Die acht jungen Musikerinnen und Musiker des Oberton String Octets präsentieren uns auf beeindruckende Weise das kaum gespielte Streichoktettrepertoire aus Russland. Auf dem Programm stehen Schostakowitschs frühe Zwei Stücke für Streichoktett op. 11, Reinhold Glières ebenfalls zum Beginn seiner Laufbahn komponierte Streichoktett D-Dur op. 5 sowie eine Rarität: Nikolai Afanassjew mit seinem Doppelquartett D-Dur, welches den Beinamen „Einzugsfest“ trägt.
Selten nur hört man Konzerte oder auch nur Aufnahmen von Streichoktetten, zumal in klassischer Besetzung für zwei Streichquartette. Die Gattung konnte sich zu wenig durchsetzen, um aktiven Anklang zu finden. Repertoire gäbe es durchaus genug, begonnen mit Mendelssohns Jugendwerk, dann einem unvollendeten Versuch von Andreas Romberg und gleich vier in Folge dessen komponierten Oktetten von Louis Spohr; später folgten Raff, Bruch und Bargiel, ein heute unterschätzter, zwar konservativer, aber doch inspirierter Komponist; Svendsen brachte die Gattung in den Norden, Respighi in den Süden und Enescu in den Osten. In jüngster Vergangenheit wurden Streichoktette gerne mit abweichenden Besetzungen komponiert, beliebt sind dabei vor allem die tiefen Besetzungen: Octopus Rex von Ketil Hvoslef beispielsweise verlangt nach acht Celli.
Schostakowitsch eröffnet das Programm dieser CD mit seinen beiden Stücken für Streichoktett op. 11, die er gegen Ende seines Studiums im Alter von 18 Jahren komponierte. Auf ein flirrendes Präludium, das er an Bach anlehnte, folgt ein wildes Scherzo, das bereits die experimentelle Phase einläutet, die er spätestens mit der Zweiten Symphonie zur Blüte brachte – voller doppelbödigem Witz und abgrundtiefem Sarkasmus überwältigt es den Hörer. Eine wirkliche Entdeckung stellt das Streichoktett in D-Dur von Nikolai Afanassjew dar, von dem die meisten Stücke bis heute ungedruckt blieben. Das „Einzugsfest“ betitelte Werk strahlt eine freundliche wie sanftmütige Energie aus, die es durch alle vier Sätze behält und so beim Hören eine innere Wärme schaffen. Melancholischer erweist sich das Glière-Oktett op. 5 ebenfalls in D-Dur. Das fein durchgearbeitete Werk spannt große Bögen und schafft gewaltige Kontraste, zeigt dabei schon beim frühen Glière höchste Meisterschaft in der Melodie- und Kontrapunktfindung.
Innig und natürlich besticht das Spiel der acht jungen Musikerinnen und Musiker des Oberton String Octets, alle in ihren 20er-Jahren. Gerade das junge Alter bringt eine Unverbrauchtheit und Frische, die bei vielen älteren Kollegen verloren scheint. Es gelingt ihnen durchgehend, den gemeinsamen Klang zu kontrollieren und nie übermütig zu werden, was gerade bei Schostakowitsch die Gefahr ist, sorgen aber dennoch für aufbegehrende und wilde Momente. Volles Volumen und runden Klang hören wir vor allem bei Afanassjew, der die Flexibilität und das Feingefühl des Strichs unter Beweis stellt. Glière stellt das formale Denken auf die Probe, was das Oberton String Octet ebenfalls meistert. Eine rundum gelungene und mitreißende Aufnahme, die bis zuletzt fesselt.
Das Duo Pleyel, bestehend aus den Pianisten Alexandra Nepomnayashchaya und Richard Egarr, spielt vierhändige Klaviermusik von Franz Schubert für Linn Records ein. Auf dem Programm steht das Rondo D-Dur D. 608, die Sonate in B-Dur D. 617, die Fantasie in f-Moll D. 940, das Rondo in A-Dur D. 951 und das Allegro in a-Moll D. 947 mit dem Titel „Lebensstürme“, nach welchem das Duo Pleyel ihre CD benannte.
Als ich gesehen habe, dass auf der vorliegenden CD vierhändige Klavierwerke auf einem Pleyel-Flügel eingespielt werden, war mein Interesse sogleich geweckt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert galten diese Flügel als marktführend durch ihren warmen, voluminösen und vielseitigen Klang. Als regelmäßigen Gast begrüßte der Vater Ignaz Pleyel unter anderem Beethoven, der sich begeistert über diese Klaviere aussprach – und für Schubert schließlich Vorbildfunktion hatte. Der Sohn Camille Pleyel hingegen führte intensiven Austausch mit Komponisten wie Frédéric Chopin, dessen Nocturnes op. 9 sogar Camilles Frau gewidmet sind. Hier hören wir einen Flügel aus dem Jahr 1848, also von Camille Pleyel, der dem romantischen, weichen und möglichst farbenreichen Stil angepasst ist, sonor in der Tiefe schnurrt und in den Höhen präzise, aber doch auch lieblich glänzt.
Doch all diese Vorzüge des Flügels nutzt das Duo Pleyel nicht aus. Im Gegenteil: die Aufnahme enttäuscht so sehr, dass ich mich fragen muss, ob die beiden Pianisten das Programm wirklich gründlich einstudiert haben. Selbst der Booklettext von Egarr wirkt wie im Affekt kurzfristig heruntergeschrieben.
Es beginnt bereits damit, dass Schuberts Piano und Pianissimo in der Aufnahme maximal als Mezzopiano, wenn nicht sogar als Mezzoforte zu bezeichnen ist und somit all die introvertiert-schattigen Gefühlswelten fehlen. Gerade das unheimliche Pianopianissimo in der f-Moll-Fantasie, das wie aus dem Nichts schwingen sollte, verfehlt so im deutlich hörbaren Mezzobereich jegliche Wirkung. Umso ruppiger und brutaler schmettert das Forte, dass man im eigentlich galanten D-Dur-Rondo teils beinahe hochschreckt. Die rhythmische Komponente scheint ebenso wenig erarbeitet worden zu sein: die triolischen Passagen wirken starr, gezählt und stellenweise gar errungen, die doppelten bis dreifachen Punktierungen gerade in der Fantasie schwächt das Duo Pleyel zu einfachen Punktierungen ab. Auf musikalischer Ebene herrscht ebenso Flaute, denn nicht eine Melodie wirkt wirklich gesungen, erspürt oder verstanden. Die Noten werden gleichwertig nebeneinandergereiht und manche in der Partitur geschriebene Dynamikänderung halbwegs nachvollzogen, doch abgesehen davon bemühen sich die Musiker nicht darum, die Melodien organisch entstehen zu lassen, was noch dazu für Schubert unentbehrlich sein sollte.
Das Estnische Nationalsymphonieorchester unter Olari Elts spielt symphonische Dichtungen von Heino Eller. Auf dem Programm stehen Öö Hüüded (Nachtrufe), die symphonische Suite Valge Öö (Weiße Nacht) sowie Videvik (Dämmerung) und Koit (Morgendämmerung).
Heino Eller gehörte zu den Vätern estnischer Musik. Als junger Mann spielte er in Estlands erstem Symphonieorchester und dem ersten Streichquartett, später wirkte er als Pädagoge maßgeblich auf die jüngere Generation estnischer Komponisten ein, so auf Arvo Pärt, Eduard Tubin und Lepo Sumera. Guido Adler verlieh Eller bei einem Besuch aus Wien den Titel „Estnischer Sibelius“ und bescheinigte ihm, Griegs nordischen Stil erfolgreich weiterzuführen und ihn geschickt mit Elementen des Impressionismus und Expressionismus zu würzen. Wie auch Sibelius begann Eller als Violinist und ließ sich im namhaften Konservatorium von St. Petersburg ausbilden, wo er allerdings scheiterte, da er zu spät begann – durch zu intensives Üben verletzte er sich die Hand und musste seinen Traum aufgeben. Vier Jahre lang studierte er in Folge dessen Jura, bevor er sich erneut am Konservatorium einschrieb, diesmal für Komposition, worin er 1920 absolvierte.
Zu dieser Zeit hatte er seine beiden symphonischen Dichtungen Videvik, Dämmerung, (1917) und Koit, Morgendämmerung, (1918, orchestriert 1920) bereits abgeschlossen und begann mit der Arbeit an dem weitaus umfangreicheren Werk Öö Hüüded, Nachtrufe, (1920-21), alle auf dieser CD zu hören. Es offenbart sich ein tonal verwurzelter, farbenreicher und prägnanter Stil, der tatsächlich gewisse Parallelen zur Musik von Jean Sibelius aufweist, aber auch Hinweise auf die Beschäftigung mit den deutschen Komponisten gibt, namentlich Wagner und noch präsenter Strauss. Eller, der sich rein der Instrumentalmusik verschrieb (bemerkenswert besonders, da Estland für seine Vokalmusik bekannt ist), weist enorme Kenntnisse der Orchestration auf, die sich auf der Höhe kontinentaler Komponisten befindet. Weite Melodien prägen das Bild, versprühen eine nordische Melancholie und bittere Zärtlichkeit. Sanfte bis aufbrausende Wellen schäumen auf, geben magischen Glanz und impressionistischen Schleier. Der Stil spricht an, lockt, intensiv zu Hören und in der Musik zu entdecken, in ihr aufzugehen.
Gemeinsam mit dem Estnischen Nationalsymphonieorchester nahm Olari Elts bereits das Violinkonzert, die Zweite Symphonie, die Phantasie und eine Symphonische Legende von Eller auf, legt nun mit einer zweiten CD-Veröffentlichung nach. Dabei besticht das Feingefühl der Musiker, alle orchestrale Farben aufblühen zu lassen, ohne dass darunter die Transparenz des Stimmgeflechts leiden würde. Elts spornt die Musiker an, große Bögen zu ziehen und sanglich intensiv in den weiten Melodien aufzugehen. Frei von kontextlosem Effekt oder zurschaustellerischer Geste tauchen Orchester und Dirigent in diese Musik ein und präsentieren sie liebevoll dem Hörer wie eine Einladung, diese zu selten gespielten Werke mit ihnen zu teilen.
Flötensonaten des 20. Jahrhunderts stehen auf dem Programm der aktuellen CD des Flötisten Danis Lupachev und des Pianisten Peter Laul. Zu Beginn hören die die 1936 komponierte Sonate von Paul Hindemith, darauf folgen die Gattungsbeiträge von Vyacheslav Nagovitsyn (1962) und Edison Denisov (1960). Den Abschluss bildet die D-Dur-Sonate op. 94 aus der Feder Prokofieffs, geschrieben 1943.
So sehr ich ein Verfechter der weniger bekannten Musik bin, so muss ich doch in diesem Fall gestehen, dass die beiden bekannten Sonaten dieser Aufnahme die bezwingenderen und stilistisch wie musikalisch prägnanteren dieser CD sind. Die Sonate von Vyacheslav Nagovitsyn hat durchaus ihre starken Momente und betört mit manch einem ansprechenden Klangeffekt, wirkt aber als Gesamtes wenig stimmig, die einzelnen Teile wollen nicht so recht miteinander verschmelzen – zu groß klafft die Schlucht zwischen den modernistischen Stilelementen mit schrillen, engen Akkorden sowie dissoziierter Melodie und doch rückwärtsgewandten, beinahe tonalen Passagen. Recht bedeutungslos plätscherte die Sonate von Edison Denisov an mir vorbei, die in ihrer gemäßigten Modernität zwar nett zu hören ist, aber auch nichts Aufsehenerregendes birgt. In ihrer kecken Sperrigkeit und der wohldosierten Distanz sticht die Flötesonate op. 94 in D-Dur von Prokofieff hervor, die vor allem in ihrer späteren Umarbeitung zur Violinsonate Nr. 2 Bekanntheit erlangte. Klassizistisch ausgewogen und anders als in der Ersten Symphonie ohne den beißenden Sarkasmus bildet sie einen ernsten und substanzgeladenen Beitrag zur Kammermusik des 20. Jahrhunderts. Die Flötensonate Hindemiths zählt zu dessen bekannteren Werken, wenn man doch nicht umher kommt anzumerken, dass dieser Großmeister – zweifelsohne einer der größten Komponisten Deutschlands – noch immer stiefmütterlich behandelt und fast nie wirklich aufgeführt wird. Mit seiner Reihe an idiomatischen Sonaten für alle möglichen Instrumente schuf er je auf das Instrument zugeschnittene, die Möglichkeiten ausschöpfende und perfekt ausbalancierte Gattungsbeiträge gerade für die Instrumente, denen sonst wenig Literatur gewidmet ist; in ihrer Gänze bilden diese Sonaten quasi ein Kompendium des Komponierens für die jeweiligen Instrumente.
Technisch präzise und stimmig meistern Denis Lupachev und Peter Laul diese anspruchsvollen Werke der Moderne. Die beiden Musiker stimmen sich dynamisch und artikulatorisch fein aufeinander ab, was besonders das Klavier zu flautierend-singenden Melodieführungen anspornt. Obgleich an dieser Aufnahme nur wenig auszusetzen ist, so springt doch der Funke nicht so recht über und man geht im Großen und Ganzen eher unberührt an dieser Aufnahme vorbei. Mag es daran liegen, dass Denis Lupachev doch nicht ganz die klangliche Flexibilität und Biegsamkeit besitzt, wie sie mir beispielsweise letztens bei Clara Andrada [Zur Rezension] begegnet sind? Oder ist doch die Tontechnik nicht sensibel genug auf die feinsten Schattierungen eingegangen, so dass nun die plastische Ebene fehlt? Woran es liegen mag, es unterminiert die Spannung, die gerade bei solchen wie den hier zu hörenden Werken hoch sein müsste, um all die Kontraste zu genießen und die stilistische Vielfalt dieser Musik zu bewundern.
Naxos hat letzten Sommer mit einer sensationellen Nepomuceno-CD in Zusammenarbeit mit dem brasilianischen Außenministerium eine vorerst auf 30 Veröffentlichungen angesetzte Reihe „The Music of Brazil“ eröffnet, die sich für die Entwicklung der dortigen Musik historisch relevanten Kompositionen widmet – auch jenseits der bekannten Größen wie Villa-Lobos oder Camargo Guarnieri. Die zweite CD bringt nun drei Violinsonaten von Leopoldo Miguez und Glauco Velásquez, gespielt von Emmanuele Baldini (Violine) und Karin Fernandes (Klavier). Auch sie kann qualitativ absolut überzeugen.
Zwei bisher eher unbekannten Namen begegnet man auf der vorliegenden, ersten Kammermusikveröffentlichung der neuen Naxos-Reihe The Music of Brazil: Leopoldo Miguez (1850-1902), aus Rio de Janeiro gebürtig, erfuhr seine musikalische Ausbildung in Spanien, Portugal und Frankreich, bevor er in die Heimat zurückkehrte und ab 1890 das Instituto Nacional de Música leitete. Aus Europa brachte er vor allem die Ästhetik Richard Wagners mit. Bisher hatte – insbesondere in der Kammermusik – ein mehr italienischer Stil mit Melodie plus Begleitung die brasilianische Romantik dominiert. Die halbstündige Violinsonate von 1885 entstand bereits in Brasilien, hat einen Kopfsatz mit symphonischen Dimensionen, formal entsprechend elaboriert, mit erstaunlicher kontrapunktischer Arbeit und emotionaler Tiefe. Das Trio im Scherzo – schon die Viersätzigkeit ist hier erwähnenswert – wird gar durch eine respektable, recht strenge Fuge ersetzt. Das ist dann weitaus mehr als Salon- oder Hausmusik, sondern für den großen Konzertsaal konzipiert.
Glauco Velásquez (1884-1914) war der Sohn eines portugiesischen Baritons; die Mutter stammte aus Rio. Er wuchs zunächst in Neapel auf und studierte ab 1897 dann in Brasilien, wo er, erst dreißigjährig, an Tuberkulose verstarb. Velásquez‘ Stil ist einerseits eklektizistisch – zeigt sowohl italienische wie neudeutsche Einflüsse –, gleichzeitig kühner und nuancenreicher als bei Miguez. Die klangliche Interaktion zwischen Violine und Klavier ist bis ins Detail durchgehört und effektvoll. Auffällig ist, neben den teilweise „tropischen“ Klangfarben, die demonstrative Vermeidung affirmativer Schlusswirkungen. Dabei gibt es zwischen den beiden, nur zwei Jahre auseinanderliegenden, dreisätzigen Sonaten (1909 bzw. 1911) eine bemerkenswerte Entwicklung, sodass sich beim Hören der CD – mit der Miguez-Sonate in der Mitte – eine sukzessive Steigerung ergibt.
Der italienische Geiger und Dirigent Emmanuele Baldini – in seiner Karriere Konzertmeister u.a. an der Mailänder Scala und beim Symphonieorchester von São Paulo – spielt die drei Sonaten mit absoluter technischer Präzision und Hingabe; völlige Souveränität paart sich mit historischem Verständnis und adäquatem Ausdruck, der immer feinsinnig bleibt. Karin Fernandes ist eine gleichwertige Partnerin, mit erfrischender Virtuosität, die nie zum Selbstzweck gerät, und perfekter klanglicher Balance. Auch die Aufnahmetechnik, mit schön eingefangener Räumlichkeit, lässt keine Wünsche offen. Eine echte Entdeckung für Kammermusikfreunde!
Das aus Emeline Pierre, Esther Gutiérrez Redondo, Sandra Garcia Hwung und Marion Platero bestehende Constanze Quartet spielt erstmalig alle drei Streichquartette des deutschen Komponisten Felix Draeseke ein, der zu den spannendsten Komponisten-Entdeckungen seiner Generation zählt. Auf der vorliegenden ersten CD sind zu hören das Quartett Nr. 1 op. 27 in c-Moll und das Quartett Nr. 2 op. 35 in e-Moll.
In Fachkreisen weiß man mittlerweile um Felix Draeseke als
einen der bedeutendsten Komponisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; im
Konzert hört man seine Musik dennoch nur in glücklichen Ausnahmefällen.
Zeitlebens sah sich Draeseke im Zeichen des Fortschritts und doch wurde er in
seinen späten Jahren als Reaktionär betrachtet, insbesondere nach seinem
Mahnruf „Die Konfusion in der Musik“ gegen die Salome von Strauss. Dort schrieb
er unter anderem: „Verständnislos wird man angeblickt, wenn wir die jugendlichen
Hörer aufmerksam machen auf eine edel gestaltete Melodik, ein fein gefügtes
Harmoniegewebe, interessant gegliederte Rhythmik, glatte und abgerundete Form,
schön vermittelte und überraschende
Wiedereinführung von Themen. All diese ehemaligen Schönheitsmerkmale erscheinen
ihnen wie böhmische Dörfer, die sie nie nennen gehört, und nur wenn von
Instrumentation die Rede ist, horchen sie auf, weil nach ihrer Meinung dies neu
hinzugetretene Element der Farbe die drei alten Hauptelemente der Musik weit
überwiegt, und gut instrumentieren mit gut komponieren für gleichbedeutend
angesehen wird. Darüber ist die Melodik fast versiegt, die Harmonik nach einer
übertriebenen Verfeinerung durch immerwährende Steigerungen schließlich bei der
absoluten Unmusik angelangt, während, wie dies leider in Deutschland von jeher
der Fall gewesen, die Rhythmik zu wenig gepflegt, ja geradezu vernachlässigt
erscheint.“ Dabei trifft er durchaus einen Kern der Problematik, mit der Musik
des 20. Jahrhunderts bis heute zu kämpfen hat, und fand in seinen Thesen auch
namhafte Unterstützer; nicht zuletzt Strauss selbst kehrte mit dem
Rosenkavalier in die Sphäre der drei von Draeseke angeführten Grundpfeiler
zurück: Melodie, Harmonie, Rhythmik. Und innerhalb dieser Pfeiler darf das
Schaffen Draesekes fortwährend als modern bezeichnet werden. Er gilt vor allem
als begnadeter Melodiker, der durch geschickte Verschmelzung verschiedener
Motive große Tragweite in seinen Themen erreichte. In kontrapunktischer
Meisterschaft führte er die Themen durch die einzelnen Stimmen durch und formal
weiter. Dabei sticht eine erfrischende Rhythmik hervor, besonders für einen
deutschen Komponisten (wie er es ja selbst im angeführten Zitat erwähnte). Sein
harmonisches Geschick lässt sich auf seine frühe Begeisterung von Liszt und
Wagner begründen, deren Ausdruckswelten Draeseke aber für sich weiterführte.
Eine erschöpfende Darstellung von Leben, Stil und Werk kann auf zehn Seiten (!)
im Begleittext der vorliegenden CD von Norbert Florian Schuck bewundert werden.
Die Streichquartett Draesekes überraschen durch ihre
Subtilität, die gänzlich auf äußeren Effekt verzichtet, ebenso wie auf
Herbheiten und triumphale Gesten. Erst wer die weitgespannte Melodik erfasst,
wird den vollen Charme dieser Meisterwerke entdecken. In schier endlosen Themen
bündelt Deaeseke die Kontraste und gibt Ausgangspunkt für große Entfaltung. Die
Formen der Sätze muten klassisch an und auch die Ausdehnung der Quartette
übersteigt nicht die von Quartetten aus der Wiener Klassik; wohl aber
intensiviert der Komponist die harmonische Spannkraft und die kontrastierenden
Elemente, was den Quartetten eine ungemein dichte Textur verleiht. In minutiös
detailliertem Kontrapunkt herrscht eine konstante Vierstimmigkeit vor, welche
die Dichte noch unterstreicht.
Durch konzentriertes, fokussiertes und inniges Spiel
besticht das Constanze Quartet auf dieser ihrer Debut-CD. Die Musikerinnen
zeigen sich innig ergriffen, ohne dies in äußerlichen Eskapaden darzustellen:
so erhalten wir das Gefühl der Echtheit jeder Emotion, allgemein eine Purität
in jeder Note. Es entsteht ein Glimmern und Funkeln von innen heraus, das die
gesamte Musik wie eine Aura umhüllt. Das Constanze Quartet folgt den Melodien
und spüren die subtilen Überraschungen auf, um sie ebenso plastisch wie charmant
dem Hörer zu übermitteln. Dabei weben sie ein feines und transparentes
kontrapunktisches Geflecht, in dem stets die Richtung klar und nachvollziehbar
bleibt.
Die beiden ausladenden
Klavierkonzerte von Ernst von Dohnányi machen das Programm der vorliegenden CD
mit Sofja Gülbadamova als Solistin aus, die bereits das Soloklavierwerk des
Komponisten für Capriccio aufnahm. Das Erste Konzert op. 5 steht in der Tonart
e-Moll und wurde 1897-98 komponiert, das Zweite Konzert, in h-Moll, entstammt
dem Jahr 1947 und trägt die Opusnummer 42.
Ernst von Dohnányis Klavierkonzerte umrahmen sein Schaffen,
fünfzig Jahre trennen die beiden Werke, die er sich selbst auf den Leib schneiderte.
Das Erste Klavierkonzert e-Moll op. 5 begann er während seiner Lehrzeit bei
Eugen d’Albert am Starnberger See, um damit als Solist zu touren. Knapp 50
Minuten misst das traditionell-romantisch gehaltene Konzert, strotzt dabei im
vollgriffigen Klaviersatz vor technischen Höchstschwierigkeiten. Zu Lebzeiten
Dohnányis gehörte es zu den häufig programmierten Klavierkonzerten, nicht
zuletzt dank des eindrucksvollen Klavierparts; insgesamt ist die Anlage
allerdings recht prätentiös bis plakativ. Lärmend hangelt sich das Konzert von
Höhepunkt zu Höhepunkt, geht verschwenderisch mit großen Tonmengen um und
verliert sich im Übermaß. Von ganz anderem Kaliber präsentiert sich da das
spätere Konzert, zwar ebenso gesättigt von pianistischem Blendwerk, was aber
hier viel mehr der musikalischen Substanz dient und den Themen auch den nötigen
Platz zur Entfaltung gibt, ohne sie durch immer neue Solopassagen zu ersticken.
Meisterlich vor allem der Mittelsatz, ein herrliches Variationswerk im Adagio,
das grazil aus dem Kopfsatz entspringt.
Staunend steht der Hörer vor der brillanten Technik Sofja
Gülbadamovas, die unbeschwert eine Hürde nach der nächsten meistert und dabei
auch musikalische Substanz offenbart. Präzise und elegant schwingt sie sich in
die Höhen und beleuchtet beide Hände gleichermaßen luzide, verfällt zu keiner
Zeit in Starrheit oder verliert den Fokus auf die hinter der Technik stehenden
Musik. Das Zweite Konzert nehmen auch die Orchestermusiker unter Ariane Matiakh
farbenfroh differenziert; im e-Moll-Konzert op. 5 hingegen lässt sich das
Orchester blenden von der Wucht und geht in aller Ruppigkeit mit. Doch gerade
hier würde ausgeglichenes und abschattiertes Spiel Gewinn bringen, denn die
Unnachgiebigkeit hebt eine Gewalt in der Partitur hervor, die differenziertes
Spiel umgehen könnte.
Nach ihrer Duo-CD mit dem Klavierpartner David Fung legt die Geigerin So Jin Kim nun eine Produktion mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester Mannheim vor. Für die schlanke Besetzung dieses Klangkörpers lag die Entscheidung für Mozarts Violinkonzerte KV 216 und 219 auf der Hand – Stücke, die erklärtermaßen wie eine Energiequelle für So Jjin Kim wirken. Mit Stefan Pieper sprach sie über diese Musik und die emotionalen Voraussetzungen dafür. Aber es ging auch um ihr Festival, das hoffentlich im Sommer im koreanischen Yeosu Premiere hat.
Wie geht es Ihnen unter den momentanen Umständen?
Ich habe viel freie Zeit. Zum Glück habe ich eine feste
Stelle als stellvertretende Konzertmeisterin in einem Orchester und damit immer
noch ein festes Auskommen. Aber es sind auch bei mir viele Konzerte
ausgefallen. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen, die Freelancer sind, haben
jetzt ein echtes Problem. Für die, denen jetzt gerade eine fest geplante Tour platzt,
ist es besonders schlimm. Es zahlt sich jetzt aus, gut vorgesorgt zu haben. Gut
aufgestellt ist, wer auf eine Mischkalkulation aus verschiedenen
Einnahmenquellen zurück greifen kann. Es überrascht mich die optimistische
Stimmung, die in den sozialen Medien herrscht.
Teile Ihrer Familie leben ja in den USA und in Südkorea. Was ist anders dort?
Es kommt mir so vor, als ob in Korea die Menschen schon das
Schlimmste mit der Corona-Epidemie überstanden haben und die Menschen die
Situation in den Griff bekommen. Dort wurde meiner Meinung nach auch besser
reagiert. Alle verdächtigen Personen sind sofort isoliert worden – und das
Gesundheitssystem ist viel effektiver dort!
Wirkt sich eine andere Kultur/Mentalität aus?
Unbedingt. Der Lebensstil ist anders. Das zeigt sich schon
im Alltagsleben: Alles wird in Korea online bestellt und geliefert und es
drängeln sich keine Menschenmassen in den Supermärkten.
Wie gestalten Sie Ihre freie Zeit?
Es ist schön, Zeit mit dem Instrument zu verbringen. Ich
blicke in die Zukunft und will das Repertoire erweitern, Solokarriere und
Orchesterjob verbinden und ein eigenes Festival planen.
Warum haben Sie sich für Ihre aktuelle Aufnahme für diese zwei Mozart-Violinkonzerte entschieden?
Beide Konzerte sind eine Art Pflichtprogram für Geiger. Man
kommt um diese Stücke nicht herum. Jeder Violinist muss sie spielen, zu allen
Gelegenheiten: Für Bewerbungen, in Wettbewerben bei allen erdenklichen Jobs.
Normalerweise symbolisieren solche Stücke viel Stress und Erwartungsdruck, weil
so vieles davon abhängt. Auch ich habe das ganze durchgemacht.
Da bin ich jetzt aber sehr neugierig, warum Sie gerade
mit diesen Konzerten ins Aufnahmestudio gehen. Und wo das Geheimnis liegt, dass
schließlich doch so eine beseelte Musik heraus kommt!
Eigentlich ist es ganz einfach: Mozarts Musik erhebt sich
auf Anhieb über alle schwierigen Begleitumstände. Beide Konzerte verkörpern für
mich eine absolute Reinheit. Die Natürlichkeit der Phrasen erzeugt auf Anhieb
so viel emotionale Wärme in mir. Die Außenwelt kann noch so aufreibend sein,
sobald ich diese beiden Konzerte spiele, geben sie mir Momente, die
ausschließlich mir gehören. Sogar in Wettbewerbssituationen haben mir Mozart
(und auch Bach!) das starke Gefühl vermittelt, dass ich gerade etwas für mich
mache.
Gibt es trotzdem so etwas wie Schwierigkeit?
Oh ja – und wie! Da ist der Prozess, um eine Idee im
tiefsten Inneren nach außen lebendig zu machen und zwar so, dass diese in der
Musik wirkt und diese lenkt. Kreative Ideen entstehen im Kopf – von da ab ist
es ein langer Weg, diese zum Leben zu wecken. Da kommt immense Arbeit und viel
Technik ins Spiel, bis schließlich alle Vorstellungen real sind.
Haben Sie bestimmte Bilder im Kopf?
Bei mir geht es in dieser Hinsicht nicht so visuell zu. Für mich steht Mozart für eine ganz bestimmte Emotion. Egal was Mozart komponiert, da ist nie etwas Angestrengtes im Spiel, kein negatives Gefühl oder gar Aggressivität. Andere Komponisten bringen häufig auch Affekte wie Tragik, Trauer und Wut zum Ausdruck. Auch dabei kann große Musik heraus kommen. Mozart markiert eine andere Welt. Er hatte ja wirklich ein verrücktes Leben, war aber fähig, daraus das Schönste, Dramatischste und Tiefste zu schöpfen.
Denken Sie überhaupt noch über Technik nach?
Die Technik auf der Violine ist kein Selbstzweck, sondern
einfach da. Ich möchte die Emotion dahinter aufspüren. Auch wenn gerade Trauer
dominiert, erwächst bei Mozart doch immer eine schöne Farbe daraus. Das
wunderbare ist hier auch, dass diese Empfindungen von Menschen sehr unmittelbar
geteilt werden, die gar keine Kenntnisse von Klassik haben. Mozart kann jeden
an einen froheren und glücklicheren Platz bringen.
Was wollen Sie Ihrem Publikum mit einer CD-Aufnahme
weitergeben?
Es geht immer darum, auf dem Weg der Musik den besonderen Moment zu finden. Aber alles, was wir machen, ist temporär. Daraus erwächst das Bedürfnis, etwas Dauerhaftes zu schöpfen. Etwas zu erzeugen, das man immer wiederholen möchte. Und mit dem sich ein gemeinsamer Nenner beim Publikum und bei den Hörern zuhause finden lässt.
Wie kam es zur Aufnahme gerade mit diesem Orchester?
Ein gemeinsames Projekt mit dem Kurpfälzischen
Kammerorchester ist ein Glücksfall für mich. Ich hatte schon vorher von diesem
Orchester gehört. Diese Musiker sind sehr offen und wunderbar flexibel. Allein
deswegen wollte ich sofort mit ihnen arbeiten. Erst danach fiel die Wahl auf
Mozart. Dass wir in der Mannheimer
Epiphaniaskirche aufgenommen haben, geht ebenso auf meine persönliche Wahl
zurück. Es hatte mehrere Alternativen gegeben.
Warum ist ein kleines Orchester für dieses Unterfangen so
prädestiniert?
Die Instrumentierungen bleiben schlank und das passt
unmittelbar zu Mozarts eigenem Schaffenskontext: Mozart schrieb für sich
selber, dirigierte und spielte.
Sie spielen und dirigieren ja auch abwechselnd. Wie wirkt
sich das auf die Kommunikation aus?
Der Dirigent ist normalerweise Kommunikator zwischen Solist
und Orchester. Bei einem kleinen Orchester ohne Dirigent ist die Verbindung
viel unmittelbarer. Davon profitieren auch die Proben: Sie machen viel Spaß und
alles geht scheinbar wie von selbst. Das kommt nicht zuletzt den
opernhaft-dramatischen Aspekten in Mozarts Kompositionen zugute.
Wie sehen Sie das spezifisch opernhafte in Mozarts Musik?
Oper heißt ja, dass die Musik Geschichten erzählt. Alles hat eine Bedeutung und sagt etwas. Mozarts Opern transportieren viel Menschlich-allzu-Menschliches. Egal ob die „Hochzeit des Figaro“ oder auch „Don Giovanni“ – alles kommt aus dem prallen Leben! Und diese Natürlichkeit im Ausdruck lässt bei Mozart immer den Funken überspringen.
Sie hatten gerade schon Ihr eigenes Festival
angesprochen. Darüber möchte ich gerne noch mehr erfahren.
Es soll – wenn alles so kommt wie erhofft – in Yeosu in Südkorea stattfinden. Dort leben auch meine Eltern. Es ist ein ganz toller Platz am Meer. Im Jahr 2012 wurde hier anlässlich der Expo eine spektakuläre Halle gebaut. Ich habe mich für ein Festival mit klassischer Musik an diesem Ort stark gemacht. Ich möchte hier vor allem junge Musiker präsentieren, bevorzugt kleinere Kammerensemble. Dabei ist mir an einem zeitgemäßen Konzept gelegten, den Menschen in dieser Stadt die klassische Musik nahe zu bringen.
Was für Prioritäten setzen Sie hier?
Wir haben ja gerade schon über diese besonderen Momente
gesprochen. Mir ist an Musikern gelegen, die so etwas transportieren können.
Denn das kann Schlüsselerlebnisse für die klassische Musik vermitteln. Ein
sinnvolles Festivalprogramm sollte einem klaren Narrativ folgen, denn es geht
doch auch um die Geschichten hinter der Musik. Und zwar für ein Publikum, das
nicht zu den Spezialisten gehört. Mein Ziel ist es, dass die Klassik das
Elitäre abschüttelt und sich Schwellenängste abbauen. Das wichtigste bleibt
aber, wie die Musiker spielen. Mittelmaß hat in klassischer Musik nichts
verloren. In der Popkultur mag sich vieles über schöne Dekoration definieren.
In der Klassik ist echte Substanz alternativlos und gerade dadurch geht diese
Musikform einen bedeutenden Schritt weiter.
Wie motiviert man die medial dauerberieselten Menschen,
diesen Schritt mitzugehen?
Es ist schwerer geworden. Die sozialen Medien diktieren eine
Kultur der Kurzlebigkeit. Keiner guckt mehr ein Video, das länger als 5 Minuten
ist. Jeder will alles immer kürzer. Das ist dass genaue Gegenteil von Klassik –
und genau da wird die Vermittlung zur Herausforderung. Eine ganze Komposition
hören, kann manchmal heißen, ein ganzes Leben zu durchlaufen.
Auf dem SOMM-Label hören wir drei
Werke für Klavier und Orchester, komponiert von zwei britischen Komponisten mit
zwei Generationen Abstand. Dora Bright stand mit ihrem 1. Klavierkonzert und
den Variationen, hier gespielt von Samantha Ward, noch völlig im 19.
Jahrhundert, während Ruth Gipps in ihrem Konzert (Solist: Murray McLachlan) bereits
mehr mit dem Stil ihrer Lehrer – vor allem Gordon Jacob – liebäugelte. Als
Bonus-Track spielt das Royal Liverpool Philharmonic Orchestra unter Charles
Peebles noch Gipps’ kurze Orchesterstudie “Ambarvalia”.
War erst zu Beginn letzten Jahres eine Chandos-CD der Symphonien Nr. 2 & 4 von Ruth Gipps (1921-1999) erschienen (siehe meine Kritik hier), legte SOMM im Herbst nochmal mit Gipps‘ relativ frühem g-Moll Klavierkonzert op. 34 (1947) nach. Die gleich quasi als Wunderkind – vor allem am Klavier – hervorgetretene Komponistin blieb zeitlebens der Tonalität treu und generell anti-modernistisch. Im Klavierkonzert, das bereits im ersten Solo die Vollgriffigkeit der Gattungsbeiträge von Arnold Bax oder Arthur Bliss teilt, kann man wie in vielen anderen Werken Gipps‘ aus diesem Zeitraum wieder eine deutliche Vorliebe für modale melodische Wendungen finden. Meisterhaft ist die immer atmosphärisch punktgenaue Einbindung von Bläsersoli in den Gesamtkontext; überhaupt ist die Orchestrierung – man spürt die Schule Gordon Jacobs – überaus farbig und hält den gesamten, immerhin knapp 15-minütigen Kopfsatz lebendig. Leider nivellieren hier der Pianist Murray McLachlan – immer schon Spezialist für britische und russische Klaviermusik des 20. Jahrhunderts – und Dirigent Charles Peebles die durchaus gegenstrebigen Charaktere von energischem Vorwärtsdrängen und zarter Lyrik ein wenig zugunsten von Letzterem; an sich ist die Darbietung jedoch tadellos. Im Verhältnis zum ersten Satz sind der folgende, langsame und das Vivace-Finale doch recht konventionell, aber dennoch interessant und hübsch anzuhören. Im Finale wird kokette Virtuosität geschickt mit Pseudo(?)-Folkloristik verbunden – der Schluss ist geplant wirkungsvoll.
Die zwei Generationen ältere Dora Bright (1862-1951 – über sie gibt es im Gegensatz zu Gipps seit neuestem sogar einen MGG-Artikel) war trotz des hohen Alters komplett ein Kind der Romantik. Ihr erstes Klavierkonzert (a-moll) von 1888 steht noch ganz im Einflussbereich Chopins oder Griegs, versucht aber erst gar nicht, dem „Biss“ männlicher Komponistenkollegen nachzueifern. Tatsächlich gelingt Bright ein, wie auch immer, weiblich erscheinender Gegenentwurf: kein Auftrumpfen, sondern scheue Zurückhaltung in Schönheit. Die Konsequenz, gerade im Kopfsatz, ist erstaunlich; dieser wirkt aber dann doch insgesamt zu zahm, trotz etlicher guten melodischen Einfälle und stellenweise jugendlichen Überschwangs. Die Naivität der beiden anderen Sätze zeugt aber noch von großer Unreife. Auf einem ganz anderen Level sind dann die zuletzt 1910 revidierten Variationen für Klavier und Orchester: Als Großes eine Brückenform schnell – langsam – schnell bildend, ist jede der sieben Variationen für sich trefflich, aber gleichzeitig Teil einer Entwicklung. Die Instrumentation ist ebenfalls deutlich elaborierter als im Konzert: Ein Werk, das wirkliche Beachtung verdient!
Samantha Ward spürt den Besonderheiten von Brights
Musik mit größter Sensibilität nach. Ihr Klavierklang ist immer anheimelnd und
voll positiver Energie – jedes harmonische Detail kommt hier zu seinem Recht,
souverän und unaufgeregt. Es ist ein echter Genuss, ihr zuzuhören, was so
manche Schwächen der Kompositionen vergessen macht. Der Einsatz des Royal
Liverpool Philharmonic Orchestras ist von Ernsthaftigkeit geprägt –
naturgemäß sind Musiker und Dirigent bei Gipps‘ entwickelterer Orchestersprache
mehr in ihrem Element. Wer nicht auf absolut geniale Eingebungen wartet, wird
mit dieser aufnahmetechnisch überzeugenden Einspielung durchaus seine Freude
haben.
Der in Moskau geborene
Violinist Ivan Pochekin nimmt die beiden Violinkonzerte a-Moll op. 77 und
cis-Moll op. 129 seines Landsmannes Dmitri Schostakowitsch auf. Als Partner
holt er sich hierfür das Russische Nationalorchester unter Stabführung von
Valentin Uryupin ins Boot.
Die beiden Violinkonzerte von Dmitri Schostakowitsch glimmen
umhüllt von Melancholie und nächtlicher Finsternis. Virtuositäten stehen die
meiste Zeit vollständig im Hintergrund, statt dessen leiten uns schier
unendliche Kantilenen den Weg durch diese vertrackten Meisterwerke. Die Musik
besitzt ungeheure Tragkraft in ihrer Expressivität und dem gemächlichen, aber
beständigen Strom nach vorne. Während im Ersten Violinkonzert noch so etwas wie
Hoffnung durchschimmert und zumindest die beiden vergleichsweise kurzen
Allegro-Sätze Lebensfreude ausstrahlen, kristallisiert sich im Zweiten Konzert
eine Ausweglosigkeit heraus, die bedrückt.
Ein differenzierter und ausdrucksstarker Ton zeichnet Ivan
Pochekin aus, er kostet gerade die langen Melodien voll aus, um in ihrer
Emotionalität aufzugehen. Besonderen Wert legt er hierbei auf die
unterschiedlichen Abwandlungen der Motive, die er durch leichte Akzente
unterstreicht. Die Brillanz seiner Intonation besticht dabei. Auch formal hält
er gerade das Erste Konzert eisern zusammen, indem er auf die große Linie und
den umfassenden Bogen achtet. Stellenweise hätte er in den ruhigen Sätzen sein
Vibrato mehr ausdifferenzieren, und nicht auf immer die gleiche Schwingung
setzen können, dafür dürfte gerade das Scherzo des Ersten Konzerts noch
ausgelassener wirbeln. In der Kadenz behält er nicht den Fokus, die von
Schostakowitsch klar vorgezeichnete Linie mitzugehen, zu früh zieht er nach
vorne und präsentiert sich als Virtuose, anstatt die doppelbödige Zurückhaltung
zu genießen. In den beiden Finalsätzen glänzt er wieder durch präzise
Akzentuierung und rhythmische Finesse, die besonders dann großen Charme erhält,
wenn die Geige gegen das Orchester anzukämpfen hat und im Takt konkurriert.
Die Streichersektion des Russischen Nationalorchesters gerät passagenweise ins Murmeln, die Motive verschwimmen in eine reine Klangsphäre, wodurch das Wechselspiel der Instrumente verloren geht. Auch manche Details der Bläser, die insgesamt ausgeglichener an die Oberfläche kommen, erhalten nicht die notwendige Intensität: Das Scherzo des Konzerts op. 77 beispielsweise beginnt mit einem Duett aus Flöte und Bassklarinette; diese spektakuläre Instrumentation würde ich als Hörer gerne auch aktiv wahrnehmen.
Insgesamt eine vom Solisten Ivan Pochekin größtenteils überzeugende Aufnahme, mit der leider das Orchester nicht mitzuhalten vermag.
Die beiden Schwestern Karolina und Erika Öhman präsentieren als UmeDuo
Werke für Cello und Schlagwerk. Zu hören sind ausschließlich Auftragswerke des
Duos: Gina et Fio von André Chini (geb. 1945), Bells and Tides von Jenny Hettne
(geb. 1977), re/wind/re/write – fast-forward version von Ricardo Eizirik (geb.
1985), Stenar – Aska, aska von Esaias Järnegard (geb. 1983), Never-Ending
Journey von Leilei Tian (geb. 1971), Whereabout I von Ivo Nilsson (geb. 1966)
und Se… von Farangis Nurulla-Khoja (geb. 1972).
Als Karolina und Erika Öhman sich
2008 als UmeDuo zusammentaten, bemerkten sie erst, wie wenig Werke es für ihre
Besetzung Cello und Schlagwerk gab. So begannen die beiden Musikerinnen,
Kompositionsaufträge zu vergeben an Komponistinnen und Komponisten, die einen
gewissen Bezug zu Schweden haben, das Heimatland der beiden Schwestern. Laut
eigenen Aussagen reagierten die Tonsetzer durchweg begeistert und verkündeten
fast alle, Cello und Schlagwerk seien ihre Lieblingsinstrumente. Sieben der
zahlreichen aus diesem Vorhaben resultierenden Werke nahmen Karolina und Erika
Öhman nun für NEOS auf.
Die CD beginnt sogleich mit einem wahrlich
eigenständigen wie originellen Werk, das seine Inspiration aus dem Anime Porco
Rosso zieht. Um keine der beiden in ihn verliebten Frauen Gina und Fio zu
verletzen, verschwindet das Schwein in seinem roten Flugzeug, die Frauen werden
Freunde. André Chinis Werk thematisiert nun die Unterhaltungen von Gina und Fio
und setzt sie in Musik um. In klarer musikalischer Handschrift nehmen wir bildlich
die unterschiedlichen Arten der Kommunikation wahr, spüren das Miteinander der
beiden Partnerinnen. Ebenso stark beginnt Bells and Tides von Jenny Hettne, in
dessen Entstehen die beiden Musikerinnen stark einbezogen wurden; alleine schon
zur Findung der geeigneten Schlaginstrumente, die schließlich das Fundament des
Stücks auf ein vierteltönig herabgestimmtes F definierten. Im ersten Teil des
Stücks spürt der Hörer das ständige Expandieren und Kontrahieren der Gezeiten,
begleitet von den Glocken, die seit jeher Inspirationsquelle von Komponisten
waren. Der deutlich kürzere zweite Teil hingegen bleibt mir unverständlich, da
ich weder neue Aussagen, noch aufhörenswerte Klänge darin finde. Ebenfalls
überlang empfinde ich „Wherebout I“ von Ivo Nilsson, das durch die meditativen
Sphären zwar eine Art Ruhepol der CD bildet, diese aber nicht über mehr als
zwölf Minuten tragen. In diesem Werk werden alle Schlagwerke gestrichen, so
dass nach und nach die Wahrnehmung der Perkussion verwandelt wird. Laut Booklet
ist „Whereabout I“ Teil eines vierteiligen Zyklus für unterschiedliche
Besetzungen, der getrennt oder gleichzeitig gespielt werden kann (meint
„gleichzeitig“/“samtidigt“ hier tatsächlich parallel zur gleichen Zeit oder
nacheinander?). „Se…“ aus der Feder Farangis Nurulla-Khojas nimmt das
Schlagwerk in den Vordergrund und fokussiert sich auf mikroskopische
Klangelemente, denen die ganze Aufmerksamkeit geschenkt wird. Gotländisch
eisige Kälte erwartet uns in Esaias Järnegards „Stenar – Aska, aska“ (Steine –
Asche, Asche), einem modernen Klanggemälde der Winterlandschaft auf dieser
rauen Ostseeinsel, das die Isolation zu vermitteln vermag. Thematisch möchte
man es als beinahe als Fortsetzung von Vaughan-Williams‘ Arctic Symphony
bezeichnen, wenngleich natürlich in ganz anderem und vor allem einzigartigem
Stil. Leilei Tian mischt asiatische und europäische Klänge in ihrer Never-Ending
Journey, einem meditativen, aber parallel in sich geschlossenen und
funktionierenden Stück. Die langen Melodien des Cellos verzaubern und
begeistern durch ihre Sanglichkeit. Mein persönliches Highlight dieser CD ist
re/wind/re/write von Ricardo Eizirik, ein heiteres Werk, das einen
Kassettenrecorder abbildet. Immer wieder wird der Recorder zurückgespult,
verlangsamt oder beschleunigt; dabei stellt das Cello den Recorder dar, der vom
Schlagwerk „bedient“ wird. Bei diesem Werk handelt es sich aber nicht bloß um
ein Witzstück, sondern errichtet sich auf fundierter Klangforschung und
präsentiert sich genau abgehört bezüglich der Form, die in sich perfekt
aufgeht. Re/wind/re/write nimmt bestimmte Elemente wieder auf, aber verirrt
sich nicht in Wiederholungen, sondern bringt zum genau richtigen Moment Neues,
so dass es immer wieder für Überraschungen sorgt.
Gottlieb Wallisch
erkundet den Foxtrott in Europa: Was haben die Komponisten aus den
amerikanischen Jazztänzen gemacht? Der erste Teil dieser Forschungsreise bringt
uns nach Österreich und Tschechien. Als österreichischen Repräsentanten dieser
CD hören wir Ernst Krenek mit dem Potpourri aus der Oper „Jonny spielt auf“
(arr. Jenő Takács) und dem Foxtrott „Der Sprung über den Schatten“ op. 17 (arr.
Gustav Blasser), Julius Bittner mit dem „Shimmy auf den Namen Bach“, Ralph
Benatzkys „Drei Stücke aus dem Ballett ‚Die Fünf Wünsche‘, Franz Mittlers
Foolish Spring, dann Shimmy und Tango aus dem Tanzspiel „Baby in the Bar“ von
Wilhelm Grosz (arr. Gustav Blasser), Leopold Krauss-Elka mit dem
Tannhäuser-Foxtrott, Lied an den Morgenstern, Hans Eislers Shymmy-Tampo und schließlich
Illusion-Foxtrott und Arizona-Foxtrott von Felix Petyrek. Aus Tschechien kommen
der Bugatti Step und Ozveny z music-hallu aus der Feder von Jaroslav Ježek, Vier Tänze op. 39 von Alois Hába und
Foxtrott, One-Step sowie Black Bottom von Bohuslav Martinů. Ferner
erklingen The Kingdom of Heaven von Karel Boleslav Jirák, City Shimmy von
Jaromír Weinberger und zwei Auszüge aus „Groteske“ von Erwin Schulhoff in der
Klavierfassung des Komponisten.
Nach dem Ersten Weltkrieg schwappte eine gewaltige Welle des
Jazz aus Amerika nach Europa über. Diese neuartigen Klänge und die kecke
Rhythmik begeisterten das Publikum, dem nach Aufschwung und frischer
Lebendigkeit zu Mute war. Auch zahllose Komponisten wurden eingenommen von
dieser Musik, besonders von der erweiterten Harmonik, die genau ins Konzept der
musikalischen Moderne passte. Manche Komponisten wollten diesen neuen Stil
imitieren und möglichst authentische Stilkopien schaffen, andere integrierten
jazzige Elemente in die europäisch-moderne Musik: die Palette an Schattierungen
zwischen diesen Polen ist groß. Berühmte Beispiele kennen wir vor allem aus
Frankreich von der Groupe des Six, sowie von Debussy und Ravel, aber auch von
Strawinsky und später von Bernd Alois Zimmermanns „Nobody knows the trouble
I’ve seen“. Von der anderen Seite her, also aus dem Jazz kommend, kennt man
Gorge Gershwin und Duke Ellington als geniale Gradwanderer zwischen den Stilen.
Die Beiträge der hier vorliegenden CD gehören größtenteils
zu den unbekannten oder vergessenen Komponisten, bei denen es sich Größtenteils
um Tonsetzer der Universal Edition handelt, welche auf die Welle aufsprang und
große Bände mit „Modern Jazz Music“ publizierte. Lediglich die Namen Krenek,
Eisler und Schulhoff hätte ich tatsächlich im Programm erwartet und auch verdutzt
es nur wenig, Martinů unter den Komponistennamen zu lesen, wenngleich der Jazz
seine Musik im Allgemeinen nur wenig ausmacht. Als Überraschung dient wohl
Alois Hába, der musikgeschichtlich vor allem durch seine mikrotonalen
Experimente inklusive extra dafür konzipierter Instrumente von sich reden
machte. Seine neoromantisch tonalen Werke gerieten dahingegen schnell in
Vergessenheit; und mit jazzbeeinflussten Tänzen hätte wohl keiner gerechnet.
Die restlichen Namen kursieren lediglich in kleineren Kreisen, die meisten
zählen heute entweder rein oder zumindest teils auch als Setzer von
Unterhaltungsmusik, wobei andere wie vor allem der bei Guido Adler und Franz
Schreker studierte Felix Petyrek der Neuen Musikszene zugeordnet werden.
Petyrek geriet in den Brennpunkt der Öffentlichkeit durch seine Sechs grotesken
Klavierstücke, die verschiedene Stile auf die Schippe nehmen.
Ein Großteil der Beiträge entstand, noch bevor die großen
Jazzkapellen und Stars der Szene Europa erreichten, man kannte die Musik in
erster Linie von Schallplatten oder aus Cafés, deren Musiker vor allem der Mode
folgten, selbst aber nicht unbedingt die größte Ahnung von dieser Musik hatten.
Kurzum wurde alles als Jazz angesehen, was synkopiert war und vor Septimklängen
strotzte. Entsprechen vielseitig gestalten sich auch die hier zu hörenden
Nummern, die teils nur wenig mit echtem Jazz zu tun haben, teils aber auch aus
profunder Klangforschung heraus entstanden. Der Gedanke eines immer
wiederkehrenden Refrains war besonders verbreitet, eingängig zu hören bei
Petyrek und Ježek. Interessant
gestaltet sich auch Bittners Shimmy über B-A-C-H, wobei er nicht den
Barockmeister, sondern einen jazzbegeisterten Kritiker rühmte, der „abgedroschenen“
Floskel B-A-C-H aber ganz neue Möglichkeiten entlockte.
Gottlieb Wallisch
zeigt sich als feiner und leichtfüßiger Pianist, der ohne Pathos und
Überspitzungen dieser Musik Witz und Lebendigkeit einhaucht. Mit einfachsten
Mitteln geht er an diese unterhaltsame Musik heran und schafft so eine
mitreißende Unbekümmertheit. Dabei gestaltet er die Melodien sanglich aus, dass
sie stets organisch bleiben. Der Witz entsteht rein durch die Charakteristika,
die in der Musik selbst vorhanden sind: manch ein Pianist würde sie sofort
unterstreichen und ihnen eben dadurch den Reiz der Subtilität nehmen, während
Wallisch ihnen gerade durch die Beiläufigkeit ein keckes Glimmen entlockt.
Das Trio Palladio spielt Klaviertrios des lettischen Komponisten Pēteris Vasks: Lonely Angel in Form der zweiten Reinterpretation eines Streichquartettsatzes, Episodi e canto perpetuo und Plainscapes in einem eigenen Arrangement von 2011 stehen auf dem Programm.
Die ewige Weite, die Melancholie und ein übersinnliches
Moment zeichnen die Musik von Pēteris Vasks aus. Die Handschrift seiner Musik
appelliert unmittelbar an das Innerste des Hörers, die Klänge entzücken und
bringen uns in tranceähnlich meditative Zustände. Wen könnte diese sinnlich
übersinnliche Musik kalt lassen?
Die Meditation „Lonely Angel“ ging um die Welt und
versinnbildlicht die tiefe Sehnsucht von Vasks‘ Musik. Ursprünglich handelte es
sich um den fünften Satz des Vierten Streichquartetts, 2006 arbeitete der
Komponist diesen dann für Violine und Streichorchester um, was von Gidon Kremer
uraufgeführt wurde (zudem gibt es eine grandiose CD-Aufnahme mit Alina
Pogostkina und Juha Kangas). Für die vorliegende Produktion arbeitete Vasks das
Werk erneut um, nun für Klaviertrio: diese Version erklingt zwar auf der
Platte, wurde allerdings bislang noch nicht im Konzert aus der Taufe gehoben.
Aufbrausender präsentieren sich die Episodi e canto perpetuo, ein knapp
halbstündiger Kampf zwischen Licht und Dunkelheit und zudem das einzig genuin
für Klaviertrio konzipierte Werk dieser Aufnahme. Vasks wagt sich an
modernistische Effekte und tösende Klangfluten, verliert aber dennoch nie die unverkünstelte
Ästhetik und die pure Schönheit der Musik. Plainscapes schafft eine
Hyperbildlichkeit, wie wir sie sonst nur von Debussy oder Ravel erwarten
würden, deren Klangsprache Vasks allerdings nicht einmal tangiert. Ursprünglich
besetzt für Chor mit Instrumenten, beschreibt Plainscapes die Landschaft von
Semgallen. Die Musik beginnt erneut mit einem „ewigen Gesang“, schwerelos und
absolut magisch, bevor auch hier die Dunkelheit eintritt. Rhythmisch vertrackte
Passagen mit gleichförmiger Gegenüberstellung von unterschiedlichen triolischen
und duolischen Notenwerten formt die Landschaft.
Die Musik von Pēteris Vasks spricht durch sich selbst; den
Musikern wird vor allem ein feines Gehör und innere Ruhe abverlangt, dem Fluss
zu folgen, ohne zu stocken. Das Trio Palladio schwebt geradezu durch Lonely
Angel und Plainscapes: ohne Härte und Widerstand trifft es den Kern der
Tongebung und eröffnet so für den Hörer die Unendlichkeit dieser Musik. Grandios
gelingen die auftürmenden Passagen in Episodi e canto perpetuo, die äußerst
schwierig in der Darstellung sind: schnell verleitet einen die Musik dazu, zu
hämmern oder vertikale Wucht walten zu lassen. Doch die Musiker bewahren sich
erfolgreich davor und schaffen auch hier eine voluminöse Nachgiebigkeit, die
der Musik Samtheit bis in die wilden Momente verleiht.
Fast 49 Jahre nach dem wohl
größten Konzertskandal Nachkriegsdeutschlands hat das neu zusammengelegte SWR
Symphonieorchester unter Peter Eötvös 2017 die erst zweite CD-Einspielung von
Hans Werner Henzes Oratorium „Das Floß der Medusa“ in der Hamburger Elbphilharmonie
aufgenommen. Die Solisten waren Camilla Nylund, Peter Schöne und Peter Stein –
nicht nur akustisch ein echter Glücksfall, den man nun auch zuhause anhören
kann.
Der angesetzten Hamburger Uraufführung von Hans
Werner Henzes (1926-2012) „Oratorio vulgare e militare in due parti“ Das Floß der Medusa durch den Komponisten war am 9.12.1968 durch einen
massiven Polizeieinsatz ein jähes Ende bereitet worden; der Skandal erzeugte
einen derartigen Presserummel, dass man darüber wohl ganz vergessen hat, sich
ästhetisch weiter mit Henzes vielleicht erstem, wirklich großformatigen „politischen“
Werk auseinanderzusetzen. Schon im Vorfeld hatte seinerzeit Der Spiegel polemisiert, Henze sei nur „der alte Ästhet, der gepflegte Epigone, der geschmäcklerische
Eklektizist“. Geblieben ist ein Mitschnitt der Generalprobe durch
den NDR (auf Deutsche Grammophon) – die eigentliche Uraufführung fand 1971 im
Wiener Musikverein statt; danach war es lange still um das Stück.
Nachdem Henze 1990 den unmittelbaren Schluss revidiert hatte – der Schlagzeug-Rhythmus des „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“-Protestrufs wird melodisch umwölkt – gab es auch nur spärlich Aufführungen. Dass das aufwändige Stück gerade in den letzten Jahren – zufällig oder bereits geplant? – nun öfters zu hören ist, mag in Koinzidenz zur Flüchtlingskrise im Mittelmeer mit zehntausenden Opfern nicht wirklich verwundern. In jedem Fall erweist sich Henzes Mahnung als aktueller denn je. Die historische Schiffskatastrophe von 1816 – ihr folgte noch ein Justizskandal – war drei Jahre danach von Théodore Géricault in seinem berühmten Gemälde La Radeau de la Méduse festgehalten worden, das Henze als emotionale Basis verwendet. Das Oratorien-Libretto von Ernst Schnabel kennt neben dem großen Chor einen Sprecher (Charon), den Seemann Jean-Charles (Bariton) und die allegorische Figur la Mort (Sopran); die räumliche Aufteilung des Chores sieht vor, dass die Sänger*innen nach und nach von der Seite des Lebens auf die Seite des Todes wechseln. Das klingt in der alten Aufnahme – insbesondere die Sopranistin betreffend – wie künstlich am Mischpult hergestellt; in der Neuaufnahme hört man davon wenig, dafür ist die räumliche Abbildung insgesamt überzeugender.
Alle Vokalisten der Neuproduktion erweisen sich als
vortrefflich: Camilla Nylunds Sopran
klingt durchaus gefährlich, das nervig Schrille von Edda Moser fehlt ihr jedoch
glücklicherweise. Peter Schöne
erreicht zwar nicht ganz die eindringliche Wärme von Dietrich Fischer-Dieskau, zeigt
aber dennoch berührende Ausdrucksstärke – und singt weniger falsche Noten. Die
eigentliche Überraschung ist Regisseur Peter Stein:
rhythmisch sicher und klanglich Charles Regniers Charon
nicht unähnlich, ist sein Vortrag immer voller Anteilnahme und verzichtet völlig
auf das leicht Spöttische, Regniers Markenzeichen, in Henzes Oratorium freilich
eher deplatziert. Die Chöre intonieren sicherer, wie eigentlich alles an der
neuen Aufnahme werden sie zudem akustisch deutlich besser eingefangen – und die
Freiburger Domsingknaben sind dem Knabenchor von 1968 haushoch überlegen.
Peter Eötvös hat
erst 2016 selbst ein Orchesterstück komponiert, das die Flüchtlingsthematik
reflektiert: Alle vittime senza nome. Unter
seiner souveränen Leitung klingt das Riesen-Orchester nun ebenfalls durchsichtiger,
einzelne Klangfarben kommen besser zur Geltung; Eötvös versteht vollkommen die
Henze-typischen musikalischen Zeichen.Der Dramaturgie als Ganzes entlockt er so manchen
Gänsehaut-Moment. So fügt sich in der SWR-Aufnahme alles geradezu perfekt
zusammen und präsentiert dem Zuhörer Henzes komplexes, aber aufrüttelndes
Oratorium – jenseits aller Skandale und Eklektizismus-Diskussionen – als das,
was es ganz sicher ist: ein musikalisches Meisterwerk.
Hannu Lintu dirigiert
das Finnish Radio Symphony Orchestra mit den Symphonien Nr. 2 und 3 von Witold
Lutosławski.
Witold Lutosławski zählt zu den prominentesten Komponisten
der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts, nicht zuletzt aufgrund seiner
Eigenständigkeit und Originalität, mit der er versuchte, alten Formen neuen
Geist einzuhauchen. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit um ihn stehen seine vier
Symphonien, das Konzert für Orchester und Jeux vénitiens. Die erste Symphonie
besitzt noch (ebenso wie das Konzert für Orchester) einen neoklassizistischen
Flair, den er spätestens in Jeux vénitiens ablegte. Dort wandte er erstmals
aleatorische Techniken an, wenngleich auf eigene Weise: Lutosławski notierte
zwar die einzelnen Stimmen voll aus, überließ aber das Zusammenspiel dem
Zufall, indem das Tempo für jeden frei steht und der Dirigent pausiert; dies
bezeichnete er als aleatorischen Kontrapunkt. Die zweite Symphonie steht voll
im Zeichen dessen. Lutosławski konzipierte sie zweisätzig: Der erste Satz, Hésitant,
besteht aus sieben durch Refrains gegliederte Episoden in freiem und suchendem
Gestus ohne wahren Zusammenhalt, während der zweite, Direct, stringenter auf
einen Höhepunkt zusteuert, mehr auf die Streicher baut und geballtere
Dimensionen annimmt. Während diese Form doch recht sperrig wirkt und den Hörer
gerade formal streckenweise vor den Kopf stößt, gelingt Lutosławski in der
Dritten Symphonie ein verständlicherer und mitvollziehbarerer Gattungsbeitrag.
Die Symphonie besteht aus sieben, bis auf das Finale recht kurzen Sätzen, deren
Episoden durch knappe und vor allem wiedererkennbare Motive zusammengehalten
werden. Zu Beginn stehen vier rasche Tutti-Schläge auf E, die sich durch das
gesamte Werk ziehen, gefolgt von einem wiederkehrenden Anklang an die Eröffnung
von Beethovens Fünfter Symphonie. Allgemein nimmt Lutosławski die Passagen mit
aleatorischem Kontrapunkt zurück und setzt auf luzidere Harmonien, konzentriert
sich auf bessere Durchhörbarkeit des Geflechts.
Die Musik von Witold Lutosławski spricht für sich, man kann
sie als ausführender Musiker nicht „verschandeln“ im dem Sinne, wie man Mozart,
Beethoven, Schubert oder Bach für den Hörer ungenießbar machen kann. Dennoch
zeigt gerade der Vergleich verschiedener Aufnahmen deutliche Unterschiede. Die
Zweite Symphonie nahm Lutosławski selbst auf (er spielte auch die vollständige
Uraufführung, nachdem er Boulez zum offiziellen Premierentermin nur den zweiten
Satz fertig lieferte), erweist sich dabei als fähiger, im Detail präziser, aber
nicht unbedingt großformatig denkender Dirigent (EMI Classics). Am meisten
schätze ich die Aufnahmen von Edward Gardner mit dem BBC Symphony Orchestra
(Chandos; CHSA 5223(5)), in der er nicht nur klangliches Feingefühl beweist,
sondern wahrlich in die Musik hineinhört und alle Substanz aus ihr herausholt.
Das Stimmgeflecht übermittelt er plastisch an den Hörer, meißelt die Kontraste
ins besondere der Besetzung minutiös heraus und versteht die formale Konzeption
der Werke. Auch in den geballten Klangmassen findet sich Gardner zurecht und
bringt eine seidene Eleganz in die Musik hinein. Genau hier liegt der
Unterschied zu der vorliegenden Aufnahme mit Hannu Lintu: Der finnische
Dirigent achtet nicht auf die Ästhetik des Gesamtklangs, lässt es gerne donnern
und krachen, scheint gerade in unkontrolliert polterndem Getöse voll
aufzugehen. Lutosławski mit der Brechstange. Die sieben Sätze der Dritten
Symphonie scheinen sich bei Lintu in die Länge zu ziehen und im Finale gar
nicht enden zu wollen, während die knapp dreißig Minuten bei Gardner im Fluge
verstreichen und noch Lust auf mehr machen. Dagegen überrasche Hésitant aus der
Zweiten Symphonie, das Lintu im Gegensatz zum Rest erstaunlich feinfühlig
dirigiert und weitschweifende Bögen formt – Direct hingegen fällt erneut zurück
in den gewohnten Gestus.
Aktuell findet sich der Name Hannu Lintu vielfach in den
Neuerscheinungen von Ondine, und dazu stets mit schwieriger Literatur, die
genauen Feinschliff verlangt. Vielleicht sollte er sich einmal auf wenige
Programme konzentrieren und diese dafür voll ausarbeiten, anstatt rasch
einstudierte und nicht ausgearbeitete Aufnahmen auf den Markt zu bringen.