Archiv der Kategorie: CD-Rezension

Oktette aus Russland

Die acht jungen Musikerinnen und Musiker des Oberton String Octets präsentieren uns auf beeindruckende Weise das kaum gespielte Streichoktettrepertoire aus Russland. Auf dem Programm stehen Schostakowitschs frühe Zwei Stücke für Streichoktett op. 11, Reinhold Glières ebenfalls zum Beginn seiner Laufbahn komponierte Streichoktett D-Dur op. 5 sowie eine Rarität: Nikolai Afanassjew mit seinem Doppelquartett D-Dur, welches den Beinamen „Einzugsfest“ trägt.

Selten nur hört man Konzerte oder auch nur Aufnahmen von Streichoktetten, zumal in klassischer Besetzung für zwei Streichquartette. Die Gattung konnte sich zu wenig durchsetzen, um aktiven Anklang zu finden. Repertoire gäbe es durchaus genug, begonnen mit Mendelssohns Jugendwerk, dann einem unvollendeten Versuch von Andreas Romberg und gleich vier in Folge dessen komponierten Oktetten von Louis Spohr; später folgten Raff, Bruch und Bargiel, ein heute unterschätzter, zwar konservativer, aber doch inspirierter Komponist; Svendsen brachte die Gattung in den Norden, Respighi in den Süden und Enescu in den Osten. In jüngster Vergangenheit wurden Streichoktette gerne mit abweichenden Besetzungen komponiert, beliebt sind dabei vor allem die tiefen Besetzungen: Octopus Rex von Ketil Hvoslef beispielsweise verlangt nach acht Celli.

Schostakowitsch eröffnet das Programm dieser CD mit seinen beiden Stücken für Streichoktett op. 11, die er gegen Ende seines Studiums im Alter von 18 Jahren komponierte. Auf ein flirrendes Präludium, das er an Bach anlehnte, folgt ein wildes Scherzo, das bereits die experimentelle Phase einläutet, die er spätestens mit der Zweiten Symphonie zur Blüte brachte – voller doppelbödigem Witz und abgrundtiefem Sarkasmus überwältigt es den Hörer. Eine wirkliche Entdeckung stellt das Streichoktett in D-Dur von Nikolai Afanassjew dar, von dem die meisten Stücke bis heute ungedruckt blieben. Das „Einzugsfest“ betitelte Werk strahlt eine freundliche wie sanftmütige Energie aus, die es durch alle vier Sätze behält und so beim Hören eine innere Wärme schaffen. Melancholischer erweist sich das Glière-Oktett op. 5 ebenfalls in D-Dur. Das fein durchgearbeitete Werk spannt große Bögen und schafft gewaltige Kontraste, zeigt dabei schon beim frühen Glière höchste Meisterschaft in der Melodie- und Kontrapunktfindung.

Innig und natürlich besticht das Spiel der acht jungen Musikerinnen und Musiker des Oberton String Octets, alle in ihren 20er-Jahren. Gerade das junge Alter bringt eine Unverbrauchtheit und Frische, die bei vielen älteren Kollegen verloren scheint. Es gelingt ihnen durchgehend, den gemeinsamen Klang zu kontrollieren und nie übermütig zu werden, was gerade bei Schostakowitsch die Gefahr ist, sorgen aber dennoch für aufbegehrende und wilde Momente. Volles Volumen und runden Klang hören wir vor allem bei Afanassjew, der die Flexibilität und das Feingefühl des Strichs unter Beweis stellt. Glière stellt das formale Denken auf die Probe, was das Oberton String Octet ebenfalls meistert. Eine rundum gelungene und mitreißende Aufnahme, die bis zuletzt fesselt.

[Oliver Fraenzke, Mai 2020]

Unvollendeter Schubert

Linn Records, CKD 593; EAN: 6 91062 05932 9

Das Duo Pleyel, bestehend aus den Pianisten Alexandra Nepomnayashchaya und Richard Egarr, spielt vierhändige Klaviermusik von Franz Schubert für Linn Records ein. Auf dem Programm steht das Rondo D-Dur D. 608, die Sonate in B-Dur D. 617, die Fantasie in f-Moll D. 940, das Rondo in A-Dur D. 951 und das Allegro in a-Moll D. 947 mit dem Titel „Lebensstürme“, nach welchem das Duo Pleyel ihre CD benannte.

Als ich gesehen habe, dass auf der vorliegenden CD vierhändige Klavierwerke auf einem Pleyel-Flügel eingespielt werden, war mein Interesse sogleich geweckt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert galten diese Flügel als marktführend durch ihren warmen, voluminösen und vielseitigen Klang. Als regelmäßigen Gast begrüßte der Vater Ignaz Pleyel unter anderem Beethoven, der sich begeistert über diese Klaviere aussprach – und für Schubert schließlich Vorbildfunktion hatte. Der Sohn Camille Pleyel hingegen führte intensiven Austausch mit Komponisten wie Frédéric Chopin, dessen Nocturnes op. 9 sogar Camilles Frau gewidmet sind. Hier hören wir einen Flügel aus dem Jahr 1848, also von Camille Pleyel, der dem romantischen, weichen und möglichst farbenreichen Stil angepasst ist, sonor in der Tiefe schnurrt und in den Höhen präzise, aber doch auch lieblich glänzt.

Doch all diese Vorzüge des Flügels nutzt das Duo Pleyel nicht aus. Im Gegenteil: die Aufnahme enttäuscht so sehr, dass ich mich fragen muss, ob die beiden Pianisten das Programm wirklich gründlich einstudiert haben. Selbst der Booklettext von Egarr wirkt wie im Affekt kurzfristig heruntergeschrieben.

Es beginnt bereits damit, dass Schuberts Piano und Pianissimo in der Aufnahme maximal als Mezzopiano, wenn nicht sogar als Mezzoforte zu bezeichnen ist und somit all die introvertiert-schattigen Gefühlswelten fehlen. Gerade das unheimliche Pianopianissimo in der f-Moll-Fantasie, das wie aus dem Nichts schwingen sollte, verfehlt so im deutlich hörbaren Mezzobereich jegliche Wirkung. Umso ruppiger und brutaler schmettert das Forte, dass man im eigentlich galanten D-Dur-Rondo teils beinahe hochschreckt. Die rhythmische Komponente scheint ebenso wenig erarbeitet worden zu sein: die triolischen Passagen wirken starr, gezählt und stellenweise gar errungen, die doppelten bis dreifachen Punktierungen gerade in der Fantasie schwächt das Duo Pleyel zu einfachen Punktierungen ab. Auf musikalischer Ebene herrscht ebenso Flaute, denn nicht eine Melodie wirkt wirklich gesungen, erspürt oder verstanden. Die Noten werden gleichwertig nebeneinandergereiht und manche in der Partitur geschriebene Dynamikänderung halbwegs nachvollzogen, doch abgesehen davon bemühen sich die Musiker nicht darum, die Melodien organisch entstehen zu lassen, was noch dazu für Schubert unentbehrlich sein sollte.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

Eine Nacht in Estland

Ondine, ODE 1335-2; EAN: 0 761195 133521

Das Estnische Nationalsymphonieorchester unter Olari Elts spielt symphonische Dichtungen von Heino Eller. Auf dem Programm stehen Öö Hüüded (Nachtrufe), die symphonische Suite Valge Öö (Weiße Nacht) sowie Videvik (Dämmerung) und Koit (Morgendämmerung).

Heino Eller gehörte zu den Vätern estnischer Musik. Als junger Mann spielte er in Estlands erstem Symphonieorchester und dem ersten Streichquartett, später wirkte er als Pädagoge maßgeblich auf die jüngere Generation estnischer Komponisten ein, so auf Arvo Pärt, Eduard Tubin und Lepo Sumera. Guido Adler verlieh Eller bei einem Besuch aus Wien den Titel „Estnischer Sibelius“ und bescheinigte ihm, Griegs nordischen Stil erfolgreich weiterzuführen und ihn geschickt mit Elementen des Impressionismus und Expressionismus zu würzen. Wie auch Sibelius begann Eller als Violinist und ließ sich im namhaften Konservatorium von St. Petersburg ausbilden, wo er allerdings scheiterte, da er zu spät begann – durch zu intensives Üben verletzte er sich die Hand und musste seinen Traum aufgeben. Vier Jahre lang studierte er in Folge dessen Jura, bevor er sich erneut am Konservatorium einschrieb, diesmal für Komposition, worin er 1920 absolvierte.

Zu dieser Zeit hatte er seine beiden symphonischen Dichtungen Videvik, Dämmerung, (1917) und Koit, Morgendämmerung, (1918, orchestriert 1920) bereits abgeschlossen und begann mit der Arbeit an dem weitaus umfangreicheren Werk Öö Hüüded, Nachtrufe, (1920-21), alle auf dieser CD zu hören. Es offenbart sich ein tonal verwurzelter, farbenreicher und prägnanter Stil, der tatsächlich gewisse Parallelen zur Musik von Jean Sibelius aufweist, aber auch Hinweise auf die Beschäftigung mit den deutschen Komponisten gibt, namentlich Wagner und noch präsenter Strauss. Eller, der sich rein der Instrumentalmusik verschrieb (bemerkenswert besonders, da Estland für seine Vokalmusik bekannt ist), weist enorme Kenntnisse der Orchestration auf, die sich auf der Höhe kontinentaler Komponisten befindet. Weite Melodien prägen das Bild, versprühen eine nordische Melancholie und bittere Zärtlichkeit. Sanfte bis aufbrausende Wellen schäumen auf, geben magischen Glanz und impressionistischen Schleier. Der Stil spricht an, lockt, intensiv zu Hören und in der Musik zu entdecken, in ihr aufzugehen.

Gemeinsam mit dem Estnischen Nationalsymphonieorchester nahm Olari Elts bereits das Violinkonzert, die Zweite Symphonie, die Phantasie und eine Symphonische Legende von Eller auf, legt nun mit einer zweiten CD-Veröffentlichung nach. Dabei besticht das Feingefühl der Musiker, alle orchestrale Farben aufblühen zu lassen, ohne dass darunter die Transparenz des Stimmgeflechts leiden würde. Elts spornt die Musiker an, große Bögen zu ziehen und sanglich intensiv in den weiten Melodien aufzugehen. Frei von kontextlosem Effekt oder zurschaustellerischer Geste tauchen Orchester und Dirigent in diese Musik ein und präsentieren sie liebevoll dem Hörer wie eine Einladung, diese zu selten gespielten Werke mit ihnen zu teilen.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

Vorübergehend

Naxos, 8.579069; EAN: 7 47313 90697 0

Flötensonaten des 20. Jahrhunderts stehen auf dem Programm der aktuellen CD des Flötisten Danis Lupachev und des Pianisten Peter Laul. Zu Beginn hören die die 1936 komponierte Sonate von Paul Hindemith, darauf folgen die Gattungsbeiträge von Vyacheslav Nagovitsyn (1962) und Edison Denisov (1960). Den Abschluss bildet die D-Dur-Sonate op. 94 aus der Feder Prokofieffs, geschrieben 1943.

So sehr ich ein Verfechter der weniger bekannten Musik bin, so muss ich doch in diesem Fall gestehen, dass die beiden bekannten Sonaten dieser Aufnahme die bezwingenderen und stilistisch wie musikalisch prägnanteren dieser CD sind. Die Sonate von Vyacheslav Nagovitsyn hat durchaus ihre starken Momente und betört mit manch einem ansprechenden Klangeffekt, wirkt aber als Gesamtes wenig stimmig, die einzelnen Teile wollen nicht so recht miteinander verschmelzen – zu groß klafft die Schlucht zwischen den modernistischen Stilelementen mit schrillen, engen Akkorden sowie dissoziierter Melodie und doch rückwärtsgewandten, beinahe tonalen Passagen. Recht bedeutungslos plätscherte die Sonate von Edison Denisov an mir vorbei, die in ihrer gemäßigten Modernität zwar nett zu hören ist, aber auch nichts Aufsehenerregendes birgt. In ihrer kecken Sperrigkeit und der wohldosierten Distanz sticht die Flötesonate op. 94 in D-Dur von Prokofieff hervor, die vor allem in ihrer späteren Umarbeitung zur Violinsonate Nr. 2 Bekanntheit erlangte. Klassizistisch ausgewogen und anders als in der Ersten Symphonie ohne den beißenden Sarkasmus bildet sie einen ernsten und substanzgeladenen Beitrag zur Kammermusik des 20. Jahrhunderts. Die Flötensonate Hindemiths zählt zu dessen bekannteren Werken, wenn man doch nicht umher kommt anzumerken, dass dieser Großmeister – zweifelsohne einer der größten Komponisten Deutschlands – noch immer stiefmütterlich behandelt und fast nie wirklich aufgeführt wird. Mit seiner Reihe an idiomatischen Sonaten für alle möglichen Instrumente schuf er je auf das Instrument zugeschnittene, die Möglichkeiten ausschöpfende und perfekt ausbalancierte Gattungsbeiträge gerade für die Instrumente, denen sonst wenig Literatur gewidmet ist; in ihrer Gänze bilden diese Sonaten quasi ein Kompendium des Komponierens für die jeweiligen Instrumente.

Technisch präzise und stimmig meistern Denis Lupachev und Peter Laul diese anspruchsvollen Werke der Moderne. Die beiden Musiker stimmen sich dynamisch und artikulatorisch fein aufeinander ab, was besonders das Klavier zu flautierend-singenden Melodieführungen anspornt. Obgleich an dieser Aufnahme nur wenig auszusetzen ist, so springt doch der Funke nicht so recht über und man geht im Großen und Ganzen eher unberührt an dieser Aufnahme vorbei. Mag es daran liegen, dass Denis Lupachev doch nicht ganz die klangliche Flexibilität und Biegsamkeit besitzt, wie sie mir beispielsweise letztens bei Clara Andrada [Zur Rezension] begegnet sind? Oder ist doch die Tontechnik nicht sensibel genug auf die feinsten Schattierungen eingegangen, so dass nun die plastische Ebene fehlt? Woran es liegen mag, es unterminiert die Spannung, die gerade bei solchen wie den hier zu hörenden Werken hoch sein müsste, um all die Kontraste zu genießen und die stilistische Vielfalt dieser Musik zu bewundern.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

Brasilianische Violinsonaten – fein erarbeitet

Naxos 8.574118; EAN: 7 4731341187 0

Naxos hat letzten Sommer mit einer sensationellen Nepomuceno-CD in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Außenministerium eine vorerst auf 30 Veröffentlichungen angesetzte Reihe „The Music of Brazil“ eröffnet, die sich für die Entwicklung der dortigen Musik historisch relevanten Kompositionen widmet – auch jenseits der bekannten Größen wie Villa-Lobos oder Camargo Guarnieri. Die zweite CD bringt nun drei Violinsonaten von Leopoldo Miguez und Glauco Velásquez, gespielt von Emmanuele Baldini (Violine) und Karin Fernandes (Klavier). Auch sie kann qualitativ absolut überzeugen.

Zwei bisher eher unbekannten Namen begegnet man auf der vorliegenden, ersten Kammermusikveröffentlichung der neuen Naxos-Reihe The Music of Brazil: Leopoldo Miguez (1850-1902), aus Rio de Janeiro gebürtig, erfuhr seine musikalische Ausbildung in Spanien, Portugal und Frankreich, bevor er in die Heimat zurückkehrte und ab 1890 das Instituto Nacional de Música leitete. Aus Europa brachte er vor allem die Ästhetik Richard Wagners mit. Bisher hatte – insbesondere in der Kammermusik – ein mehr italienischer Stil mit Melodie plus Begleitung die brasilianische Romantik dominiert. Die halbstündige Violinsonate von 1885 entstand bereits in Brasilien, hat einen Kopfsatz mit symphonischen Dimensionen, formal entsprechend elaboriert, mit erstaunlicher kontrapunktischer Arbeit und emotionaler Tiefe. Das Trio im Scherzo – schon die Viersätzigkeit ist hier erwähnenswert – wird gar durch eine respektable, recht strenge Fuge ersetzt. Das ist dann weitaus mehr als Salon- oder Hausmusik, sondern für den großen Konzertsaal konzipiert.

Glauco Velásquez (1884-1914) war der Sohn eines portugiesischen Baritons; die Mutter stammte aus Rio. Er wuchs zunächst in Neapel auf und studierte ab 1897 dann in Brasilien, wo er, erst dreißigjährig, an Tuberkulose verstarb. Velásquez‘ Stil ist einerseits eklektizistisch – zeigt sowohl italienische wie neudeutsche Einflüsse –, gleichzeitig kühner und nuancenreicher als bei Miguez. Die klangliche Interaktion zwischen Violine und Klavier ist bis ins Detail durchgehört und effektvoll. Auffällig ist, neben den teilweise „tropischen“ Klangfarben, die demonstrative Vermeidung affirmativer Schlusswirkungen. Dabei gibt es zwischen den beiden, nur zwei Jahre auseinanderliegenden, dreisätzigen Sonaten (1909 bzw. 1911) eine bemerkenswerte Entwicklung, sodass sich beim Hören der CD – mit der Miguez-Sonate in der Mitte – eine sukzessive Steigerung ergibt.

Der italienische Geiger und Dirigent Emmanuele Baldini – in seiner Karriere Konzertmeister u.a. an der Mailänder Scala und beim Symphonieorchester von São Paulo – spielt die drei Sonaten mit absoluter technischer Präzision und Hingabe; völlige Souveränität paart sich mit historischem Verständnis und adäquatem Ausdruck, der immer feinsinnig bleibt. Karin Fernandes ist eine gleichwertige Partnerin, mit erfrischender Virtuosität, die nie zum Selbstzweck gerät, und perfekter klanglicher Balance. Auch die Aufnahmetechnik, mit schön eingefangener Räumlichkeit, lässt keine Wünsche offen. Eine echte Entdeckung für Kammermusikfreunde!   

[Martin Blaumeiser, April 2020]

Meisterliche Quartette

Das aus Emeline Pierre, Esther Gutiérrez Redondo, Sandra Garcia Hwung und Marion Platero bestehende Constanze Quartet spielt erstmalig alle drei Streichquartette des deutschen Komponisten Felix Draeseke ein, der zu den spannendsten Komponisten-Entdeckungen seiner Generation zählt. Auf der vorliegenden ersten CD sind zu hören das Quartett Nr. 1 op. 27 in c-Moll und das Quartett Nr. 2 op. 35 in e-Moll.

In Fachkreisen weiß man mittlerweile um Felix Draeseke als einen der bedeutendsten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; im Konzert hört man seine Musik dennoch nur in glücklichen Ausnahmefällen. Zeitlebens sah sich Draeseke im Zeichen des Fortschritts und doch wurde er in seinen späten Jahren als Reaktionär betrachtet, insbesondere nach seinem Mahnruf „Die Konfusion in der Musik“ gegen die Salome von Strauss. Dort schrieb er unter anderem: „Verständnislos wird man angeblickt, wenn wir die jugendlichen Hörer aufmerksam machen auf eine edel gestaltete Melodik, ein fein gefügtes Harmoniegewebe, interessant gegliederte Rhythmik, glatte und abgerundete Form, schön vermittelte  und überraschende Wiedereinführung von Themen. All diese ehemaligen Schönheitsmerkmale erscheinen ihnen wie böhmische Dörfer, die sie nie nennen gehört, und nur wenn von Instrumentation die Rede ist, horchen sie auf, weil nach ihrer Meinung dies neu hinzugetretene Element der Farbe die drei alten Hauptelemente der Musik weit überwiegt, und gut instrumentieren mit gut komponieren für gleichbedeutend angesehen wird. Darüber ist die Melodik fast versiegt, die Harmonik nach einer übertriebenen Verfeinerung durch immerwährende Steigerungen schließlich bei der absoluten Unmusik angelangt, während, wie dies leider in Deutschland von jeher der Fall gewesen, die Rhythmik zu wenig gepflegt, ja geradezu vernachlässigt erscheint.“ Dabei trifft er durchaus einen Kern der Problematik, mit der Musik des 20. Jahrhunderts bis heute zu kämpfen hat, und fand in seinen Thesen auch namhafte Unterstützer; nicht zuletzt Strauss selbst kehrte mit dem Rosenkavalier in die Sphäre der drei von Draeseke angeführten Grundpfeiler zurück: Melodie, Harmonie, Rhythmik. Und innerhalb dieser Pfeiler darf das Schaffen Draesekes fortwährend als modern bezeichnet werden. Er gilt vor allem als begnadeter Melodiker, der durch geschickte Verschmelzung verschiedener Motive große Tragweite in seinen Themen erreichte. In kontrapunktischer Meisterschaft führte er die Themen durch die einzelnen Stimmen durch und formal weiter. Dabei sticht eine erfrischende Rhythmik hervor, besonders für einen deutschen Komponisten (wie er es ja selbst im angeführten Zitat erwähnte). Sein harmonisches Geschick lässt sich auf seine frühe Begeisterung von Liszt und Wagner begründen, deren Ausdruckswelten Draeseke aber für sich weiterführte. Eine erschöpfende Darstellung von Leben, Stil und Werk kann auf zehn Seiten (!) im Begleittext der vorliegenden CD von Norbert Florian Schuck bewundert werden.

Die Streichquartett Draesekes überraschen durch ihre Subtilität, die gänzlich auf äußeren Effekt verzichtet, ebenso wie auf Herbheiten und triumphale Gesten. Erst wer die weitgespannte Melodik erfasst, wird den vollen Charme dieser Meisterwerke entdecken. In schier endlosen Themen bündelt Deaeseke die Kontraste und gibt Ausgangspunkt für große Entfaltung. Die Formen der Sätze muten klassisch an und auch die Ausdehnung der Quartette übersteigt nicht die von Quartetten aus der Wiener Klassik; wohl aber intensiviert der Komponist die harmonische Spannkraft und die kontrastierenden Elemente, was den Quartetten eine ungemein dichte Textur verleiht. In minutiös detailliertem Kontrapunkt herrscht eine konstante Vierstimmigkeit vor, welche die Dichte noch unterstreicht.

Durch konzentriertes, fokussiertes und inniges Spiel besticht das Constanze Quartet auf dieser ihrer Debut-CD. Die Musikerinnen zeigen sich innig ergriffen, ohne dies in äußerlichen Eskapaden darzustellen: so erhalten wir das Gefühl der Echtheit jeder Emotion, allgemein eine Purität in jeder Note. Es entsteht ein Glimmern und Funkeln von innen heraus, das die gesamte Musik wie eine Aura umhüllt. Das Constanze Quartet folgt den Melodien und spüren die subtilen Überraschungen auf, um sie ebenso plastisch wie charmant dem Hörer zu übermitteln. Dabei weben sie ein feines und transparentes kontrapunktisches Geflecht, in dem stets die Richtung klar und nachvollziehbar bleibt.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

Anfang und Ende

Capriccio, C5387; EAN: 8 45221 05387 5

Die beiden ausladenden Klavierkonzerte von Ernst von Dohnányi machen das Programm der vorliegenden CD mit Sofja Gülbadamova als Solistin aus, die bereits das Soloklavierwerk des Komponisten für Capriccio aufnahm. Das Erste Konzert op. 5 steht in der Tonart e-Moll und wurde 1897-98 komponiert, das Zweite Konzert, in h-Moll, entstammt dem Jahr 1947 und trägt die Opusnummer 42.

Ernst von Dohnányis Klavierkonzerte umrahmen sein Schaffen, fünfzig Jahre trennen die beiden Werke, die er sich selbst auf den Leib schneiderte. Das Erste Klavierkonzert e-Moll op. 5 begann er während seiner Lehrzeit bei Eugen d’Albert am Starnberger See, um damit als Solist zu touren. Knapp 50 Minuten misst das traditionell-romantisch gehaltene Konzert, strotzt dabei im vollgriffigen Klaviersatz vor technischen Höchstschwierigkeiten. Zu Lebzeiten Dohnányis gehörte es zu den häufig programmierten Klavierkonzerten, nicht zuletzt dank des eindrucksvollen Klavierparts; insgesamt ist die Anlage allerdings recht prätentiös bis plakativ. Lärmend hangelt sich das Konzert von Höhepunkt zu Höhepunkt, geht verschwenderisch mit großen Tonmengen um und verliert sich im Übermaß. Von ganz anderem Kaliber präsentiert sich da das spätere Konzert, zwar ebenso gesättigt von pianistischem Blendwerk, was aber hier viel mehr der musikalischen Substanz dient und den Themen auch den nötigen Platz zur Entfaltung gibt, ohne sie durch immer neue Solopassagen zu ersticken. Meisterlich vor allem der Mittelsatz, ein herrliches Variationswerk im Adagio, das grazil aus dem Kopfsatz entspringt.

Staunend steht der Hörer vor der brillanten Technik Sofja Gülbadamovas, die unbeschwert eine Hürde nach der nächsten meistert und dabei auch musikalische Substanz offenbart. Präzise und elegant schwingt sie sich in die Höhen und beleuchtet beide Hände gleichermaßen luzide, verfällt zu keiner Zeit in Starrheit oder verliert den Fokus auf die hinter der Technik stehenden Musik. Das Zweite Konzert nehmen auch die Orchestermusiker unter Ariane Matiakh farbenfroh differenziert; im e-Moll-Konzert op. 5 hingegen lässt sich das Orchester blenden von der Wucht und geht in aller Ruppigkeit mit. Doch gerade hier würde ausgeglichenes und abschattiertes Spiel Gewinn bringen, denn die Unnachgiebigkeit hebt eine Gewalt in der Partitur hervor, die differenziertes Spiel umgehen könnte.

[Oliver Fraenzke, April 2020]

„Momente, die ausschließlich mir gehören!“

Nach ihrer Duo-CD mit dem Klavierpartner David Fung legt die Geigerin So Jin Kim nun eine Produktion mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester Mannheim vor. Für die schlanke Besetzung dieses Klangkörpers lag die Entscheidung für Mozarts Violinkonzerte KV 216 und 219 auf der Hand – Stücke, die erklärtermaßen wie eine Energiequelle für So Jjin Kim wirken. Mit Stefan Pieper sprach sie über diese Musik und die emotionalen Voraussetzungen dafür. Aber es ging auch um ihr Festival, das hoffentlich im Sommer im koreanischen Yeosu Premiere hat.

Wie geht es Ihnen unter den momentanen Umständen?

Ich habe viel freie Zeit. Zum Glück habe ich eine feste Stelle als stellvertretende Konzertmeisterin in einem Orchester und damit immer noch ein festes Auskommen. Aber es sind auch bei mir viele Konzerte ausgefallen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die Freelancer sind, haben jetzt ein echtes Problem. Für die, denen jetzt gerade eine fest geplante Tour platzt, ist es besonders schlimm. Es zahlt sich jetzt aus, gut vorgesorgt zu haben. Gut aufgestellt ist, wer auf eine Mischkalkulation aus verschiedenen Einnahmenquellen zurück greifen kann. Es überrascht mich die optimistische Stimmung, die in den sozialen Medien herrscht.

Teile Ihrer Familie leben ja in den USA und in Südkorea. Was ist anders dort?

Es kommt mir so vor, als ob in Korea die Menschen schon das Schlimmste mit der Corona-Epidemie überstanden haben und die Menschen die Situation in den Griff bekommen. Dort wurde meiner Meinung nach auch besser reagiert. Alle verdächtigen Personen sind sofort isoliert worden – und das Gesundheitssystem ist viel effektiver dort!

Wirkt sich eine andere Kultur/Mentalität aus?

Unbedingt. Der Lebensstil ist anders. Das zeigt sich schon im Alltagsleben: Alles wird in Korea online bestellt und geliefert und es drängeln sich keine Menschenmassen in den Supermärkten.

Wie gestalten Sie Ihre freie Zeit?

Es ist schön, Zeit mit dem Instrument zu verbringen. Ich blicke in die Zukunft und will das Repertoire erweitern, Solokarriere und Orchesterjob verbinden und ein eigenes Festival planen.

Warum haben Sie sich für Ihre aktuelle Aufnahme für diese zwei Mozart-Violinkonzerte entschieden?

Beide Konzerte sind eine Art Pflichtprogram für Geiger. Man kommt um diese Stücke nicht herum. Jeder Violinist muss sie spielen, zu allen Gelegenheiten: Für Bewerbungen, in Wettbewerben bei allen erdenklichen Jobs. Normalerweise symbolisieren solche Stücke viel Stress und Erwartungsdruck, weil so vieles davon abhängt. Auch ich habe das ganze durchgemacht.

Da bin ich jetzt aber sehr neugierig, warum Sie gerade mit diesen Konzerten ins Aufnahmestudio gehen. Und wo das Geheimnis liegt, dass schließlich doch so eine beseelte Musik heraus kommt!  

Eigentlich ist es ganz einfach: Mozarts Musik erhebt sich auf Anhieb über alle schwierigen Begleitumstände. Beide Konzerte verkörpern für mich eine absolute Reinheit. Die Natürlichkeit der Phrasen erzeugt auf Anhieb so viel emotionale Wärme in mir. Die Außenwelt kann noch so aufreibend sein, sobald ich diese beiden Konzerte spiele, geben sie mir Momente, die ausschließlich mir gehören. Sogar in Wettbewerbssituationen haben mir Mozart (und auch Bach!) das starke Gefühl vermittelt, dass ich gerade etwas für mich mache. 

Gibt es trotzdem so etwas wie Schwierigkeit? 

Oh ja – und wie! Da ist der Prozess, um eine Idee im tiefsten Inneren nach außen lebendig zu machen und zwar so, dass diese in der Musik wirkt und diese lenkt. Kreative Ideen entstehen im Kopf – von da ab ist es ein langer Weg, diese zum Leben zu wecken. Da kommt immense Arbeit und viel Technik ins Spiel, bis schließlich alle Vorstellungen real sind.

Haben Sie bestimmte Bilder im Kopf?

Bei mir geht es in dieser Hinsicht nicht so visuell zu. Für mich steht Mozart für eine ganz bestimmte Emotion. Egal was Mozart komponiert, da ist nie etwas Angestrengtes im Spiel, kein negatives Gefühl oder gar Aggressivität. Andere Komponisten bringen häufig auch Affekte wie Tragik, Trauer und Wut zum Ausdruck. Auch dabei kann große Musik heraus kommen. Mozart markiert eine andere Welt. Er hatte ja wirklich ein verrücktes Leben, war aber fähig, daraus das Schönste, Dramatischste und Tiefste zu schöpfen.

Denken Sie überhaupt noch über Technik nach?

Die Technik auf der Violine ist kein Selbstzweck, sondern einfach da. Ich möchte die Emotion dahinter aufspüren. Auch wenn gerade Trauer dominiert, erwächst bei Mozart doch immer eine schöne Farbe daraus. Das wunderbare ist hier auch, dass diese Empfindungen von Menschen sehr unmittelbar geteilt werden, die gar keine Kenntnisse von Klassik haben. Mozart kann jeden an einen froheren und glücklicheren Platz bringen.

Was wollen Sie Ihrem Publikum mit einer CD-Aufnahme weitergeben?

Es geht immer darum, auf dem Weg der Musik den besonderen Moment zu finden. Aber alles, was wir machen, ist temporär. Daraus erwächst das Bedürfnis, etwas Dauerhaftes zu schöpfen. Etwas zu erzeugen, das man immer wiederholen möchte. Und mit dem sich ein gemeinsamer Nenner beim Publikum und bei den Hörern zuhause finden lässt.

Wie kam es zur Aufnahme gerade mit diesem Orchester?

Ein gemeinsames Projekt mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester ist ein Glücksfall für mich. Ich hatte schon vorher von diesem Orchester gehört. Diese Musiker sind sehr offen und wunderbar flexibel. Allein deswegen wollte ich sofort mit ihnen arbeiten. Erst danach fiel die Wahl auf Mozart.  Dass wir in der Mannheimer Epiphaniaskirche aufgenommen haben, geht ebenso auf meine persönliche Wahl zurück. Es hatte mehrere Alternativen gegeben.

Warum ist ein kleines Orchester für dieses Unterfangen so prädestiniert?

Die Instrumentierungen bleiben schlank und das passt unmittelbar zu Mozarts eigenem Schaffenskontext: Mozart schrieb für sich selber, dirigierte und spielte.

Sie spielen und dirigieren ja auch abwechselnd. Wie wirkt sich das auf die Kommunikation aus?

Der Dirigent ist normalerweise Kommunikator zwischen Solist und Orchester. Bei einem kleinen Orchester ohne Dirigent ist die Verbindung viel unmittelbarer. Davon profitieren auch die Proben: Sie machen viel Spaß und alles geht scheinbar wie von selbst. Das kommt nicht zuletzt den opernhaft-dramatischen Aspekten in Mozarts Kompositionen zugute.

Wie sehen Sie das spezifisch opernhafte in Mozarts Musik?

Oper heißt ja, dass die Musik Geschichten erzählt. Alles hat eine Bedeutung und sagt etwas. Mozarts Opern transportieren viel Menschlich-allzu-Menschliches. Egal ob die „Hochzeit des Figaro“ oder auch „Don Giovanni“ –  alles kommt aus dem prallen Leben! Und diese Natürlichkeit im Ausdruck lässt bei Mozart immer den Funken überspringen.

Sie hatten gerade schon Ihr eigenes Festival angesprochen. Darüber möchte ich gerne noch mehr erfahren.

Es soll – wenn alles so kommt wie erhofft –  in Yeosu in Südkorea stattfinden. Dort leben auch meine Eltern. Es ist ein ganz toller Platz am Meer. Im Jahr 2012 wurde hier anlässlich der Expo eine spektakuläre Halle gebaut. Ich habe mich für ein Festival mit klassischer Musik an diesem Ort stark gemacht. Ich möchte hier vor allem junge Musiker präsentieren, bevorzugt kleinere Kammerensemble. Dabei ist mir an einem zeitgemäßen Konzept gelegten, den Menschen in dieser Stadt die klassische Musik nahe zu bringen.

Was für Prioritäten setzen Sie hier?

Wir haben ja gerade schon über diese besonderen Momente gesprochen. Mir ist an Musikern gelegen, die so etwas transportieren können. Denn das kann Schlüsselerlebnisse für die klassische Musik vermitteln. Ein sinnvolles Festivalprogramm sollte einem klaren Narrativ folgen, denn es geht doch auch um die Geschichten hinter der Musik. Und zwar für ein Publikum, das nicht zu den Spezialisten gehört. Mein Ziel ist es, dass die Klassik das Elitäre abschüttelt und sich Schwellenängste abbauen. Das wichtigste bleibt aber, wie die Musiker spielen. Mittelmaß hat in klassischer Musik nichts verloren. In der Popkultur mag sich vieles über schöne Dekoration definieren. In der Klassik ist echte Substanz alternativlos und gerade dadurch geht diese Musikform einen bedeutenden Schritt weiter.

Wie motiviert man die medial dauerberieselten Menschen, diesen Schritt mitzugehen?

Es ist schwerer geworden. Die sozialen Medien diktieren eine Kultur der Kurzlebigkeit. Keiner guckt mehr ein Video, das länger als 5 Minuten ist. Jeder will alles immer kürzer. Das ist dass genaue Gegenteil von Klassik – und genau da wird die Vermittlung zur Herausforderung. Eine ganze Komposition hören, kann manchmal heißen, ein ganzes Leben zu durchlaufen.

Etwas zahme Klavierkonzerte britischer Komponistinnen

SOMM Recordings SOMMCD273; EAN: 7 4887122732 3

Auf dem SOMM-Label hören wir drei Werke für Klavier und Orchester, komponiert von zwei britischen Komponisten mit zwei Generationen Abstand. Dora Bright stand mit ihrem 1. Klavierkonzert und den Variationen, hier gespielt von Samantha Ward, noch völlig im 19. Jahrhundert, während Ruth Gipps in ihrem Konzert (Solist: Murray McLachlan) bereits mehr mit dem Stil ihrer Lehrer – vor allem Gordon Jacob – liebäugelte. Als Bonus-Track spielt das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Charles Peebles noch Gipps’ kurze Orchesterstudie “Ambarvalia”.

War erst zu Beginn letzten Jahres eine Chandos-CD der Symphonien Nr. 2 & 4 von Ruth Gipps (1921-1999) erschienen (siehe meine Kritik hier), legte SOMM im Herbst nochmal mit Gipps‘ relativ frühem g-Moll Klavierkonzert op. 34 (1947) nach. Die gleich quasi als Wunderkind – vor allem am Klavier – hervorgetretene Komponistin blieb zeitlebens der Tonalität treu und generell anti-modernistisch. Im Klavierkonzert, das bereits im ersten Solo die Vollgriffigkeit der Gattungsbeiträge von Arnold Bax oder Arthur Bliss teilt, kann man wie in vielen anderen Werken Gipps‘ aus diesem Zeitraum wieder eine deutliche Vorliebe für modale melodische Wendungen finden. Meisterhaft ist die immer atmosphärisch punktgenaue Einbindung von Bläsersoli in den Gesamtkontext; überhaupt ist die Orchestrierung – man spürt die Schule Gordon Jacobs – überaus farbig und hält den gesamten, immerhin knapp 15-minütigen Kopfsatz lebendig. Leider nivellieren hier der Pianist Murray McLachlan – immer schon Spezialist für britische und russische Klaviermusik des 20. Jahrhunderts – und Dirigent Charles Peebles die durchaus gegenstrebigen Charaktere von energischem Vorwärtsdrängen und zarter Lyrik ein wenig zugunsten von Letzterem; an sich ist die Darbietung jedoch tadellos. Im Verhältnis zum ersten Satz sind der folgende, langsame und das Vivace-Finale doch recht konventionell, aber dennoch interessant und hübsch anzuhören. Im Finale wird kokette Virtuosität geschickt mit Pseudo(?)-Folkloristik verbunden – der Schluss ist geplant wirkungsvoll.

Die zwei Generationen ältere Dora Bright (1862-1951 – über sie gibt es im Gegensatz zu Gipps seit neuestem sogar einen MGG-Artikel) war trotz des hohen Alters komplett ein Kind der Romantik. Ihr erstes Klavierkonzert (a-moll) von 1888 steht noch ganz im Einflussbereich Chopins oder Griegs, versucht aber erst gar nicht, dem „Biss“ männlicher Komponistenkollegen nachzueifern. Tatsächlich gelingt Bright ein, wie auch immer, weiblich erscheinender Gegenentwurf: kein Auftrumpfen, sondern scheue Zurückhaltung in Schönheit. Die Konsequenz, gerade im Kopfsatz, ist erstaunlich; dieser wirkt aber dann doch insgesamt zu zahm, trotz etlicher guten melodischen Einfälle und stellenweise jugendlichen Überschwangs. Die Naivität der beiden anderen Sätze zeugt aber noch von großer Unreife. Auf einem ganz anderen Level sind dann die zuletzt 1910 revidierten Variationen für Klavier und Orchester: Als Großes eine Brückenform schnell – langsam – schnell bildend, ist jede der sieben Variationen für sich trefflich, aber gleichzeitig Teil einer Entwicklung. Die Instrumentation ist ebenfalls deutlich elaborierter als im Konzert: Ein Werk, das wirkliche Beachtung verdient!

Samantha Ward spürt den Besonderheiten von Brights Musik mit größter Sensibilität nach. Ihr Klavierklang ist immer anheimelnd und voll positiver Energie – jedes harmonische Detail kommt hier zu seinem Recht, souverän und unaufgeregt. Es ist ein echter Genuss, ihr zuzuhören, was so manche Schwächen der Kompositionen vergessen macht. Der Einsatz des Royal Liverpool Philharmonic Orchestras ist von Ernsthaftigkeit geprägt – naturgemäß sind Musiker und Dirigent bei Gipps‘ entwickelterer Orchestersprache mehr in ihrem Element. Wer nicht auf absolut geniale Eingebungen wartet, wird mit dieser aufnahmetechnisch überzeugenden Einspielung durchaus seine Freude haben.

[Martin Blaumeiser, März 2020]

Lange Linien, dumpfes Glimmen

Profil, Edition Günter Hänssler, PH19073; EAN: 8 81488 19073 1

Der in Moskau geborene Violinist Ivan Pochekin nimmt die beiden Violinkonzerte a-Moll op. 77 und cis-Moll op. 129 seines Landsmannes Dmitri Schostakowitsch auf. Als Partner holt er sich hierfür das Russische Nationalorchester unter Stabführung von Valentin Uryupin ins Boot.

Die beiden Violinkonzerte von Dmitri Schostakowitsch glimmen umhüllt von Melancholie und nächtlicher Finsternis. Virtuositäten stehen die meiste Zeit vollständig im Hintergrund, statt dessen leiten uns schier unendliche Kantilenen den Weg durch diese vertrackten Meisterwerke. Die Musik besitzt ungeheure Tragkraft in ihrer Expressivität und dem gemächlichen, aber beständigen Strom nach vorne. Während im Ersten Violinkonzert noch so etwas wie Hoffnung durchschimmert und zumindest die beiden vergleichsweise kurzen Allegro-Sätze Lebensfreude ausstrahlen, kristallisiert sich im Zweiten Konzert eine Ausweglosigkeit heraus, die bedrückt.

Ein differenzierter und ausdrucksstarker Ton zeichnet Ivan Pochekin aus, er kostet gerade die langen Melodien voll aus, um in ihrer Emotionalität aufzugehen. Besonderen Wert legt er hierbei auf die unterschiedlichen Abwandlungen der Motive, die er durch leichte Akzente unterstreicht. Die Brillanz seiner Intonation besticht dabei. Auch formal hält er gerade das Erste Konzert eisern zusammen, indem er auf die große Linie und den umfassenden Bogen achtet. Stellenweise hätte er in den ruhigen Sätzen sein Vibrato mehr ausdifferenzieren, und nicht auf immer die gleiche Schwingung setzen können, dafür dürfte gerade das Scherzo des Ersten Konzerts noch ausgelassener wirbeln. In der Kadenz behält er nicht den Fokus, die von Schostakowitsch klar vorgezeichnete Linie mitzugehen, zu früh zieht er nach vorne und präsentiert sich als Virtuose, anstatt die doppelbödige Zurückhaltung zu genießen. In den beiden Finalsätzen glänzt er wieder durch präzise Akzentuierung und rhythmische Finesse, die besonders dann großen Charme erhält, wenn die Geige gegen das Orchester anzukämpfen hat und im Takt konkurriert.

Die Streichersektion des Russischen Nationalorchesters gerät passagenweise ins Murmeln, die Motive verschwimmen in eine reine Klangsphäre, wodurch das Wechselspiel der Instrumente verloren geht. Auch manche Details der Bläser, die insgesamt ausgeglichener an die Oberfläche kommen, erhalten nicht die notwendige Intensität: Das Scherzo des Konzerts op. 77 beispielsweise beginnt mit einem Duett aus Flöte und Bassklarinette; diese spektakuläre Instrumentation würde ich als Hörer gerne auch aktiv wahrnehmen.

Insgesamt eine vom Solisten Ivan Pochekin größtenteils überzeugende Aufnahme, mit der leider das Orchester nicht mitzuhalten vermag.

[Oliver Fraenzke, März 2020]

Scrapes and Soundscapes

NEOS 12002, EAN: 4 260063 120022

Die beiden Schwestern Karolina und Erika Öhman präsentieren als UmeDuo Werke für Cello und Schlagwerk. Zu hören sind ausschließlich Auftragswerke des Duos: Gina et Fio von André Chini (geb. 1945), Bells and Tides von Jenny Hettne (geb. 1977), re/wind/re/write – fast-forward version von Ricardo Eizirik (geb. 1985), Stenar – Aska, aska von Esaias Järnegard (geb. 1983), Never-Ending Journey von Leilei Tian (geb. 1971), Whereabout I von Ivo Nilsson (geb. 1966) und Se… von Farangis Nurulla-Khoja (geb. 1972).

Als Karolina und Erika Öhman sich 2008 als UmeDuo zusammentaten, bemerkten sie erst, wie wenig Werke es für ihre Besetzung Cello und Schlagwerk gab. So begannen die beiden Musikerinnen, Kompositionsaufträge zu vergeben an Komponistinnen und Komponisten, die einen gewissen Bezug zu Schweden haben, das Heimatland der beiden Schwestern. Laut eigenen Aussagen reagierten die Tonsetzer durchweg begeistert und verkündeten fast alle, Cello und Schlagwerk seien ihre Lieblingsinstrumente. Sieben der zahlreichen aus diesem Vorhaben resultierenden Werke nahmen Karolina und Erika Öhman nun für NEOS auf.

Die CD beginnt sogleich mit einem wahrlich eigenständigen wie originellen Werk, das seine Inspiration aus dem Anime Porco Rosso zieht. Um keine der beiden in ihn verliebten Frauen Gina und Fio zu verletzen, verschwindet das Schwein in seinem roten Flugzeug, die Frauen werden Freunde. André Chinis Werk thematisiert nun die Unterhaltungen von Gina und Fio und setzt sie in Musik um. In klarer musikalischer Handschrift nehmen wir bildlich die unterschiedlichen Arten der Kommunikation wahr, spüren das Miteinander der beiden Partnerinnen. Ebenso stark beginnt Bells and Tides von Jenny Hettne, in dessen Entstehen die beiden Musikerinnen stark einbezogen wurden; alleine schon zur Findung der geeigneten Schlaginstrumente, die schließlich das Fundament des Stücks auf ein vierteltönig herabgestimmtes F definierten. Im ersten Teil des Stücks spürt der Hörer das ständige Expandieren und Kontrahieren der Gezeiten, begleitet von den Glocken, die seit jeher Inspirationsquelle von Komponisten waren. Der deutlich kürzere zweite Teil hingegen bleibt mir unverständlich, da ich weder neue Aussagen, noch aufhörenswerte Klänge darin finde. Ebenfalls überlang empfinde ich „Wherebout I“ von Ivo Nilsson, das durch die meditativen Sphären zwar eine Art Ruhepol der CD bildet, diese aber nicht über mehr als zwölf Minuten tragen. In diesem Werk werden alle Schlagwerke gestrichen, so dass nach und nach die Wahrnehmung der Perkussion verwandelt wird. Laut Booklet ist „Whereabout I“ Teil eines vierteiligen Zyklus für unterschiedliche Besetzungen, der getrennt oder gleichzeitig gespielt werden kann (meint „gleichzeitig“/“samtidigt“ hier tatsächlich parallel zur gleichen Zeit oder nacheinander?). „Se…“ aus der Feder Farangis Nurulla-Khojas nimmt das Schlagwerk in den Vordergrund und fokussiert sich auf mikroskopische Klangelemente, denen die ganze Aufmerksamkeit geschenkt wird. Gotländisch eisige Kälte erwartet uns in Esaias Järnegards „Stenar – Aska, aska“ (Steine – Asche, Asche), einem modernen Klanggemälde der Winterlandschaft auf dieser rauen Ostseeinsel, das die Isolation zu vermitteln vermag. Thematisch möchte man es als beinahe als Fortsetzung von Vaughan-Williams‘ Arctic Symphony bezeichnen, wenngleich natürlich in ganz anderem und vor allem einzigartigem Stil. Leilei Tian mischt asiatische und europäische Klänge in ihrer Never-Ending Journey, einem meditativen, aber parallel in sich geschlossenen und funktionierenden Stück. Die langen Melodien des Cellos verzaubern und begeistern durch ihre Sanglichkeit. Mein persönliches Highlight dieser CD ist re/wind/re/write von Ricardo Eizirik, ein heiteres Werk, das einen Kassettenrecorder abbildet. Immer wieder wird der Recorder zurückgespult, verlangsamt oder beschleunigt; dabei stellt das Cello den Recorder dar, der vom Schlagwerk „bedient“ wird. Bei diesem Werk handelt es sich aber nicht bloß um ein Witzstück, sondern errichtet sich auf fundierter Klangforschung und präsentiert sich genau abgehört bezüglich der Form, die in sich perfekt aufgeht. Re/wind/re/write nimmt bestimmte Elemente wieder auf, aber verirrt sich nicht in Wiederholungen, sondern bringt zum genau richtigen Moment Neues, so dass es immer wieder für Überraschungen sorgt.

[Oliver Fraenzke, März 2020]

Jazzanklänge moderner Komponisten

Grand Piano, GP813; EAN: 7 47313 98132 8

Gottlieb Wallisch erkundet den Foxtrott in Europa: Was haben die Komponisten aus den amerikanischen Jazztänzen gemacht? Der erste Teil dieser Forschungsreise bringt uns nach Österreich und Tschechien. Als österreichischen Repräsentanten dieser CD hören wir Ernst Krenek mit dem Potpourri aus der Oper „Jonny spielt auf“ (arr. Jenő Takács) und dem Foxtrott „Der Sprung über den Schatten“ op. 17 (arr. Gustav Blasser), Julius Bittner mit dem „Shimmy auf den Namen Bach“, Ralph Benatzkys „Drei Stücke aus dem Ballett ‚Die Fünf Wünsche‘, Franz Mittlers Foolish Spring, dann Shimmy und Tango aus dem Tanzspiel „Baby in the Bar“ von Wilhelm Grosz (arr. Gustav Blasser), Leopold Krauss-Elka mit dem Tannhäuser-Foxtrott, Lied an den Morgenstern, Hans Eislers Shymmy-Tampo und schließlich Illusion-Foxtrott und Arizona-Foxtrott von Felix Petyrek. Aus Tschechien kommen der Bugatti Step und Ozveny z music-hallu aus der Feder von Jaroslav Ježek, Vier Tänze op. 39 von Alois Hába und Foxtrott, One-Step sowie Black Bottom von Bohuslav Martinů. Ferner erklingen The Kingdom of Heaven von Karel Boleslav Jirák, City Shimmy von Jaromír Weinberger und zwei Auszüge aus „Groteske“ von Erwin Schulhoff in der Klavierfassung des Komponisten.

Nach dem Ersten Weltkrieg schwappte eine gewaltige Welle des Jazz aus Amerika nach Europa über. Diese neuartigen Klänge und die kecke Rhythmik begeisterten das Publikum, dem nach Aufschwung und frischer Lebendigkeit zu Mute war. Auch zahllose Komponisten wurden eingenommen von dieser Musik, besonders von der erweiterten Harmonik, die genau ins Konzept der musikalischen Moderne passte. Manche Komponisten wollten diesen neuen Stil imitieren und möglichst authentische Stilkopien schaffen, andere integrierten jazzige Elemente in die europäisch-moderne Musik: die Palette an Schattierungen zwischen diesen Polen ist groß. Berühmte Beispiele kennen wir vor allem aus Frankreich von der Groupe des Six, sowie von Debussy und Ravel, aber auch von Strawinsky und später von Bernd Alois Zimmermanns „Nobody knows the trouble I’ve seen“. Von der anderen Seite her, also aus dem Jazz kommend, kennt man Gorge Gershwin und Duke Ellington als geniale Gradwanderer zwischen den Stilen.

Die Beiträge der hier vorliegenden CD gehören größtenteils zu den unbekannten oder vergessenen Komponisten, bei denen es sich Größtenteils um Tonsetzer der Universal Edition handelt, welche auf die Welle aufsprang und große Bände mit „Modern Jazz Music“ publizierte. Lediglich die Namen Krenek, Eisler und Schulhoff hätte ich tatsächlich im Programm erwartet und auch verdutzt es nur wenig, Martinů unter den Komponistennamen zu lesen, wenngleich der Jazz seine Musik im Allgemeinen nur wenig ausmacht. Als Überraschung dient wohl Alois Hába, der musikgeschichtlich vor allem durch seine mikrotonalen Experimente inklusive extra dafür konzipierter Instrumente von sich reden machte. Seine neoromantisch tonalen Werke gerieten dahingegen schnell in Vergessenheit; und mit jazzbeeinflussten Tänzen hätte wohl keiner gerechnet. Die restlichen Namen kursieren lediglich in kleineren Kreisen, die meisten zählen heute entweder rein oder zumindest teils auch als Setzer von Unterhaltungsmusik, wobei andere wie vor allem der bei Guido Adler und Franz Schreker studierte Felix Petyrek der Neuen Musikszene zugeordnet werden. Petyrek geriet in den Brennpunkt der Öffentlichkeit durch seine Sechs grotesken Klavierstücke, die verschiedene Stile auf die Schippe nehmen.

Ein Großteil der Beiträge entstand, noch bevor die großen Jazzkapellen und Stars der Szene Europa erreichten, man kannte die Musik in erster Linie von Schallplatten oder aus Cafés, deren Musiker vor allem der Mode folgten, selbst aber nicht unbedingt die größte Ahnung von dieser Musik hatten. Kurzum wurde alles als Jazz angesehen, was synkopiert war und vor Septimklängen strotzte. Entsprechen vielseitig gestalten sich auch die hier zu hörenden Nummern, die teils nur wenig mit echtem Jazz zu tun haben, teils aber auch aus profunder Klangforschung heraus entstanden. Der Gedanke eines immer wiederkehrenden Refrains war besonders verbreitet, eingängig zu hören bei Petyrek und Ježek. Interessant gestaltet sich auch Bittners Shimmy über B-A-C-H, wobei er nicht den Barockmeister, sondern einen jazzbegeisterten Kritiker rühmte, der „abgedroschenen“ Floskel B-A-C-H aber ganz neue Möglichkeiten entlockte.

Gottlieb Wallisch zeigt sich als feiner und leichtfüßiger Pianist, der ohne Pathos und Überspitzungen dieser Musik Witz und Lebendigkeit einhaucht. Mit einfachsten Mitteln geht er an diese unterhaltsame Musik heran und schafft so eine mitreißende Unbekümmertheit. Dabei gestaltet er die Melodien sanglich aus, dass sie stets organisch bleiben. Der Witz entsteht rein durch die Charakteristika, die in der Musik selbst vorhanden sind: manch ein Pianist würde sie sofort unterstreichen und ihnen eben dadurch den Reiz der Subtilität nehmen, während Wallisch ihnen gerade durch die Beiläufigkeit ein keckes Glimmen entlockt.

[Oliver Fraenzke, März 2020]

Ewige Weiten

Das Trio Palladio spielt Klaviertrios des lettischen Komponisten Pēteris Vasks: Lonely Angel in Form der zweiten Reinterpretation eines Streichquartettsatzes, Episodi e canto perpetuo und Plainscapes in einem eigenen Arrangement von 2011 stehen auf dem Programm.

Die ewige Weite, die Melancholie und ein übersinnliches Moment zeichnen die Musik von Pēteris Vasks aus. Die Handschrift seiner Musik appelliert unmittelbar an das Innerste des Hörers, die Klänge entzücken und bringen uns in tranceähnlich meditative Zustände. Wen könnte diese sinnlich übersinnliche Musik kalt lassen?

Die Meditation „Lonely Angel“ ging um die Welt und versinnbildlicht die tiefe Sehnsucht von Vasks‘ Musik. Ursprünglich handelte es sich um den fünften Satz des Vierten Streichquartetts, 2006 arbeitete der Komponist diesen dann für Violine und Streichorchester um, was von Gidon Kremer uraufgeführt wurde (zudem gibt es eine grandiose CD-Aufnahme mit Alina Pogostkina und Juha Kangas). Für die vorliegende Produktion arbeitete Vasks das Werk erneut um, nun für Klaviertrio: diese Version erklingt zwar auf der Platte, wurde allerdings bislang noch nicht im Konzert aus der Taufe gehoben. Aufbrausender präsentieren sich die Episodi e canto perpetuo, ein knapp halbstündiger Kampf zwischen Licht und Dunkelheit und zudem das einzig genuin für Klaviertrio konzipierte Werk dieser Aufnahme. Vasks wagt sich an modernistische Effekte und tösende Klangfluten, verliert aber dennoch nie die unverkünstelte Ästhetik und die pure Schönheit der Musik. Plainscapes schafft eine Hyperbildlichkeit, wie wir sie sonst nur von Debussy oder Ravel erwarten würden, deren Klangsprache Vasks allerdings nicht einmal tangiert. Ursprünglich besetzt für Chor mit Instrumenten, beschreibt Plainscapes die Landschaft von Semgallen. Die Musik beginnt erneut mit einem „ewigen Gesang“, schwerelos und absolut magisch, bevor auch hier die Dunkelheit eintritt. Rhythmisch vertrackte Passagen mit gleichförmiger Gegenüberstellung von unterschiedlichen triolischen und duolischen Notenwerten formt die Landschaft.

Die Musik von Pēteris Vasks spricht durch sich selbst; den Musikern wird vor allem ein feines Gehör und innere Ruhe abverlangt, dem Fluss zu folgen, ohne zu stocken. Das Trio Palladio schwebt geradezu durch Lonely Angel und Plainscapes: ohne Härte und Widerstand trifft es den Kern der Tongebung und eröffnet so für den Hörer die Unendlichkeit dieser Musik. Grandios gelingen die auftürmenden Passagen in Episodi e canto perpetuo, die äußerst schwierig in der Darstellung sind: schnell verleitet einen die Musik dazu, zu hämmern oder vertikale Wucht walten zu lassen. Doch die Musiker bewahren sich erfolgreich davor und schaffen auch hier eine voluminöse Nachgiebigkeit, die der Musik Samtheit bis in die wilden Momente verleiht.

[Oliver Fraenzke, März 2020]

Henzes Skandal-Oratorium – aktueller denn je

SWR Classic SWR19082CD; EAN: 7 4731390828 8

Fast 49 Jahre nach dem wohl größten Konzertskandal Nachkriegsdeutschlands hat das neu zusammengelegte SWR Symphonieorchester unter Peter Eötvös 2017 die erst zweite CD-Einspielung von Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“ in der Hamburger Elbphilharmonie aufgenommen. Die Solisten waren Camilla Nylund, Peter Schöne und Peter Stein – nicht nur akustisch ein echter Glücksfall, den man nun auch zuhause anhören kann.

Der angesetzten Hamburger Uraufführung von Hans Werner Henzes (1926-2012) „Oratorio vulgare e militare in due parti“ Das Floß der Medusa durch den Komponisten war am 9.12.1968 durch einen massiven Polizeieinsatz ein jähes Ende bereitet worden; der Skandal erzeugte einen derartigen Presserummel, dass man darüber wohl ganz vergessen hat, sich ästhetisch weiter mit Henzes vielleicht erstem, wirklich großformatigen „politischen“ Werk auseinanderzusetzen. Schon im Vorfeld hatte seinerzeit Der Spiegel polemisiert, Henze sei nur „der alte Ästhet, der gepflegte Epigone, der geschmäcklerische Eklektizist“. Geblieben ist ein Mitschnitt der Generalprobe durch den NDR (auf Deutsche Grammophon) – die eigentliche Uraufführung fand 1971 im Wiener Musikverein statt; danach war es lange still um das Stück.

Nachdem Henze 1990 den unmittelbaren Schluss revidiert hatte – der Schlagzeug-Rhythmus des „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“-Protestrufs wird melodisch umwölkt – gab es auch nur spärlich Aufführungen. Dass das aufwändige Stück gerade in den letzten Jahren – zufällig oder bereits geplant? – nun öfters zu hören ist, mag in Koinzidenz zur Flüchtlingskrise im Mittelmeer mit zehntausenden Opfern nicht wirklich verwundern. In jedem Fall erweist sich Henzes Mahnung als aktueller denn je. Die historische Schiffskatastrophe von 1816 – ihr folgte noch ein Justizskandal – war drei Jahre danach von Théodore Géricault in seinem berühmten Gemälde La Radeau de la Méduse festgehalten worden, das Henze als emotionale Basis verwendet. Das Oratorien-Libretto von Ernst Schnabel kennt neben dem großen Chor einen Sprecher (Charon), den Seemann Jean-Charles (Bariton) und die allegorische Figur la Mort (Sopran); die räumliche Aufteilung des Chores sieht vor, dass die Sänger*innen nach und nach von der Seite des Lebens auf die Seite des Todes wechseln. Das klingt in der alten Aufnahme – insbesondere die Sopranistin betreffend – wie künstlich am Mischpult hergestellt; in der Neuaufnahme hört man davon wenig, dafür ist die räumliche Abbildung insgesamt überzeugender.

Alle Vokalisten der Neuproduktion erweisen sich als vortrefflich: Camilla Nylunds Sopran klingt durchaus gefährlich, das nervig Schrille von Edda Moser fehlt ihr jedoch glücklicherweise. Peter Schöne erreicht zwar nicht ganz die eindringliche Wärme von Dietrich Fischer-Dieskau, zeigt aber dennoch berührende Ausdrucksstärke – und singt weniger falsche Noten. Die eigentliche Überraschung ist Regisseur Peter Stein: rhythmisch sicher und klanglich Charles Regniers Charon nicht unähnlich, ist sein Vortrag immer voller Anteilnahme und verzichtet völlig auf das leicht Spöttische, Regniers Markenzeichen, in Henzes Oratorium freilich eher deplatziert. Die Chöre intonieren sicherer, wie eigentlich alles an der neuen Aufnahme werden sie zudem akustisch deutlich besser eingefangen – und die Freiburger Domsingknaben sind dem Knabenchor von 1968 haushoch überlegen.

Peter Eötvös hat erst 2016 selbst ein Orchesterstück komponiert, das die Flüchtlingsthematik reflektiert: Alle vittime senza nome. Unter seiner souveränen Leitung klingt das Riesen-Orchester nun ebenfalls durchsichtiger, einzelne Klangfarben kommen besser zur Geltung; Eötvös versteht vollkommen die Henze-typischen musikalischen Zeichen. Der Dramaturgie als Ganzes entlockt er so manchen Gänsehaut-Moment. So fügt sich in der SWR-Aufnahme alles geradezu perfekt zusammen und präsentiert dem Zuhörer Henzes komplexes, aber aufrüttelndes Oratorium – jenseits aller Skandale und Eklektizismus-Diskussionen – als das, was es ganz sicher ist: ein musikalisches Meisterwerk.

[Martin Blaumeiser, März 2020]

Die Aufnahme-Maschine schlägt wieder zu

Ondine, ODE 1332-5; EAN: 0 761195 133255

Hannu Lintu dirigiert das Finnish Radio Symphony Orchestra mit den Symphonien Nr. 2 und 3 von Witold Lutosławski.

Witold Lutosławski zählt zu den prominentesten Komponisten der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, nicht zuletzt aufgrund seiner Eigenständigkeit und Originalität, mit der er versuchte, alten Formen neuen Geist einzuhauchen. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit um ihn stehen seine vier Symphonien, das Konzert für Orchester und Jeux vénitiens. Die erste Symphonie besitzt noch (ebenso wie das Konzert für Orchester) einen neoklassizistischen Flair, den er spätestens in Jeux vénitiens ablegte. Dort wandte er erstmals aleatorische Techniken an, wenngleich auf eigene Weise: Lutosławski notierte zwar die einzelnen Stimmen voll aus, überließ aber das Zusammenspiel dem Zufall, indem das Tempo für jeden frei steht und der Dirigent pausiert; dies bezeichnete er als aleatorischen Kontrapunkt. Die zweite Symphonie steht voll im Zeichen dessen. Lutosławski konzipierte sie zweisätzig: Der erste Satz, Hésitant, besteht aus sieben durch Refrains gegliederte Episoden in freiem und suchendem Gestus ohne wahren Zusammenhalt, während der zweite, Direct, stringenter auf einen Höhepunkt zusteuert, mehr auf die Streicher baut und geballtere Dimensionen annimmt. Während diese Form doch recht sperrig wirkt und den Hörer gerade formal streckenweise vor den Kopf stößt, gelingt Lutosławski in der Dritten Symphonie ein verständlicherer und mitvollziehbarerer Gattungsbeitrag. Die Symphonie besteht aus sieben, bis auf das Finale recht kurzen Sätzen, deren Episoden durch knappe und vor allem wiedererkennbare Motive zusammengehalten werden. Zu Beginn stehen vier rasche Tutti-Schläge auf E, die sich durch das gesamte Werk ziehen, gefolgt von einem wiederkehrenden Anklang an die Eröffnung von Beethovens Fünfter Symphonie. Allgemein nimmt Lutosławski die Passagen mit aleatorischem Kontrapunkt zurück und setzt auf luzidere Harmonien, konzentriert sich auf bessere Durchhörbarkeit des Geflechts.

Die Musik von Witold Lutosławski spricht für sich, man kann sie als ausführender Musiker nicht „verschandeln“ im dem Sinne, wie man Mozart, Beethoven, Schubert oder Bach für den Hörer ungenießbar machen kann. Dennoch zeigt gerade der Vergleich verschiedener Aufnahmen deutliche Unterschiede. Die Zweite Symphonie nahm Lutosławski selbst auf (er spielte auch die vollständige Uraufführung, nachdem er Boulez zum offiziellen Premierentermin nur den zweiten Satz fertig lieferte), erweist sich dabei als fähiger, im Detail präziser, aber nicht unbedingt großformatig denkender Dirigent (EMI Classics). Am meisten schätze ich die Aufnahmen von Edward Gardner mit dem BBC Symphony Orchestra (Chandos; CHSA 5223(5)), in der er nicht nur klangliches Feingefühl beweist, sondern wahrlich in die Musik hineinhört und alle Substanz aus ihr herausholt. Das Stimmgeflecht übermittelt er plastisch an den Hörer, meißelt die Kontraste ins besondere der Besetzung minutiös heraus und versteht die formale Konzeption der Werke. Auch in den geballten Klangmassen findet sich Gardner zurecht und bringt eine seidene Eleganz in die Musik hinein. Genau hier liegt der Unterschied zu der vorliegenden Aufnahme mit Hannu Lintu: Der finnische Dirigent achtet nicht auf die Ästhetik des Gesamtklangs, lässt es gerne donnern und krachen, scheint gerade in unkontrolliert polterndem Getöse voll aufzugehen. Lutosławski mit der Brechstange. Die sieben Sätze der Dritten Symphonie scheinen sich bei Lintu in die Länge zu ziehen und im Finale gar nicht enden zu wollen, während die knapp dreißig Minuten bei Gardner im Fluge verstreichen und noch Lust auf mehr machen. Dagegen überrasche Hésitant aus der Zweiten Symphonie, das Lintu im Gegensatz zum Rest erstaunlich feinfühlig dirigiert und weitschweifende Bögen formt – Direct hingegen fällt erneut zurück in den gewohnten Gestus.

Aktuell findet sich der Name Hannu Lintu vielfach in den Neuerscheinungen von Ondine, und dazu stets mit schwieriger Literatur, die genauen Feinschliff verlangt. Vielleicht sollte er sich einmal auf wenige Programme konzentrieren und diese dafür voll ausarbeiten, anstatt rasch einstudierte und nicht ausgearbeitete Aufnahmen auf den Markt zu bringen.

[Oliver Fraenzke, März 2020]