Unter der Überschrift „Letters“ hat Naxos in Dublin zwei interessante, neue Chorwerke von je halbstündiger Dauer eingespielt. „A Letter of Rights“ des britischen Komponisten Tarik O’Regan (*1978) und „Triptych“ des Iren David Fennessy (*1976). Paul Hillier leitet den Chamber Choir Ireland und das Irish Chamber Orchestra.
Von den beiden hier vorgestellten, nahezu gleichaltrigen Komponisten dürfte der 1978 in London geborene Tarik O’Regan zweifellos der mittlerweile deutlich bekanntere sein – auch auf Tonträgern bereits gut dokumentiert. Vom musikalischen Spätentwickler – er lernte erst mit dreizehn Jahren das Notenlesen – mauserte sich der Schüler u.a. von Robin Holloway in erstaunlich kurzer Zeit zu einem der meistgespielten, jüngeren Komponisten Großbritanniens. 2019 wurde in Houston seine Oper The Phoenix, die sich mehr fiktiv mit dem ja später nach Amerika ausgewanderten Librettisten Lorenzo Da Ponte beschäftigt, mit Thomas Hampson als Hauptfigur uraufgeführt: ein bemerkenswertes Pastiche, natürlich weitgehend im Mozart-Stil.
A Letter of Rights war ein Auftragswerk anlässlich des 800-jährigen Jubiläums der Magna Charta von 1215, der zentralen Quelle des englischen Verfassungsrechts. Den Text der Chorkantate mit kleinbesetztem Kammerorchester schrieb Alice Goodman, die schon die Libretti für John Adams‘ Opern Nixon in China und The Death of Klinghoffer verfasst hat. In dem systematisch als Palindrom angelegten Werk werden so geschickt Klauseln aus dem historischen Vertragswerk in einen Rahmen gestellt, der dessen Entstehung beschreibt – bereits blutig beginnend mit der Tötung von Schafen zur Herstellung des benötigten Pergaments. O’Regans Musik ist überwiegend tonal und/oder modal; oft verschwimmen die Chorklänge wie in einem unscharfen Panorama. Das Orchester (Streicher und sensibel eingesetztes Schlagzeug) grundiert fast nur mit recht gleichmäßigen, rhythmisch pulsierenden Patterns, wie man sie aus der amerikanischen Minimal Music kennt: klanglich beeindruckend, aber vielleicht etwas lang.
Das Triptych (2014-18) des irischen Komponisten David Fennessy – nicht zu verwechseln mit Michael Finnissy – besteht aus drei Chorstücken a cappella: Letter to Michael bezieht sich auf einen Brief – vielmehr eine Art brut – der Heidelberger Schizophreniepatientin Emma Hauck. Ne Reminiscaris versucht, den als ‚permanent present tense‘ beschriebenen Geisteszustand von Amnesie-Betroffenen zu evozieren – in Form der Übermalung einer quasi in Endlosschleife ablaufenden Psalmvertonung Orlando di Lassos. Hashima Refrain verwendet altjapanische Graffiti und Fragmente des Sarashina Nikki aus dem 10. Jahrhundert. Fennessys Anforderungen an den Chor sind weitaus höher und differenzierter als bei O’Regan, die Musik ungleich komplexer. Hier bedarf es präzisester Intonation bis in die Mikrotonalität – und die absolut faszinierenden Klangfelder, in denen sich Archaik mit kaleidoskopartig, dicht eingesprengten Einzelereignissen mischt, benötigen perfekte Abstimmung. Fennessy gelingt mit diesem Triptychon jedenfalls eine staunenswerte Reise in die Abgründe menschlicher Psyche.
Der Chamber Choir Ireland unter Paul Hillier, dem Gründungsmitglied des ehemaligen Hilliard-Ensembles, das freilich vor allem auf Vokalmusik vor 1600 spezialisiert war, präsentiert für beide Werke überzeugende Darbietungen. Sowohl der mehr flächige Klang bei O’Regan als auch der – vor allem dynamisch – nervöse Gestus für Fennessy werden kongenial umgesetzt. Die Artikulation und der schnelle Wechsel von Klangfarben sind hinreißend. Hier passt musikalisch wirklich alles; und die Aufnahmetechnik setzt den mit 17 bzw. 16 Sänger(inne)n eher kleinen Chor gekonnt in einen groß wirkenden Raum mit ordentlicher Tiefenschärfe. Allerdings hat man bei Naxos schon informativere Booklets gesehen. Aufgeschlossene Freunde neuer Chormusik sollten diese inspirierende Produktion keinesfalls verpassen.
Vom französischen Barockmeister François Couperin hat Richard Strauss aus der umfangreichen, vielschichtigen Sammlung „Pièces de Clavecin“ für Ballettaufführungen zweimal eine Reihe von Stücken für Orchester gesetzt: 1923 als Tanzsuite (TrV 245), und dann nochmals 1940-41 als „Divertimento“ op. 86. Selten zusammen auf einer CD zu hören, hat sich nun Jun Märkl mit dem New Zealand Symphony Orchestra dieser unterhaltsamen Preziosen angenommen (Naxos).
Der hohe Rang von Richard Strauss‘ Orchestrierungskunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steht außer Zweifel und ist sicher ein Hauptgrund für die nach wie vor ungeheure Popularität sowohl seiner sinfonischen Dichtungen wie auch etlicher seiner Opern. Relativ selten hat Strauss Werke anderer Komponisten bearbeitet (etwa Mozarts Idomeneo). Zweimal griff er dabei auf den immens vielschichtigen Fundus der immer relativ kurzen, aber geistreichen Pièces de Clavecin von François Couperin (1668-1733) zurück: 1923 mit der Tanzsuite, TrV 245, die er für eine Ballett-Soirée des Wiener Staatsopernballetts zusammenfügte und später (1940/41) noch einmal für den Münchner Ballettabend Verklungene Feste um sechs zusätzliche, mehrteilige Stücke ergänzte. Die neuen Bearbeitungen wurden dann nebst zwei weiteren als selbständiges Divertimento op. 86 veröffentlicht.
Bei genauerer Betrachtung unterscheiden sich die Werke aber recht deutlich: Zwar sind beide Zyklen gleichermaßen für kleines Orchester gesetzt, und auch schon in der Tanzsuite finden sich natürlich bereits Instrumente, die es im Barock noch gar nicht gab (Klarinetten, Celesta, Englischhorn, moderne Harfe, Teile des Schlagzeugs…). Trotzdem gelingt es Strauss, in der Tanzsuite eine recht realistische Stil-Imagination von Barockmusik herzustellen, was der aus München stammende Jun Märkl – momentan in Malaysia und Taiwan vielbeschäftigt – mit dem Nationalen Symphonieorchester Neuseelands klanglich noch unterstreicht, etwa durch streckenweises non vibrato. Die typischen Sätze einer Barocksuite (Allemande, Courante, Sarabande…) erscheinen zwar in veränderter Reihenfolge und werden um Unerwartetes – vor allem das phantastische Carillon mit Glockenspiel, Harfe, Celesta und Cembalo – bereichert, aber insgesamt bleibt der Orchestersatz durchsichtig und eher intim, nur an wenigen Stellen wird die Harmonik leicht aufgepeppt. Das klingt alles sehr hübsch und unterhaltsam – Strauss‘ Konzept wird von den sehr präzise aufspielenden Neuseeländern konsequent und mit großem Schwung umgesetzt. Märkl nimmt eher frische Tempi und hält sich mit der Dynamik zurück, behandelt gerade das Blech wie Generalbass- bzw. Colla-Parte-Instrumente. Das wirkt jedenfalls noch stimmiger als etwa in der Aufnahme der Bamberger Symphoniker unter Karl Anton Rickenbacher. An die virtuose Shownummer von Rudolf Kempe mit der Dresdner Staatskapelle kommt Märkl nicht ganz heran; die klingt aber auch bewusst schon nur nach Strauss.
Das ebenfalls achtsätzige Divertimento, wobei pro Satz bis zu fünf der unverkennbar programmatischen Charakterstücke Couperins verwurstet werden, versucht erst gar nicht, die barocke Suite zu imitieren. Hier schlägt Strauss als Instrumentator lustvoll zu, paraphrasiert, ironisiert und verfremdet – nur mittels Klangfarben! – nach Herzenslust. Das erinnert dann einerseits mehr an historisierende Werke der Romantik wie Griegs Holberg-Suite oder Regers Suite im alten Stil op. 93 und nähert sich gefährlich dem Cinemascope-Sound. Den Witz der 25 Jahre älteren Symphonie classique von Prokofjew hat das andererseits halt auch nicht. So gesehen ist das Divertimento ein gar nicht so leichter Balanceakt: Jun Märkl gelingt er dadurch, dass er wie in der Tanzsuite vor allem auf Durchsichtigkeit setzt. Diese fehlt dem dirigentenlosen Orpheus Chamber Orchestra komplett: ein dicker, zäher Brei! Dennoch ginge das alles noch eine Spur federnder, elastischer und – was den Schluss betrifft – verrückter, wie Gerard Schwarz mit der New York Chamber Symphony bewiesen hat; Märkl ist aber schon sehr nahe dran.
Aufnahmetechnisch schlägt die Naxos-Einspielung dafür die gesamte Konkurrenz: das Klangbild und die Räumlichkeit sind nahezu perfekt, die Balance angenehm. Und – verglichen mit der total verunglückten CD des österreichischen Tonkünstler-Orchesters (Der Bürger als Edelmann, wo Strauss Lully verarbeitet) – bewegt sich Jun Märkl wieder auf gewohnt hohem Niveau. Wer beide Werke noch nicht hat, dem darf man das Orchester aus Wellington damit durchaus empfehlen.
Vergleichsaufnahmen: [Tanzsuite] Karl Anton Rickenbacher, Bamberger Symphoniker (Koch/Schwann 3-6535-2, 1998); Rudolf Kempe, Staatskapelle Dresden (EMI 5 73614 2, 1973) – [Divertimento] Orpheus Chamber Orchestra (DG 435 871-2, 1991); Gerard Schwarz, New York Chamber Symphony (Nonesuch 7559-79424-2, 1986)
Ars Produktion Schumacher, ARS 38 579; EAN: 4 260052 385791
Für Ars Produktion Schumacher haben Nicole Peña Comas (Violoncello) und Hugo Llanos Campos (Klavier) ein abwechslungsreiches Programm mit lateinamerikanischer Kammermusik aufgenommen.
Es ist traditionell der Zweck von Anthologien, die Leistungen einer Gruppe von Autoren dem Publikum in nuce zu präsentieren, ihm die Augen – bzw. im vorliegenden Fall die Ohren – für die Reichhaltigkeit eines Bestands kultureller Güter zu öffnen und es auf Weiteres aus diesem Repertoire neugierig zu machen. Das Programm, das die aus der Dominanischen Republik stammende Cellistin Nicole Peña Comas und der chilenische Pianist Hugo Llanos Campos für ihre CD El Canto del CisneNegro zusammengestellt haben, erfüllt diesen Zweck aufs Schönste. Der gemeinsame Nenner dieser gut einstündigen Anthologie ist Lateinamerika, und zwar nicht nur dahingehend, dass die dargebotenen Stücke eben von lateinamerikanischen Komponisten stammen: Peña Comas und Llanos Campos haben gezielt Musik aus allen Himmelsrichtungen des lateinamerikanischen Kulturraums zusammengebracht. Auch vereint die CD Werke unterschiedlicher Gattungen vom dreiminütigen Charakterstück bis zur viersätzigen Sonate. Zeitlich liegen die Schwerpunkte auf dem frühen 20. Jahrhundert und der Gegenwart.
Die Kultur Mittel- und Südamerikas wurde entscheidend durch das Zusammentreffen verschiedenster Traditionen im Laufe der Geschichte bestimmt, sodass Musiker hier seit jeher mannigfache Anregungen vorfanden, die zu neuen Synthesen inspirierten. Mit der Etablierung eines bürgerlichen Musiklebens nach europäischem Vorbild stellte sich für lateinamerikanische Komponisten seit dem späten 19. Jahrhundert auch verstärkt die Frage nach dem Verhältnis zur Alten Welt. Vier der auf der vorliegenden CD versammelten Komponisten wurden in den Jahren um 1880 geboren. In ihren Lebensläufen zeigt sich, auf welch unterschiedliche Weise diese Frage jeweils beantwortet wurde.
So haben Constantino Gaito (1878–1945), Joaquin Nin (1879–1949) und Manuel María Ponce (1882–1948) den bedeutendsten Teil ihrer Ausbildung in Europa absolviert. Der Argentinier Gaito studierte in Neapel, der Mexikaner Ponce in Bologna und Berlin. Joaquin Nin, in Havanna als Sohn eines Katalanen und einer Kubanerin geboren, wuchs in Barcelona auf und lebte lange Zeit in Paris, starb allerdings in der Stadt seiner Geburt. Hingegen hat Heitor Villa-Lobos (1887–1959) – als Brasilianer der einzige portugiesischsprachige Komponist des vorliegenden Albums – Europa erstmals als ein Mittdreißiger betreten, den man keineswegs mehr einen Studenten nennen konnte: Auf Anregung seines Freundes Darius Milhaud war er nach Paris gereist, um dort seine Werke bekannt zu machen. Auch war Villa-Lobos, anders als Gaito, Nin und Ponce, Autodidakt. So verschieden die Ausbildungswege der einzelnen Komponisten sein mochten: Einig waren sie sich in der Wertschätzung der Folklore als Inspirationsquelle. Ponce und Villa-Lobos hatten bei einer Begegnung in Paris während der 1920er Jahre Gelegenheit, dies einander persönlich zu bestätigen. Auch die beiden zeitgenössischen Komponisten, der Chilene Luis Saglie (* 1974) und der Mexikaner José Elizondo (* 1972), sehen sich offensichtlich in dieser Tradition. Zudem hat es beide, wie ihre Kollegen aus der Vergangenheit, in die weite Welt gezogen: Elizondo, der auch als Mathematiker und Ingenieur Ansehen genießt, studierte in Boston und New York; Saglie wirkte nach Studien in Wien und Los Angeles als Kompositionslehrer und Dirigent in Ecuador und Chile, und ist derzeit in Sidney tätig.
Zu Beginn des Programms erklingt das Stück, das der CD den Namen gab, Villa-Lobos‘ O Canto do cisne negro. Dieser „Gesang des schwarzen Schwans“ war ursprünglich der Schlussteil der Symphonischen Dichtung Naufrágio de Kleónikos (Der Schiffbruch des Kleonikos), ist jedoch in sich selbst so sehr geschlossen, dass er problemlos als eigenständiges Stück aufgeführt werden kann. Raffinierte Einfachheit zeichnet diese langgestreckte Moll-Melodie aus, die ihre Frische und Farbigkeit, ihre sanft schwebende Bewegung, durch gezieltes Umgehen konventioneller Funktionsharmonien gewinnt. Fortwährend betont der Komponist die kleine Septime, doch führt nie ein gewöhnlicher Dominantklang zur Tonika zurück. Wenige chromatische Einfügungen und Alterationen an entscheidenden Stellen der Melodielinie intensivieren den Ausdruck. So, wie Nicole Peña Comas diese Melodie spielt, kann man tatsächlich von einem instrumentalen Gesang sprechen. Mit dezentem Vibrato lässt sie sie leicht an- und abschwellen, gestaltet die einzelnen Phrasen wie Atembögen eines Sängers. Hugo Llanos Campos hat hier zwar nur auf- und absteigende Akkordbrechungen zu spielen, weiß aber, gleich seiner Partnerin, den langen melodischen Atem, der dieses Figurenwerk trägt, herauszuarbeiten. Bezaubernd gelingt ihm das Ritardando über dem langen Schlusston des Cellos. Man merkt, dass auch das Klavier ausatmet.
Hört man Constantino Gaitos Cellosonate op. 26 und schaut danach auf die Spieldauer, glaubt man kaum, es mit einem Werk von bloß 16 ½ Minuten zu tun gehabt zu haben. Der Komponist hat in dieser kurzen Zeit so viele prächtige Einfälle untergebracht, dass die Sonate (ähnlich wie manche Werke von Haydn oder Brahms) deutlich umfangreicher wirkt als sie ist. Gaito ist ein Meister harmonischer Verknüpfungen und liebt modale und chromatische Einfärbungen, vgl. etwa das dorisch anhebende Hauptthema des langsamen Satzes. Rhythmik und Metrik weiß er stets lebendig zu halten. So intensivieren zahlreiche Synkopen die in den Ecksätzen unterschwellig durchweg präsente tänzerische Bewegung. Eine einheitliche Haupttonart gibt es nicht: Die drei Sätze stehen in f-Moll, d-Moll und c-Moll und enden alle in der entsprechenden Dur-Tonart. Den Zusammenhalt stiftet der Komponist durch zyklische Wiederkehr des Kopfsatz-Hauptthemas als Schlussgruppenmotiv des zweiten und, zu quasi-orchestraler Pracht gesteigert, in der Coda des dritten Satzes. Dieses Meisterwerk, das sich vor keiner der großen Sonaten des europäischen Repertoires zu verstecken braucht, ist bei Peña Comas und Llanos Campos optimal aufgehoben. Der dialogisierende Tonsatz Gaitos, der Violoncello und Klavier gleichermaßen anspruchsvolle Aufgaben stellt, kommt in ihrer Darbietung trefflich zur Geltung, wie auch beider Sinn für kantablen Vortrag jede Melodie des Stückes belebt.
Luis Saglies Se juntan dos palomitas (Zwei Täubchen kommen zusammen) gehört zu den 2 Canciones para Violeta, einer Hommage an die große chilenische Volkssängerin Violeta Parra (1917–1967). Das gleichnamige Lied Parras arbeitet Saglie zu einer kleinen Fantasie für Cello und Klavier aus. Er fügt der Melodie reizvolle Begleitharmonien und Gegenstimmen hinzu, verteilt sie auf beide Instrumente und schafft ein ebenso anmutiges wie durch seine schlichte Schönheit berührendes Duo-Stück.
In José Elizondos Otoño en Buenos Aires (Herbst in Buenos Aires), einem Stück aus seiner Sammlung Danzas latinoamericanas, ist Nicole Peña Comas allein zu hören. Sie musiziert gewissermaßen im Duett mit sich selbst, denn der Komponist erzeugt durch Andeutung polyphonen Satzes und geschickte Lagenwechsel den Eindruck, als spielten mehrere Instrumente. Für die Cello-Solo-Literatur ist dieser kleine Tanz mit seinen straffen Tango-Rhythmen, der dennoch den Eindruck innerer Ruhe und Vergeistigung erweckt, jedenfalls ein Gewinn.
Dass die Musik seines Freundes Maurice Ravel, der selbst freilich von spanischer Volksmusik deutlich beeinflusst war, einen großen Eindruck bei Joaquín Nin hinterlassen haben muss, lässt sich aus seiner Seguida Española (Spanische Suite) heraushören. Die vier kurzen Sätze, die sämtlich auf Volksmelodien basieren, sind der Ästhetik des französischen Impressionismus verpflichtet und bieten differenzierte Klangkunst bei betont ausgespartem Tonsatz. Häufige Quint-Oktav-Parallelen und diatonische Dissonanzen dienen als Farbtupfer in einem musikalischen Plein-air-Gemälde. In diesem Stück ist vor allem das Talent der Musiker gefragt, Atmosphäre zu erzeugen, Klangräume sich auftun zu lassen. Auch dies gelingt Peña Comas und Llanos Campos vorzüglich. Die beiden langsamen Sätze strahlen große Ruhe aus, die beiden raschen geraten zu Bildern ausgelassenen Volkslebens.
Manuel María Ponces viersätzige Cellosonate in g-Moll beschließt das Programm. An Wert kommt sie der Sonate Gaitos nahe, stilistisch unterscheiden sich beide Stücke beträchtlich. Auch Ponce verfügt über eine blühende Erfindungsgabe im Harmonischen. Während jedoch Gaito die Sonatenform als verdichtete musikalische Handlung auffasst, gestaltet Ponce die einzelnen Perioden seiner Sätze als ausgedehnte, deutlich voneinander abgesetzte Flächen. Zudem findet sich in seiner Sonate, dem ziemlich ausgedehnten Fugato im Finale zum Trotz, insgesamt weniger polyphones Ineinandergreifen der Stimmen. Viel lieber schichtet Ponce rhythmisch kontrastierende Ebenen übereinander und entwickelt seine Formen durch Umschichtung derselben, wie man gleich zu Beginn des ersten Satzes hören kann: Das Klavier wiederholt beständig ein Synkopenmotiv (man geht wohl nicht falsch, darin die Imitation von Kastagnetten zu hören), während im Cello das langgestreckte Hauptthema erklingt; nach Abschluss dieser Periode tauschen die Instrumente die Rollen. Höchst bemerkenswert erscheint in dieser Hinsicht der „in der Art einer Etüde“ geschriebene zweite Satz. Hier haben die Musiker in der Regel drei verschiedene rhythmische Schichten zu beachten, wobei die konsequent durchgehaltenen Sechzehntelquintolen zu den übrigen Ebenen scharf kontrastieren. Der langsame Satz bezaubert durch seine schweifende, sich lange einer eindeutigen tonalen Festlegung entziehende Harmonik. Ein Finale, das seiner Überschrift „Allegro burlesco“ alle Ehre macht, bringt die von Peña Comas und Llanos Campos von Anfang bis Ende hingebungsvoll musizierte Sonate zum krönenden Abschluss und beendet damit ein Album, das ohne Einschränkung empfohlen werden kann.
Das Beiheft beschränkt sich auf die Künstlerbiographien und ein kurzes Vorwort von Nicole Peña Comas. Der einzige Schönheitsfehler der Produktion hat nichts mit den Werken selbst und ihrer Aufführung zu tun: Einige Pausen zwischen den einzelnen Programmnummern sind zu kurz geraten, sodass die Stücke von Saglie, Elizondo und Nin beinahe attacca aufeinander folgen.
Als erste Folge einer CD-Reihe zur Geschichte des russischen Klaviertrios präsentiert Naxos zwei Klaviertrios von Alexander Aljabjew, das Trio Pathétique von Michail Glinka (in einer Bearbeitung für Klaviertrio) sowie Anton Rubinsteins Klaviertrio Nr. 2. Es spielt das Brahms-Trio mit Natalija Rubinstein, Klavier, Nikolai Satschenko, Violine und Kirill Rodin am Violoncello.
Mit der vorliegenden CD beginnt das Brahms-Trio bei Naxos einen Zyklus, der die Geschichte des russischen Klaviertrios vorstellen soll. Geplant sind zunächst fünf Folgen, die die Zeit des Russischen Reiches umfassen; ob danach auch die Sowjetzeit folgt, ist mir bislang nicht bekannt. Es handelt sich um keine Gesamteinspielung (dies wäre spätestens im Falle der zur Sowjetzeit entstandenen Werke wohl auch kaum mehr zu realisieren), aber das Projekt ist dennoch ambitioniert und wird gemäß Vorankündigung auch einige Ersteinspielungen umfassen.
Der erste russische Komponist, der Klaviertrios schrieb, war offenbar Alexander Aljabjew (bzw. Alyabiev; 1787–1851). Sein Lebensweg war turbulent: Sohn eines Gouverneurs, machte er im Rahmen des Kriegs gegen Napoleon Karriere beim Militär und blieb bis 1823 Mitglied der Armee. Zwei Jahre später war er in eine Schlägerei beim Kartenspiel verwickelt, bei der ein Mensch getötet wurde, wurde inhaftiert, zeitweise nach Sibirien verbannt und stand bis zu seinem Lebensende unter Polizeiaufsicht. Nach seinem Tod blieb er zunächst vorwiegend als Komponist von Romanzen (insbesondere der „Nachtigall“) in Erinnerung, bevor Anfang der 1950er Jahre eine Reihe seiner Werke im Druck erschien, sicherlich motiviert dadurch, dass er einer der ersten Komponisten war, die in ihren Werken russische Volkslieder verwendeten.
Heute ist Aljabjew zwar sicherlich kein besonders prominenter Komponist, aber eine gewisse Beachtung findet seine Musik doch immer wieder. Er ist (wegen seines Liedschaffens) als „russischer Schubert“ bezeichnet worden, auch auf den Einfluss Beethovens wird gerne hingewiesen. Das ist zwar nicht falsch, aber treffender ist wohl, Aljabjew im Kontext seiner Zeitgenossen zu betrachten, die sich zwischen Wiener Klassik (gerade Mozart) und Frühromantik bewegten, manchmal an der Grenze zu gehobener Salonmusik. Der virtuose, passagenreiche Klaviersatz seiner Trios legt einen Vergleich mit seinem Lehrer John Field oder auch Johann Nepomuk Hummel nahe. Einen besonders ausgeprägten eigenen Tonfall wird man bei Aljabjew eher nicht entdecken, aber doch Musik, die mit den Strömungen ihrer Zeit vertraut ist und sich gekonnt in diesem Fahrwasser bewegt. So gab es in Russland also bereits vor Glinka einen fähigen Komponisten. Aljabjew freilich eine Vorreiterrolle in der Geschichte der russischen Musik zuzusprechen oder ihn gar als „heimlichen“ Vater der russischen Musik zu betrachten, halte ich für zu viel des Guten, denn selbst wenn er gelegentlich russisches Liedgut verwendet, ist doch der Weg zu Glinkas Opern noch weit.
Von Aljabjews beiden Klaviertrios ist das erste unvollendet, ein elegantes, beschwingtes, stellenweise vielleicht etwas weitschweifiges Sonatenallegro in Es-Dur, das um 1815 entstand und von seinem Herausgeber Boris Dobrochotow zur Aufführung eingerichtet wurde. Vollendet ist dagegen das zweite Trio in a-moll, das die CD auf 1834 datiert, womöglich aber schon früher entstand, vermutlich in den frühen 1820er Jahren. Ein Werk in den klassischen drei Sätzen mit einem kurzen, schwärmerischen Adagio-Mittelsatz und einem Finalrondo mit einem Hauptthema, bei dem es sich gut um ein Volkslied handeln könnte.
Auch der bereits angesprochene Michail Glinka (1804–1857) ist auf dieser CD vertreten, und zwar mit seinem Trio Pathétique in d-moll, eigentlich ein Werk für Klavier, Klarinette und Fagott, das der tschechische Geiger Jan Hřímalý für Klaviertrio eingerichtet hat. Es handelt sich dabei um ein noch recht frühes Werk aus dem Jahre 1832 in vier kurzen, ineinander übergehenden Sätzen, wobei das Finale den Kopfsatz wieder aufgreift. Die Titulierung „Pathétique“ spiegelt sich in der zwar gelegentlich aufgelockerten, aber tendenziell doch dunklen, leidenschaftlichen Grundstimmung wieder. Einen nationalrussischen Tonfall wird man in dieser Musik (noch) vergebens suchen, stattdessen verströmt das Trio mitunter deutlich stärkeren Beethoven’schen Impetus als Aljabjews Trios, zum Beispiel in den wuchtigen Unisono-Eingangstakten. Vielleicht noch prägender ist der Einfluss italienischer Oper (nicht umsonst entstand das Trio während eines längeren Italienaufenthalts), was der Musik einen effektvollen, im besten Sinne theatralischen Anstrich verleiht, etwa in arienhaften Solopassagen, dem zuweilen orchestral anmutenden Klavierpart und einer gekonnten dramatischen Kulmination am Schluss. Dabei ist das Finale insgesamt wohl der schwächste Satz, wirkt die Wiederaufnahme des Kopfsatzes doch arg gedrängt und verknappt. Insgesamt ist dieses Trio jedoch ein beachtliches Werk, und auch das Arrangement für die herkömmliche Klaviertrio-Besetzung funktioniert tadellos.
Das letzte Werk auf dieser CD stammt von Anton Rubinstein (1829–1894), der sich insbesondere als Klaviervirtuose und Organisator (er war u.a. erster Direktor des St. Petersburger Konservatoriums) einen Namen machte. Als Komponist steht Rubinstein im Schatten Tschaikowskis und der Gruppe der Fünf, und tatsächlich stehen in seinem Schaffen Quantität und Qualität nicht immer im besten Verhältnis. Das betrifft nicht nur den recht großen Umfang seines Œuvres, sondern auch manche Werke selbst, die zum Teil deutliche Längen aufweisen und nicht immer gleich inspiriert sind. Deshalb sollte man aber nicht den Komponisten Rubinstein in toto abschreiben, denn selbstverständlich kann auch ein wechselhaftes Schaffen Lohnenswertes bieten.
Von seinen fünf Klaviertrios hat das Brahms-Trio das zweite ausgewählt, ein Werk aus dem Jahre 1851 (Rubinstein komponierte bereits in jungen Jahren sehr ausgiebig). Diese Wahl erscheint gelungen, denn zum einen passt dieses Trio in seiner passionierten Art gut zu Glinkas Trio Pathétique (und im weiteren Sinne auch zu Aljabjews a-moll-Trio), und zum anderen zeigt es den Komponisten von seiner besten Seite. Zu jener Zeit orientierte sich Rubinstein vor allem an der deutschen Romantik, insbesondere Mendelssohn, und diese Einflüsse sind auch hier unverkennbar. Dabei gelingt ihm ein atmosphärisch dichtes, leidenschaftliches Werk, das auch melodisch einiges zu bieten hat – man beachte den wiegenden Beginn in Violine und Cello oder das zweite Thema des Kopfsatzes. Wie man es von einem Pianisten erwarten würde, ist das Klavierpart des Trios prachtvoll und virtuos, ohne dass deshalb aber die Streichinstrumente an den Rand gedrängt würden. Im Vergleich zu der ungefähr zeitgleich entstandenen Ersten Sinfonie ist das Trio das erheblich interessantere Werk – vielleicht ein Indiz dafür, dass im Falle Rubinstein besonders die Kammermusik Beachtung verdient.
Die Interpretationen des Brahms-Trios sind insgesamt ordentlich, aber mit Einschränkungen, die je nach Werk unterschiedlich ins Gewicht fallen. Generell fällt auf, dass sich das Trio bei der Interpretation gewisse Freiheiten erlaubt, etwa was Dynamik, Tempogestaltung und manchmal auch Kleinigkeiten im Notentext selbst erlaubt. Aljabjews a-moll-Trio interpretiert das Brahms-Trio dezidiert verhalten-melancholisch, auch leise (im Wortsinn). Besonders augenfällig ist dies natürlich, wenn in den Ecksätzen die Schlussakkorde dynamisch zurückgenommen werden, aber auch sonst wird so manches Forte eher zum Piano umgedeutet. Im A-Dur-Couplet des Finalrondos beginnt das Klavier eine Oktave höher als notiert, was der Musik einen zart-delikaten Anstrich verleiht. Freilich wirkt eine solche Darbietung tendenziell kontrastarm, was durch die Wahl der Grundtempi (in den Ecksätzen eher langsam, im Adagio eher schnell) verstärkt wird. Bis zu einem gewissen Grad ist dies Geschmackssache; einen deutlich anderen Ansatz bietet z.B. die Aufnahme mit Emil Gilels am Klavier von 1952, die temperamentvoller, manchmal vielleicht etwas zu forciert erscheint. Insgesamt ist die Auslegung des Brahms-Trios aber stimmig und verleiht der Musik Charakter, mehr als in der „korrekteren“, aber etwas blassen Einspielung des Borodin-Trios auf Chandos. Erste Wahl für beide Trios bleibt für mich indes die Aufnahme des Beethoven-Trios Bonn bei CAvi: im Vergleich zum Brahms-Trio musizieren die Bonner noch etwas flexibler, beredsamer und beseelter, was auch dem Es-Dur-Fragment sehr gut bekommt.
Ähnlich verhält es sich mit der Einspielung von Rubinsteins Trio Nr. 2, wobei in diesem Fall offenbar nur eine Vergleichseinspielung im Rahmen der Gesamteinspielung von Rubinsteins Trios durch das Edlian Trio existiert (Metronome). Mir liegt diese Aufnahme nicht vor, aber so weit ich informiert bin, wurden dort zahlreiche Kürzungen vorgenommen, die sich anscheinend auf rund fünf Minuten Musik summieren. Nun gibt es sicherlich Werke von Rubinstein, denen gewisse Straffungen nicht unbedingt schlecht bekämen. Das gilt aber nicht für dieses Klaviertrio, das mit 30 Minuten ohnehin nicht außergewöhnlich umfangreich ist. Insofern bietet das Brahms-Trio sogar die einzige Möglichkeit, das Werk in Gänze kennenzulernen (wobei die Expositionswiederholungen wie in allen Werken auf dieser CD ausgelassen werden), und dies in einer insgesamt überzeugenden Interpretation. Erneut fällt allerdings insbesondere auf, dass das Trio dazu neigt, Forte-Passagen deutlich abzuschwächen. Dies erscheint teilweise durchaus sinnig, aber spätestens im Finale, das in mancher Hinsicht einen Kulminationspunkt darstellt (mit kurzer Reminiszenz an den langsamen Satz kurz vor Schluss, Letzterer anders als in den übrigen drei Sätzen in Moll) geht auf diese Weise doch einiges an Dramatik und Verve verloren. Ein besonders extremes Beispiel ist die Passage von 3:13 bis 3:33, in der eigentlich durchgängig Forte vorgeschrieben ist und die Akkorde in den Streichern gestrichen (und nicht etwa gezupft) werden sollten.
Solche Abweichungen vom Notentext kommen in der Einspielung von Glinkas Trio Pathétique nicht vor (sieht man einmal von einer leichten Rhythmusänderung bzw. Synkopierung im zweiten Thema das Kopfsatzes ab), aber ein Blick in die Partitur zeigt, dass (zu) viele Details in Dynamik und Artikulation übergangen werden. So sollte sich beispielsweise die Dynamikspanne in der Violine im ersten Satz zwischen 3:30 und 4:20 vom Pianissimo bis zum Forte erstrecken, was in der vorliegenden Einspielung höchstens ansatzweise realisiert wird. Hier liefert das Borodin-Trio auf Chandos eine sorgfältiger ausgearbeitete und in der Konsequenz spannungsreichere Darbietung.
Die Aufnahmetechnik ist gut, aber das Cello steht teilweise etwas zu sehr im Vordergrund (z.T. Streichgeräusche an den lauteren Stellen). Das Beiheft ist eher knapp, aber informativ. Insgesamt ein interessantes Projekt mit alles zusammen ordentlichen bis guten, aber nicht herausragenden Interpretationen einschließlich der besagten Eigenarten.
In einer auf 500 Exemplare limitierten Auflage erschien nun John Luther Adams‘ (*1953) „Become Trilogy“ als 3CD-Box. Die beiden bereits vor Jahren als Einzel-CDs erschienenen Stücke „Become Ocean“ und „Become Desert“ werden hier also noch um das erste Stück der Trilogie, „Become River“, ergänzt. Es spielt das Symphonieorchester aus Seattle unter der Leitung von Ludovic Morlot.
Wohl aufgrund der limitierten Auflage muss ich mich heute mit der Rezension einer digitalen Kopie begnügen, die hoffentlich identisch mit dem CD-Material ist. Nur die Tatsache, dass die jeweils ~40-minütigen Stücke Become Ocean (2013) und Become Desert (2018) bereits jeweils einzeln als CD veröffentlicht worden waren, rechtfertigt, dass für das erste Stück dieser – als solche gar nicht von vornherein geplanten – Trilogie, Become River (2013), trotz der Dauer von nur knapp 15 Minuten eine eigene CD gepresst wurde. Immerhin gibt es nun im Booklet der Box zumindest knappe Texte des Komponisten über die drei Werke – ihr Fehlen bei besagten Einzelausgaben war etwa von David Hurwitz zu Recht bemängelt worden. Nach wie vor aber kein Wort über den Komponisten; insgesamt also nur wenig Information, was anscheinend Adams‘ Selbstverständnis entspricht – seine Musik will erfahren, nicht zerredet werden.
John Luther Adams – nicht zu verwechseln mit seinem sechs Jahre älteren und ungleich berühmteren Fast-Namensvetter John Adams – wurde 1953 in Meridian, Mississippi, geboren, studierte später bei James Tenney und Leonard Stein. Zwischen 1978 und 2014 lebte Adams überwiegend in Alaska und setzte sich stark für den Umweltschutz ein. In den letzten Jahren pendelt der Komponist zwischen New York und der mexikanischen Desierto de Sonora. Das scheint auch klar die Entstehung der drei hier vorgestellten Stücke beeinflusst zu haben: So verwundert es nicht, dass Adams den Tanana River in Alaska als eine Inspirationsquelle für Become River erwähnt, während das dritte Stück, Become Desert eben bereits in Mexiko geschrieben wurde.
Adams zeigt sich – nicht nur in diesen drei Werken – als absoluter Vertreter eines puren Minimalismus: Menschliche Gefühle haben hier keinen Raum und die Musik besteht jeweils nur aus einer einzigen, wabernden Klangfläche. Stellen die berühmten Vertreter der ersten Generation der amerikanischen minimal music (Reich, Riley, Glass) bewusst zur Schau, wie man mit wenigen, einfachen Pattern recht komplexe Strukturen zustande bringt, benutzt der höchst erfolgreiche John Adams (*1947) bekanntlich verwandte Techniken, haucht ihnen aber – manchmal recht marktschreierisch – Leben ein, erfüllt so jedenfalls gewisse Erwartungshaltungen auch eines konservativeren Publikums. Ganz anders John Luther Adams: Hier gibt es weder schlichte, nachvollziehbare Harmonik noch eben eine emotionale Entwicklung. Zudem haben die Pattern, die natürlich unterschwellig unentwegt werkeln – am ehesten noch direkt herauszuhören in Become Ocean (Klavier, Harfe…) – keinerlei Eigenleben oder signifikante Kontur; lediglich unbewusst prägen sie sich dem Hörer ein. Dabei verwendet der Komponist einen – in Folge der drei Stücke vom großbesetzten Kammerorchester mit zweifachen Bläsern über das klassische bis zum großen Orchester plus Chor wachsenden – im Detail äußerst ausgeklügelten Klangapparat; hierin also vielleicht noch eher vergleichbar mit Morton Feldmans Spätwerk Coptic Light. Wenn Adams betont, dass die Stücke der Become Trilogy keinesfalls lautmalerisch die Naturphänomene Fluss, Ozean bzw. Wüste einfangen möchten, sondern nur deren Raum in seiner vielfältigen Bedeutung bis hin zur Poesie und Metaphorik, ist dies jedoch immer noch äußerlicher als Feldmans reine Meditation. Für die Aufführung steigert sich die bereits im ersten Stück geforderte räumliche Distanz bis hin zur Aufteilung des Orchesters in drei bzw. fünf weit getrennt aufgestellte Gruppen, deren Klangflächen jeweils ihr eigenes Tempo haben.
Dem unerfahrenen Hörer mag sich gerade Become River so darstellen wie Wagners Rheingold-Vorspiel oder der Sonnenaufgang in Richard Strauss‘ Alpensinfonie, nur als fast unerträglich auf 15 Minuten Länge gezogenes Crescendo. Ein Fluss, der anschwillt, während es bergab zur Mündung geht. Wenn man sich darauf einlässt, durchaus ein Erlebnis; Hörer, die eine wie auch immer geartete Entwicklung erwarten oder dass etwas passiert, werden mit Sicherheit enttäuscht sein: Nein, das ist nicht die Moldau! Ganz ähnlich verhält es sich mit den beiden 40-Minütern: Become Ocean, wofür Adams den Pulitzer-Preis erhielt, besteht aus drei an- und abschwellenden musikalischen „Wellen“, mit fast auf die Sekunde genau gleicher Länge von ~14 Minuten – immerhin. Dominieren hier eher dunkle Klangfarben, beginnt Become Desert bereits im sehr hellen Register – insgesamt findet ein vielfältigeres Spiel sozusagen mit Licht und Schatten statt. Dennoch wird die als extreme Langsamkeit wahrgenommene Zeitschichtung ohne irgendein rhythmisches Gerüst – wie selbst noch bei Philip Glass‘ bekannter Filmmusik zu Koyaanisqatsi – entweder schnell nervig oder aber dieses nicht im Geringsten aufgeraute Kontinuum in Bogenform zieht den Hörer völlig in seinen Bann. Der Chor agiert selbstverständlich ebenso rein instrumental und bringt bewusst keinerlei menschliche Wärme ins Geschehen. Ob das ein adäquates Bild unerbittlich stattfindender Naturabläufe darstellt, mag der Hörer selbst entscheiden.
Seattle Symphony unter Ludovic Morlot exekutiert die drei Werke jedenfalls überzeugend, was eine keineswegs einfache Aufgabe ist. Die sich zeitlupenartig entwickelnde Dynamik erfordert höchste Konzentration aller Spieler und gerade bei den Bläsern darüber hinaus großes Durchhaltevermögen. Die Aufnahmetechnik und die Abmischung ist ebenfalls ausgezeichnet, obwohl man sich hier vielleicht wirklich mal Surround-Sound wünschte: Die ungewöhnliche, räumliche Aufstellung kann einfacher Stereoton natürlich nicht abbilden. Fazit: Musik für ein sehr spezielles Publikum – man kann sie nur lieben oder hassen.
Beth Levin spiele am 29. Juni 2019 ein denkwürdiges Konzert, welches aufgenommen wurde und nun bei Aldilà Records als CD erschien. Auf dem Programm dieser live-CD steht die Dritte Suite für Clavier in d-Moll HWV 428 von Georg Friedrich Händel, Carosello (Disegno Nr. 3) von Anders Eliasson und die Klaviersonate op. 106 in B-Dur von Ludwig van Beethoven, welche als Hammerklaviersonate Geschichte schrieb.
Zugegeben, das Beethovenjahr 2020 war recht enttäuschend. Wo Konzerte fehlen, mangelte es nicht an Aufnahmen vor allem im Bereich der Klaviermusik. Einige wagten sich an Gesamtzyklen, die wie so meist nur selten vollständig befriedigen; andere spielten kleinere Auswahlen, die aber doch meist aus den altbekannten Werken bestehen. Es gab zwar unter den Aufnahmen viel Gutes, nicht aber wirklich Neues, was unseren Blick auf den Jubilar nachhaltig prägen würde. Man blieb bei den Konventionen, beim Bewährten, und nahm es nicht auf sich, über den Tellerrand hinauszublicken. Die große Ausnahme stellt die CD mit Beth Levin dar, welche die Hammerklaviersonate B-Dur op. 106 in einer Liveaufnahme präsentiert.
Ein Werk wie die Hammerklaviersonate in unserer heutigen Zeit als Liveaufnahme herausgeben zu wollen, wirkt beinahe wie Irrsinn. Denn wie soll man dieses Mammutwerk mit einer Länge von etwa 45 Minuten und gespickt mit technischen wie musikalischen Hürden durchgehend auf reproduktionswürdigem Niveau bewältigen? – Oder sollten wir es umgekehrt sehen: Muss man es sogar auf eben diese Weise aus einem Guss entstehen lassen, um Geschlossenheit zu erreichen und gesamtmusikalischen Sinn zu entfalten?
Beth Levin zeigt sich vom ersten Ton an als eine der eigenständigsten, temperamentvollsten und souveränsten Pianistinnen unserer Zeit. Sie hat eine eigene Stimme am Klavier und bleibt stets sie selbst, so kann man sie beim Hören unmittelbar identifizieren – und dies ist heute mehr als außergewöhnlich. Levin durchdringt die Musik intellektuell wie menschlich, fokussiert sich dabei auf die Einmaligkeit der Darbietung und des Erlebens der Musik. Sie gibt die Musik nicht wieder als Nacherzählung oder als Berichterstattung, sondern – selbst vollständig involviert – als im Moment passierendes, unwiederbringbares, und auf diese Weise atemberaubendes Geschehen. Sofern es dabei nötig ist, greift sie in den Notentext ein; doch ist keine der Abänderungen willkürlich, sondern dient nur der Stimmigkeit und Gesamtheit der Darbietung. Jede Note sprüht vor Innbrunst und Lebendigkeit, von persönlicher Aussage. Technik, Fingerfertigkeit und Virtuosität stehen dabei im Hintergrund, sind lediglich nötige (wenngleich perfekt gelenkte) Transportmittel für den Ausdruck.
Auf ein impulsives Werk wie die Hammerklaviersonate projiziert, offenbaren sich ganz neue Facetten und Aspekte dieses Meisterwerks, die sich einer Beschreibung entziehen und nur hörbar verstanden werden können. Unvorstellbare Magie verströmt vor allem der Adagiosatz, in dem wir teilweise vollständig das Gefühl von Zeit und Raum wie den Boden unter unseren Füßen verlieren und nur getragen werden durch den fragilen Duktus der Musik. „Verweile doch, du bist so schön“, Mephisto hätte Faust nur diesen Satz vorzuspielen brauchen – doch schon ist die Musik fortprozessiert und der Moment vergangen, was hier wie kaum woanders für eine gewisse mitschwingende Melancholie verantwortlich ist.
Nicht weniger nehmen die raschen Sätze gefangen. Die Randsätze packen durch impulsive Akzente, wild aufbäumende und doch im Zaum gehaltene Klangkaskaden und herbe Kontraste, die Beth Levin fein austariert und bis an die Grenzen spannt, nie jedoch darüber hinaus. Fast zu kurz erscheint dagegen das kleine Scherzo, doch eben in der Flüchtigkeit liegt der Witz und Beth Levin triumphiert über diese Wirkung des allzu Vergänglichen.
Komplettiert wird das Programm durch zwei konträre Werke anderer Epochen: Händels d-Moll-Suite und Eliassons Disegno Nr. 3 mit dem Titel „Carosello“. Die d-Moll-Suite wirkt ganz schlicht, klar und offen, Levin spielt die Musik des unterrepräsentierten Bach-Zeitgenossen in tiefster Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Weit weniger stürmisch als bei Beethoven zaubert sie so einen gänzlich anderen Glanz auf die für das Cembalo konzipierte Musik, sonor und doch zerbrechlich in ihrer Zartheit. Bei Eliasson zeigt Beth Levin unerhörtes Gespür für Harmonik: der 2013 verstorbene schwedische Komponist schuf ein ganz eigenes Tonalitätsmodell, undurchdringbar komplex und nicht intellektuell zu verstehen – wohl aber musikalisch zu durchdringen, wie hier bewiesen wird. Und tatsächlich wird die Partitur beim Hören plötzlich verständlich und wie ganz selbstverständlich folgen wir dem Lauf der harmonischen Strukturen. Mit vollendet verfeinertem Anschlag holt Beth Levin auch die dezentesten Zwischentöne aus den Tasten hervor, farbenreich und vielseitig. Die Gesamtheit des Stücks hat sie stets im Sinn und so geleitet sie uns sicher durch die vielen Verstrickungen jedes dieser Stücke, so dass wir sie hinreißend in Gänze erleben.
Vom in der Stalinzeit schwer gebeutelten ehemaligen Avantgardisten Alexander Mossolow (1900-1973) hat Naxos nun mithilfe des Dirigenten Arthur Arnold und des Moscow Symphony Orchestra zwei Werke der Reifezeit wiederentdeckt. Neben seiner letzten Symphonie (Nr. 5) von 1965 erklingen auf der neuen Naxos-CD auch erstmals alle vier Sätze des Harfenkonzerts aus dem Jahre 1939. Die Solistin ist Taylor Ann Fleshman – eine vorzügliche Produktion.
Vielleicht hatte Dmitri Schostakowitsch ja einfach nur Glück im Unglück: Abgesehen vom Verbot – bzw. dem vorsorglichen Zurückhalten – von kaum einer Handvoll Werken spürte der Komponist zwar lange die Repressionen Stalins als konkrete Bedrohung, konnte aber trotzdem mehr oder weniger frei komponieren; seine Werke wurden geschätzt und vor allem auch in der Sowjetunion regelmäßig gespielt. Andere traf es da schlimmer: Sie wurden aus dem Komponistenverband ausgeschlossen – was einem Berufsverbot gleichkam –, ihre Musik wurde nicht mehr gedruckt und aufgeführt, oder sie landeten gleich im Gulag. Zu diesen Musikern gehörten u.a. Nikolai Roslawez, Wsewolod Saderazki, aber ebenso Alexander Mossolow, der nur durch massive Fürsprache seiner Lehrer Glière und Mjaskowski 1938 bereits nach acht Monaten – statt fünf Jahren – wieder aus dem Arbeitslager kam und dann fünf Jahre in der inneren Verbannung zubringen musste. Danach war er definitiv ein anderer Komponist.
Hatte Mossolow in den Zwanzigerjahren durch recht konstruktivistische, avantgardistische und teilweise provokante Werke auf sich aufmerksam gemacht, darunter zwei Klaviersonaten und ein Klavierkonzert – im Westen war lange nur das kurze, lautmalerische Orchesterstück Sawod („Eisengießerei“) bekannt, das man dem musikalischen Futurismus zuordnete –, wirkte der Künstler ab Ende der 1930er total angepasst. Den Forderungen des Sozialistischen Realismus gerecht zu werden, half dabei sein schon früher bestehendes Interesse etwa an der Volksmusik des Kubans, Kirgisiens oder Turkmenistans; bei seiner 1. Symphonie E-Dur von 1944 spürt man jedoch die Angst im Nacken: Sie steht ganz im Zeichen des Großen Vaterländischen Krieges, verherrlicht den kommenden Sieg des Militärs und ist konformistisch bis ins Mark; Mossolows Eigenständigkeit scheint völlig verflogen.
Das ist zum Glück bei der 5. Symphonie (1965) nicht mehr so. Sie wurde zu Lebzeiten nie aufgeführt und erst 1991 gedruckt. Die vielen Fehler dieser Partitur konnte der aus den Niederlanden stammende Dirigent Arthur Arnold, der seit 2012 das ab seiner Gründung 1989 eng mit Naxos verbundene Moskauer Symphonieorchester leitet, in mühevoller Arbeit korrigieren und legt nun ein abwechslungsreiches, ausdrucksstarkes und fein instrumentiertes Werk vor. Natürlich vermisst man auch hier die wilden, fast aufrührerischen Elemente des jungen Mossolow – aber nur, wenn man diese kennt und zum Maßstab macht. Mossolows dreisätzige Fünfte ist dennoch absolut seriös und von ansprechender Reife, dabei keineswegs allzu retrospektiv. Lediglich der unmittelbare Schluss: Maestoso, trionfale streift die Nähe zum sozialistischen Kitsch. Arnold nimmt hier jedes Detail ernst; vor allem gelingt ihm eine stringente musikalische Entwicklung des Materials, sowohl innerhalb der einzelnen Sätze wie der gesamten Symphonie. Die Tontechnik leistet zudem ihr Bestes – enorme Dynamik und hervorragende Durchsichtigkeit ergeben ein tolles, angenehmes Klangbild.
Zu Unrecht in Vergessenheit geriet auch Mossolows gewaltiges Harfenkonzert, das er 1939 für Vera Dulova schrieb – eine unmittelbare Antwort auf den nur ein Jahr zuvor aus der Taufe gehobenen Gattungsbeitrag Glières für wiederum Dulovas Lehrerin Ksenia Erdely. Obwohl Harfenkonzerte in Russland bis heute eine gewisse Tradition haben, wurde dieses Konzert danach nicht mehr gespielt. Die Uraufführung der kompletten Fassung fand tatsächlich erst 2019 mit der hier fabelhaft aufspielenden Taylor Ann Fleshman statt. Ihre Klangschönheit ist fantastisch, die Tongebung differenziert und bei den lyrischen Stellen geradezu feenhaft geheimnisvoll. Desgleichen beherrscht sie den heiteren Zugriff, vor allem in der abschließenden Toccata, die bewusst nur gehobene Unterhaltungsmusik sein will, vollendet. Das Konzert krankt jedoch an seiner Länge (37 Minuten!), die das zum Teil spärliche Material bis an die Grenzen des Leerlaufs ausreizt, gerade auch in besagtem Finale. Der erste Satz zerfällt durch überlange, unbegleitete Soli bzw. Kadenzen, im Tutti fällt dem Komponisten für die Harfe oft nicht wirklich Überzeugendes ein: Arpeggien rauf, Arpeggien runter; Ermüdung ist so streckenweise vorprogrammiert. Dies ist natürlich zu keinem Zeitpunkt den Interpreten vorzuwerfen, die eine unter jedem Aspekt optimale, berührende Darbietung abliefern: Arnold begleitet mit seinem Orchester aufmerksam und mit Hingabe. Das schöne Konzert darf man trotz kleinerer Schwächen aber für eine repertoirefähige Entdeckung erachten. Die intelligente Orchestrierung Mossolows hätte alleine schon dafür gesorgt, dass das Orchester hier die Harfe akustisch nicht erdrückt – das Soloinstrument ist leider deutlich zu hoch ausgesteuert. Man hört so natürlich jedes Detail, aber die Balance wird dadurch unrealistisch. Fazit: Eine längst fällige Rehabilitierung zweier gewichtiger Mossolow-Werke mit hervorragend agierenden Musikern.
Naxos präsentiert Ersteinspielungen von Alexander Mossolows Sinfonie Nr. 5 und seinem Harfenkonzert. Es spielen das Moskauer Sinfonieorchester unter der Leitung des niederländischen Dirigenten Arthur Arnold, Harfenistin ist die junge Amerikanerin Taylor Ann Fleshman.
Eine der markantesten Figuren der musikalischen Avantgarde der jungen Sowjetunion war Alexander Mossolow (Mosolov in der englischen Umschrift; 1900–1973). Anfangs noch durch Prokofjew und (in der Klaviermusik) Skrjabin geprägt, machte sich er sich in den 1920er Jahren durch oft bemerkenswert radikale Werke wie seinen Klaviersonaten, dem ersten Klavierkonzert oder dem ersten Streichquartett auch international einen Namen. Besondere Verbreitung fand sein kurzes, eigentlich als Teil eines Balletts konzipiertes Orchesterstück Die Eisengießerei, ausgesprochen suggestive Maschinenmusik aufbauend auf Honeggers Pacific 231.
Gegen Ende der 1920er Jahre geriet Mossolow immer stärker in kulturpolitische Konflikte, die sich in den 1930er Jahren verschärften, war seine Tonsprache doch mit der Ästhetik des sozialistischen Realismus nur schwer in Einklang zu bringen. Schließlich wurde er Ende des Jahres 1937 verhaftet und wegen „konterrevolutionärer Aktivitäten“ (ein Standardvorwurf jener Tage, der in der Regel aus der Luft gegriffen war) zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Auf Intervention seiner früheren Lehrer Mjaskowski und Glière wurde er zwar nach acht Monaten wieder entlassen, aber selbstverständlich bedeutete die Haft einen Einschnitt gewaltigen Ausmaßes, der sich auch in seiner Musik überdeutlich niederschlug: der Komponist Mossolow nach der Inhaftierung hat mit dem Avantgardisten der 1920er Jahre nichts mehr gemein.
Ein Problem bei der Rezeption von Mossolows Schaffen ist, dass die Quellenlage ziemlich dünn ist. Konsultiert man verschiedene Werkverzeichnisse, so wird man immer wieder auf Inkonsistenzen stoßen, manche Werke sind verschollen, und erst vor wenigen Jahren wurde in den Archiven des Moskauer Rundfunks eine ganze Reihe bislang unbekannter Frühwerke Mossolows wiederentdeckt, darunter eine auch als Antireligiöse Sinfonie bezeichnete Sinfonische Dichtung mit Chor aus dem Jahre 1931. Dennoch ist das Frühwerk Mossolows insgesamt recht gut auf CD dokumentiert, oft sogar in mehrfachen Einspielungen. Anders sieht es mit den nach Mossolows Inhaftierung entstandenen Werken aus: hier ist bislang lediglich eine kleine Auswahl erschlossen, unter anderem auf einer CD des Petersburger Labels Northern Flowers das (zweite) Cellokonzert und eine Sinfonie in E-Dur aus dem Jahre 1944 (die eventuell als Sinfonie Nr. 1 zu betrachten ist), daneben Suiten, Chöre und Gelegenheitswerke. Daher ist die vorliegende Veröffentlichung sehr willkommen, stellt sie doch zwei weitere großformatige Werke aus Mossolows späterem Schaffen erstmals vor.
Das frühere der beiden Opera ist das Harfenkonzert, ein dezidiert lyrisches Werk aus dem Jahre 1939, das für Wera Dulowa komponiert wurde, die es freilich nur einmal aufführte (unter Auslassung des kurzen dritten Satzes). In vielerlei Hinsicht handelt es sich um ein typisches Werk Mossolows aus der Zeit nach seiner Inhaftierung: die Musik ist schlicht gehalten (selbst für ein Werk, das den Erwartungen der sowjetischen Kulturpolitik jener Jahre zu entsprechen hatte), uneingeschränkt tonal (e-moll in diesem Fall), weitgehend unter Verzicht auf Chromatik, und sogar Kontrapunktik wird nur äußerst sparsam eingesetzt. Stattdessen steht einfache, (volks-)liedhafte Melodik im Zentrum, oft von der Harfe mit Figurationen und Arpeggien umspielt, wobei das Orchester insgesamt sehr sparsam eingesetzt wird. Ähnlich wie das Cellokonzert oder das zweite Streichquartett besitzt das Harfenkonzert eher den Charakter einer (ausgedehnten) Suite von Genrestücken; so sind die Sätze zwei bis vier explizit als Nocturne, Gavotte (mit einem Trio, das entfernt an das „Poljuschko Pole“ aus Knippers Sinfonie Nr. 4 erinnert) und Toccata bezeichnet. Mit der Sinfonie in E-Dur teilt das Harfenkonzert die ausgedehnten Proportionen; mit rund 37 Minuten Spieldauer dürfte es einer der längsten Vertretung seiner Gattung sein.
Alles zusammen wirkt das Harfenkonzert wesentlich zu lang; über weite Strecken passiert im Grunde genommen eher wenig. So bewegen sich die beiden Eingangssätze (d.h. die ersten über 26 Minuten des Konzerts!) im Wesentlichen im Adagio-Tempo, ohne dass dies zum Beispiel mit einer besonderen Intensität oder Variabilität des Ausdrucks einhergehen würde. Am gelungensten erscheint das Finale, weil es farbiger wirkt und einen willkommenen Kontrast liefert. In Kommentar zur CD wird die Behauptung vertreten, dieses Werk gehöre ins Standardrepertoire. Davon kann aus meiner Sicht keine Rede sein. Bereits ein Vergleich mit dem Glière-Konzert, das ein Jahr früher entstand und Mossolow offenbar zu seinem eigenen Konzert anregte, bekommt dem Werk schlecht, denn Glières Konzert ist wesentlich vielgestaltiger und reichhaltiger. Sucht man darüber hinaus speziell im früheren Ostblock nach weiteren lohnenswerten Harfenkonzerten, so könnte man etwa Boris Tischtschenkos Harfenkonzert (übrigens noch länger als Mossolows Gattungsbeitrag, aber erheblich facettenreicher), das expressive, dramatisch akzentuierte Konzert von Ernst Hermann Meyer oder, sucht man ein eher lyrisch geprägtes Stück, das Konzert des slowenischen Klangmagiers Lucijan Marija Škerjanc nennen.
Das interessantere der beiden Werke ist die dunkel-elegisch getönte, dreisätzige Sinfonie Nr. 5, entstanden 1965 (als Tonart wird in vielen Quellen e-moll angegeben, was in der Tat auf weite Teile der Ecksätze zutrifft, die Sinfonie endet allerdings in festlichem A-Dur). Im Vergleich zu den um 1940 entstandenen Werken hat sich Mossolows Tonsprache gewandelt; man wird in der Fünften immer wieder Anklänge an den späten Prokofjew finden. Nicht immer geschieht dies so explizit wie in Teilen des Mittelsatzes, wenn deutlich der Beginn von Prokofjews Siebter Sinfonie anklingt, aber mindestens spürbar bleibt der Einfluss meistens doch, etwa in der Orchestrierung (man beachte etwa die Behandlung der tiefen Register). Der episodische Charakter der Sinfonie, teilweise eher an eine Abfolge von Szenen erinnernd, lässt insbesondere an Prokofjews Ballettmusik denken. Dagegen ruft die elegische, brütend-verhangene Grundstimmung, aber auch die Harmonik Mjaskowski in Erinnerung. Ähnlich wie im Harfenkonzert dominieren langsame Tempi, die hier aber freier, variabler und kontrastreicher ausgestaltet werden.
Ein bemerkenswertes Detail ist, dass Mossolow in dieser Sinfonie recht ausgiebig seine eigene Klaviersonate Nr. 2 aus den Jahren 1923/24 zitiert. Dies gilt speziell für den langsamen Satz, der mit einer Reminiszenz an den Beginn der Sonate beginnt, dann aber vor allem ihren zweiten Satz verwendet. Später wird relativ zu Beginn des Finales (1:34 in der vorliegenden Aufnahme) wiederum der Beginn der Klaviersonate zitiert, nun wortwörtlich. Also doch noch einmal ein Rückbezug auf den frühen Mossolow! Freilich kann eher nicht von einer Wiederaufnahme seiner Tonsprache aus jungen Jahren die Rede sein, denn in beiden Sätzen hört man auch den späteren, „diatonischen“ Mossolow, und immer wieder scheint zudem seine Tendenz zu einem recht ausgedünnten Satz bis hin zur Einstimmigkeit durch. Dies wirkt nicht immer einheitlich, und im Vergleich zur Sonate zeigt sich insbesondere, dass Mossolow weder die atmosphärische Dichte noch die Stringenz seines frühen Werks erreicht.
Für eine sowjetische Sinfonie des Jahres 1965 ist Mossolows Fünfte eher konservativ; zu jener Zeit war die stilistische Bandbreite in der Sowjetunion bereits erheblich größer als in Stalins letzten Jahren, und auch Atonalität war keine Ausnahme mehr. In ihrer elegisch-retrospektiven Grundhaltung ist Mossolows Sinfonie vergleichbar mit Schebalins Fünfter (1962) oder Wladimir Jurowskis Fünfter (1971), wobei Letztere ebenfalls Material aus den jungen Jahren ihres Schöpfers zitiert. Wenn man an Komponisten denkt, die in den 1930er Jahren in ähnliche Konflikte wie Mossolow gerieten (und nicht gleich Schostakowitsch nennen will), ist auch ein Vergleich mit Gawriil Popows Sechster (1969) reizvoll; diese Sinfonie, auch Festliche genannt, ist ein in Teilen beinahe irrwitzig überdrehtes Werk, fast eher die Persiflage einer Festlichkeit. Mossolows Fünfte erreicht nicht das Niveau dieser Sinfonien, nicht zuletzt, weil sie insgesamt zu uneinheitlich ist. Dennoch handelt es sich um das bislang interessanteste Werk Mossolows aus seinem Schaffen nach der Inhaftierung, auch wenn einige der besten Passagen wesentlich auf der frühen Klaviersonate beruhen.
Das Moskauer Sinfonieorchester spielt insgesamt solide, einige Intonationsprobleme hier und da sind letztlich nicht so gravierend, dass sie ein größeres Problem darstellen würden. Ärgerlicher ist, dass die Interpretation der Sinfonie recht pauschal gerät: zum Beispiel wirkt die große Kulmination kurz vor Schluss des ersten Satzes vorwiegend laut und wenig differenziert. So aber ereignet sich die Musik nur Takt für Takt; Linienführung, Dramaturgie und Steigerungen kommen zu kurz. Gerade bei einem Werk wie dieser Sinfonie, das schon an und für sich nicht immer ganz kohärent wirkt, wäre ein stringenterer, nuancierterer Ansatz wichtig. Ähnliches gilt für das Harfenkonzert, dessen lyrische Ausrichtung stark betont wird, was seine erheblichen Längen noch deutlicher erscheinen lässt und auf die Dauer eintönig wirkt. Natürlich gibt es keine Vergleichseinspielung, aber Wera Dulowa hat eine Aufnahme einer kurzen Tanzsuite für Harfe allein von Mossolow hinterlassen. Obwohl diese Suite eigentlich nicht sonderlich interessant ist (ihre Thematik besteht im Wesentlichen aus Allgemeinplätzen), zeigt die Nuanciertheit und Lebendigkeit von Dulowas Interpretation auf, dass auch aus dem Harfenkonzert noch mehr herauszuholen wäre. Der Klang der Aufnahmen ist ordentlich, aber etwas matt.
Nicht ganz zufriedenstellend ist auch das (ausschließlich in englischer Sprache gehaltene) Beiheft: auf zwei Seiten wird vorwiegend Mossolows Biographie geschildert, auf die beiden Werke auf dieser CD wird dagegen nur spärlich eingegangen (und teilweise ist die Auswahl der Informationen nicht recht nachvollziehbar – zum Beispiel wird verschwiegen, dass im Rahmen des im Beiheft erwähnten Konzerts am 26. Januar 2019 offenbar auch die Sinfonie uraufgeführt wurde). Es soll dabei natürlich nicht abgestritten werden, dass gerade im Falle Mossolows biographische Details von wesentlicher Bedeutung sind. Wenn aber das Beiheft zum Beispiel die Bezüge zwischen der Sinfonie und der Zweiten Klaviersonate nicht einmal erwähnt, dann ist das schade, von einer gründlicheren Analyse der eingespielten Werke ganz zu schweigen.
Trotzdem ist diese CD-Veröffentlichung verdienstvoll, denn sicherlich ist Mossolow als Phänomen interessant genug, um auch seinem späteren Schaffen Aufmerksamkeit zu schenken. Darüber hinaus besitzt die Fünfte Sinfonie durchaus reizvolle Passagen und zeigt, dass auch in Mossolows späterem Schaffen noch gewisse Entwicklungen zu beobachten sind, teilweise im Sinne einer Rückschau auf seine Anfänge.
Der Titel „Vivaldissimo“ steht über dieser höchst bemerkenswerten polnischen Produktion wie ein in die Irre führender Wegweiser. Zwar eröffnet Antonio Vivaldi das Programm, doch begeben wir uns, geleitet von dem Gitarristen Krzysztof Meisinger und dem auf historischen Instrumenten spielenden Ensemble Poland baROCK, auf eine zeitlich, geographisch und stilistisch deutlich weiter ausgreifende Reise als die Überschrift vermuten lässt: auf eine veritable musikalische Grand Tour! Sie führt vom Venezianer Vivaldi, vorerst in dessen Zeit bleibend, zu Johann Sigismund Weiss, der als Hoflautenist des Kurfürsten von der Pfalz in Düsseldorf, Heidelberg und Mannheim wirkte, und zu Johann Sebastian Bach nach Mitteldeutschland. Es folgt ein Sprung um eine Generation nach Wien, wo wir Karl Kohaut begegnen. Mit dessen jüngerem Zeitgenossen Luigi Boccherini landen wir in Spanien, und bleiben dort auch, wenn mit Isaac Albéniz die Szene ins späte 19. Jahrhundert wechselt. Sämtliche Werke sind für die Besetzung dieser Aufnahme eingerichtet worden: die Lautenkonzerte Vivaldis und Kohauts, sowie die Stücke von Boccherini und Albéniz vom hier spielenden Gitarristen Krzysztof Meisinger, das Lautenkonzert von Weiss von Alice Artz und die Aria aus Bachs Orchestersuite BWV 1068 von Dmitry Varelas.
Betrachtet man das Manuskript von Vivaldis D-Dur-Konzert RV 93 (an wohlbekannter Stelle im Netz zu finden), so fällt auf, wie wenige Vortragsbezeichnungen der Komponist notiert hat. Meisinger und Poland baROCK haben aus den wenigen Piano- und Forte-Angaben nicht den Schluss gezogen, hier müsse strikt zwischen lauten und leisen Abschnitten ohne weitere Differenzierung geschieden werden. Auch schlussfolgerten sie aus der weitgehenden Abwesenheit von Bindebögen und Artikulationszeichen nicht, dass Legatospiel zu vermeiden sei und die Musik möglichst monoton vorgetragen werden müsse. Nein, die Musiker haben sich hörbar in das Stück vertieft, jede Phrase auf ihre Funktion im Gesamtzusammenhang hin betrachtet, und dadurch den Aufbau der Sätze verinnerlicht. In jedem Moment behalten sie die Übersicht über das Geschehen und können somit den musikalischen Verlauf als Folge einander bedingender Ereignisse darstellen. Nirgends wirken die Klänge unbedacht aneinandergereiht. Die Musik schwingt in großen Bögen und strahlt in jedem Takt Leben aus, im raschen wie im langsamen Tempo. Die feine Differenzierung in Dynamik und Artikulation sorgt dafür, dass der erste Satz, obwohl sehr lebhaft vorgetragen, nirgends gehetzt wirkt, ebenso dass der zweite trotz sehr breitem Zeitmaß (er dauert in der vorliegenden Einspielung länger als die Ecksätze zusammengenommen) fest zusammenhält. Alle drei Sätze des Konzerts sind in zweiteiliger (Sonaten-)Form mit Wiederholungsvorschriften für beide Teile geschrieben. Diese werden auch alle ausgeführt, aber keineswegs als bloße Pflichtschuldigkeit philologischer Ursache, sondern dramaturgisch sinnvoll: Der zweite Durchlauf des zweiten Satzteils schließt unmittelbar an den ersten an, nachdem dieser am Schluss nur zu lokaler, aber nicht endgültiger Beruhigung gekommen war. So gelingt die Überraschung, und die Musik stürzt sich mit neuer Energie in die zweite Runde. Die Wiederholungen im langsamen Satz gestaltet Krzysztof Meisinger mit geschmackvollen Verzierungen aus, während das Orchester noch tiefer in die Musik einzutauchen scheint. Im zweiten Durchlauf des Kopfsatzes erlaubt sich der Solist einen kleinen Scherz, indem er vor dem letzten Tutti in einer kleinen Kadenz die Verwandtschaft des Hauptgedankens mit dem entsprechenden Thema des Frühlings aus den Vier Jahreszeiten offenlegt. Außerdem leitet Meisinger den langsamen Satz mit einem kurzen improvisierten Vorspiel ein. Wie die Freiheiten, die sich die Musiker beim Vortrag und in der Ausgestaltung der Dynamik nehmen, stets im Einklang mit dem musikalischen Verlauf erscheinen, so fügen sich auch diese Zutaten des Solisten passend in den Zusammenhang ein.
Johann Sigismund Weiss stand zu Lebzeiten im Schatten seines älteren Bruders Silvius Leopold Weiss. Während jedoch dessen Lautenkonzerte bis auf die Solostimmen verloren gingen, hat das Schicksal es in dieser Hinsicht mit Johann Sigismund besser gemeint. Sein Konzert in d-Moll ist viersätzig, aber kürzer als das Vivaldische. Zweimal wechselt hier ein langsamer mit einem schnellen Satz, wobei der Kopfsatz sich gegen Schluss in einen kurzen schnellen Abschnitt hineinsteigert. Feurig beschwingt in den raschen Sätzen, grüblerisch und herb in den langsamen, stellt das Werk seinem Komponisten ein treffliches Zeugnis aus.
Karl Kohaut galt Mitte des 18. Jahrhunderts als bester Lautenist Wiens und stand in der Gunst Kaiser Josephs II., der ihn in den Adelsstand erhob. Sein etwa 20-minütiges Konzert in E-Dur steht stilistisch ungefähr in der Mitte zwischen Matthias Georg Monn und dem frühen Joseph Haydn, was sich formal darin äußert, dass der Kopfsatz sich gleichermaßen als Ritornell- wie als Sonatenform beschreiben lässt. Ein freundlicher, galanter Tonfall prägt die Ecksätze, namentlich das im Menuett-Zeitmaß gehaltene Finale. Sie umschließen ein arioses Larghetto in Moll.
Krzysztof Meisinger ist ein souveräner Virtuose und zeigt dies überall, wo ihm die Komponisten entsprechende Figurationen zu spielen geben. Allerdings erschöpft sich sein Künstlertum nicht in der technischen Perfektion. Alle langsamen Sätze des vorliegenden Albums demonstrieren, wie fein er es versteht, die Gitarre singen zu lassen; ebenso, dass er ein großartiger Kammermusiker ist, der auf seine Mitspieler zu hören weiß. Auf den charakteristischen Klang seines Instruments vertrauend, hält er sich mitunter deutlich zurück, um den Streichern mehr Raum zu gönnen, wenn diese prominent hervorzutreten haben. Der Solist drängt sich nicht in den Vordergrund, sondern fungiert gleichsam als Schlagader des musikalischen Geschehens. Er mag die markanteste Stimme haben, doch gönnt er auch allen anderen Stimmen ihr Recht. Ein besonders inniges Miteinander gelingt auf diese Weise in der Bachschen Air. Ein Reiz eigener Art entsteht durch die Besetzung der Continuo-Gruppe von Poland baROCK mit Theorbe und Cembalo. Gerade in den langsamen Sätzen, wenn die Musik im allgemeinen recht leise ist, kann man die drei einander ähnlichen Klangfarben von Solo-Gitarre, Cembalo und Theorbe im Zusammenspiel hören.
Um für den Schluss des Programms nach Spanien überzuleiten, erweist sich der letzte Satz von Boccherinis Gitarrenquintett G. 448 bestens geeignet, beginnt doch seine Einleitung im gleichem Rokoko-Geist, der dem vorangegangenen Konzert Kohauts das Gepräge gibt, um letztlich in einen Fandango zu münden. Meisingers Bearbeitung von Albéniz‘ Asturias lässt klanglich aufhorchen. Zwar hört man das ursprünglich für Klavier geschriebene Stück oft von einer Gitarre vorgetragen, aber wann einmal mit einem Barockorchester als Begleitung? Das Experiment gelingt prächtig! Im Gegensatz zu Boccherinis Fandango, wo Meisinger noch Erster unter Gleichen ist, übernimmt er hier sehr entschieden die Führung. Die Streicher schaffen mit langen Orgelpunkten eine weiträumige Atmosphäre, während das Cembalo mit harten Arpeggien und Stützakkorden wie eine große zweite Gitarre klingt. Dass auch die spanischen Stücke, jedes auf die ihm angemessene Art, höchst kultiviert vorgetragen werden, erübrigt sich fast zu sagen.
Der Begleittext beschränkt sich auf ein kurzes Geleitwort Krzysztof Meisingers auf Polnisch. Die Musiker lassen also weitgehend die Musik für sich sprechen. Und das tut sie in ihren Händen wahrlich ausgezeichnet.
Auf dem zweiten Teil der Gesamteinspielung aller Klavierwerke Gordon Sherwoods von Masha Dimitrieva hören wir Stücke, die eine gewisse Hommagefunktion erfüllen: Die „Air“ der „Sieben beschreibenden Klavierstücke“ op. 6 steht im Zeichen Bartóks, die zwei „Rondos im klassischen Stil“ op. 4 greifen die Musik Haydns und Schuberts auf, die „Drei Stücke op. 22“ bekennen sich zu Hindemith. Komplexer werden solche Zuordnungen bei den längeren Werken dieser CD: Die Sonate op. 111+11 bezieht sich auf Beethoven, ist aber in Motto und Klang in buddhistischen Sphären errichtet. Die abschließenden Blues-Variationen op. 33 konzipierte Sherwood auf ein Thema von Peter Heaton, widmete das Werk Fats Waller – in seinem Innersten ist es jedoch eine Hommage auf die gesamte Ragtime-, Blues und Barpiano-Szene.
Das Unglaubliche in der Musik Gordon Sherwoods ist seine Fähigkeit, in jedem Stil er selbst zu bleiben. Mühelos, gar schwerelos, mäandert er zwischen Bach, Wiener Klassik, Romanik und Moderne bis hin zum Jazz, nimmt sich dabei das Beste aus jedem Stil heraus und fusioniert es zu einer eigenen, vielseitigen wie facettenreichen Tonsprache. Nie gleichen sich zwei Werke Sherwoods bezüglich ihrer Tonsprache und doch erkennt man eines seiner Stücke sofort anhand mancher Harmonieabfolgen, Muster oder Figurationen, die er favorisiert. In meiner Rezension über den ersten Teil der Einspielung seiner Klavierwerke vermerkte ich noch: „Charakteristisch für ihn ist lediglich, dass sein Schaffen keinen verfestigten Stil aufweist.“ [Zitat: siehe den Beitrag „Weltbüger und Bettler“] Heute würde ich ergänzen, dass er trotz aller Divergenzen doch einen Funken aufweist, die ihn unverkennbar macht in seiner Kompositionsweise. Wie genau sich dieser niederschlägt, das wäre ein spannender Ausgangspunkt für die Musikforschung.
Was seine Biographie angeht, so könnte man alleine viele Seiten füllen, denn Sherwood führte ein filmreich anarchisches, von allen hiesigen Konventionen befreites Leben. Er opferte eine geordnete Lebensführung als Komponist (den Erfolgen seiner frühen Jahre nach zu urteilen sicherlich als gefeierter Star der zeitgenössischen Musik) seinem Drang nach Freiheit; so das Geld es zuließ, reiste er und ließ sich in Afrika oder Asien zu neuer Musik inspirieren. Wo es finanziell fehlte, ging er nach Paris, um dort „Self-Sponsoring“ zu betreiben, also Passanten auf der Straße um eine Bezahlung für seine Musik zu bitten. Wer von den Passanten hätte wissen können, dass einer der Meisterschüler Coplands, Jarnachs und Petrassis, dessen Symphonie op. 3 durch Mitropoulos durchschlagenden Erfolg feierte, gerade um Gaben bettelte. Nur wenige Freunde und Verehrer seiner Kunst wussten um das wahre Genie Sherwoods; erst der Film „Der Bettler von Paris“ verlieh ihm in Deutschland kurzzeitig Aufmerksamkeit – auch Masha Dimitrieva sah diesen Film und versuchte sogleich, diesen wundersamen Mann zu kontaktieren. Über mehrere Ecken klappte dies schließlich und führte zu beidseitig inspirierenden Begegnungen: Gordon Sherwood erhielt den Funken, sein lang geplantes Klavierkonzert gemeinsam mit Masha Dimitrieva in die Tat umzusetzen; auch widmete er ihr andere seiner Kompositionen. Unter anderem steht sie in der Widmung der hier zu hörenden Sonate op. 111+11. Masha Dimitrieva ist es auch, die nach dem Tod Sherwoods sein geistiges Erbe verwaltet und sich als Leitfigur für seine Musik einsetzt. Nicht nur sämtliche seiner Klavierwerke spielt sie aktuell ein, sondern auch alle Lieder.
Die große Herausforderung liegt in diesem Unterfangen auf der Hand: Die Musik Sherwoods verlangt eine souveräne Beherrschung sämtlicher Stile verschiedener Epochen oder gar von Personalstilen einzelner Komponisten, darüber hinaus das Verständnis, hinter diese oberflächlichen Eigentümlichkeiten zu sehen und den Sherwood eigenen Kern zu entdecken.
Direkt nach seiner neutönerischen Symphonie op. 3, durch welche er zu einem der spannendsten jungen Tonsetzer gekürt wurde, schrieb er die Zwei Wiener Rondos op. 4. Auf den ersten Blick mögen sie wie Studienwerke klingen, geschrieben um sich den Stilen der großen Meister anzunähern, doch es steckt mehr dahinter: Sherwood präsentiert nicht nur meisterliche Beherrschung der Handschriften von Haydn und Schubert, sondern kann sie auf unvergleichliche Weise eigenständig weiterführen. Bereits hier bricht er mit den Konventionen und schreibt wissentlich wider die Art der Musik, die ihn neulich noch bekannt machte. Leichter kann man auch als Sherwood-unerfahrener Hörer seine kompositorischen Eigentümlichkeiten in den Sieben beschreibenden Klavierstücken op. 6 und den später entstandenen Drei Stücken op. 22 durchhören. Beide nähern sich zwar ebenso anderen Komponisten an, mit Hindemith und Bartók zwei Meistern der Moderne, doch können in den hier freieren, dissonanteren Tonräumen mehr von Sherwoods favorisierten Wendungen auftreten. Besondere Beachtung verdienen die Zwölf Variationen auf ein Blues-Thema op. 33. Sherwood arbeitete lange Zeit als Barpianist und machte sich so mit den tanzbaren Rhythmen vertraut, mit den Eigenheiten des Blues, aber auch damit, wie man ihn durchbrechen kann. In den Variationen nimmt er den Blues in seine Mikroteilchen auseinander und durchdringt die Form bis ins kleinste Detail, um sie auf teils gar widerborstige Weise neu zusammenzusetzen. Manche der Variationen könnten ohne Weiteres in einer Bar erklingen, andere strotzen vor Dissonanzen und gespannten Momenten, wieder andere glühen vor rhythmischer (Tanz-)Energie. Halsbrecherisch virtuos spielt Sherwood genau mit der Bruchstelle zwischen sogenannter ernster und leichter Musik, zeigt verstohlen heimlich beiden die lange Nase. Hier hört man am deutlichsten, welche Harmoniewendungen Sherwood präferiert, welche Motivschnipsel ihn beschäftigen und was seine Handschrift ausmacht. Den Höhepunkt der CD macht die halbstündige Sonate op. 111+11 aus, die in zweisätziger Faktur einen gewaltig großen Aufbau zeichnet, wie man ihn in dieser Stringenz selten in der Musikgeschichte erlebt. Die Sätze beschreiben zwei buddhistische Entwicklungsstadien: Sotapanna (Vorbereitendes Stadium des buddhistischen Heilsweges. Brodelnd vor Wut, Bitterkeit und gerechtem Zorn. Gier und Selbstsucht sind überwunden, aber noch nicht Ärger und Angst) und Arahat (Endgültiges Stadium des buddhistischen Heilsweges. Besänftigt durch tiefen inneren Frieden, Gelassenheit und Behagen. Ärger, Bitterkeit und Angst sind überwunden). Diesen Weg der Reinigung zeichnet Sherwood – selbst praktizierender Buddhist – in der Musik nach und führt uns hin zu einem verheißenden Höhepunkt. Der Weg wirkt mühsam, voller Verlockungen und Hindernissen, doch die Erleuchtung lockt und zieht uns das Stück entlang. Erzählend, beschreibend, verheißend bannt uns die Musik und lässt uns nicht los, ehe wir einen kurzen Blick auf die Freuden werfen konnten, welche der Heilsweg verspricht.
Masha Dimitrieva führt uns durch diese Musik, angetrieben von der tiefen Zuneigung zu jedem der Stücke und von ihrer Mission, die Musik des „Bettlers von Paris“ erstmalig und vollständig zugänglich zu machen. Nicht nur technisch meistert sie jede Hürde mit Bravour, sondern auch musikalisch durch tiefes Verständnis zu jedem Stil und zum Kern, Sherwoods omnipräsente Handschrift. Perlend klar und heiter klingen die Wiener Rondos, swingend leichtfüßig die Blues-Variationen, verhaltener die Air und perkussiv fokussiert die Stücke op. 22. Aus der Sonate holt Dimitrieva alles heraus, was man sich als Hörer wünschen kann. Durch den allmählichen Aufbau und die Beibehaltung eines kontinuierlichen Stroms nach vorne, der über sämtliche Abbiegungen und Ausschweifungen der Musik hinweg spürbar bleibt, bannt sie uns in die Musik und zelebriert die buddhistische Philosophie durch ihr Spiel.
Capriccio veröffentlicht ein Porträt des Komponisten Rudolf Wagner-Régeny. Vier seiner Werke werden vom Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter der Leitung von Johannes Kalitzke, Steffen Schleiermacher am Klavier, dem Rundfunkchor Berlin sowie der Altistin Michaela Selinger vorgestellt.
Zahlreiche Komponisten der Jahrgänge 1880 und aufwärts aus dem deutschen Sprachraum sind diskographisch leider nach wie vor eher spärlich erschlossen. Das hat vielfältige Gründe, ist aber zu bedauern, weil es hier sehr viel sehr gute Musik zu entdecken gäbe. In den letzten Jahren hat das Label Capriccio auf diesem Gebiet mit einer Reihe gelungener Veröffentlichungen (etwa mit Musik von Boris Blacher, Victor Bruns, Gottfried von Einem, Hanns Eisler oder Gerhard Frommel) aufgewartet.
In diese Reihe passt die vorliegende CD mit Werken von Rudolf Wagner-Régeny (1903–1969). Wagner-Régeny wurde im siebenbürgischen Szászrégen (oder Sächsisch Regen) geboren, worauf sich der selbstgewählte Namenszusatz bezieht. Einstmals insbesondere als Opernkomponist sowohl im Dritten Reich als auch später in der DDR erfolgreich, wird seine Musik heute nur noch selten gespielt. Auf CD ist seine Oper „Die Bürger von Calais“ zu haben, und außerdem sind zwei Porträt-CDs des (nach dem Tod seines Gründers mittlerweile leider inaktiven) Labels Hastedt zu erwähnen, das sich um Musik aus der ehemaligen DDR sehr verdient gemacht hat.
Neben den Opern, die als Zentrum seines Schaffens gelten, hat Wagner-Régeny zahlreiche andere Genres bedient, zunächst tendenziell als Nebenprodukt seines Bühnenschaffens, später immer stärker auch unabhängig davon. Wagner-Régeny kann grundsätzlich als Neoklassizist bezeichnet werden. In etwa ab den späten 1940er Jahren greift er immer wieder auch auf Dodekaphonie zurück, ohne tonale Bezüge aufzugeben. Es ist nicht schwer, in seiner Musik eine ganze Reihe verschiedener Einflüsse (z.B. Hindemith, Blacher, Weill oder Strawinski) auszumachen. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass er eine charakteristische eigene Tonsprache besitzt, die diese Vorbilder nicht kopiert, sondern eher integriert. Bekannt für seine „Kunst der Aussparung“, wählt Wagner-Régeny seine Mittel in aller Regel ausgesprochen ökonomisch und konzentriert und vermeidet die große Geste zugunsten einer eher herben, kühlen Expressivität mit besonderem Schwerpunkt auf der melodischen Linie. Seine Musik wirkt transparent und luzide, auch die Orchesterwerke muten meist eher kammermusikalisch an. In seinem Spätwerk vereinigt sich dies zuweilen mit einer Atmosphäre von Abschied und Retrospektive zu einer bei aller Zurückgenommenheit eigentlich bemerkenswert ausdrucksstarken Musik, so etwa in seinem orchestralen Meisterwerk, der herrlichen Einleitung und Ode für sinfonisches Orchester aus seinen letzten Lebensjahren.
Am Beginn der vorliegenden CD steht Genesis, eine Kantate (oder Oratorium) für Alt, Chor und kleines Orchester aus den Jahren 1955/56, die in lateinischer Sprache die biblische Schöpfungsgeschichte schildert. Die sechs Sätze sind mit Ausnahme des letzten eher kurz, es dominieren ruhige, meditative Töne, was mit Tempoangaben einhergeht, die nicht über Allegretto oder Moderato hinausgehen, und einer generellen Tendenz zu Mollklängen. So mündet das Werk auch am Ende nicht in eine große Apotheose, sondern klingt mit Reminiszenzen an den Beginn in gravitätischer Ruhe aus. Kalitzkes Einspielung betont die Einheitlichkeit des Stücks und seine zurückgenommene, fast mystische Grundstimmung. Sicher ist dies eine gute Interpretation. Dass es allerdings möglich ist, dieses Werk noch suggestiver und eindrucksvoller zu gestalten, zeigt der Mitschnitt der Uraufführung mit Herbert Kegel am Pult, der auf einer Hastedt-CD veröffentlicht wurde (bedauerlicherweise längst vergriffen und selbst gebraucht kaum noch erhältlich). Kegel bringt die Linien und Spannungskurven dieser Musik deutlicher zur Geltung und erzeugt so stärkere Kontraste und eine insgesamt intensivere Deutung. Seine Lesart bleibt somit trotz der klanglichen Defizite, die bei einer Einspielung aus dem Jahre 1956 unvermeidbar sind, die Referenzeinspielung dieser Kantate.
Es folgt eines von Wagner-Régenys erfolgreichsten Werken, die Orchestermusik mit Klavier aus dem Jahre 1935, eine Art kleines Klavierkonzert, das nach Angaben von Tilo Medek offenbar Bezüge zu Wagner-Régenys Schauspielmusik zu Shakespeares Sommernachtstraum aufweist. Es handelt sich um ein ausgesprochen attraktives, dankbares Werk, das durch einprägsame, diatonisch geprägte und auf motorischen Impulsen aufbauende Thematik besticht, die teilweise volksliedhaft wirkt, manchmal auch Unterhaltungsmusik anklingen lässt. Vieles ist bewusst einfach und spielmusikhaft gehalten. Wie der Titel suggeriert, steht nicht Virtuosität im Vordergrund, sondern das Klavier interagiert mit dem Orchester oder ist sogar in dieses integriert. Einen Kontrast zu den lebhaften Ecksätzen (wobei der dritte zweigeteilt ist: dem eigentlichen Finale geht als Einleitung ein kesses Scherzo voran) bildet ein beseelter, liedhafter langsamer Satz, der später variiert und in einen langsamen Marsch verwandelt wird.
Mir sind insgesamt nicht weniger als vier Einspielungen der Orchestermusik bekannt: neben der vorliegenden Neueinspielung sind dies Eleonore Wikarski (Hastedt-CD, Aufnahme von 1967), Amadeus Webersinke (eine Schallplatte des DDR-Labels für neue Musik Nova, Aufnahme von 1981/82) und schließlich Rudolf Wagner-Régeny selbst am Klavier in einer nicht kommerziell veröffentlichten Aufnahme aus dem Jahr 1949. Bemerkenswerterweise nimmt die Lesart des Komponisten selbst eine Extremposition ein: insgesamt ist dies die deutlich langsamste Einspielung, dabei mit allerhand Freiheiten in der Tempogestaltung wie auch Rubati, insgesamt eine überraschend expressive Deutung. Dagegen wirkt insbesondere Amadeus Webersinkes Interpretation wesentlich klassizistischer und letztlich ein wenig arg gezügelt. Schleiermacher wählt eine Art Mittelweg mit eher zügigen Tempi (vor allem in den schnellen Sätzen), aber mehr Temperament als Webersinke.
Speziell im ersten Satz wählen Wagner-Régeny und auch Wikarski einen merklich breiteren Ansatz, der die Vortragsanweisung „heftig“ untermauert, andererseits das parodistische Element des zweiten Themas besonders gut zur Geltung bringt. Im zweiten Satz lässt niemand die Melodik so breit aussingen wie Wagner-Régeny selbst – so gespielt, mag man etwa in den choralartigen Holzbläserpassagen sogar ein wenig an den langsamen Satz des Reger-Konzerts denken. Allerdings vertragen beide Sätze auch eine zügigere Tempowahl sehr gut: im ersten Satz wird so der zupackend-athletische Charakter betont, der zweite wirkt etwas flüssiger – ebenfalls also eine schlüssige Lesart der Orchestermusik. Lediglich im Fugato zu Beginn von Satz 3b erscheint mir Schleiermachers Tempo als einen Hauch zu schnell, um noch „anmutig“ zu wirken, aber dabei handelt es sich um Nuancen. Insgesamt ist dies eine sehr gute Neueinspielung, die diesem Werk hoffentlich viele neue Freunde bescheren wird.
Bei den Mythologischen Figurinen aus dem Jahre 1951 handelt es sich um ein orchestrales Triptychon, in welchem (unter Verwendung von Zwölftontechnik sowie Blachers „variablen Metren“) drei griechische Göttinnen porträtiert werden. Interessant ist ein Vergleich mit Wagner-Régenys Drei Orchestersätzen (Nova-LP), die ihrerseits als Vorstudie zum Oratorium Prometheus gelten, also in gewisser Hinsicht ebenfalls einen Bezug zur griechischen Mythologie besitzen und vielleicht eine Art Schwesterwerk darstellen. Auch in den Orchestersätzen verwendet Wagner-Régeny Dodekaphonie, aber der tonale Bezug erscheint etwas stärker. Beispielsweise enden beide Zyklen mit einer Art Apotheose, aber wo die Mythologischen Figurinen in ein abschwellendes Unisono-D münden, lässt Wagner-Régeny seine Orchestersätze mit einem kräftigen Dur-Akkord enden. Durch derlei Details wirken die Orchestersätze insgesamt ein wenig leichter zugänglich als die manchmal etwas sperrigen Figurinen. Kalitzkes Einspielung bewegt sich auf hohem Niveau, insbesondere auch bezüglich der Orchesterleistung, wenngleich ähnlich wie im Falle von Genesis noch mehr an Spannung und Expressivität aus der Partitur herauszuholen wäre (exemplarisch seien die langsameren Passagen in der Mitte des ersten Stücks genannt, die recht statisch wirken). Trotzdem zweifelsohne eine erfreuliche Ergänzung der Wagner-Régeny-Diskographie.
Am Ende der CD steht ein reines Klavierwerk, nämlich die Fünf französischen Klavierstücke, erneut aus dem Jahre 1951 und ebenfalls unter Verwendung von Zwölftontechnik. Diese Miniaturen von jeweils kaum mehr als ein bis zwei Minuten Länge sind in Trois Parfums und Deux hommages à la cuisine geteilt. Sie unterstreichen Wagner-Régenys Tendenz zu Verknappung, Reduktion und Verzicht auf schmückendes Beiwerk. Dies wird durch Schleiermachers sehr trockenen, nüchternen Ansatz noch verstärkt. Dadurch allerdings wirkt die Musik insgesamt reichlich blass und spröde. Im Vergleich arbeitet Peter Szaunig auf einer vergriffenen, von der Siebenbürgisch-Sächsischen Stiftung herausgegebenen CD die Linien und Farben dieser Musik wesentlich deutlicher heraus. So beginnen auch diese vermeintlich trockenen Stücke zu „sprechen“, und die Delikatesse, die sie ja qua Titel besitzen sollten, kommt erst wirklich zum Vorschein.
Klangtechnisch ist die CD vorzüglich gelungen, die Aufnahmen sind transparent, und in der Orchestermusik ist das Klavier gut in das Klangbild integriert. Christian Heindl informiert im Begleittext ausführlich und auf gewohnt hohem Niveau.
Summa summarum ein willkommenes Plädoyer für Wagner-Régenys Musik.
Was liegt näher, als sich über die Weihnachtstage mit Musik zu beschäftigen, die Demjenigen Ehre erweist, dessen Geburt den Anlass bot, das Weihnachtsfest ins Leben treten zu lassen? Pünktlich zum Fest hat Aldilà Records Olivier Messiaens Klavierzyklus Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus herausgebracht. Es handelt sich um den Mitschnitt eines Konzerts, das die Pianistin Pi-Hsien Chen 2005 in der Kölner Kirche St. Cäcilien gegeben hat.
Das Jesuskind in der Krippe: ein kleiner Mensch, gerade erst auf die Welt gekommen, noch ganz hilflos und schutzbedürftig – und zugleich Gottes Sohn, der filius Dei unigenitus, von einer Substanz mit dem Vater, also Gott, der ewige und allmächtige, selbst. Nirgendwo sonst ist die Spannweite der ungetrennten zwei Naturen Jesu Christi so deutlich spürbar wie in diesem Bild. Mannigfaltige Assoziationen können dem entspringen und zu künstlerischer Gestaltung anregen. Olivier Messiaen, als dezidiert katholischer Komponist, ließ sich zu einem Zyklus von 20 Klavierstücken inspirieren, deren jedes einen Blick auf das Jesuskind unter einem bestimmten Gesichtspunkt musikalisch verdeutlicht. Begonnen wird mit dem Blick Gottvaters. Gleich zu Beginn dieses ersten Stückes erscheint das wichtigste Thema des Werkes, von Messiaen selbst als „Thema Gottes“ bezeichnet, das im Verlauf des Zyklus immer wieder auftaucht und wie ein Wegweiser hilft, sich im musikalischen Geschehen zu orientieren. Es beschließt, in einer außerordentlich langen Coda, auch den letzten Satz, in welchem Jesus aus Sicht der „Kirche der Liebe“ betrachtet wird. Außer dem „Thema Gottes“ hat Messiaen im Vorwort der Partitur noch auf das „Thema des Sterns und des Kreuzes“ (zuerst in Satz 2 zu hören) und das „Akkord-Thema“ (ein Strukturelement ohne spezielle symbolische Bedeutung) hingewiesen. Weitere Themen, das „Thema der Liebe“ etwa, kennzeichnet der Komponist ebenso in der Partitur wie die eingestreuten Vogelrufe. Für Messiaen spricht Gott aus den Stimmen der Vögel. Durchaus naheliegend erschien es somit, dass er sie u. a. als Symbole für Mariae Verkündigung im vierten und elften Satz verwendete.
Messiaens musikalische Umsetzung seiner religiösen Empfindungen ist unverwechselbar. Die Vingt Regards sind meditative Musik; auf Stilmittel zur Dramatisierung des musikalischen Geschehens verzichtet der Komponist gezielt. An Stelle eines Spannungsaufbaus anhand klarer tonaler Verhältnisse tritt ein elaboriertes Modussystem, das tonale Zentren zwar als Nebenprodukte ausbildet, aber ihr Wechselspiel gerade nicht in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Entsprechend entstehen auch keine rhythmischen Pulse. Die Rhythmik selbst ist außerordentlich vielgestaltig, zumal Messiaen in vielen Stücken keine festen Metren vorschreibt, sondern durch Verkürzung und Verlängerung einzelner Töne Takte unterschiedlicher Ausdehnung einander folgen lässt. Der Tonsatz kommt nahezu ohne kontrapunktische Techniken aus. Statt des Aufeinandereinwirkens mehrerer Stimmen, das ja selbst bei Palestrina etwas von dramatischer Aktion, von gegenseitigem Antreiben, an sich hat, bevorzugt Messiaen eine homophone Satzgestaltung, geprägt von Akkordfolgen. Sein Einfallsreichtum in der Gestaltung aparter, raffinierter, milder Dissonanzen – oft mit Zusatztönen angereicherte Dur- oder Mollklänge – verdient besondere Erwähnung. Gezielt eingesetzte Funktionsharmonik begegnet selten: Ein Beispiel sind die kindlich anmutenden Dominante-Tonika-Kadenzen in Satz 15, Le baiser de l’Enfant-Jésus, wobei die Tonika regelmäßig mit einer hinzugefügten Sexte verziert wird. Im Großen und Ganzen kultiviert Messiaen eine enorm farbenreiche, aber statische Harmonik. Seine musikalische Dramaturgie wird von prägnant formulierten, bildhaften Momenten bestimmt, die einander abwechseln. Diese Musik zu hören, verschafft das Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben, denn eine Gestaltung des Drängens der Zeit interessiert Messiaen schlicht nicht. Er wollte nach eigenen Worten Musik schaffen, die das Ende der Zeit zum Ausdruck bringt. So schweben die Vingt Regards gleichsam zeitlos vorüber.
Das vom WDR aufgezeichnete Konzert, in dem Pi-Hsien Chen sich am 4. Juli 2005 den enormen technischen und musikalischen Herausforderungen stellte, die eine Darbietung des kompletten Zyklus mit sich bringt (er dauert unter ihren Händen über 130 Minuten), muss gleichermaßen für die Pianistin wie für das Publikum eine Sternstunde gewesen sein. Der Mitschnitt lässt jene Atmosphäre erahnen, die entsteht, wenn vortreffliche Musiker ihre Zuhörer zu fesseln verstehen und, von ihrer Aufmerksamkeit angespornt, sich zu Höchstleitungen steigern. Der Darbietung selbst merkt man an, wie sehr sich die Pianistin in diese Musik vertieft haben muss. Nirgends wirkt Messiaens demonstrative Zeit(maß)losigkeit angestrengt oder ermüdend. Pi-Hsien Chens sorgfältiges Herausarbeiten der dynamischen Abstufungen und der klangfarblichen Gestaltung der verschiedenen Abschnitte bewirkt ebenso wie ihre Gabe, tonale Schwerpunkte in der nicht-tonal konzipierten Musik aufzuspüren, dass die Übersichtlichkeit über die musikalischen Ereignisse stets gewahrt bleibt und die Musik sich mit einer Natürlichkeit entfaltet, als könnte es nicht anders sein. Wer mit Messiaen 20 Blicke auf das Jesuskind werfen möchte, kann sich bedenkenlos Pi-Hsien Chen anvertrauen.
Für Toccata Classics hat Matthew Rubenstein eine repräsentative Auswahl der Klavierwerke Marcel Mihalovicis aufgenommen.
Der gebürtige Rumäne Marcel Mihalovici war rund sechs Jahrzehnte lang eine der herausragenden Persönlichkeiten im Musikleben seiner Wahlheimat Frankreich. 1898 in Bukarest geboren, hatte er 21-jährig den Ratschlag seines 17 Jahre älteren Landsmannes George Enescu befolgt und sich in Paris niedergelassen, wo er bis 1925 an der Schola Cantorum Komposition bei Vincent d’Indy, Harmonielehre bei Léon-Edgar Saint-Réquier und Paul Le Flem, Gregorianik bei Amédée Gastoué und Violine bei Nestor Lejeune studierte. In Künstlerkreisen gut vernetzt, fand er nach dem Ende seines Studiums Anschluss an den Verleger Michel Dillard, der sich auf die Verbreitung von Werken in Paris lebender ausländischer Komponisten spezialisiert hatte. Die um Dillard versammelten Komponisten, neben Mihalovici u. a. der Tscheche Bohuslav Martinů, der Schweizer Conrad Beck, der Ungar Tibor Harsányi und der Pole Alexander Tansman, sind unter dem Namen „École de Paris“ in die französische Musikgeschichte eingegangen; die Erforschung dieser „Schule“ dürfte ein ergiebiges Thema für Musikhistoriker sein. In den Zenit seiner Bekanntheit gelangte Mihalovici nach dem Zweiten Weltkrieg. Zum einen wurde er im Rundfunk viel gespielt, zum andern fand er, außerhalb Frankreichs bis dahin wenig bekannt, durch seine Bekanntschaft mit Dirigenten wie Hans Rosbaud, Paul Sacher, Erich Schmid, Ferdinand Leitner und Heinz Zeebe, sowie dem Intendanten des SWR Heinrich Strobel Anschluss an das Musikleben Deutschlands und der Schweiz. Regelmäßig standen nun, in Frankreich wie in den deutschsprachigen Ländern, seine Kompositionen auf Programmen von Festen zeitgenössischer Musik. Die Bestrebungen der deutschen und französischen Nachkriegsavantgardisten blieben ihm allerdings fremd. Hochgeehrt starb Mihalovici 1985 in Paris.
Von den genannten Komponisten der „École de Paris“ hat bislang nur Martinů eine seiner Begabung angemessene diskographische Repräsentation erfahren. Auch das Schaffen Mihalovicis ist, trotz zahlreichen Rundfunkaufnahmen zu Lebzeiten, auf Tonträgern bislang nur spärlich vertreten. An vorderster Stelle muss hier der großen Pianistin Monique Haas gedacht werden, der Ehefrau des Komponisten, die mehrere seiner Werke auf LP festgehalten hat (so für Deutsche Grammophon die Ricercari op. 46 und, prachtvoll im Duo mit Max Rostal, die Violinsonate Nr. 2 op. 45, beides mittlerweile auf CD überspielt). Auch fand immer wieder einmal eines seiner Kammermusik- oder Klavierstücke in einer Anthologie Platz. Auf eine erste CD-Einspielung wartet allerdings noch sehr viel, denn Mihalovici hinterließ ein Werkverzeichnis, dessen über 100 Opuszahlen nahezu sämtliche Gattungen umfassen: Fünf Symphonien, eine große Zahl weiterer Kompositionen für große oder kleine Orchesterbesetzungen, Kantaten, Opern, Ballette, Kammermusik (darunter vier Streichquartette), sowie Werke für Klavier solo.
Für die letztgenannten hat sich nun der in Berlin lebende amerikanische Pianist Matthew Rubenstein eingesetzt und das erste Klavieralbum aufgenommen, das gänzlich Marcel Mihalovici gewidmet ist. Die CD enthält mit den Ricercari op. 46, der Sonate op. 62 und der Passacaglia für die linke Hand op. 105 die drei gewichtigsten Beiträge des Komponisten zur Klavierliteratur. Sie werden ergänzt durch eine Auswahl seiner kürzeren Stücke: Die Sonatine op. 11, Quatre Caprices op. 29 und Quatre Pastorales op. 62. Ein Blick auf die Opuszahlen verrät, dass sich die Werke dieses Programms ziemlich gleichmäßig über Mihalovicis gesamte Schaffenszeit verteilen: Zwischen der Sonatine und der Passacaglia liegt mehr als ein halbes Jahrhundert. Wir haben mit der CD also auch die geraffte Darstellung eines Künstlerlebens vor uns.
Insgesamt 66 seiner 87 Lebensjahre verbrachte Mihalovici in Frankreich. Seine rumänische Identität hat er dabei nie verleugnet, auch kehrte er bis zum Zweiten Weltkrieg regelmäßig in den Sommermonaten nach Rumänien zurück. Seinem künstlerischen Schaffen lässt sich anhören, dass es als Frucht eines beständigen Wanderns zwischen beiden Kulturen entstand. Die Stilmittel der französischen Impressionisten – ihre aparten, unaufgelösten Dissonanzen, ihre entfunktionalisierte, in klangfarbliche Phänomene hinüberspielende Harmonik, ihre Vorliebe für modale und pentatonische Melodien – berühren sich in vielerlei Hinsicht mit denjenigen südosteuropäischer Volksmusik. Mihalovici setzt gewissermaßen an diesen Schnittstellen an und kultiviert einen Personalstil, in dem östliche und französische Einflüsse zu einer unauflöslichen Synthese verschmelzen. In nuce verdeutlicht dies die erste Caprice aus op. 29: Die Verzierungen der Melodie scheinen rurale Balkanlandschaften zu evozieren, der Walzerrhythmus dagegen die Atmosphäre eines Pariser Salons zu beschwören – und die Harmonien, sind sie näher an Ravel und Milhaud oder näher an Bartók und Enescu? Man höre selbst! Eine knappe Minute gibt der Komponist uns Zeit.
Die übrigen Miniaturen sind etwas, aber nicht viel länger: Die Pastorales op. 19 bewegen sich alle im Rahmen zwischen anderthalb und zwei Minuten, die Caprice op. 29/3 ist mit zweieinhalb Minuten die längste. Auch die drei Sätze der Sonatine op. 11 bleiben unterhalb der Zwei-Minuten-Marke. In allen diesen Stücken herrscht auf kleinem Raum frisches, lebendiges Treiben, in raschen wie in langsamen Tempi. Mihalovici ist gleichermaßen Rhapsode wie strenger, detailversessener Motivarbeiter. Nicht selten entpuppt sich bei ihm ein Kontrastabschnitt bei näherem Hinhören als aus vorangegangenem Material abgeleitet. Das Finale der Sonatine gestaltet er als Fuge, einschließlich Engführung, Umkehrung und, zum Schluss, Augmentation.
Die kontrapunktischen Künste finden sich in den beiden Variationswerken intensiviert. Obwohl mit 22 bzw. 17½ Minuten nicht besonders lang, kann man die Ricercari wie die Passacaglia getrost zu den monumentalen Klaviervariationen des 20. Jahrhunderts zählen. Beide Werke sind äußerst dicht gearbeitet und sehr ernsten Charakters. Im Falle der Ricercari lässt sich dies durchaus auf biographische Hintergründe zurückführen, denn sie entstanden 1941, während der schwierigsten Zeit in Mihalovicis Leben, als sich der jüdischstämmige Komponist vor den deutschen Besatzern nach Cannes geflüchtet hatte. Formal ist das Werk höchst originell, im wahrsten Sinne des Wortes sucht der Komponist stets seinem Hauptgedanken neue Seiten abzugewinnen. Es beginnt mit einer Passacaglia; dieser folgen neun Variationen, faktisch frei gestaltete kontrapunktische Miniaturen über die Motive des Passacaglia-Themas; den Schluss bildet eine sich mächtig steigernde Fuge, die zum Schluss in sich zusammenfällt. Bei der 1975 komponierten Passacaglia, dem letzten Klavierwerk des damals bereits 77-jährigen Mihalovici, handelt es sich um eine Meditation über Albrecht Dürers berühmten Kupferstich Melencolia I, dessen verschiedene Bildelemente den Komponisten zu einzelnen Variationen inspirierten. Die linke Hand hat eine Vielzahl unterschiedlicher Satztechniken wiederzugeben und wird so virtuos behandelt, dass das Fehlen der rechten kaum zu merken ist. Die Dramaturgie wirkt weniger stringent als die der Ricercari, eher scheint den Variationen die Idee eines unruhigen, konzentrischen Kreisens zugrunde zu liegen. Der Schluss beruhigt das Geschehen durch Neutralisierung aller Affekte.
Anscheinend verstärkten sich in Mihalovicis späterem Schaffen die rumänischen Charakteristika. Jedenfalls bezeichnete der Komponist selbst seine 17-minütige, dreisätzige Klaviersonate von 1964 als eines seiner „rumänischsten“ Werke. Tatsächlich begegnet hier gleich zu Beginn jener eigentümlich „heterophone“ Tonsatz, wie man ihn auch aus den späten Werken Enescus kennt. Zigeunermodi kommen ausgiebig zum Einsatz, auch Glockenimitationen (zweiter Satz) und derbe Tanzrhythmen (Finale) fehlen nicht – alles freilich präsentiert in den Formen französischer clarté. Dass auch dieses Stück voller subtiler Zusammenhänge steckt, versteht sich bei einem so formbewussten Komponisten wie Mihalovici nahezu von selbst.
Matthew Rubenstein ist den Stücken Mihalovicis ein sorgfältig ans Werk gehender Sachwalter. Er meistert alle technischen Herausforderungen und gibt den Werken durch fein abgestufte Dynamik und variantenreichen Anschlag ein scharfes klangliches Profil, das die Vielschichtigkeit der Musik deutlich werden lässt. Die Produktion wird abgerundet durch ein außerordentlich umfangreiches Beiheft, bestehend aus einer kurzen persönlichen Erinnerung des Pianisten Charles Timbrell an Marcel Mihalovici und Monique Haas, und eine ebenso ausführliche wie hilfreiche Beschreibung sämtlicher eingespielter Werke durch Lukas Näf. Für die Rezeption Mihalovicis ist diese Veröffentlichung ein großer Gewinn. Möge sie weiteren den Weg weisen!
Capriccio setzt seine Pantscho-Wladigerow-Edition mit den beiden Sinfonien und Konzertouvertüren fort. Erneut dirigiert Alexandar Wladigerow das Bulgarische Nationale Rundfunk-Sinfonieorchester.
Während die Musik Bulgariens auf eine uralte Tradition bis ins erste Jahrtausend zurückblickt, beginnt die Geschichte der bulgarischen Kunstmusik westeuropäischer Prägung erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Entscheidende Bedeutung (sowohl durch ihre eigene Musik als auch durch ihre Lehrtätigkeit) kam einer Generation formidabler Komponisten zu, die rund um die Wende zum 20. Jahrhundert geboren und im Ausland ausgebildet wurden. Zu nennen sind hier Petko Stajnow, Wesselin Stojanow, Dimitar Nenow, Ljubomir Pipkow und zuvorderst Pantscho Wladigerow (in englischer Umschrift Pancho Vladigerov; 1899–1978), der als bulgarischer Nationalkomponist gilt.
Wladigerows Musik fußt auf der Spätromantik und bulgarischer Folklore und verbindet diese mit impressionistischen und in Maßen auch neoklassizistischen Einflüssen. Sie ist tonal bzw. oft eher modal gehalten, die Harmonik ist üppig und immer wieder mit Dissonanzen gewürzt, die meist sehr einprägsame Melodik bulgarischen Volksthemen nachempfunden oder diese abwandelnd, auch die für die bulgarische Folklore typischen ungeraden Taktmaße treten häufig auf. Hervorzuheben ist Wladigerows Sinn für Klangfarben, er ist ein glänzender Orchestrator, aufbauend auf Richard Strauss und vergleichbar mit Joseph Marx, der die große Geste ebenso wie feine Nuancierungen beherrscht.
Bislang war lediglich eine kleinere Auswahl aus dem Schaffen Wladigerows auf CD erhältlich (u.a. CPO, Naxos sowie einige bulgarische CDs). Einige seiner zentralen Werke, insbesondere seine fünf Klavierkonzerte (mit Ausnahme des dritten) und die beiden Sinfonien, blieben dabei bedauerlicherweise außen vor. In diese Lücke stößt nun das Label Capriccio, das Aufnahmen, die das bulgarische Staatslabel Balkanton in den 1970er Jahren auf Schallplatte herausbrachte, auf CD wiederveröffentlicht. Nach der ersten 3 CD-Box mit den Klavierkonzerten (auf dieser Seite bereits von Oliver Fraenzke rezensiert) ist soeben als nächstes eine Doppel-CD mit den beiden Sinfonien und Konzertouvertüren auf den Markt gekommen.
Mit der Komposition von Sinfonien hat sich Wladigerow vergleichsweise viel Zeit gelassen; seine Sinfonie Nr. 1 d-moll op. 33 entstand 1939 – ein reifes Werk von 45 Minuten Dauer, das Wladigerow bereits auf dem Zenit seiner kompositorischen Meisterschaft zeigt. Gleich der Beginn, eine Allegro vivace-Einleitung in D-Dur, ist elektrisierend: was für eine Welle der Euphorie, die den Hörer hier überrollt! Nach und nach ebbt die Hochstimmung allerdings ab, und der folgende ausladende Sonatensatz wie auch der zweite, langsame Satz sind eher konflikthaft und kämpferisch geprägt. Wenn am Ende des Kopfsatzes doch wieder ein (leicht verfremdetes) D-Dur erreicht wird, dann klingt das eher hart errungen denn als Konfliktlösung. Einen Wendepunkt beschreibt das volkstanzhafte, leicht rustikale Scherzo, denn wenn im Finale hinsichtlich Dramaturgie und musikalischen Materials der Bogen zurück zum Kopfsatz geschlagen wird, dann nun deutlich zuversichtlicher. So endet die Sinfonie ähnlich triumphal, wie sie begonnen hat. Ein großartiges, faszinierendes Werk.
Ist die Erste Sinfonie heroisch-dramatisch akzentuiert, so deuten bereits die reduzierte Besetzung der zehn Jahre später entstandenen Sinfonie Nr. 2 B-Dur op. 44 (für Streichorchester) sowie der Beiname „Maisinfonie“ darauf hin, dass der Charakter dieses Werks ein anderer ist. Hier dominieren lyrische, entspanntere, auch versponnen-nostalgische Töne, Letzteres speziell in den beiden Mittelsätzen, die im Grunde genommen beide langsam sind: auf ein kantables, elegisch angehauchtes Adagio folgt ein langsamer Walzer mit einem dorisch gefärbten Hauptthema. Die Ecksätze und ganz speziell das Finale sind dagegen insgesamt hell, aktiv und kraftvoll gehalten und unterstreichen, dass Wladigerow diese Sinfonie auch als Jugendsinfonie verstanden wissen wollte. Trotzdem handelt es sich keinesfalls um eine Art Sinfonietta, was allein schon die erneut umfangreiche Konzeption (mit wiederum einer Dreiviertelstunde Spieldauer) unterstreicht. Faszinierend ist, wie sich Wladigerow auch im Umgang mit dem Streichorchester als brillanter Orchestrator mit einem großartigen Gespür für Klangfarben erweist. Exemplarisch sei der „strahlende“, flächig-panoramahafte Beginn der Sinfonie genannt, aber auch deutlich intimere Passagen etwa in den Mittelsätzen, zum Teil unter Einbeziehung von Soli.
Begleitet werden die beiden Sinfonien durch Wladigerows Konzertouvertüren, eine Kombination, die in vielerlei Hinsicht stimmig erscheint, nicht zuletzt, da beide in relativer zeitlicher Nähe zu den Sinfonien entstanden (1933 bzw. 1949) und es sich um groß angelegte Werke von sinfonischem Anspruch handelt. In der „Erde“ op. 27 – zu verstehen als Heimaterde oder Heimatland – entwirft Wladigerow ein buntes Panorama: die in der langsamen, rhapsodisch wirkenden Einleitung vorherrschenden dunkleren Farben werden im Allegro von einem prägnanten, burschikos anmutenden Hauptthema zur Seite gewischt, kontrastiert durch lyrisch-kantabel aufblühende Melodik. Die Heroische Ouvertüre op. 45 ist auch unter dem Titel „Der neunte September“ bekannt; sie entstand zur Fünfjahrfeier der kommunistischen Machtübernahme in Bulgarien. Das Resultat ist ein ungemein farben- und klangprächtiges Orchesterwerk, das unter anderem vom Kontrast zwischen einem ernst dahinfließenden, schwermütigen Thema und appellhafter, marschartiger Motivik lebt und schließlich in einen ausgesprochen wirkungsvollen, monumentalen Schluss mündet, der einer hellen Zukunft entgegenzustreben scheint.
Als eine Art Zugabe befindet sich schließlich noch Wladigerows Herbstelegie op. 15 Nr. 2 in dieser Zusammenstellung, die 1937 erfolgte Orchestrierung eines 15 Jahre zuvor entstandenen Klavierstücks. Diese rund siebenminütige, bogenförmig aufgebaute Stimmungsmalerei mit Höhepunkt in der Mitte baut auf einem um einen Orgelpunkt pendelnden Motiv auf, das das gesamte Stück über präsent bleibt, ebenso wie die Grundtonalität C niemals weit entfernt ist, was der Musik eine schwere, lastende Atmosphäre verleiht. Wechsel zwischen Moll und Dur sorgen dabei für ein reizvolles Spiel von Schattierungen. Eine bezaubernde Miniatur voller aparter Farben, sehr delikat orchestriert.
In allen Werken dirigiert Alexandar Wladigerow (1933–1993), der Sohn des Komponisten, das Nationale Bulgarische Rundfunk-Sinfonieorchester. Es handelt sich durchwegs um sehr engagierte, überzeugende Interpretationen auf ausgesprochen hohem Niveau, die Charakter und Flair dieser Musik exzellent zur Geltung kommen lassen. Dass sie noch zu Lebzeiten des Komponisten (in den 1970er Jahren) entstanden, verleiht ihnen zusätzliche Authentizität. Die Einspielungen sind allesamt Stereoaufnahmen, die für diese Produktion sehr gut aufbereitet wurden. Natürlich entsprechen die klangtechnischen Standards dennoch nicht immer denjenigen unserer Zeit: hier und da brummt es im Hintergrund etwas (Herbstelegie), andere Aufnahmen sind recht hallig (Sinfonie Nr. 2). Insgesamt aber sind diese Abstriche niemals so stark, dass sie den Hörgenuss entscheidend schmälern würden. Alles zusammen werden mit diesen Einspielungen interpretatorische Standards gesetzt, die auch neuere Produktionen nicht selbstverständlich erreichen dürften.
Ein großes Lob gebührt dem Beiheft, in dem Christian Heindl ausführlich und detailliert über Wladigerow, die Musik auf dieser CD und allerlei Hintergründe informiert. In meiner Ausgabe kommt es auf einigen Seiten zu drucktechnischen Mängeln (der Text erscheint leicht versetzt doppelt). Inwiefern es sich dabei um ein generelles Problem handelt, weiß ich natürlich nicht, und es soll auch den ausgesprochen positiven Gesamteindruck nicht beeinträchtigen.
Man kann Capriccio zu dieser Wladigerow-Edition nur gratulieren und darf gespannt auf die nächsten Folgen warten.
Unter der Leitung von Guntis Kuzma und Andris Poga stellt das Lettische Nationale Symphonieorchester drei Orchesterwerke von Tālivaldis Ķeniņš vor und verdeutlicht dessen Begabung als Symphoniker wie als Komponist konzertanter Musik. Als Solisten sind zu hören: Agnese Egliņa (Klavier), Tommaso Pratola (Flöte), Mārtiņš Circenis (Klarinette) und Edgars Saksons (Schlagzeug)
Als der 1919 in Liepāja geborene Tālivaldis Ķeniņš 2008 in Toronto starb, wo er seit 1951 gelebt hatte, verlor das Musikleben Kanadas einen seiner namhaftesten Komponisten. Er hatte mehr als drei Jahrzehnte an der University of Toronto gelehrt, war als Preisrichter bei Wettbewerben gefragt; zahlreiche seiner Kompositionen entstanden als Auftragswerke und wurden an prominenter Stelle uraufgeführt; der Rundfunk sendete regelmäßig seine Musik und produzierte mehrere Portraits über ihn. Nicht zuletzt verdeutlicht die Tatsache, dass bereits zu seinen Lebzeiten in einem Vorort von Ottawa eine Straße nach ihm benannt wurde, welches Ansehen Tālivaldis Ķeniņš in Kanada genoss. Die geistige Verbindung zu seiner Heimat Lettland, die er 1944 vor dem Einmarsch der Roten Armee fluchtartig verlassen hatte und erst 1989 wiedersah, hielt er dabei über all die Jahre aufrecht. Zahlreiche Letten waren infolge des Zweiten Weltkriegs nach Nordamerika ausgewandert. Innerhalb des eigenständigen Kulturlebens, das sie sich dort aufbauten, nahm Ķeniņš einen herausragenden Platz ein, wie sich auch anhand der Uraufführungen der drei Werke zeigte, die auf der vorliegenden CD des Lettischen Nationalen Symphonieorchesters zu hören sind: Die Symphonie Nr. 1 erklang zum ersten Mal 1960 während des Indianapolis Latvian Song Festival; das Concerto da Camera Nr. 1 wurde 1981, das Konzert für Klavier, Streichorchester und Schlagzeug 1990 im Rahmen des Latvian Song Festival in Toronto aus der Taufe gehoben.
Ķeniņš war in erster Linie Instrumentalkomponist und hinterließ zahlreiche Orchester- und Kammermusikwerke, wobei es zu den charakteristischen Merkmalen seines Schaffens gehört, dass sich die beiden Werkgruppen zuweilen sehr stark einander annähern, und sich in manchen Fällen ein Stück nicht eindeutig einer von beiden zuordnen lässt. So gibt es von seiner Hand Kammermusik für große, gemischte Ensembles ebenso wie Kompositionen für Kammerorchester in unterschiedlichen Besetzungen. Angesichts des schier unerschöpflichen Ideenreichtums hinsichtlich der Gegenüberstellung unterschiedlicher Klangfarben, der dieses Schaffen prägt, verwundert es nicht, dass Ķeniņš seiner Ausbildung in Frankreich große Bedeutung beimaß. Die Einflüsse des Musiklebens von Paris, wo er nach Kriegsende bei Tony Aubin, Simone Plé-Caussade und Olivier Messiaen studiert hatte, schlagen sich allerdings auf sehr subtile Art in seinen Werken nieder und sind kaum offen zu hören. Ķeniņš selbst beschrieb diesen Umstand 1949 in einem Interview dergestalt, dass durch die Interaktion mit französischen Methoden das nationale Element in der Kunst ausländischer Komponisten auf neue Grundlagen gestellt, zu neuem Recht gelangen und eine neue Affirmation seiner Existenz gewinnen würde.
Auf französische Einflüsse lässt sich gewiss die knappe Form und wohlproportionierte Strukturierung seiner Werke zurückführen – alle drei hier eingespielten Stücke sind nur rund 20 Minuten lang. Im Gegensatz zu Meistern des raffinierten Mischklangs wie Messiaen bevorzugt Ķeniņš als Instrumentator jedoch reine Farben, was vor allem damit zusammenhängt, dass sein Denken wesentlich von Polyphonie und vom konzertanten Prinzip bestimmt ist. Die Instrumentation dient ihm zur Verdeutlichung des Zusammenwirkens seiner von vielfältigen modalen Wendungen geprägten Einzelstimmen, das regelmäßig zu herben Dissonanzen führt; Kontraste im Tonsatz hebt er gern hervor, indem er das Material auf gegeneinander abgesetzte, klanglich homogene Instrumentengruppen verteilt.
Das Concerto da Camera Nr. 1 verdeutlicht beispielhaft die Neigung des Komponisten, Orchester- und Kammermusik fließend ineinander übergehen zu lassen. Den Klangkörper unterteilt er in drei Sektionen: ein Klavier, zwei Holzbläser (Flöte und Klarinette) und ein Streichorchester (an dessen Statt auch ein solistisch besetztes Streichquintett verwendet werden darf). Diesem kleinen Ensemble gewinnt Ķeniņš mannigfaltige Kombinationsmöglichkeiten ab, wozu er gelegentlich auch solistische Streicher aus dem Orchester herauslöst. Schon zu Beginn des Werkes wird klar, dass sich die musikalische Handlung oft auf mehreren Ebenen gleichzeitig abspielen wird: Über einer Pizzicato-Basslinie der tiefen Streicher beginnen die beiden Holzbläser mit in sich kreisenden melodischen Figuren, die sich bald imitatorisch verdichten, während das Klavier aus der Tiefe aufsteigende Arpeggien spielt. Alle beteiligten Musiker müssen hier gut aufeinander hören können, immer bereit sein, die Führung zu übernehmen, wie auch begleitend in den Hintergrund zu treten oder zusammen mit anderen in gleicher Stärke zu musizieren. Diese Aufgaben werden von Tommaso Pratola an der Flöte und Mārtiņš Circenis an der Klarinette trefflich gelöst. Agnese Egliņa, die als Pianistin das am deutlichsten aus dem Gesamtklangbild hervorstechende Instrument spielt, gebührt besonderes Lob für die kontrollierte Gestaltung ihrer Partie; sie weiß genau, dass das Werk kein „Klavierkonzert“ ist. Im Konzert für Klavier, Streichorchester und Schlagzeug kann Agnese Egliņa dann wirklich Solistin sein. Ihr zur Seite steht Edgars Saksons, der virtuos eine große Anzahl an Schlaginstrumenten, von der Ratsche bis zur Glocke, zum Einsatz bringt, welche sich, nach den treffenden Worten der Kritikerin Tamara Bernstein, wie ein Schatten an die Spur des Klaviers heften und als dessen Alter Ego fungieren. Wie das Kammerkonzert, so ist auch dieses Werk dreisätzig, mit einem zwischen lebhaften und ruhigeren Abschnitten wechselnden Satz zu Beginn, einem langsamen Mittelsatz (im Concerto da camera ein Fugato, im Klavier-Schlagzeug-Konzert eine Passacaglia) und einem rabiaten, irrwitzig agilen Finale. Dirigent Guntis Kuzma behält in beiden Konzerten einen klaren Überblick über das abwechslungsreiche Geschehen und versteht es, sowohl die kontrapunktische Kunst des Komponisten erlebbar zu machen, als auch die Instrumente in ihren unterschiedlichen Funktionen ausgewogen aufeinander abzustimmen.
Zur der Aufnahme der Symphonie Nr. 1 (Ķeniņš schrieb insgesamt acht) tritt Andris Poga an die Spitze des Orchesters, das nun in größerer Besetzung spielt als im Falle der Konzerte. Während Ķeniņš in diesen Stücken vor allem mit kurzen Motiven arbeitet, die er kaleidoskopisch verändert, breiten sich in der Symphonie längere Melodien aus. Der Kopfsatz verläuft in mäßiger Bewegung als Sonaten- und Variationselemente verknüpfende, monothematische Bogenform; der langsame Satz wird ganz beherrscht von einer elegischen Melodie, die im Fagott anhebt und anschließend von verschiedenen anderen Instrumenten fortgesponnen wird. Im Finale kontrastieren ein robuster Haupt- und ein kantabler Nebengedanke scharf zueinander. Die Durchführung, die als Fuge gestaltet ist, zeigt einmal mehr die kontrapunktischen Fähigkeiten Ķeniņšs. Andris Poga ist dieser Musik ein fähiger Sachwalter. Sein Sinn für die Ausgestaltung melodischer Entwicklungen lässt ihn an jedem Punkt des Verlaufs die Orientierung behalten, sodass die Spannung auch über Tempowechsel hinweg ohne Einbußen erhalten bleibt. Die verschiedenen Orchestergruppen bringt er in ausgewogene Verhältnisse zueinander. Die Struktur des Tonsatzes und das Zusammenwirken der Instrumente lassen sich durchweg gut nachvollziehen.
Die Produktion wird abgerundet durch einen (nur auf Englisch abgedruckten) Einführungstext von Orests Silabriedis, der ein lebensvolles Portrait des Künstlers und Menschen Tālivaldis Ķeniņš zeichnet. Weitere Ķeniņš gewidmete CDs auf diesem Niveau sind durchaus erwünscht.