbig auf die E-Gitarre kam. Von ihm sind ja bei Naxos in den letzten Jahren zwei herausragende CDs mit der Klassischen Gitarre erschienen, eine absolute Ausnahme im Naxos’schen Gitarrenrepertoire. Aber diese neue CD ist darüber hinaus auch eine Art „Ehrenrettung“ für das sonst bei „Klassikern“ so verpönte elektrische  Instrument.

Was Gunter Herbig nämlich da an Musik entstehen lässt, an Klangreichtum und an Melodien, ist einfach ungewöhnlich. Und lässt diese Musik – urspünglich für Klavier bei Schott in vier Bänden erschienen, und von manchen Musikern eingespielt wie z.B. Keith Jarrett – nicht nur in einem völlig neuen Licht, besser Klang, erscheinen. Wie Herbig diese Kompositionen verwirklicht, ist faszinierend wie bei seinen beiden Klassik-CDs. Er lässt sich und der Musik nämlich die Zeit, sich zu entfalten, hat ein untrügliches Gefühl für den Auf- und Abbau der Melodien, den Klangraum, den diese Gebilde benötigen, und das alles in völliger Gelassenheit und dennoch spannend vom ersten bis zum letzten Ton.

Ein völlig neuer Zugang zu einer Musik, die natürlich so geheimnisvoll ist wie ihr Schöpfer selber. Was wiederum sehr anregend auf jeden wirken kann, der sich damit befasst, und dafür ist diese neue CD von Gunter Herbig der ideale Einstieg.

[Ulrich Hermann, September 2019]

Wiederentdeckung eines Unterschätzten

KAROL SZYMANOWSKI (1882-1937): Klavierwerke: Préludes op. 1, sämtliche Etüden (opp. 4 & 33), Masken op. 33, Andrea Vivanet

Naxos  8.551401; EAN 730099140133

Schon die ersten Préludes Opus 1 lassen aufhorchen: Da spielt einer nicht nur phänomenal Klavier, nein, er erweckt diese Musik des zwischen Chopin und der Moderne eingespannten, im Westen noch immer nicht so recht gewürdigten großen polnischen Komponisten Karol Szymanowski (1882-1937) zu einem Leben, das unüberhörbar aufzeigt, was für ein Schatz da zu heben ist.

Rhythmisch, harmonisch, melodisch, klanglich, keine Dimension bleibt unerfüllt bei dieser Musik. Als Nachfolge Chopins ist das ebenso zu erleben wie als Zeitgenosse der Moderne eines Debussy, Bartók oder Strawinsky, jedoch mit ganz eigener, überreicher Klang- und Musiksprache.

Dabei sah Szymanowski sich selbst – wie im sehr informativen Booklettext von Norbert Florian Schuck nachzulesen ist – als nicht gerade übermässig virtuosen Pianisten, war aber mit so vielen weltberühmten und erfolgreichen Musikern wie beispielsweise Fitelberg, Artur Rubinstein oder Artur Rodzinski befreundet, dass er seiner musikalischen Fantasie auch im Virtuosen immer freien Lauf lassen konnte.

Zunächst war Szymanowski ein Exponent des hemmungslos blühenden musikalischen Jugendstils der 1910er Jahre, wie man hier in den grandiosen drei ‚Masken‘ von 1915-16 mit ihren herrlichen Orientalismen hören kann. Doch dann lehnte er, der die Geisteswelt des Orient so sehr liebte, eine Berufung ans Konservatorium in Kairo ab, denn er meinte, seiner Heimat dienen zu müssen. Man hat es ihm zu Lebzeiten nicht gedankt, und erst posthum entdeckten die Polen ihre Liebe zu ihm. Als wiederholter Direktor des Warschauer Konservatoriums kam er zwangsläufig in Konflikte mit seinen konservativen Mitarbeitern; er gab diese Stellung resigniert wieder auf, noch dazu quälte ihn seine Tuberkulose, der er 1937 in Lausanne erlag.

Andrea Vivanet spielt diese Musik mit exorbitanter Beherrschung aller Feinheiten, einem äußerst wandlungsfähigen, stets wunderbaren Ton, einer unwiderstehlich leidenschaftlichen Liebe ohne exzessive Entgleisungen, und durchdringt auch die komplexesten Harmonien an den Grenzen der Tonalität mit klar strukturierendem Sinn und macht so das Hören dieser Kompositionen zu einem erlesenen und auf alles Weitere von Szymanowski neugierig machenden Erlebnis. Wahrscheinlich hat in den letzten Jahrzehnten diese Werke keiner so meisterhaft vorgetragen. So gespielt, gehört Szymanowski nachhaltig in den Pianistenolymp und die ‚Gefahr‘, dass Vivanet Nachahmer findet, ist erfreulich groß. Auch der Aufnahmeklang ist ausgezeichnet, so dass ich diese Scheibe nur rundum uneingeschränkt empfehlen kann.

[Ulrich Hermann, September 2019]

Tief erspürt, intuitiv und klar

Naxos, 8.551401; EAN: 7 30099 14013 3

Der aus Italien stammende und in Frankreich lebende Pianist Andrea Vivanet präsentiert Werke von Karol Szymanowski. Auf dem Programm stehen fünf der neun Préludes op. 1, die Études op. 4 und die Études op. 33 sowie abschließend die Masques op. 34.

„Wie im Fieber blätterten wir die Noten durch – entdeckten wir doch hier einen bedeutenden polnischen Komponisten!“ So rief der Pianist Artur Rubinstein aus, als er erstmals die Préludes Szymanowskis, sein erstes mit Opuszahl versehenes Werk, zu lesen und spielen bekam. Obgleich Szymanowski selbst nie eine Laufbahn als Virtuose einschlagen wollte, verfolgte ihn das Klavier durch sein gesamtes Werkschaffen; und später musste es aus finanziellen Gründen notgedrungen auf das Konzertieren zurückgreifen. Seine eigenen klaviertechnischen Einschränkungen hielten ihn nicht davon ab, den darbietenden Künstlern seiner Werke enorme Schwierigkeiten abzuverlangen: Gab es, neben namhaften Freunden wie Rubinstein, schließlich auch Pianisten in seiner Verwandtschaft, so unter anderem Felix Blumenfeld und weiter entfernt Natalia und Heinrich Neuhaus.

Die neun Préludes op. 1 sind auf die Jahre 1899 und 1900 datiert, auch wenn einige von ihnen sicherlich schon früher entstanden. Sie, wie die 1903/04 entstandenen vier Etüden op. 4, verfolgen einen lyrischen und weichen Stil, immer wieder gewürzt durch rhythmische Divergenzen und zarte Dissonanzen. Popularität erlangte die dritte der Etüden, bei welcher die fingertechnischen Hürden im Hintergrund stehen zugunsten eines hinreißenden Themas und großer Sanglichkeit. Ein ganz anderes Bild geben die späteren Masques op. 34 und die kurz darauf fertiggestellten Etüden op. 33: Hier experimentiert Szymanowski damit, harsche Dissonanzen nicht regelkonform aufzulösen, sondern in neue instabile Klänge weiterzuführen, wodurch die Musik einen schwebenden Zustand erreicht. Die Masques beziehen sich auf drei Gestalten der Weltliteratur, Shéhérazade, Tantris (Tristan) und Don Juan (den er ursprünglich italienisch Don Giovanni bezeichnen wollte), und bringen fantasievolle Seelenlandschaften hervor. Die einzelnen Episoden überlappen sich regelmäßig und in immer neuen Formationen, was eine stete Spannung evoziert. Walter Georgii rühmte die Masques: „Seit Debussy ist kein so persönlicher Klavierstil mehr gefunden worden.“ Die Etüden op. 33 verfolgen ebenso den freien und unaufgelösten Stil; jede für sich ist von miniaturistischer Dauer, doch gehören sie untrennbar und mit „attaca“ verbunden zusammen, wodurch sie einen umfassenden Eindruck bilden.

Das Spiel Andrea Vivanets zeichnet sich aus durch Lebendigkeit und Organik. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss hat dies besonders auf die späteren Werke in ihren nahezu undurchdringlichen Harmonien und ihrer Sprunghaftigkeit. Während die meisten Pianisten verständnislos vor den nur noch subtil auftretenden Bezügen zwischen den Episoden stehen (vor allem in harmonischer Hinsicht), gelingt es Vivanets Temperament, die Teile zusammenzuhalten und schlüssig von einem in den anderen überzugehen. Kleine Reminiszenzen hebt Vivanet hervor, um das Verständnis beim Hören zu stärken. Die grellen Harmonien kostet er aus und genießt die Reibungen zwischen den Tönen: so wie beispielsweise die in Shéhérazade oft auftretende Non a-ais‘, die er in Debussys Manier schweben lässt. In den früheren Werken Szymanowskis fokussiert Vivanet die reiche Melodik und die Wendigkeit der Stücke, wobei die reine Fingerfertigkeit in den Hintergrund rückt. Der Pianist versteht die Stücke, selbst die komplexesten unter ihnen, und gibt alles hinein, sie auch dem Hörer verständlich zu machen. So entsteht eine der am tiefsten erspürten, intuitivsten und klarsten Aufnahmen von Szymanowskis Musik.

[Oliver Fraenzke, September 2019]

Ausdruck von innen

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 562; EAN: 4 260052 385623

Bei Ars Produktion Schumacher erschien eine neue Aufnahme der Winterreise op. 89, D 911 von Franz Schubert. Es singt der Bariton Johannes Held, das Klavier spielt Daniel Beskow.

Egal, in wie vielen Konzerten und Aufnahmen man Schuberts Winterreise bereits gehört hat, dieses Werk verliert niemals seine unmittelbare Wirkung. Noch immer fühlt sich der Hörer mitgerissen, verlassen, isoliert, verrückt und todesnah, wenn die gewagten Harmonien der Klavierstimme ertönen und die für damalige Zeit extravagant komplexen Linien des Gesangs uns den Halt verlieren lassen. Wir wollen die Lyrik von Wilhelm Müller ergründen und stoßen doch immer wieder auf Rätsel, denen man zwar Lösungsvorschläge beigeben kann, aber die doch ungelöst erscheinen. Müller und Schubert waren beide jung und schrieben über einen jungen Protagonisten, und doch ist dieser so alt, welterfahren und zermürbt, sehnt sich nach der anderen Seite. Verlassen von der Liebsten zieht er ziellos in die winterliche Landschaft; immer neue Bilder kommen auf, ohne wirklich zusammenzuhängen, und man fragt sich, ob die darin geschilderten Wahrnehmungen echt sind, Traum oder Verwirrung. Im 20. und 21. Jahrhundert könnte man das entstehende Geflecht als impressionistisches Seelengemälde bezeichnen, tief psychologische Traumata entschlüsseln. Am Ende geht der Protagonist ins Unbekannte, folgt dem Leiermann und singt mit ihm seine Lieder. Stellt es den Tod dar, den auch Müller und Schubert 1927 und 1928 früh ereilte (Müller starb noch vor der Fertigstellung der Vertonung und es bleibt unsicher, ob er um sie wusste), oder bildet der Leiermann den Wahnsinn ab, oder fungiert er als Tröster und gibt neue Hoffnung?

Johannes Held und Daniel Beskow legen eine tief emotionale und ergriffene Darbietung dieses gewaltigen Liedzyklus‘ vor. Die mitreißende Wirkung erzielt die Aufnahme nicht durch äußere Effekte, sondern durch inniges Teilhaben am Geschehen. Mit unprätentiös schlichtem Spiel ergründen Held und Beskow die Lieder von innen heraus und legen die wahren Emotionen dieser Lieder frei, anstatt durch aufgesetzten Impetus welche in sie hineinzugeben. Ohne gewollte Rubati, übermäßige Vibrati oder überspitzte Akzente lassen sie die Musik von sich aus wirken, präsentieren sich selbst nur als Medien der Übertagung – und genau dadurch entwickelt sich der unentrinnbare Sog der Töne. Die Musiker behalten eine klare Linie und nehmen den Hörer mit auf eine imaginäre Reise, die eine durchgehende Struktur aufzeigt und beim Leiermann enden „muss“, der sich eisig und in seiner Fragilität angsteinflößend vor uns aufbäumt und in der Klaviereinleitung sogar die Zeit beinahe zum Stillstand zwingt. Mit diesem Schock lassen uns Johannes Held und Daniel Beskow zurück und wir erkennen, dass der gesamte Zyklus als große Einheit bereits vorübergegangen ist.

[Oliver Fraenzke, September 2019]

Bunt schimmernde Miniaturen

Ars Produktion Schumacher, ARS 38 282; EAN: 4 260052 382820

Für Flöte und Streichsextett arrangierte Nathanael Carré französische Werke, die ursprünglich für Flöte und Klavier besetzt sind. Darunter sind die Fantaisie op. 79 von Gabriel Fauré, Georges Hües Fantaisie, Paul Taffanaels Andantino & Allegretto grazioso, Fantaisie-Caprice von André Jolivet, ein Divertimento von Jean Françaix, Eugène Bozzas Aria, die ursprünglich für Saxophon komponiert wurde und in einer Klarinettenfassung Bekanntheit erlangte, die Suite de trois Morceaux op. 116 Benjamin Godards, eine Aria von Jacques Ibert, François Bornes Fantaisie brillante sur Carmen und Danse pour une déesse aus der Feder von Reynaldo Hahn. Begleitet wird Carré dabei vom Ensemble Nuanz bestehend aus Evgeny Popov, Alexander Jussow, Jan Melichar, Robin Porta, Jan Pas und Stefan Koch-Roos.

Mit seinem Titel „Palette“ suggeriert der Flötist Nathanael Carré einerseits die ungeheuere Stilpalette im Frankreich des 20. Jahrhundert, die er in seiner CD-Aufnahme präsentiert, zum anderen die Palette an Klangfarben, die er den begleitenden Klavierstimmen durch Auffächerung in eine Streichsextettfassung verleiht. Das vielseitige Programm dieser Aufnahme lädt zum Entdecken ein. Neben einigen allseits bekannten Kompositionen wie Faurés Fantaisie und dem Divertimento von Françaix finden wir auch Namen, die selten auf Programmen zu hören sind. So beispielsweise den heute höchstens als Opernkomponist in Erinnerung gebliebene Georges Hüe, der ursprünglich als Architekt arbeitete, bis Gounod sein musikalisches Talent entdeckte, oder Benjamin Godard, der trotz seines frühen Todes eine Vielzahl groß- wie kleinformatiger, stets aber fein ausgearbeiteter Werke in romantischem Gestus komponierte. Das Ausdrucksspektrum von „Palette“ reicht von den Klängen des frühen Flötenvirtuosen Paul Taffanael, der als unerreichter Meister der von Theobald Böhm erst frisch revolutionierten Flöte galt, bis zu den freitonalen Klängen Jolivets. Das einzig lange Werk der CD ist Bornes Fantaisie brillante sur Carmen, zugleich das einzig bekannte Werk des Komponisten; mit Abenteuerlust und Frische greift es die Themen der Oper auf und verwandelt sie in wahnwitzige Capricen und erhebt sie teils in ganz neue Klangsphären.

Bei seinen Arrangements intendierte Carré, nicht bloß eine Klavierstimme gleichwertig umzusetzen, sondern den Klang durch die Möglichkeiten der Streichinstrumente aufzufasern und neue Facetten aus dem Part herauszuholen. Entsprechend nennt er als wichtigstes Auswahlkriterium, dass die Klavierstimme nicht dezidiert auf das Klavier abgestimmt ist oder sich auf Harfenklänge bezieht, sondern vom Komponisten orchestral angelegt erscheint. In der Streicherfassung kommen vor allem die ausgeklügelten Akkorde mehr zum Tragen und allgemein entsteht mehr Plastizität, als sie am Klavier möglich wäre. Im Gegensatz zum Klavier verklingen die Harmonien der Streicher nicht, was der Flöte eine solidere Basis verleiht, sich zu entfalten. Besonders bei Hüe, Jolivet und Godard, aber auch bei Borne und Bozza präsentieren sich die Arrangements als große Bereicherung, um die Stücke auf eine neue Weise kennenzulernen.

Carré erweist sich als aufmerksamer und flexibler Flötist, der minutiös auf die Klanglichkeit seines Instruments achtet und einen weichen, aber doch direkten Ton erzielt. In den Virtuositäten von Bornes Carmen-Fantasie erreicht er genug Prägnanz, um jeden Ton einzeln zum Vorschein zu bringen; bei Bozza und Ibert hingegen schwebt er schwerelos über der Streicherbegleitung und zelebriert den Flötenklang in zarter Umnebelung. Das Ensemble Nuanz hält die Akkorde der Klavierstimme kompakt zusammen und präsentiert sich als einheitlicher Klangkörper, der aus dem gleichen Atem heraus musiziert. Durch abgestimmte Kontrapunktik entsteht die bereits angesprochene Plastizität des Gesamteindrucks, ohne dass dabei die Stimmen zu sehr auseinanderdriften würden.

[Oliver Fraenzke, September 2019]