Archiv der Kategorie: CD-Rezension

[Rezensionen im Vergleich 2] Die Auferstehung des Unbekannten

Aldilà Records, ARCD 020, EAN: 9 003643 980204

In einem Programm von hohem Repertoirewert präsentieren Christoph Schlüren und das Orquestra Simfònica Camera Musicae Musik von Johann Sebastian Bach, Reinhard Schwarz-Schilling, Wolfgang Amadeus Mozart, Giorgio Federico Ghedini, Douglas Lilburn und Paul Büttner, überwiegend für Streichorchester. Als Solisten treten die Flötistin Raquele Magalhães und der Geiger Joel Bardolet hinzu.

„Resurrection“ ist das neue Album von Christoph Schlüren am Pult des katalanischen Orquestra Simfònica Camera Musicae (bzw. seit 2021 Franz-Schubert-Philharmonie) benannt, und was hier „aufersteht“, ist die Musik wenig bekannter, sorgsam ausgewählter Komponisten des 20. Jahrhunderts. So werden im Rahmen eines auch dramaturgisch sehr schlüssigen (Konzert-) Programms Werke (in der Regel für oder mit Streichorchester) von Paul Büttner, Reinhard Schwarz-Schilling, Giorgio Federico Ghedini und Douglas Lilburn den „Klassikern“ Johann Sebastian Bach und Wolfgang Amadeus Mozart gegenübergestellt. Es geht also gerade nicht darum, vermeintliches „Nischenrepertoire“ einzuspielen, sondern ein Plädoyer für den Wert der Musik all dieser Meister abzulegen und sie in exemplarischer Manier zusammen mit den Größen des Repertoires zu präsentieren. Dabei handelt es sich bei nahezu allen hier versammelten Werken um Bearbeitungen.

So steht gleich am Beginn als kleine „Ouvertüre“ eine Einrichtung von Johann Sebastian Bachs Fuge g-moll BWV 578 für Streichorchester durch Lucian Beschiu. Diese Wahl ist insofern charakteristisch, als dass kontrapunktisch geprägte Werke stets ein Markstein von Schlürens Programmen sind, und außerdem handelt es sich bei G um so etwas wie den Zentralton des vorliegenden Albums (nur die Werke von Schwarz-Schilling und Mozart stehen nicht in irgendeiner Weise „in G“). Hervorragend die Transparenz der Darbietung und die sorgfältige Gewichtung der einzelnen Stimmen, ausgezeichnet artikuliert vorgetragen (wie gleich zu Beginn bei der ersten Präsentation des Themas zu beobachten), auch im Sinne der Vitalität und Spielfreude, die diesem kleinen Stück zu eigen sind.

Deutsche Musik der Nachkriegszeit ist lange äußerst avantgarde-dominiert rezipiert worden, was aber die Bandbreite dessen, was in diesen Jahrzehnten tatsächlich komponiert worden ist, in keiner Weise zutreffend widerspiegelt. Unter den überhaupt nicht wenigen Komponisten, die nicht mit der Tonalität brachen, ist Reinhard Schwarz-Schilling (1904–1985), Schüler von Braunfels und Heinrich Kaminski, eine signifikante Erscheinung. Seine „kanonische Choralbearbeitung“ der Passionsmelodie Da Jesus an dem Kreuze stund für Orgel (bzw. Flöte, Violine und Orgel) entstand zwischen 1936 und 1942. Für die vorliegende Aufnahme hat wiederum Beschiu sie für Flöte, Violine und Streichorchester eingerichtet, wobei der erste Abschnitt den Streichern, der zweite den beiden Soloinstrumenten mit Bass vorbehalten ist und erst der letzte alle Stimmen vereint. Aufbauend auf barocken und vorbarocken Modellen (man beachte namentlich die starke modale Färbung der Musik) erschafft Schwarz-Schilling eine gemessene, verinnerlichte, aber doch sehr expressive Klagemusik in gedeckten Farben. Die Flötistin Raquele Magalhães und der Konzertmeister des OSCM, Joel Bardolet, liefern gemeinsam mit den Streichern eine ungemein beseelte, die weiten, kunstvoll miteinander verflochtenen melodischen Linien dieser Musik vorzüglich nachvollziehende Interpretation.

Bardolet erlebt man anschließend noch einmal als Solisten in einem weiteren Bach-Arrangement. Bekanntlich sind Bachs Werke oftmals nicht in ihren Erstfassungen überliefert, sondern in der Form, wie sie uns vorliegen, Bearbeitungen und Neuzusammenstellungen, die Bach selbst in späteren Jahren vorgenommen hat. Im Falle seines Klavierkonzerts f-moll BWV 1056 etwa gilt als gesichert, dass wenigstens der erste Satz ursprünglich einem nicht erhaltenen Violinkonzert entstammte, und so findet sich hier eine Einrichtung des gesamten Konzerts für Violine und Streicher, nun in g-moll. In den Ecksätzen betonen Bardolet, Schlüren und ihre Mitstreiter die polyphonen Strukturen wie gleich zu Beginn die durch die Stimmen laufende Dreitonfigur oder später immer wieder ausgesprochen expressiv herausgearbeitete Nebenstimmen in den Solopassagen. Ganz im Fokus steht der Solist im langsamen Satz, wo Bardolet der außerordentlichen Kantabilität des Soloparts (nicht umsonst stammt dieser Satz vermutlich aus einer verschollenen Kantate) eindrucksvoll Rechnung trägt, mit leichten agogischen Freiheiten, die aber niemals den Fluss der Musik stören, und nota bene in einem echten Largo-Tempo, das dem wundervollen Melos dieser Musik wahrhaft Zeit zum Sich-Entfalten gibt.

Mit Wolfgang Amadeus Mozarts Fantasie f-moll KV 608 folgt nach Schwarz-Schilling faktisch eine zweite Trauermusik, denn wie auch ihr Schwesterwerk KV 594 ist dieses Werk für das Mausoleum Gideon Ernst von Laudons entstanden, was auch die für uns gewiss erst einmal kurios erscheinende Originalbesetzung für ein mechanisches Musikinstrument erklärt. Ein hochexpressives, chromatisch gefärbtes spätes Meisterwerk von reicher Polyphonie, von dem es etliche Bearbeitungen gibt, die das Werk für den Konzertsaal „retten“, so etwa die vorliegende für Streichorchester von Edwin Fischer. Die ausgeprägte Kontrapunktik der Fantasie ist natürlich ein Fest für Schlüren und seine Mitstreiter, die die komplexen Strukturen mit großer Umsicht und gestalterischer Stringenz realisieren, geprägt von ernster, gravitätischer, würdevoller Expression, unter Verzicht auf jedwede Manierismen, die Binnenspannung (auch in der Harmonik) exzellent nachvollziehend, mit viel Richtung und Präzision. Wenn hier etwas noch besonders hervorzuheben ist, dann die geradezu dramatische Wucht, die der Schluss in dieser Einspielung entfaltet, auch durch ein leichtes, wohldosiertes Anziehen des Tempos.

Im Programm folgt ein kleines Intermezzo aus zwei kurzen Stücken, das Raquele Magalhães gewidmet ist. Noch vor etwa 15 Jahren sah es auf dem Tonträgermarkt in Sachen Giorgio Federico Ghedini (1892–1965) eher dürftig aus, und auch wenn sich die Situation mittlerweile erfreulicherweise etwas gebessert hat, dürfte der Name dieses italienischen Meisters nach wie vor eher wenigen Musikfreunden geläufig sein. Dabei ist seine Musik von bemerkenswerter Originalität, hervorstechend insbesondere ihr eminenter Klangsinn, der aber nicht vom Impressionismus kommt, nicht vielfarbig schillert, sondern ihren „demone sonore“, wie er auch genannt worden ist, eher auf Kargheit und Reduktion gründet: man höre etwa die kristalline Klarheit der langsamen Passagen oder den aufregend schrägen, zwischen Archaik und Moderne pendelnden Schlusshymnus seiner Architetture (für Orchester). Auf dieser CD nimmt Ghedini von der Besetzung her eine Sonderstellung ein, da von ihm ein Stück für Flöte solo ausgewählt wurde (zugleich das einzige Werk auf diesem Album, das im Original gespielt wird), und zwar mit Canto, o della solitudine das dritte seiner 1962 entstandenen Tre pezzi per Flauto solo. Hier kommt Magalhães’ Kunst des Flötenspiels exemplarisch zum Zuge; eine famose Darbietung, die die weit aufblühenden Linien dieses Stücks ebenso wunderbar realisiert wie seine Momente des Zögerns, des Stockens, all dies auch klanglich sehr fein differenziert.

Klassische Musik in Neuseeland ist wesentlich mit dem Namen Douglas Lilburn (1915–2001) verbunden, hier vertreten mit seiner Canzona Nr. 1, 1943 ursprünglich als Schauspielmusik entstanden, 1980 dann etwas erweitert und hier in einer Fassung für Altflöte und Streicher von Lucian Beschiu eingespielt. Im Rahmen dieses Programms knüpft diese kleine „Aria“ stimmig etwa an Schwarz-Schillings Choralbearbeitung oder den Mittelsatz von Bachs Konzert an, wobei die barocke Inspiration durch einen leicht archaischen, fast rituell anmutenden Einschlag ergänzt wird, mit sparsam, aber sehr präzise eingesetzten Mitteln viel Atmosphäre erzeugend. Das Dämmerlicht dieses kleinen Stimmungsbilds korrespondiert vorzüglich mit dem betörenden Ton von Magalhães’ Altflöte.

Am Schluss des Programms steht das 1916 entstandene Streichquartett g-moll des Dresdners Paul Büttner (1870–1943) in einer Streichorchesterfassung von Schlüren selbst. Büttner war ein Schüler Draesekes; seinen Durchbruch als Komponist erlebte er 1915 mit der Uraufführung seiner Dritten Sinfonie im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung von Nikisch. Sozialdemokrat und in der Arbeiterbewegung engagiert, wurde er nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten aller Ämter enthoben. Nach dem Krieg wurde sein Schaffen bis zu einem gewissen Grad in der DDR gepflegt und seine Vierte Sinfonie auf Schallplatte eingespielt, wodurch er in Westdeutschland wiederum mit dem Etikett „DDR-Komponist“ in Verbindung gebracht wurde, was faktisch bis zum heutigen Tag Vorbehalte mit sich bringt (sodass einiges an großartiger Musik aus dem Osten nach wie vor weitgehend ignoriert wird).

Büttner ist ein Komponist in der Tradition der deutschen Romantik, ähnlich wie Draeseke zwischen Brahms und Bruckner stehend, aber auch an älterer Musik interessiert. Und so mutet das Hauptthema des ersten Satzes mit seiner kontinuierlichen Achtelbegleitung durchaus klassizistisch an, ganz ähnlich übrigens wie das verwandte erste Thema des ersten Satzes der Zweiten Sinfonie von Leo Spies (müßig, hier über eventuelle Einflüsse zu spekulieren). Hieraus entwickelt sich ein dramatisch geschärftes, mit aufbegehrend-heroischen Gesten arbeitendes, kontrapunktisch geprägtes Sonatenallegro. Nach diesem „Ersten Hauptstück“ wird im „Ersten Zwischenspiel“ ein leicht pastoral anmutendes, laut Partitur „sinnig hingleitendes“ Stimmungsbild angedeutet, das dabei aber wiederum ausgesprochen polyphon gearbeitet ist. Der dezidiert folkloristische Tonfall der ersten Takte des folgenden Scherzos täuscht, denn was sich hieraus entwickelt, ist ein phantastischer Ritt, der sein Material (chromatisch) verfremdet, mit weiten Glissandi geradezu persifliert und sich insofern tatsächlich als der angekündigte „Zweite Hauptteil“ erweist. An vierter Stelle steht der wohl schon längst erwartete langsame Satz, allerdings im reduzierteren Rahmen eines choralartigen „Zweiten Zwischenspiels“, eines Moments „andächtig versunkenen“ Innehaltens. Der „Dritte Hauptteil“, das Finale, beginnt in größter Entschlossenheit mit scharfen Punktierungen und einem Thema à la hongroise, kombiniert mit Reminiszenzen an die vergangenen Sätze. Überraschenderweise kommt das Werk kurz vor Ende noch einmal gänzlich zur Ruhe mit einem kontrapunktisch geprägten Abschnitt, der sich bei näherem Hinschauen als eine Widmung an Büttners Frau Eva entpuppt. Erst danach kommt es wirklich zu einer effektvollen finalen Zuspitzung nebst Wendung nach Dur in beinahe letzter Sekunde.

Schon die Ersteinspielung von Büttners konziser, kontrapunktisch geprägter (bzw. inspirierter) Triosonate für Streichtrio bei Aldilà Records vor einigen Jahren ließ erkennen, dass die epische Breite und meisterhafte Beherrschung der großen Form der Vierten Sinfonie nicht notwendigerweise Rückschlüsse auf Büttners übriges Schaffen erlaubt. Und so ist auch das Quartett wiederum keine Kammerversion der Sinfonie, sondern ein ein Werk, das seine eigenen Wege geht, die sich oft genug als anders entpuppen als der Hörer vielleicht zunächst vermutet, und das sich insofern immer wieder (spielerisch) über Erwartungen und Konventionen hinwegsetzt. Es ist Schlüren und seinem katalanischen Orchester hoch anzurechnen, dieses Stück nun erstmals in einer Einspielung (noch dazu in dieser Qualität) zugänglich gemacht zu haben.

Hervorragend wie üblich Schlürens Begleittext, der Werke und Komponisten (sinnvoll gewichtet) ausführlich vorstellt und dem Hörer allerlei Beachtenswertes an die Hand gibt; sehr aufschlussreich auch (als eine Art Blick „hinter die Kulissen“) die Informationen zur Genese des Programms. Summa summarum einmal mehr ein erstklassiges, sehr verdienstvolles Album.

[Holger Sambale, November 2024]

[Rezensionen im Vergleich 1] Resurrection

Aldilà Records, ARCD 020; EAN: 9 003643 980204

Auf dem Album Resurrection spielt das Orchestra Simfònica Camera Musicae unter der Leitung von Christoph Schlüren Werke von Johann Sebastian Bach, Reinhard Schwarz-Schilling, Wolfgang Amadeus Mozart, Giorgio Federico Ghedini, Douglas Lilburn, Paul Büttner. Als Solisten sind Joel Bardolet (Violine) und Raquele Magalhães (Flöte) zu hören.

Im Laufe der vergangenen Monate hat Aldilà Records kurz hintereinander drei Alben veröffentlicht, auf denen Christoph Schlüren als Dirigent zu erleben ist. Bei allen handelt es sich um Mitschnitte von Konzerten, zum Teil ergänzt durch „Studio-Live“-Aufnahmen, also quasi-konzertante Aufführungen ohne Publikum nach dem eigentlichen Konzertereignis. Die CD Quintessence, die ein Konzert der Symphonia Momentum in Lehrberg dokumentiert, vereint drei Werke für fünfstimmiges Streichorchester: Felix Mendelssohn Bartholdys Introduktion und Fuge (auch Streichersymphonie Nr. 13 genannt), Reinhard Schwarz-Schillings Bitten (die Bearbeitung eines A-cappella-Chorwerks), und Anton Bruckners Streichquintett in Schlürens Einrichtung für Streichorchester. Mit Zodiac erschien Schlürens erste Doppel-CD als Leiter eines großen Symphonieorchesters. Neben Arvo Pärts Festina lente und dem Adagio aus Benedetto Marcellos Oboenkonzert d-Moll enthält sie als Hauptwerk die Symphonie Nr. 3 von Martin Scherber, deren Uraufführung hier zugleich festgehalten ist. Wie im Falle von Zodiac, ist auch auf dem dritten Album Resurrection das katalanische Orchestra Simfònica Camera Musicae zu hören, nun allerdings in reiner Streicherbesetzung.

Resurrection basiert auf einem Konzert, das im Juli 2021 in Tarragona stattfand. Ganz wie man es von Schlüren kennt, wird man als Zuhörer auf einen Streifzug durch verschiedene Epochen und Stile mitgenommen. Im Gegensatz zu Quintessence, wo das konsequente Festhalten an einer Besetzung das Programm bestimmt, tritt das Streichorchester hier in Dialog mit zwei Solisten: dem Geiger Joel Bardolet und der Flötistin Raquele Magalhães. Die Vortragsfolge ist dabei so aufgebaut, dass Anfang, Mitte und Abschluss von einem Werk für Streichorchester allein bestritten werden; dazwischen erklingen jeweils zwei Kompositionen, in denen die Solisten zu hören sind. In Hinsicht auf die Entstehungsdaten der Werke lässt sich der Verlauf des Programms durchaus als sinusartig bezeichnen. In der Mitte steht Wolfgang Amadé Mozarts Fantasie f-Moll KV 608, in seinem Todesjahr 1791 für eine mechanische Orgel komponiert und im 20. Jahrhundert von Edwin Fischer für Streicher gesetzt. Ihr voran gehen zwei Werke Johann Sebastian Bachs, die Orgelfuge g-Moll BWV 578 und das durch Rücktranskription aus dem Cembalokonzert BWV 1056 gewonnene Violinkonzert g-Moll, die ein Werk Reinhard Schwarz-Schillings einrahmen: Da Jesus an dem Kreuze stund, eine 1942 vollendete kanonische Choralfantasie für Orgel mit Melodieinstrumenten ad libitum, hier als Streicherwerk mit Violine und Flöte aufgeführt. In der zweiten Hälfte der CD dünnt sich zunächst das Klangbild aus: Mit Giorgio Federico Ghedinis Canto, o della solitudine für Flöte solo (1962) erklingt das einzige Stück des Programms, das in seiner originalen Gestalt zu hören ist. In Douglas Lilburns Canzona Nr. 1, kommen die Streicher wieder hinzu, um die Flöte mit Pizzicato-Bässen und dezenten Arco-Linien zu begleiten. Die hier gespielte Fassung des Stücks wurde von Lucian Besciu erarbeitet, der auch die Bachsche Fuge und Schwarz-Schillings Choralbearbeitung transkribiert hat. Er kombinierte dabei zwei vom Komponisten selbst stammende Versionen: die Erstfassung für Violine und Viola von 1943 und die Überarbeitung von 1980 für Streichorchester. Wie in der ersten Fassung spielt ein einzelnes Instrument die Melodie (hier die Flöte), wie in der zweiten bildet ein Streichensemble das klangliche Fundament. Krönender Abschluss des Albums ist Paul Büttners Streichquartett g-Moll aus dem Jahr 1916, das mit dieser Aufnahme überhaupt erstmals auf CD gelangt – das Album ist offenbar vor allem wegen dieser Pioniertat Resurrection benannt. Von Christoph Schlüren für Streichorchester eingerichtet, erklang es als Streichersymphonie zum ersten Mal 2017 in Neuß.

Beim Hören dieser CD fällt sofort auf, wie sehr sich der Klang des Streichorchesters im Verlauf des Programms verändert. Die deutlichen stilistischen Unterschiede der Kompositionen finden ihren Widerhall in ihrer klanglichen Umsetzung. So werden die beiden Bach-Stücke sehr leichtfüßig und agil vorgetragen. Mit athletischem Schwung bewegen sich die Sechzehntelketten der Fuge, doch auch dem Gesang der breiteren Gegenstimmen wird Genüge getan. Dieser Bach funkelt wahrlich hell! Unmittelbar anschließend wird der imaginäre Raum in Dunkel gehüllt: In Schwarz-Schillings Da Jesus an dem Kreuze stund geben die Streicher plötzlich Klänge von sich, die in ihrer kernigen Innigkeit an ein altes, hölzernes Orgelpositiv gemahnen. Mit Joel Bardolet und Raquele Magalhães hat Christoph Schlüren zwei Solisten gefunden, die sich wunderbar in dieses Farbenspiel einfügen. Bei Schwarz-Schillings sind sie gewissermaßen die Lichtstrahlen im gotischen Kirchenraum. Bardolet, den man von einer früheren Aldilà-Produktion (German Counterpoint) her bereits als exzellenten Kammermusiker kennt, erfüllt danach in Bachs Violinkonzert seine Stimme mit Anmut und langem Atem. Im Adagio vergisst er nirgends, dass seine Kantilenen von den Orchesterbässen gestützt werden, und in den Ecksätzen ist er dem Orchester ein anspornender primus inter pares. Raquele Magalhães ist eine Ausnahmeflötistin, die man getrost zu den ganz großen Meistern ihres Instruments rechnen darf. Selten hört man die Flöte derart menschlich, mit all den feinen Schattierungen, wie sie der menschlichen Stimme gegeben sind! Ganz auf sich allein gestellt, entfaltet Magalhães in Ghedinis Canto eine fesselnde Klangrede, die durch zahlreiche Atempausen gegliedert, aber nicht unterbrochen wird, wobei sie ihre farbenreiche Tongebung klug einsetzt, um die Spannung zu halten. Ebenso aus dem Vollen schöpft sie in der Darbietung der Lilburnschen Canzona auf der Altflöte, wobei dieses liedhafte Stück – ein Juwel schlichter Schönheit, das durchaus Ohrwurmqualität besitzt – ihrer „sängerischen“ Begabung besonders entgegenkommt. Die Stücke Ghedinis und Lilburns bilden als Monodie und instrumentales Arioso den Ruhepol der CD. Geschickt sind sie hinter ein Werk Mozarts platziert worden, das zu dessen exzessivsten kontrapunktischen Arbeiten gehört. Schlüren lässt das Orchester in der Fantasie KV 608 wuchtiger klingen als in den Bach-Stücken, wie gleich in den Einleitungstakten nach Art französischer Ouvertüren deutlich wird. Die beiden Allegro-Teile zu Beginn und am Schluss werden langsamer gespielt als in allen anderen mir bekannten Aufführungen des Werkes. Bezugspunkte für diese Tempowahl sind offensichtlich die darin enthaltenen Fugen, deren lebhafte Kontrapunkte sorgfältigst phrasiert dargeboten werden. Dadurch verhindert der Dirigent den Eindruck mechanischen Abspulens, der namentlich bei zu hastiger Aufführung des Schlussteils aufkommen kann. Das zentrale Andante, ein Variationssatz, klingt zart und gesanglich – nicht nur in den Violinen, sondern in allen Stimmen: Mozarts herrliche Polyphonie darf auch hier aufblühen.

Mit Paul Büttner ist man am Ende bei einem der großen deutschen Symphoniker des frühen 20. Jahrhunderts angelangt, einem Meister des opulenten Orchesterklangs, der zugleich – als Schüler Felix Draesekes – einer der geistvollsten Kontrapunktiker seiner Generation gewesen ist (man höre diesbezüglich einmal seine ganz aus Kanons bestehende Triosonate für Streichtrio!). Büttners Streichquartett g-Moll dauert etwas mehr als eine halbe Stunde und gliedert sich in fünf Sätze: Ein zentrales Scherzo wird von zwei langsamen Interludien umrahmt, diese wiederum von einem ausgedehnten Allegro-Kopfsatz und einem lebhaften Finale. Letzteres ist eine Art Rondo, das in seinen Zwischenteilen auf Themen der früheren Sätze zurückgreift und auch einen langsamen Doppelkanon über das Thema E-F-A (eine versteckte Widmung an Büttners Ehefrau) enthält. Das Quartett ist durchaus kein verkapptes Orchesterwerk – Büttner wirft nicht mit Doppelgriffen und Tremoli um sich und schreibt kaum homophon-flächig –, doch geht durch das ganze Stück ein Zug ins Große, der es mehr als rechtfertigt, es in chorischer Besetzung aufzuführen. Das Orchestra Simfònica Camera Musicae widmet sich hingebungsvoll der Ausgestaltung jedes einzelnen Moments, und tatsächlich meint man ständig, im Streicherklang versteckte Holzbläser, Hörner, Trompeten, Posaunen zu hören. Wer wissen will, wie man mit einem monochronen Klangkörper ein Maximum an Differenziertheit erzeugen kann, der findet hier ein vorzügliches Beispiel. Zum stillen Höhepunkt des Ganzen gerät das zweite Interludium – es ist keine bloße Floskel, wenn man angesichts dessen von einem Streicherchor spricht.

Ein sehr umfangreicher Einführungstext aus Christoph Schlürens Feder, der nicht nur viele interessante Fakten zur Entstehung der einzelnen Werke, sondern vor allem wertvolle Einsichten bezüglich ihrer Aufführung enthält, rundet diese wunderbare Produktion ab, die jedem Freund kultivierten Musizierens wärmstens empfohlen werden kann.

[Norbert Florian Schuck, November 2024]

Gesangslegenden

SWR-Music, 6 CD’s; Bestellnr.: SWR 19436CD, EAN: 747313943685

Legendary Singers, so der Titel einer vom Label SWR-Music herausgegeben Box, erinnert an Martina Arroyo, Marilyn Horne, Peter Anders, Nicolai Gedda und Dietrich Fischer-Dieskau. Die Erklärung für die auf den ersten Blick beliebig erscheinende Auswahl liegt auf der Hand: der Südwestfunk hat in seinem Archiv Soloalben dieser historischen Gesangsgrößen aufgestöbert und bietet sie nun in einer preislich attraktiven Kassette an.

Mit einer Doppel-CD- wird Peter Anders gewürdigt. Der 1908 geborene Tenor gehörte bis zu seinem Unfalltod mit nur 46 Jahren zu den Publikumslieblingen der Nachkriegszeit. Er begann im lyrischen Fach und eignete sich allmählich jugendlich-heldische Partien an, besaß den Charme für die Operette und ein Gefühl für das Kunstlied. Die beiden Alben mit zwischen 1946 und 1952 entstandenen Aufnahmen versammeln einen Querschnitt aus Anders‘ Repertoire. Dramatische Arien, etwa Wagners Lohengrin und der Florestan aus Fidelio sind darunter, Duette von Verdi-, Puccini- und Bizet mit der hinreißenden Sena Jurinac, Szenen aus Der Zigeunerbaron und vorwiegend deutsche Lieder. Stimmlich ist Anders auf der Höhe seines Könnens, gelegentliche enge Spitzentöne fallen angesichts der vokalen Pracht und des eindringlichen Vortrags bei absoluter Textverständlichkeit nicht ins Gewicht.

Dietrich Fischer-Dieskau, auf Tonträgern so präsent wie kaum ein anderer Klassikkünstler, nahm im Frühstadium seiner Karriere Anfang der 50er Jahre Barock-Kantaten auf. Auch auf diesem Terrain, mit dem man den Bariton weniger verbindet, erweist er sich als gestalterische Kapazität und offen für abseitige Musikpfade. Mit frischem Organ, geschmeidigen Verzierungen, auch in der hier geforderten Basslage, und beispielhafter Diktion singt er Geistliches nicht nur von Buxtehude, sondern auch von weniger geläufigen Komponisten wie Franz Tunder, Nicolaus Bruhns und Adam Krieger.

Das Porträt des gleichaltrigen Nicolai Gedda dokumentiert die enorme stilistische Bandbreite des schwedischen Tenors. Von diesen Aufnahmen kann man nur schwärmen: wegen der durchgehenden Klangschönheit, der perfekten Artikulation in fünf Sprachen und der ausgefeilten Phrasierung. Imponierend, wie mühelos er die Stratosphärenhöhen des Sobinin in Glinkas Ein Leben für den Zaren oder des Chapelou in Adams Postillon von Lonjumeau erklimmt; meisterhaft, wie idiomatisch und elegant er so unterschiedliche Stücke wie PoulencMélodies, italienische Lieder der Spätromantik oder russische von Nikolai Rimski-Korsakow darbietet.

Die beiden weiblichen Gesangslegenden sind in Mitschnitten zweier Liederabende aus Schwetzingen zu hören. Martina Arroyo, zu ihrer Zeit eine der führenden Verdi-Soprane, doch für ihren Rang wenig dokumentiert, gab 1968 dort ein Solokonzert. Ihre üppige, dunkelgolden timbrierte Stimme beeindruckt auch in den Liedern von Rossini (mit federleichten Spitzentönen bei La Danza), Schubert, Brahms und Dvořák. Sie ist eine ausdrucksvolle, dynamisch variable Interpretin, nur hapert es ihr an einer klaren Aussprache. Abgerundet wird das Programm durch vier tief empfundene, mit Wärme gesungene Spirituals, die im hymnischen Witness gipfeln.

Ganz im Zeichen Gioacchino Rossinis stand das Schwetzinger Recital, mit dem Marilyn Horne 1992 dem „Schwan von Pesaro“ anlässlich seines 200. Geburtstags gratulierte. Die Mezzosopranistin mit der unverwechselbaren Stimmfarbe, die im Januar 2024 neunzig Jahre alt wurde, bekräftigte bei dieser Hommage noch im Karriere-Spätherbst ihre Ausnahmestellung als Belcantointerpretin. Mit verblüffenden Koloraturen und Verzierungen, wie in der feurigen Canzonetta spagnuola, mit lang gesponnenen Kantilenen und vollendeter Legatokultur, wie in der berühmten Tancredi– Arie Di tanti palpiti, beschenkte sie den Jubilar. Der vernehmbare Dank des Publikums: Jubel und Bravos zwischendurch und am Ende.

Karin Coper [August 2024]

Pendereckis 6. Symphonie und zwei Konzerte unter Antoni Wit

Naxos 8.574050; EAN: 7 47313 40507 7

Die als letzte von Krzysztof Pendereckis insgesamt acht Symphonien entstandene Sechste „Chinesische Lieder“ liegt nun in einer weiteren Einspielung mit dem Norrköping Symphony Orchestra unter Antoni Wit vor. Auf der Naxos-Produktion erklingen zudem das Trompeten-Concertino (2015) und das Concerto Doppio von 2012 in der Version für Violine und Violoncello. Die Solisten sind Jarosław Bręk (Bassbariton), David Guerrier (Trompete), Aleksandra Kuls (Violine), Hayoung Choi (Violoncello) sowie Hsin Hsiao-ling (Erhu).

Die Zählung der acht Symphonien Krzysztof Pendereckis (1933‒2020) verließ bereits früh die Chronologie: So wurde etwa die 3. Symphonie erst nach der vierten und fünften fertig. Eine 6. Symphonie war bereits für Ende 1996 bei den Münchner Philharmonikern angekündigt worden. Nach den Premieren der 7. Seven Gates of Jerusalem“ (1997) und 8. „Lieder der Vergänglichkeit“ (2005 bzw. 2007) rechnete eigentlich niemand mehr mit der noch fehlenden 6. Symphonie; und so entstanden schon CD-„Gesamtaufnahmen“ eben ohne eine solche. Penderecki hatte allerdings seit 2008 an einem Liederzyklus gearbeitet, der – wie Gustav Mahlers Lied von der Erde – altchinesische Dichtungen in der deutschsprachigen Übertragung Hans Bethges vertonen sollte. Die insgesamt acht Lieder, gesetzt für Bassbariton und relativ kleines Orchester, wurden 2017 vollendet und erschienen dann schließlich als 6. Sinfonie (Chinesische Lieder). Nach der Uraufführung in Guangzhou kamen für die Dresdner Aufführung im März 2018 noch vier Zwischenspiele für Erhu – das vielleicht typischste, lediglich zweisaitige Streichinstrument Chinas – hinzu.

Penderecki hat sich ja bekanntlich vorwerfen lassen müssen, vom Avantgardisten zum hemmungslosen Romantiker mutiert zu sein. Wie schon in der 8. Symphonie bedient der Komponist auch in der Sechsten ausgerechnet Texte auf Deutsch. Im Unterschied zu Mahlers Lied von der Erde, wo dieser alle angesprochenen individuellen Befindlichkeiten der altersweisen chinesischen Lyrik gleich in allgemeinen Weltschmerz umdeutet, bleibt Penderecki bei der Einsamkeit seines Protagonisten. Das ist feine Kammermusik, subtil instrumentiert, und interessanterweise nicht so stark mit Penderecki-typischen Intervallfolgen infiltriert wie lange bei ihm üblich. Ja, man darf sich an romantische Liederzyklen erinnert fühlen und ein im engeren Sinne erwartbarer symphonischer Zusammenhang ist schwer erkennbar.

Antoni Wit (*1944), noch Schüler von Henryk Czyż, Stanisław Skrowaczewski und Nadia Boulanger, erlangte als Karajan-Preisträger schnell Weltruhm. Sein größter Verdienst liegt im unermüdlichen Einsatz für zeitgenössische polnische Komponisten, insbesondere Lutosławski und Penderecki, dessen Orchesterwerke er fast komplett für Naxos eingespielt hat – meist in herausragender Qualität. Bislang kamen dafür fast ausschließlich Warschauer Orchester zum Einsatz. Das vorliegende Programm benötigt zwar weniger große Klangkörper; das Norrköping Symphony Orchestra – zuletzt gelobt für seine Aufnahmen der Symphonik Allan Petterssons – fremdelt nun allerdings ein wenig mit der Musik des polnischen Meisters.

Ein echter Schwachpunkt der Wit-Aufnahme ist der leider kürzlich viel zu jung verstorbene Bariton Jarosław Bręk. Verglichen mit Stephan Genz auf der Erstaufnahme der Symphonie unter Wojciech Rajski stört der überdeutliche polnische Akzent Bręks, mehr jedoch seine seltsam unbeteiligte, über Strecken fehlende Ausdeutung des Textes – fast so, als wisse er nicht, von was er da singen soll. In den mittleren Sätzen IV. und V. (Die wilden Schwäne/ Verzweiflung) erweist sich sein deutlich dunkleres Timbre als vorteilhaft, aber selbst hier wirkt der Vortrag blass. Das Orchester bleibt bei der Symphonie ebenfalls nur präzis routiniert, kann höchstens punktuell mal emotional mitreißen. Wenigstens aufnahmetechnisch gewinnt die Neueinspielung, ist durchsichtiger und dynamisch besser ausbalanciert als die recht mulmige CD Accord Veröffentlichung. Kurios allerdings, dass die vier kurzen Erhu-Zwischenspiele mit Hsin Hsiao-ling völlig gesondert ein halbes Jahr später in Hong Kong aufgezeichnet wurden.

Viel besser gelingen die beiden konzertanten Werke: Pendereckis Concerto doppio – 2012 ursprünglich für Violine und Viola konzipiert – ist, so wie sein Bratschenkonzert, inzwischen auch für andere Besetzungen, selbst für Akkordeon, adaptiert worden. Dem Rezensenten gefällt die Fassung für Violine und Cello – die Violastimme wird dazu durchgängig nur nach unten oktaviert – eigentlich besser als das Original. Der zusammengenommen nun größere Ambitus der beiden Solistinnen bietet den in diesem Konzert überwiegenden Duopassagen differenziertere Klangmöglichkeiten. Die polnische Geigerin Aleksandra Kuls – u. a. Schülerin von Kaja Danczowska und Wienawski-Preisträgerin – und die Südkoreanerin Hayoung Choi – Siegerin des Queen Elizabeth Competition 2022 für Cello – übertreffen hier an gestalterischer Energie sogar die Interpreten der Urfassung in Pendereckis eigener Aufnahme. Wit bewegt sich in gewohntem Fahrwasser mit nachtwandlerischer Sicherheit und inspiriert dabei ebenso das schwedische Orchester.

Vom gut 10-minütigen Trompeten-Concertino (2015) existieren bereits mehrere Aufnahmen. David Guerrier, 2003 Erster Preisträger des ARD-Wettbewerbs und seit Anfang des Jahres Solotrompeter der Berliner Philharmoniker, musiziert das dankbare, zugleich denkbar traditionelle viersätzige Stück mit Hingabe und vollster Überzeugung, perfekt von Wit unterstützt – eine makellose Darbietung, die nur begeistern kann. Für Sammler ist die mit dieser CD vollständige „echte“ Gesamtaufnahme aller Penderecki-Symphonien unter Antoni Wit wohl ein Muss, obwohl eine rundum befriedigende Wiedergabe der 6. Symphonie noch aussteht. Die Konzerte verdienen eine uneingeschränkte Empfehlung.

Vergleichsaufnahmen: [6. Symphonie] Stephan Genz, Polska Filharmonia Kameralna Sopot, Wojciech Rajski (CD Accord ACD 270-2, 2019); [Concerto doppio – Fass. für Violine & Viola] Bartłomiej Nizioł, Katarzyna Budnik, Jerzy Semkow Polish Sinfonia Iuventus Orchestra, Krzysztof Penderecki (DUX 1537, 2018)

[Martin Blaumeiser, August 2024]

Ein fulminantes Plädoyer für Martin Scherbers Metamorphosensinfonik

Aldilà Records, ARCD 012, EAN: 9 003643 980129

Christoph Schlüren und das Orchestra Simfònica Camera Musicae legen eine Maßstäbe setzende Neueinspielung (und gleichzeitig Uraufführung) von Martin Scherbers Sinfonie Nr. 3 vor. Ergänzt wird das Programm durch Musik von Arvo Pärt und Alessandro Marcello.

Es ist nie ganz leicht und vielleicht auch gar nicht immer überhaupt möglich, Entwicklungen auf dem Tonträgermarkt treffend auf einen Nenner zu bringen. Beschäftigt man sich etwa mit Sinfonik des deutschen und deutschsprachigen Raums, so wird man unter anderem feststellen, dass in den vergangenen drei Dekaden eine ganze Reihe von Komponisten, die in der Schallplattenära noch ihre regelmäßigen Veröffentlichungen hatten, mittlerweile fast gänzlich vom Radar verschwunden sind (exemplarisch sind hier sicherlich etliche Komponisten aus der ehemaligen DDR zu nennen, aber eben längst nicht nur diese, sondern auch viele ihrer westlichen Generationskollegen). Andere dagegen, gerade aus der Romantik und solche, die im 20. Jahrhundert auf ihr aufbauten, haben eine gewisse Renaissance erlebt und sind heute wenigstens diskographisch relativ (oft sogar überraschend) gut dokumentiert, selbst wenn es auch hier nach wie vor erkleckliche Lücken gibt oder aber die vorhandenen Einspielungen deutlich Luft nach oben aufweisen.

Unter all diesen Neu- oder Wiederentdeckungen gibt es m. E. nur wenige, die in solchem Maße polarisiert haben bzw. oft genug derart harsche, negative Reaktionen hervorgerufen haben wie die Musik Martin Scherbers, speziell die Ersteinspielung seiner Sinfonie Nr. 3 h-moll (1952–55) mit Elmar Lampson am Pult, erschienen im Jahre 2001. Auf die Gründe (und Hintergründe) wird noch einzugehen sein; in jedem Falle aber ist die vorliegende Neueinspielung dieses Werks durch das katalanische Orchestra Simfònica Camera Musicae (bzw. seit 2021 Franz-Schubert-Philharmonie) unter der Leitung von Christoph Schlüren allein schon deshalb hochwillkommen, um all dies anhand einer zweiten Lesart auf den Prüfstand stellen zu können.

Martin Scherber, 1907 in Nürnberg geboren und 1974 ebenda an den Spätfolgen eines Unfalls verstorben, war ein Schüler von Gustav Geierhaas (dessen Schaffen übrigens auch eine Renaissance zu wünschen wäre) an der Münchner Akademie der Tonkunst. Nachdem er anschließend für nur wenige Jahre im böhmischen Aussig als Korrepetitor bzw. Kapellmeister gearbeitet hatte, kehrte er rasch nach Nürnberg zurück und führte fortan ein zurückgezogenes Leben als privater Musiklehrer, unterbrochen durch die Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Zutiefst geprägt, und zwar insbesondere auch mit Blick auf sein musikalisches Schaffen, wurde Scherber durch Goethe, speziell dessen Metamorphosenlehre, und die Schriften Rudolf Steiners.

Scherbers Œuvre ist schmal, nicht zuletzt deshalb, weil er 1935 nahezu sein gesamtes frühes Schaffen vernichtete. Als seine Hauptwerke dürfen seine drei Sinfonien gelten, gerade die zweite und dritte, beide Anfang der 1950er Jahre entstanden, nachdem Scherber nach dem Krieg sich mit der Erstellung von Klavierauszügen von Bruckners Sinfonien Nr. 3–9 darauf gleichsam „vorbereitet“ hatte. Die Dritte ist so etwas wie sein „Opus summum“, und obwohl ihm nach ihrer Fertigstellung noch 15 Jahre blieben, bis ein betrunkener Autofahrer ihn erfasste und für den Rest seines Lebens schwer zeichnete, schuf Scherber danach keine weiteren größeren Werke mehr.

In den 1950er Jahren war es vor allem der Dirigent Fred Thürmer, der sich um sein Schaffen verdient machte und die ersten beiden Sinfonien zur Uraufführung bringen konnte. Die Dritte hingegen blieb zu Scherbers Lebzeiten allen Mühen zum Trotz (inklusive u. a. einer Absage durch Bruno Walter, der mit dieser Musik nichts anfangen konnte) unaufgeführt. Die weiter oben genannte CD-Einspielung, aufgenommen 1999, dokumentiert in der Tat die erste Mal, dass diese Musik von einem Orchester gespielt wurde. Die eigentliche Uraufführung aber fand tatsächlich erst am 1. Dezember 2019 in Barcelona statt; eine der beiden CDs dieses Albums enthält ihren Mitschnitt.

Natürlich ist schon zu Beginn der Sinfonie deutlich zu hören, dass sich Scherbers Tonsprache deutlich an Bruckner orientiert (hier speziell an dessen Sechster Sinfonie). Die Moderne seiner Zeit spielt für Scherber dagegen keine Rolle, er war (völlig bewusst) gewissermaßen ein „Unzeitgemäßer“, der radikal nur die Musik schrieb, die für ihn selbst Relevanz besaß, unberührt von zeitgenössischen Schulen, Strömungen und Moden. Wenn man daraus nun aber schließt (wie häufig geschehen), einen Bruckner-Epigonen vor sich zu haben, der des Meisters Zehnte schrieb, dann verharrt man lediglich an der Oberfläche dieser Musik und übersieht einige der zentralen Aspekte von Scherbers Ansatz, denn wie schon Fred Thürmer bemerkte: entscheidend ist das „Wie“ (es gemacht ist) in Scherbers Musik.

An diesem Punkt nämlich kommt das Metamorphosenprinzip ins Spiel: was am Anfang in den Violinen wie eine Brucknerreferenz anmutet, ist faktisch der „Hauptrhythmus“ der Sinfonie, und die ersten sechs Noten des in Celli und Bässen einsetzenden Hauptthemas bilden den sogenannten „Themenkern“. Aus diesen beiden Elementen leitet Scherber nun in fortwährender, allmählicher voranschreitender Metamorphose seine gesamte Sinfonie ab. Hier ist, wie Schlüren bemerkt, in der Tat alles mit allem verwoben, gibt es nichts Beiläufiges, nur organisches Wachsen, Sich-Entwickeln, und dies in aller gebotenen Ruhe und Ausführlichkeit. Bei aller Wucht, die diese Musik an ihren machtvollen Höhepunkten entfaltet, handelt es sich also gleichzeitig um ein Werk von äußerster Reduktion, Askese, Radikalität und Konsequenz.

Ebenso interessant ist dabei die Form. Scherbers Dritte ist erst einmal ein einsätziges Werk in der Tradition von Liszts Klaviersonate h-moll im Sinne einer „Mehrsätzigkeit in der Einsätzigkeit“ (im Rahmen eines riesigen Sonatenallegros). So suggerieren die Anfangstakte zunächst ein sinfonisches Allegro, trifft man ein wenig später auf einen klar definierten Scherzo-Abschnitt, auf den eine Art Adagio folgt, und schließlich setzt gegen Ende so etwas wie eine „Reprise“ ein, die angesichts der permanenten Metamorphose natürlich aber auf keine bloße (oder auch leicht abgewandelte) Wiederholung hinauslaufen kann.

So ist das Werk im Rahmen von Lampsons Ersteinspielung präsentiert worden. Tatsächlich handelt es sich dabei aber nur um eine Ebene, und was seinerzeit übersehen wurde (und wohl auch seinen Teil dazu beigetragen hat, dass die Sinfonie teils als „formlos“ missverstanden wurde), ist, dass Scherber sein Werk darüber hinaus in zwölf Abschnitte unterteilt hat, die den Tierkreiszeichen (dem Zodiak also – daher der Titel des Albums) entsprechen. So durchläuft die Sinfonie gleichzeitig einmal das Jahr vom (Frühlings-) Beginn des Widders bis hin zur Rundung und gleichzeitig feierlichen Wiederkehr (des Frühlings, des Jahreszyklus) durch die Fische. Das Scherzo entspricht hierbei dem Krebs, das (beginnende) Adagio dem Löwen, die angedeutete Reprise fällt in den Steinbock (und damit, wie Schlüren bemerkt, in die Wintersonnenwende).

Natürlich muss man dieser Bedeutungsebene nicht in jeder Konsequenz folgen, obwohl es zweifelsohne ein sehr schönes Bild ist, wenn Schlüren den still-fahlen Beginn des fünften Abschnitts mit einem durch die sommerliche Mondnacht schleichenden Löwen assoziiert. Was aber entscheidend ist: die zwölfteilige Struktur, zusammen mit Schlürens exzellenten, detaillierten Erläuterungen zum musikalischen Geschehen in diesen Abschnitten, hilft immens dabei, sich in diesem Koloss zurechtzufinden, und auf einmal erscheint diese Musik überhaupt nicht formlos, sondern man wird in der Tat Zeuge all der „Verpuppungen“ des Grundmaterials, des Auseinander-Hervorgehens der einzelnen Teilabschnitte, und lauscht gebannt, bis die Fische Schritt für Schritt die Moll-Tonalität in den triumphalen H-Dur-Schluss der Sinfonie verwandeln, wobei sich die neapolitanischen Wendungen selbstredend auf den Themenkern zurückführen lassen.

In der Vergangenheit haben einige von Scherbers Äußerungen zu seiner Musik gelegentlich zum Polemisieren gereizt, und sicherlich mutet einiges davon eigenwillig an. Am Ende erscheint mir all dies allerdings bestenfalls zweitrangig und eher geeignet, den Blick vom Wesen und Wesentlichen seiner Musik abzulenken. Insbesondere sei betont: um diese Musik schätzen zu lernen, benötigt man keinerlei Affinitäten zur Anthroposophie und auch nicht zur Astrologie – man kann sich natürlich in dem Umfang, der einem selbst hilfreich erscheint, mit vielen Hintergründen befassen, doch am Ende ist die entscheidende Frage doch stets „nur“, ob ein Stück Musik als solches funktioniert, bereichernd ist, ungeachtet aller zusätzlichen Bedeutungsebenen. Letztlich spricht Scherbers Musik ganz für sich, man muss nur ihre Strukturen begreifen, bereit sein, sich auf ihr langsam voranschreitendes Wachsen einzulassen, um sich für sie begeistern zu können.

Dies gilt übrigens umso mehr, als dass sich manchmal ein wenig der Eindruck aufdrängt, als begegne man wenig(er) bekannten Komponisten von Musik, die erhebliche Dimensionen aufweist, Ambitionen jenseits des Erwartbaren verrät, oft genug mit einer gewissen grundsätzlichen Skepsis. Man vergleiche in diesem Zusammenhang nur etwa die Reaktionen auf die Musik Felix Weingartners, der in seinen besten Werken ein unterhaltsamer Eklektiker ist, mit denjenigen auf das Schaffen Wilhelm Furtwänglers, der ein ungleich substantiellerer Komponist ist, dessen Musik aber oft genug auf hartnäckige Vorbehalte trifft. So unähnlich scheint mir der Fall Scherber nicht gelagert.

Eine Besonderheit des vorliegenden Albums ist, dass es (fast) das gesamte Programm in doppelter Ausführung liefert, nämlich einmal als Konzertmitschnitt vom 1. Dezember 2019, einmal als Studioaufnahme vom Tag darauf. Ein reizvolles Konzept, dessen Vorzüge in diesem konkreten Fall Schlüren selbst auf den Punkt bringt: der Konzertmitschnitt kommt mit etwas besserer, vollerer Akustik daher, die Studioaufnahme ist noch etwas „perfekter“, vielleicht in der dramaturgischen Stringenz einen Hauch zwingender. Von solchen Details abgesehen, tragen beide Aufnahmen natürlich eindeutig dieselbe Handschrift.

Insbesondere sind die Einspielungen fast exakt gleich lang, nämlich jeweils gut 66 Minuten. Dem mit der Aufnahme Lampsons vertrauten Hörer wird also auffallen, dass Schlüren deutlich mehr Zeit für die Sinfonie in Anspruch nimmt. Dies hat gewiss musikimmanente Gründe, denn die komplexen, verflochtenen Strukturen dieser Sinfonie benötigen ihre Zeit, ihren Raum, um sich entfalten zu können. Zum anderen hat Scherber (zusammen mit Martin Held) seine Sinfonien selbst in Fassungen für zwei Klaviere eingespielt, und Lampson (wie übrigens auch Samuel Friedmann in seiner Einspielung der Zweiten Sinfonie) hat sich an den Tempi dieser Aufnahmen orientiert. Vom vollen Orchester gespielt, schwebten Scherber aber andere, deutlich breitere Tempi vor, und so sah er für seine Zweite Sinfonie eine Spieldauer von 60 Minuten und für die Dritte eben mehr als 60 Minuten vor. Hieran orientiert sich, im Übrigen in bestechender musikalischer Logik, Schlürens Neueinspielung.

Insgesamt ist Schlüren und seinem Orchester hier ein famoses Plädoyer für diese Sinfonie gelungen, eine Einspielung, die nicht nur durch ihre Transparenz besticht, das sorgfältige Herausarbeiten aller Stimmen (in einem gar nicht einmal direkt kontrapunktischen Satz, bei dem sich aber dennoch alle Stimmen ergänzen, in stetig fließendem Bezug zueinander stehen), sondern auch durch ihre vorzügliche organische Disposition, ihren sorgfältigen Aufbau von Höhepunkten über weite Strecken hinweg. Schlüren selbst verweist in diesem Zusammenhang u. a. auf das Scherzo, dessen finale Kulmination es erfordert, nicht zuvor bereits alle Reserven aufgebraucht zu haben; ich möchte aber ebenso hervorheben, wie klar in dieser Aufnahme das finale „Drängen“ der Sinfonie „heim“ nach H gestaltet wird, gerade gegen Ende des Steinbocks und des Wassermanns. Hier „will“ die Musik förmlich zu ihrem (tonalen) Ursprung zurück, in die finale Apotheose münden. Und natürlich profitieren ganz grundsätzlich die vermeintlich repetitiven, in Wahrheit eben in einem stetigen Prozess allmählichen Wandels begriffenen Strukturen dieser Musik enorm von einer so umsichtigen, weitsichtigen Darbietung wie auf diesen CDs geschehen.

Viel Zeit bleibt angesichts der zeitlichen Ausdehnung von Scherbers Sinfonie zwar nicht mehr, aber Schlüren nutzt dennoch (einmal mehr) die Gelegenheit, die Musik „einzuordnen“, ihr einen Rahmen zu geben und auch Parallelen aufzuzeigen. Dies gilt in besonderem Maße für Arvo Pärts (* 1935) Festina lente für Streichorchester (1988), einem Proportionskanon, bei dem das Thema in drei Geschwindigkeiten gespielt wird, mit den Bratschen als Referenzpunkt in der Mitte, einer schnelleren Variante in den Violinen und einer langsamen in den Kontrabässen. Schlüren bezieht dieses Stück dabei explizit auf den Löwen in Scherbers Sinfonie, der mit Pärts Stück nicht nur die Tonart a-moll teilt, sondern in der Tat auch sonst in vielerlei Hinsicht (klanglich, atmosphärisch) verblüffende Parallelen aufweist und Scherber so auf einmal in Bezug zu minimalistischen Techniken setzt, die tatsächlich seinem Metamorphosenprinzip so fremd gar nicht einmal sind. Vereint Pärts Stück also drei Zeitebenen, so tut ebendies auch die CD (bzw. in diesem Fall nur die erste), wenn das Programm noch um den Mittelsatz von Alessandro Marcellos (1673–1747) Oboenkonzert d-moll (1717) ergänzt wird, versehen mit Verzierungen aus Johann Sebastian Bachs Adaption dieses Werks für Cembalo (BWV 974). Den Solopart spielt hierbei Pau Roca Carreras, der Solooboist des Orchesters.

Abschließend sei noch einmal auf Schlürens extensiven Begleittext hingewiesen; allein die deutsche Variante ist bereits ein kleines Buch von 35 Seiten. Schlüren geht hier ausführlich auf Scherbers Leben und Werk ein, natürlich auch auf die Stücke von Pärt und Marcello, ganz besonders eingehend aber wie bereits erwähnt auf Scherbers Dritte Sinfonie. Allein, um diese Ausführungen lesen zu können und dadurch einen wesentlich geschärften Blick auf das zu erhalten, was sich in dieser Sinfonie eigentlich ereignet, lohnt es sich bereits, die CDs zu kaufen und eben nicht zu streamen, herunterzuladen oder was auch immer. Schließlich diskutiert Schlüren noch verschiedene grundsätzliche Aspekte wie die Genese einsätziger Sinfonik, Musik mit Bezug auf die Jahreszeiten oder eben die Tierkreiszeichen sehr eingehend und speziell mit ausführlichen Auflistungen. Der interessierte Leser sollte dies alles vor allem auch als Angebot begreifen, mit Zeit und Muße diese Listen studieren und in eigener Initiative nach dem ein oder anderen ihm womöglich bislang unbekannten Werk oder Namen forschen. Insgesamt ist dies eine von äußerster Sorgfalt und größtem Engagement geprägte, in jeder Hinsicht vorbildliche Produktion.

[Holger Sambale, August 2024]

Begeisternde Einspielungen von George Antheils Violinsonaten

Naxos 8.559937; EAN: 6 36943 99372 9

Als Co-Produktion mit Deutschlandfunk Kultur haben die Geigerin Tianwa Yang und der Pianist Nicholas Rimmer in Berlin die vier Violinsonaten des US-amerikanischen Komponisten George Antheil (1900‒1959) für Naxos eingespielt. Die Veröffentlichung kann in allen Belangen überzeugen.

George Antheil war in den 1920er Jahren in der klassischen Musikszene Europas tatsächlich das enfant terrible schlechthin, bezeichnete sich nicht erst in seiner gleichnamigen Autobiographie (1945) ausdrücklich als Bad Boy of Music. Insbesondere durch rhythmisch äußerst aggressive, über Strecken dabei mechanistisch unterkühlte Musik – allem voran sein Ballet mécanique (1926, rev. 1952) – wusste er stets gehörig zu provozieren. Die dann auch immer vorhandenen Jazz-Einsprengsel taten ein Übriges. Genoss der Komponist in Europa seine Skandale, war ein Konzert in der New Yorker Carnegie Hall 1927 ein einziges Debakel. Als er 1933 zurück in die USA ging, ab 1936 in Hollywood arbeitete – nicht nur für die Filmindustrie – wurde er zunehmend „braver“, so dass er fortan kaum noch als Avantgardist wahrgenommen wurde und seine frühen, für uns heute umso erfrischender wirkenden Glanzlichter lange in Vergessenheit gerieten. Eine echte Renaissance erlebt sein Werk erst wieder seit den späten 1970ern.

Antheils erste drei Violinsonaten entstanden 1923 und 1924, genau während seiner Experimente mit dem Ballet mécanique. Der Komponist war 1922 nach Europa gereist, traf in Berlin sein Idol Igor Strawinsky und folgte ihm 1923 nach Paris. In der viersätzigen ersten Violinsonate erkennt man in den Ecksätzen Strawinskys Einfluss sehr stark (Les Noces, Histoire du soldat). Aber gleichzeitig gibt es hier bereits in der Violinliteratur bislang unerhörte, bewusst bis an die Grenze der Erträglichkeit sich wiederholende Barbareien, clusterartig klingendes, extremes Kratzen zwischen Steg und Saitenhalter, härteste irreguläre Akzente usw. Jedwede Formerwartungen an klassische Sonaten werden enttäuscht. Andererseits ist das 24-minütige Werk voller Exotismen und schöner Details, die den Hörer ebenso umwerfen.

Die aus Peking stammende, mittlerweile mit Preisen gerade für ihre CD-Aufnahmen (Sarasate, Rihm, Brahms…) überhäufte Violinistin Tianwa Yang ist bereits lange in Deutschland tätig, seit 2018 Professorin in Würzburg. Mit ihrem britischen Klavierpartner Nicholas Rimmer gelingt ihr schon hier eine Darbietung, die alle bisherigen Einspielungen weit in den Schatten stellt. Während etwa Vera Beths und Reinbert de Leeuw einerseits die Bruitismen nicht bis an die Grenze ausloten, andererseits die Musik – sicherlich absichtsvoll – völlig ohne innere Anteilnahme wie eine Maschine abspulen, atmet und lebt bei Yang/Rimmer jeder Moment. Alles ist hier auch emotional nachvollziehbar und verständlich. Der Klang beider Musiker –wunderbar flexibel und farbig – lässt niemals kalt, trotz haarsträubender Präzision. Selbst die barbarischsten Stellen klingen natürlich: zum Beispiel wie der Schrei eines Esels. Und der Schluss des Finales, nicht nur von den Bewegungsmustern her an den Schluss des ersten Teils von Le Sacre du printemps gemahnend, wirkt in seiner Raserei geradezu hinreißend. Rimmers Geschmeidigkeit bei Läufen ist staunenswert – das ganze Stück kommt so absolut großartig herüber.

Genauso begeisternd spielen Yang und Rimmer die übrigen Sonaten. Die Jazz-Einflüsse der Sonaten Nr. 2 und 3 sind (aber)witzig, haben Swing und wirken keinesfalls als Fremdkörper wie bei Beths/de Leeuw. Die vierte Sonate von 1947-48 beweist, dass der dann vermeintlich zahme Antheil nichts an Ausdrucksstärke eingebüßt hat, alles andere als zahnlos oder gar ein Langweiler geworden ist. Erinnert der Kopfsatz – mit ein, zwei Beinahe-Zitaten – an die besten Momente von Kammermusik Prokofjews, erreicht die Passacaglia enormen Tiefgang. Das Toccata-Rondo ist ein wenig konventionell, dennoch ein brillanter Abschluss. Aufnahmetechnisch vermag die CD ebenfalls mit Transparenz und Dynamik völlig zu überzeugen. Die Veröffentlichung kann nicht hoch genug gelobt werden und gehört wirklich in jede Sammlung: ein echtes Kleinod für diese Besetzung.

Vergleichsaufnahme: Vera Beths, Reinbert de Leeuw (Auvidis Montaigne MO 782022, 1989)

[Martin Blaumeiser, Juli 2024]

Ein Franz-Schmidt-Zyklus aus Wales: Jonathan Bermans großartige Gesamtaufnahme der Symphonien

Accentus Music, ACC80544; EAN: 4 260234 833089

Bekanntlich gehört Franz Schmidt zu denjenigen Komponisten, welchen im laufenden Jahr aufgrund eines runden Jubiläums verstärkte Aufmerksamkeit zuteil wird. Im Dezember jährt sich sein Geburtstag zum 150. Male, was sich diskographisch durchaus bemerkbar macht, lässt sich doch unter den CD-Veröffentlichungen der letzten Monate eine erhöhte Dichte an Schmidt gewidmeten Tonträgern feststellen. Zum Teil handelt es sich dabei um aktuelle Einspielungen, zum Teil um historische Aufnahmen, die zum ersten Mal auf CD erscheinen (unter diesen ist vor allem der bei Orfeo erschienene Mitschnitt der Oper Fredigundis aus dem Jahr 1979 bemerkenswert). Noch rechtzeitig vor Anbruch des Schmidt-Jahres 2024 erschien im vergangenen Dezember bei Accentus Music eine neue Gesamteinspielung seiner Symphonien, die erste dieser Art aus Großbritannien.

Der Dirigent Jonathan Berman gehört zu den besten Kennern von Franz Schmidts Leben und Schaffen. Seine Einspielungen der Symphonien mit dem BBC National Orchestra of Wales sind der bedeutendste, aber keineswegs der alleinige Bestandteil seines „Franz Schmidt Project“, das er vor einigen Jahren in Vorbereitung zum 150. Geburtstag des Komponisten ins Leben rief. Parallel zu den zwischen Januar 2020 und Oktober 2022 durchgeführten Aufnahmen hat Berman Interviews mit anderen Musikern über Schmidt geführt und begonnen, eine Schmidt-Diskographie zu erstellen (sie ist noch nicht abgeschlossen) – das Material findet sich auf seiner Internetseite The Franz Schmidt Project.

Was Bermans eigene Aufnahmen betrifft, so ist ihm und seinen walisischen Musikern – dies sei vorweggenommen – eine Leistung geglückt, die sich kein an der Symphonik Franz Schmidts interessierter Hörer entgehen lassen sollte.

Als Prüfstein zur Beurteilung dieser Gesamteinspielung habe ich zunächst den einzigen Satz einer Schmidt-Symphonie gewählt, der mir in vielen Aufnahmen zu lang vorkam, nämlich das Scherzo der Ersten Symphonie. Die Eckteile dieses Satzes erschienen mir nie problematisch, wohl aber der Mittelteil, der aus zwei separaten Stücken besteht, die ineinander übergehen. Das erste dieser Trios (cis-Moll) besteht im Grunde nur aus einem sich über die Intervalle des verminderten und übermäßigen Dreiklangs nach oben schraubenden achttaktigen Thema, das, berücksichtigt man die vorgeschriebenen Wiederholungen, insgesamt elfmal hintereinander zu hören ist, wenngleich auf verschiedenen Stufen. Das kann sehr gleichförmig wirken und seinen Schatten auf das unmittelbar folgende langsame Trio (Des-Dur) werfen, das dann wie eine Durststrecke erscheint. Aber muss dieser Eindruck sein? Berman lenkt im ersten Trio die Aufmerksamkeit auf die Gegenstimmen, macht deutlich, was sich alles um das Thema rankt, wie es bei jedem Durchlauf etwas anders kontrapunktiert und klanglich eingefärbt wird. So wird jedes Erscheinen des Themas zum Ereignis. Die Musik atmet gleichmäßig und holt alle acht Takte Luft. Nirgends klingt es, als trete das Geschehen auf der Stelle. Im Gegenteil hört man bei Berman, wie einfallsreich Schmidt mit diesem Trio das Passacaglia-Prinzip in einen Scherzo-Satz eingebaut hat. Nach dem elften Themendurchlauf legt sich diese Quasi-Passacaglia zur Ruhe und fließt in das langsame zweite Trio über. Berman gestaltet diesen Übergang unaufdringlich zwingend, der Beginn des Des-Dur-Trios erscheint als der natürliche Zielpunkt. Im Folgenden lässt der Dirigent stärkere Rubati zu, aber stets in schöner Übereinstimmung mit dem harmonischen Verlauf der Musik. Die Musik dehnt sich, entspannt sich – durchaus ein erwünschter Effekt nach dem so rigoros durchgeführten cis-Moll-Abschnitt –, aber sie verliert nicht die Orientierung und auch nicht den Fluss. Wenn dann der Hauptteil des Scherzos erneut ansetzt, klingt alles erholt und erfrischt – und es wird klar, welch originelle vierteilige Dramaturgie Schmidt, vom üblichen Scherzo-Schema abweichend, in diesem Satz verfolgt. Im Hauptteil selbst hält Berman die Musik geschickt zwischen ungeschlachter Ländlichkeit und eleganteren, sich ein wenig zierenden Klängen in der Schwebe. Nein, dieser Satz enthält keine Längen, sondern in jedem Takt großartige, spannende Musik!

Was für das Scherzo gilt, gilt für die ganze Symphonie. Das Werk erfährt durch Berman und die Walliser eine rundherum ausgewogene Wiedergabe, die allen Affekten gleichermaßen Rechnung trägt und durch alle Tempi hindurch die Spannung aufrecht erhält. Schmidts Erste ist ein glänzend instrumentiertes Werk, doch geht es Berman hörbar um mehr als um die Vorführung bloßer orchestraler Brillanz. Das Klangbild, das er mit seinem Orchester erzeugt, leuchtet von innen her, da es vom kontrapunktischen Tonsatz aus entwickelt ist. Schmidt ist ein essentiell polyphoner Komponist und seine Harmonik stets als Ergebnis des Zusammentreffens der Stimmen gedacht. Die Herausforderung, die er an die Ausführenden stellt, ist weniger spieltechnischer als geistiger Art (Paul Wittgenstein pflegte den Komponisten, bei denen er Klavierkonzerte in Auftrag gab, das Schmidtsche Es-Dur-Konzert als Musterbeispiel ausgewogener Instrumentation vorzulegen!) und besteht in erster Linie darin, die für Schmidt charakteristische exzessive Chromatik funktional zu erfassen und den linearen Spannungsauf- und abbau in den einzelnen Stimmen nachzuvollziehen. Jonathan Berman hat sich tief in die Feinheiten des Schmidtschen Tonsatzes versenkt und ein Gespür für die Darstellung des polyphonen Geflechts entwickelt, weswegen man in seiner Einspielung die Nebenstimmen auch in lautstarken Momenten deutlich durchklingen hört.

Mehr noch als der Ersten kommt dies der Zweiten Symphonie zu Gute. Bermans Aufführung dieses Werkes entwaffnet all jene vorlauten Kritiker, die in demselben ein überladenes Monstrum sehen wollen und dabei wahlweise von „k.u.k.“- oder „Jugendstil“-Bombast fabulieren. Ja, Schmidt macht in dem Stück, das allein schon im Hinblick auf seine Form zu den hervorragendsten Leitungen des Komponisten gerechnet werden muss, seine handwerkliche Meisterschaft durchaus demonstrativ geltend und schöpft bezüglich der Möglichkeiten, die ihm das große Orchester zur polyphonen Gestaltung bietet, aus dem Vollen, aber überladen klingt das alles doch nur, wenn der Dirigent keinen rechten Überblick über den Tonsatz hat. Man höre nun bei Berman den Schlusschoral des Finalsatzes: Da ist kein undifferenziertes Dröhnen und Rauschen. Das Choralthema führt eindeutig, wird aber nicht so überstark herausgestellt, dass alles Übrige zu einer diffusen Begleitung herabsinkt. Stattdessen wird hörbar, mit welch feinen Ornamenten Schmidt das Thema umrankt. Auch behandelt Berman das Tempo feinfühlig, lässt es an manchen Stellen geringfügig nachgeben, damit eine Nebenstimme deutlicher zu vernehmen ist, achtet aber sorgsam darauf, das Thema nicht zu zerdehnen und das Grundtempo zu halten. Diese Kunst des Rubatos beherrscht Berman auch im Leisen, wie sich beispielhaft in der Mitte der Durchführung des ersten Satzes, in der langsamen Variation vor Beginn des Scherzos im zweiten Satz sowie im Trio des Scherzos zeigt.

Besonders erfreut in dieser Gesamtaufnahme die Darbietung der Dritten Symphonie. Dieses Werk kann gerade deswegen als Schmidts schwierigste Symphonie gelten, weil sie sich verglichen mit ihren Geschwistern so unauffällig gibt. Zusammen mit dem zeitnah entstandenen Zweiten Streichquartett markiert sie in Schmidts Schaffen den Punkt der stärksten Abkehr vom „spätromatischen“ Idiom. Einer auf Äußerlichkeiten aufbauenden Interpretation entzieht sie sich auffällig. In der Ersten Symphonie kann ein Dirigent sich an Gesten jugendlicher Aufbruchsstimmung und an Naturlauten orientieren, aus der Zweiten kann er ein opulentes Fin-de-siècle-Feuerwerk machen, die Vierte gibt immer wieder die Möglichkeit zu nachdrücklicher Emotionalität. Die Dritte dagegen hat keine spektakuläre Außenseite. Wer will, der höre zu und nehme Teil an dieser sanft dahinströmenden, ungemein fein gestalteten Musik, aber man erwarte nicht, dass sie irgendwelche Anstalten macht, den Hörer zu überreden. Schmidts Dritte ist ein leidenschaftlich unrhetorisches Stück. Einem solchen Werk kommt man nur bei, wenn man sich auf die Introspektion der Musik einlässt und nicht nach Gelegenheiten zur Effekthascherei sucht, wo keine sind. Bermans intensives Nachvollziehen der zart gesponnenen melodischen Linienspiele mit ihrer ebenso kühnen wie unaufdringlichen Chromatik ist hier der einzig erfolgversprechende Ansatz. Und so blüht diese Musik auf wie selten zuvor.

Das BBC National Orchestra of Wales zeigt sich in jeder dieser Schmidt-Aufnahmen als ein bestens disponierter Klangkörper, der wie ein großes Kammerensemble agiert: Den Spielern ist die Bedeutung ihrer einzelnen Stimmen offenbar voll bewusst, und man hört einander genau zu. Anders wären die dezenten Rubati und das fein abgetönte polyphone Musizieren auch kaum möglich. Großartige Orchestersolisten stehen für das Trompetensolo am Beginn der Vierten Symphonie und das Cellosolo im langsamen Satz desselben Werkes zur Verfügung. Auch in dieser meistgespielten Symphonie Schmidts zwingt Berman der Musik nichts auf, sondern lässt sie aus der Ruhe und Einsamkeit des einleitenden Trompetenthemas heraus entstehen und durch die allmähliche polyphone Entfaltung wie von selbst immer tiefgründiger und inniger werden. Auch imponiert die Geschlossenheit der Aufführung. Der markerschütternde Aufschrei im Scherzo, der in weniger durchdachten Aufführungen recht plötzlich ertönt und wieder verklingt, wird hier als der Höhepunkt spürbar, auf den die ganze Entwicklung der drei miteinander verbundenen Sätze zuzusteuern scheint, und nach dem es für die Musik tatsächlich keinen anderen Ausweg gibt, als den Anfang des ersten Satzes zu rekapitulieren und mit dem Trompetenthema den Kreis zu schließen.

Als Zugabe erklingen noch die Orchesterstücke aus Schmidts erster Oper Notre Dame, denen Berman und seine Musiker keineswegs weniger Aufmerksamkeit schenken als den Symphonien und anhand deren so recht deutlich wird, dass Schmidt auch als Opernkomponist symphonisch denkt.

Die Edition bereitet nicht nur großes Hörvergnügen, sondern erfreut auch durch ein umfangreiches Beiheft, das neben den Werkeinführungen ein 15-seitiges Interview enthält, in welchem sich der Dirigent ausführlich zu seiner Beschäftigung mit Franz Schmidt äußert.

[Norbert Florian Schuck, Juli 2024]

Spätromantische Entdeckungen: Leo Blech und Hans Sommer

Drei Ersteinspielungen würdigen die fast vergessenen Komponisten Leo Blech und Hans Sommer

Leo Blech: „Alpenkönig und Menschenfeind“, 2 CD’s

Capriccio; Bestellnr.: C5478, EAN: 845221054780

Leo Blech: „Complete Orchestral Works“

Capriccio, Bestellnr.: C5481, EAN: 845221054810

Das Theater Aachen feiert im kommenden Jahr den 200. Geburtstag und arbeitet seine Vergangenheit schon im Vorfeld auf. Dafür stehen zwei Meldungen: 2023 wird die Büste von Herbert von Karajan wegen seiner Nähe zum nationalsozialistischen Regime aus dem Foyer entfernt. Ein Jahr früher erhält Leo Blech die Ehrenmitgliedschaft, die ihm 1937 aufgrund seiner jüdischen Herkunft entzogen wurde, posthum wieder zurück. Beide Dirigenten begannen von Aachen aus ihre Karriere. Doch während Karajan ohne Unterbrechung zum Pultstar mit Kultstatus aufstieg, wurde der 1871 in der Domstadt geborene Blech, der als Chefdirigent der Staatsoper seit 1913 im Berliner Musikleben eine führende Rolle spielte, 1937 zwangspensioniert. Nach Jahren im Exil kehrte er 1949 in gleicher Position an sein altes Haus zurück, doch nach seinem Tod 1958 wurde er vergessen. Erst 2015 erinnerte der Verlag Hentrich & Hentrich im Rahmen der Reihe Jüdische Miniaturen an den Musiker, der sich neben seiner Dirigententätigkeit auch als Opernkomponist hervortat. Zunächst in Aachen mit zwei tragischen Einaktern, dann in Dresden mit der volkstümlichen Idylle Das war ich!, mit der ihm der Durchbruch gelang. Deren Erfolg wurde 1903 noch übertroffen von der ebenda uraufgeführten Oper Alpenkönig und Menschenfeind nach Ferdinand Raimunds Wiener Zauberspiel. Sie steht in der Tradition der spätromantischen Märchenopern und der Nachfolge von Blechs Lehrer Engelbert Humperdinck. Die Handlung: der seine Familie tyrannisierende Rappelkopf wird von einem guten Geist mittels eines Zaubertricks – er nimmt die Identität des Griesgrams an, der wiederum in Gestalt des guten Onkels erleben muss, wie unerträglich er sich allen gegenüber verhält, – auf den rechten Weg geführt. Das Stück bietet musikalische Abwechslung: volkstümliche Melodien treffen auf Wagnerreminiszenzen, sinfonische Tonmalereien – etwa der Sonnenuntergang oder das Alpenglühen –, auf eine Genreszene mit Tanz und Blasmusik, und auch ein operettenhaftes Couplet ist dabei. Das Stadttheater Aachen hat Alpenkönig und Menschenfeind anlässlich von Leo Blechs 150. Geburtstag wieder zur Aufführung gebracht und in fast gleicher Besetzung auf CD verewigt. Das Ensemble bewegt sich sicher zwischen spielopernhafter Natürlichkeit und charaktervoller Gesangskultur. Genannt seien stellvertretend Sonja Gornik und Anne-Aurore Cochet, deren Stimmen sich im eröffnenden lyrischen Frauenduett homogen verbinden und die Baritone Ronan Collett und Hrólfur Saemundsson, die der zentralen Schwurszene zwischen Alpenkönig und Menschenfeind dramatische Konturen geben. Auf den Spuren seines historischen Vorgängers schwelgt GMD Christopher Ward mit dem Sinfonieorchester Aachen in den illustrativen Naturschilderungen, zaubert Stimmungen und subtile Klangfarben. Ergänzt wird die Gesamtaufnahme durch eine CD mit Blechs kompletten Orchesterwerken aus seiner Frühphase. Ward dirigiert die sinfonischen Dichtungen, die ihren Namen Waldwanderung, Trost in der Natur und Die Nonne alle Ehre machen, mit gleicher Kompetenz und Leidenschaft wie die Oper. Abgerundet wird diese Einspielung durch zwei Chöre, Sechs Kinderlieder und das Solo Wie ist doch die Erde so schön in der unerwartet konservativen Instrumentation von Bernd Alois Zimmermann. 

Hans Sommer: „Orchestral Songs“

Pentatone, 1 CD, Bestellnr.: 5187 023, EAN: 8717306260237

Zu den deutschen Tonschöpfern, die lange von der Fachwelt vernachlässigt wurden, zählt auch Hans Sommer (1837–1922). Er begann seine berufliche Laufbahn als Mathematikprofessor und schuf seine erste Komposition als bereits anerkannter Wissenschaftler. Daneben engagierte er sich für die Rechte von Künstlern und trat als Mitbegründer GEMA für den Urheberschutz ein. Sommers Oeuvre umfasst vorwiegend Vokalmusik, darunter 10 Opern, von denen nur Rübezahl und der Sackpfeifer von Neiße in modernen Zeiten aufgeführt wurde. Zu seinen wichtigen Werken gehören Orchesterlieder, vergleichbar mit denen seines jüngeren Vorbilds Richard Strauss, der Sommer schätzte und förderte. Etliche von ihnen gibt es mittlerweile in verschiedenen Einspielungen. Das Label Pentatone aber hat eine Auswahl vorwiegend mit CD-Premieren veröffentlicht, die alle Schaffensperioden umfasst. Sie sind stilistisch in der Spätromantik verwurzelt und natürlich auch von Wagner beeinflusst. Ihre Qualitäten bringt ein kundiges, mit Liedgesang vertrautes Vokalquartett ans Licht. Der Tenor Mauro Peter trägt die Heine-Vertonung Nachts in der Kajüte mit Emphase vor, Innigkeit verströmt Sopranistin Mojca Erdmann in den volkstümlichen Weisen aus der Oper Lorelei. Vokale Variabilität und beste Diktion offenbaren der Mezzo Anke Vondung und der Bariton Benjamin Appl in den Stücken auf Goethe-Gedichte. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Leitung von Guillermo Carcia Calvo steuert die exquisite Instrumentalbegleitung bei. Die gelungene CD endet kammermusikalisch intim. Im Zyklus Hunold Singuf für Klarinettenquintett versieht Appl die ersten drei Strophenlieder mit vielen Nuancen, bevor alle zusammen das Trinkchanson Istud Vinum zum fröhlichen Rausschmiss anstimmen.

[Karin Coper, Juli 2024]

Die Kunst der Reduktion: Zauberhafte Miniaturen von Steffen Wolf

TYXart TXA21160 EAN: 4 250702 801603

Sechs Zyklen, bestehend aus insgesamt 51 Miniaturen, vereint die Kammermusik-CD „Essais musicaux“ mit Musik des in Hamburg lebenden Komponisten Steffen Wolf (Jahrgang 1971): Die titelgebenden Essais musicaux I(„To quiet the mind“) und II („Abbaye Saint-Philibert“) für Violine bzw. Klarinette und Klavier, „Im Zeichen der Kastanie“ (Violine solo), „Kreise“ (Klarinette solo) sowie die Klavierzyklen „Als Kind“ und „So listen to my lullaby, you knights and ladies fine“ (zu vier Händen). Die Interpreten sind Ewelina Nowicka (Violine), Pamela Coats (Klarinette), Jennifer Hymer und Michi Komoto (Klavier) sowie der Komponist als Sprecher.

Der wohl im südlichen Niedersachsen (?) aufgewachsene, nun in Hamburg ansässige Sänger und Komponist Steffen Wolf (*1971), hält sich mit Informationen über seine Vita erstaunlich bedeckt, selbst auf seiner eigenen Website: überall stets die fast im Wortlaut identischen, mehr als spärlichen Angaben. Offenkundig interessiert ihn beim Komponieren mehr als nur die reine Musik, vielmehr eine Verbindung zu Malerei, Architektur, Literatur und Philosophie, was auch in den vorliegenden sechs Zyklen mit insgesamt 51 Miniaturen seinen Niederschlag erfährt. Die Besetzung geht von solistischen Werken – Im Zeichen der Kastanie (Violine), Kreise (Klarinette) sowie dem Klavierzyklus Als Kind – über So listen to my lullaby, you knights and ladies fine (Klavier vierhändig) bis zu den für die CD titelgebenden Essai musical I („To quiet the mind“) und Essai musical II („Abbaye Saint-Philibert“) für Violine bzw. Klarinette und Klavier.

Die kurzen, emotional fein dosierten Stücke wollen nicht die jeweiligen Inspirationsquellen „übersetzen“ oder gar illustrieren; es sind die inneren Bewegungsmomente des Komponisten bei diesen Kunstbegegnungen, die dem Hörer vermittelt werden. So vergleicht man den durch eine alte Fotografie – des Komponisten? – angeregten Zyklus Als Kind unweigerlich mit von der äußerlichen Anlage ähnlich scheinenden Werken, natürlich insbesondere Schumanns Kinderszenen. Gemeinsam mit diesen werden auch hier eben nicht konkrete Kindheitssituationen gleichsam geschildert, sondern eben aus der Sicht des Erwachsenen in die Gegenwart zurückgeholt und reflektiert. Jedoch ist Wolfs Rhetorik vorsichtiger und dabei noch reduzierter. Da Wolfs Harmonik nie tonal fundiert ist – sie schwankt zwischen eher weicher Atonalität und Polytonalität mit teils mehreren Zentraltönen – wirken die kurzen Blicke dieser Musik recht spontan, nicht „gewollt“ oder gar konstruiert. Das soll nicht heißen, dass es hier keine inneren musikalischen Zusammenhänge gäbe; dies aufzudecken bedürfte eingehenderer Analysen anhand des Notentexts. Michi Komoto spielt makellos, die schnelleren Abschnitte kommen teils etwas aufgesetzt herüber.

Wie diese oft zauberhafte, durchgehend sehr intime Musik – die daher überhaupt nicht in große Konzertsäle passt – wirkt, ist schwer zu beschreiben. Gemessen an der Kammermusik und den Liedern des frühen, expressionistischen Anton Webern mangelt es ihr an Direktheit, sie ist dafür deutlich zugänglicher. Dem vielleicht großartigsten lebenden Verfasser musikalischer Miniaturen, György Kurtág, ähnelt Wolfs Herangehensweise ebenso nur bedingt, da hier nicht ständig musikgeschichtliche Querverweise von der stillen Ausdruckskraft ablenken. Am gelungensten erscheinen dem Rezensenten in der Tat die beiden Essais musicaux: To quiet the mind nimmt Bezug auf einen Bilderzyklus von Carmen Hillers, Wolfs Gattin. Die den 7 Sätzen zugeordneten Kunstwerke sind im Booklet abgebildet. Die exzellente Violinistin Ewelina Nowicka – sie glänzte erst kürzlich auf einer fabelhaften CD mit konzertanten Werken verfolgter polnischer Komponisten – gestaltet die recht freien Assoziationen überzeugend empathisch und wird von Jennifer Hymer minutiös begleitet. Im Zeichen der Kastanie – hier wechseln ruhige und erregtere Abschnitte einander abbringt Nowicka kongenial auf den Punkt. Die kammermusikalisch sehr umtriebige Klarinettistin Pamela Coats spielt Abbaye Saint-Philibert – mit eingebauten Glockenassoziationen sowie einem Zitat Hildegard von Bingens – klanglich und dynamisch differenziert, aber setzt mehrfach auf einen leicht gockelhaften Klarinettensound, der Wolfs intimen Ansatz stellenweise konterkariert. In Kreise – die kurzen Haikus Kobayashi Issas werden vom Komponisten selbst mit etwas zu viel Hall dazu gesprochen – wirken die Tierschilderungen (Frosch und Hund) geradezu lächerlich.

Merkwürdig ist die Klangverteilung – die Mittellage des Flügels erscheint unterrepräsentiert – der beiden Spielerinnen in So listen to my lullaby, you knights and ladies fine, in der sich Steffen Wolf einmal mehr Christoph Martin Wielands Versdichtung Der Vogelsang widmet. Da, wo der Satz dichter wird, erreicht der Komponist beinahe ungewohnt orchestrale Fülle. Jedoch wirken gerade in den von der Faktur eher schlichteren Abschnitten Primo und Secondo eher als Antipoden als klanglich zu verschmelzen, was sich nicht nach Absicht anhört. Aufnahmetechnisch hat man offenkundig versucht, diesem Manko (?) mit Hall entgegenzuwirken, sonst vermögen die Einspielungen den intimen Charakter von Wolfs Musik durchaus zu transportieren. Insgesamt eine außergewöhnliche Hörerfahrung, auf die sich einzulassen lohnt, wenn man dafür tunlichst immer nur einen der sechs Zyklen konzentriert genießt, keinesfalls die komplette CD am Stück.

[Martin Blaumeiser, Juni 2024]

Klaus Ospalds „Entlegene Felder“ in der CD-Reihe „musica viva“

BR Klassik 900642; EAN: 4 035719 006421

In der Reihe „musica viva“ hat BR Klassik zwei Kompositionen aus der Trias „Entlegene Felder“ des Komponisten Klaus Ospald (*1956) veröffentlicht: Das großbesetzte „Más raíz, menos criatura“ sowie das „Quintett von den entlegenen Feldern“. Es spielen das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Peter Rundel – mit dem Pianisten Markus Bellheim und Singer Pur – sowie das Ensemble Experimental mit dem SWR Experimentalstudio, geleitet von Peter Tilling.

Der aus Münster stammende und lange in Würzburg lebende und lehrende Komponist Klaus Ospald (Jahrgang 1956) hat einen höchst individuellen Stil entwickelt, der stark von Literatur inspiriert scheint. Zuletzt zieht sich insbesondere der früh in den Kerkern der spanischen Faschisten verstorbene Miguel Hernández (1910‒1942) wie ein roter Faden durch Ospalds Schaffen, auch wenn die Texte selbst in der Musik gar nicht direkt in Erscheinung treten oder gar „vertont“ werden. Auf der vorliegenden CD der Reihe musica viva erklingen zwei Werke der Trias Entlegene Felder – inzwischen erweiterte der Komponist seine Auseinandersetzung mit der Dichtung Hernández‘ zum bislang aus sechs ganz unterschiedlich besetzten Stücken bestehenden Guerra-Zyklus.

2019 erhielt Ospald den Happy New Ears Preis für Komposition der Hans und Gertrud Zender Stiftung (wir berichteten). Anlässlich der Preisverleihung erklang im musica viva Konzert des BR eine beeindruckende Darbietung des gut 50-minütigen Werks Más raíz, menos criatura („Mehr Wurzel als Mensch“ = Entlegene Felder III) für Orchester, Klavier und achtstimmigen Kammerchor, die hier nun festgehalten wurde. Die exzellente Aufnahmetechnik überspielt dabei einmal mehr so manche Unzulänglichkeit des Münchner Herkulessaals. Sie macht gleichzeitig klar, wie Ospald die Textfragmente aus Hernández‘ Gedicht El niño yuntero („Das Kind als Zugtier“) selbst für den 8-stimmigen Kammerchor – hier mit dem um zwei zusätzliche Sängerinnen ergänzten, vorzüglichen Vokalsextett Singer Pur – lediglich als Material benutzt und sehr bewusst mit den hochdifferenzierten Orchesterklängen verschmelzen lässt. Dasselbe gilt für den durchgehenden Klavierpart, der mehr reflektiert und kommentiert als solistisch aufzutrumpfen: Markus Bellheim realisiert dies absolut souverän, klangschön und stets präsent, ohne bei aller Virtuosität daraus eine Art Klavierkonzert zu machen. Das Klavier wird oft durch ein Upright-Piano sowie zwei Harfen – alles leicht gegeneinander verstimmt – sekundiert. Ein empathischer Aufschrei für Humanität in einer Welt der Unterdrückung. Das BRSO unter Peter Rundel spielt vielleicht eine Spur zu distanziert, in jedem Fall engagiert und auf höchstem Niveau.

Das Quintett von den entlegenen Feldern für Streichtrio, Klarinette (Bassklarinette), Klavier und Live-Elektronik (2012/13, rev. 2014) als erstes Werk der Trias arbeitet zwar nicht mit Texten, dafür aber mit sehr subtiler Klangerweiterung, die sowohl mit bewegtem Raumklang als auch mit Präparationen sowie Transducern auf dem Resonanzboden des Flügels experimentiert und deshalb nicht nur einen zweiten „Spieler“ am Klavier, sondern auch eine äußerst aktiv eingreifende Klangregie erfordert. Zunächst erscheint die Live-Elektronik eher episodenhaft, steigert jedoch mit der Zeit eindrucksvoll auch ihre emotionale Bedeutung – etwa mit „eingefrorenen” Klängen bzw. plötzlichen Klang-Abbrüchen. Die ebenfalls sehr gelungene Einspielung mit dem Ensemble Experimental und dem SWR-Experimentalstudio entstand im Mai 2019 bei einem Live-Konzert in Coburg. Fazit: Ergreifende Musik eines erklärten Außenseiters, die bei aller klanglichen Dichte und Finesse auf alle äußerliche Effekthascherei verzichtet, klar durchhörbar bleibt und quasi über jeden Ton Rechenschaft ablegen könnte. Die mit knapp 83 Minuten randvolle CD wird so zum Muss für alle Hörer Neuer Musik, verlangt allerdings enorme Aufmerksamkeit. Wer mehr über Ospalds Kompositionsprinzipien als im durchaus informativen Booklet erfahren möchte, sei auf nachstehende Veröffentlichung verwiesen.

Ergänzende Literatur: Ulrich Tadday (Hrsg.), Klaus Ospald, Musik-Konzepte 183, II/2019, edition text+kritik, München

[Martin Blaumeiser, Mai 2024]

Etüden und Präludien von Chopin bis ins späte 20. Jahrhundert

hänssler CLASSIC, HC22083, EAN: 8 81488 22083 4

Die Pianistin Dora Deliyska präsentiert ein Programm von Etüden und Präludien von Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Anordnung der einzelnen Stücke, die eigenen Gesetzmäßigkeiten und dramaturgischen Ideen folgt.

Die Pianistin Dora Deliyska, gebürtige Bulgarin, mittlerweile seit Jahren in Wien lebend, hat seit ihrem CD-Debüt 2008 eine respektable Diskographie eingespielt, und so ist ihr im vergangenen Jahr erschienenes neues Album Études & Preludes (nach Angaben ihrer Homepage) bereits das dreizehnte mit ihr am Klavier. Die Palette, die sie abdeckt, ist breit, und neben Liszt-, Schubert- oder Schumann-CDs hat sie speziell in den letzten Jahren offenbar ein besonderes Faible für sogenannte Konzeptalben entwickelt, CDs also, deren Programm einer bestimmten Idee (oder eben: Konzeption) folgt und dabei immer wieder bewusst Grenzen überschreitet, Werke und Komponisten miteinander kombiniert, die man vielleicht a priori nicht unbedingt nebeneinander erwarten würde.

Im Falle von Études & Preludes widmet sich Deliyska zwei der populärsten Genres der Klaviermusik seit dem frühen 19. Jahrhundert, und zwar nicht zufälligerweise im Rahmen eines Programms von 24 Stücken, das sich aus je zwölf Etüden und Präludien zusammensetzt; klassische Zahlen also. Mit Chopin, Debussy, Ligeti und Kapustin geht es dabei vom frühen 19. bis ins späte 20. Jahrhundert auf den Spuren von Marksteinen der beiden Gattungen.

Als besonders raffiniert erweist sich das Konzept im Falle der zwölf Etüden, mit denen die CD beginnt. Deliyska hat hier Stücke aus Chopins 12 Etüden op. 25, Debussys Douze Études sowie György Ligetis 18 Etüden (1985–2001) ausgewählt, wobei sie von Debussy die Idee übernommen hat, die Etüden nach Intervallen anzuordnen. Und so startet das Programm mit der Prime (bzw. einer Etüde, in der die Prime eine prominente Rolle spielt), dann der kleinen Sekunde und so weiter, bis die Oktave erreicht ist; es folgen noch zwei Etüden zu Arpeggien und eine zu Akkorden, und damit ist das Bild vollständig, ohne dass dabei jemals zwei Stücke desselben Komponisten aufeinander folgen würden.

Es ist erstaunlich, wie gut diese Werke nebeneinander funktionieren, exemplarisch zu beobachten am Beginn der CD. Alles beginnt mit den rasenden Tonrepetitionen von Ligetis Etüde Nr. 10 Der Zauberlehrling, gefolgt von Debussys Etüde Nr. 7 Pour les Degrés chromatiques, die Deliyska fast ohne Pause folgen lässt. Gerade in den lapidaren Anfangstakten von Debussys Etüde wirkt der Übergang in der Tat verblüffend natürlich. Eine gewisse Rolle spielt dabei sicherlich auch, dass Ligetis Etüden zwar für den Pianisten horrend schwer sind, auch für den mit Musik des späten 20. Jahrhunderts nicht sonderlich vertrauten Hörer jedoch zu den zugänglichsten seiner Werke zählen dürften – Der Zauberlehrling etwa ist im Grunde genommen fast eine Etüde in C-Dur. Aber selbst, wenn anschließend mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 11 ein Sprung in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgt und, jedenfalls was das Melos betrifft, aus Chromatik Diatonik wird, fühlt man sich doch beim (abermals) chromatischen Wirbelwind in der rechten Hand an das, was in den beiden zuvor gehörten Etüden geschehen ist, erinnert. Allein dies ist bereits ein eindrucksvoller, sehr gelungener Brückenschlag.

Gleichzeitig schaffen diese ersten Stücke eine Atmosphäre permanenter Unruhe, Betriebsamkeit, stetigen Flirrens, auch Dramatik (gerade in Chopins Etüde), die auch in Ligetis Etüde Nr. 4 Fanfares mit ihren unregelmäßigen Rhythmen weitergeführt wird und insofern den Hörer in einen regelrechten pianistischen Strudel reißt, der erst in Track 5 mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 7 gebremst wird, dafür nun umso deutlicher. Ein Ruhepol, der einen Track später in Ligetis Etüde Nr. 2 Cordes à vide, die sanft den Klang leerer Streichersaiten heraufbeschwört, noch einmal bekräftigt wird. Neben dem Fokus auf Intervallen ergibt Deliyskas Auswahl also auch eine veritable Dramatik und Struktur mit Steigerungen, Höhepunkten und Momenten des Durchatmens.

Natürlich folgen nicht alle Etüden dem Intervallschema so deutlich wie etwa Ligeti in den Cordes à vide mit ihren Quinten oder (an neunter Stelle) die mal brausenden, mal innig singenden Oktaven in Chopins Etüde op. 25 Nr. 10, erst recht, zumal Debussys Etüden, die sich ja explizit auf Intervalle beziehen, hier (bis auf Track 2) ausgespart und erst gegen Ende der Abteilung Etüden das Bild mit Arpeggien bzw. Akkorden (Debussys Etüden Nr. 11 und 12) komplettieren. Dabei ergeben sich aber auch interessante Zwischenstellungen. So fallen in Ligetis Fanfares natürlich die Terzen in der rechten Hand auf, aber in der fortwährenden Achtelbewegung in der linken ist es die große Sekunde, die dominiert – eine Etüde „zwischen“ den Intervallen also. Ganz ähnlich verhält es sich mit Chopins Etüde op. 25 Nr. 7: natürlich hört man hier zunächst Quarten in den Achteln in der linken Hand, aber das Melos wird doch auch stark von der Terz beherrscht.

Generell entsteht jedenfalls speziell in den ersten Etüden in der Tat ganz entschieden jener Eindruck des allmählichen Sich-Weitens der Intervalle, auf den Deliyska mit ihrem Programm offensichtlich abzielt. Dass am Ende Debussys Etüde Nr. 12 für einen robusten Abschluss mit Finalwirkung sorgt, versteht sich von selbst, zumal sie ja im ursprünglichen Zyklus dieselbe Stellung innehat.

Anders verhält es sich mit den Präludien: wieder drei Komponisten, und wieder werden Chopin (mit erneut fünf Stücken aus seinen 24 Préludes op. 28) und Debussy (diesmal mit vier statt drei Stücken aus seinen zwei Büchern von insgesamt ebenfalls 24 Préludes) um einen Komponisten der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts ergänzt, nämlich durch Nikolai Kapustin (1937–2020) und drei seiner 24 Präludien im Jazzstil op. 53 (1988). Anders als bei den Etüden gruppiert Deliyska die Präludien aber (konventioneller) nach Komponisten.

So steht am Anfang ein Chopin-Block, der gleich mit dem enorm populären Des-Dur-Präludium (Nr. 15) beginnt, auf das Deliyska das e-moll-Präludium (Nr. 4) folgen lässt und so Parallelen zwischen den beiden Stücken aufzeigen will (die auf einer grundsätzlichen Ebene zweifelsohne vorhanden sind). Ansonsten scheint ihre Anordnung der Präludien vorwiegend von dramaturgischen Überlegungen motiviert, ein wenig auch Tonartenbeziehungen (auf fis-moll folgt, beruhigend, Fis-Dur); auf jeden Fall läuft der kleine Chopin-Zyklus auf einen stürmischen Presto-Abschluss (Nr. 16) hinaus, der in der Tat dann auch eine etwas längere Pause, einen Moment des Sich-Sammelns zur Folge hat.

Ähnlich ist der Debussy-Block aufgebaut: wieder ein ebenso verhaltener wie hochexpressiver Beginn (Des Pas sur la neige), der schließlich in Debussys Beschwörung des Westwindes gipfelt (Buch I, Nr. 7). Kapustins Präludien bilden schließlich ein kleines Triptychon in der „klassischen“ Reihenfolge schnell-langsam-schnell und verwandten Tonarten (gis-moll, H-Dur, h-moll), das hier ein wenig als Zugabe fungiert, als locker gefügter, spielerischer Abschluss eines Programms, das die vollen 80 Minuten der CD ausschöpft.

Deliyskas Argument (im Beiheft), durch die Anordnung gemäß Komponisten seien „die deutlichen Stilunterschiede noch genauer [zu] erkennen“, überzeugt sicher nicht völlig, denn ein Faszinosum am ersten Teil ist ja gerade das ganz leichte Verschwimmen dieser Unterschiede (wohlgemerkt: in kleinen Momenten und Augenblicken, in denen man kurz aufhorcht). Andererseits gibt es sicherlich eine Reihe anderer Gründe dafür, hier eben genau so vorzugehen; das Genre selbst, in dem es ja weniger um technische oder Materialfragen geht als um kurze Impressionen, mag eine Rolle spielen, aber vielleicht auch die Auswahl der Komponisten, denn insgesamt scheint mir Ligeti in seinen Etüden mit ihrem ausgeprägten, raffinierten Klangsinn doch näher an Chopin und Debussy zu liegen als Kapustins schon im Titel aufgezeigter (klassisch fundierter) „Jazzstil“.

Bei alledem überzeugt Deliyska als kompetente, pianistisch sehr gutklassige Anwältin ihrer Programmidee. Ihre Tempi sind insgesamt eher gemäßigt (etwa im Vergleich zu Ligetis Angaben zur Dauer seiner Etüden oder zu Kapustins eigener Interpretation seiner Jazzpräludien), obwohl nicht dezidiert langsam. Gerade bei den Präludien von Chopin fällt ein ausgeprägtes Interesse an Mittel- und Nebenstimmen auf (von ihr selbst im Beiheft im Falle des Préludes Nr. 4 gesondert erwähnt, aber auch an zahlreichen anderen Stellen zu beobachten wie etwa im più lento von Nr. 13).

Gewiss: es handelt sich hier in der Mehrzahl um Repertoire, das diskographisch in einer solchen Breite und Qualität erschlossen ist, dass man fast beliebig stark ins Detail gehen und differenzieren könnte. Im Falle von Ligetis Etüden etwa ist Aimards Lesart der Cordes à vide noch eine Nummer filigraner, ganz exquisit an der Grenze zwischen Stille und zartem Nachhall angesiedelt, während mir in der Teufelstreppe (Nr. 13) der Höhepunkt in Takt 43 (im achtfachen Forte) bei Deliyska deutlich zu wenig Wucht besitzt. Andererseits liegt der Reiz dieser CD ja gerade nicht darin, diese Zyklen (erst recht die ganz bekannten von Chopin und Debussy) wie gewohnt zu hören, sondern sie neu zu kontextualisieren und womöglich in einem etwas anderen Licht zu betrachten. Ebendies erfüllt Deliyskas Album in hervorragender Weise.

[Holger Sambale, Mai 2024]

Henzes „Floß der Medusa“ mit Cornelius Meister geht unter die Haut

Capriccio C5482; EAN: 8 4522105482 7

Capriccio hat eine weitere Aufführung von Hans Werner Henzes (1926-2012) Oratorium „Das Floß der Medusa“ veröffentlicht – diesmal live. Unter der Leitung von Cornelius Meister spielen und singen das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, der Arnold Schoenberg Chor sowie die Wiener Sängerknaben. Die Solisten sind: Sarah Wegener (La Mort), Dietrich Henschel (Jean-Charles) und Sven-Erich Bechtolf (Sprecher/Charon).

Nachdem es um Henzes Oratorium Das Floß der Medusa, dessen geplante Uraufführung Ende 1968 durch einen Polizeieinsatz vereitelt wurde und so den vielleicht größten Konzertskandal der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte verursachte, lange still war, sorgte wohl die Flüchtlingskrise im Mittelmeer in den letzten Jahren für eine gewisse Renaissance dieses echten Meisterwerks – bis hin zu szenischen Realisationen (Amsterdam, Berlin). Ende 2019 hatte SWR Classic eine Aufnahme aus der Elbphilharmonie (vom 15.–17. 11. 2017) mit dem kürzlich verstorbenen Dirigenten Peter Eötvös herausgebracht – siehe unsere Kritik mit ein paar näheren Infos zum Werk. Nun gibt es eine weitere – nur zwei Wochen ältere (!) – Einspielung, diesmal live aus dem Wiener Konzerthaus. Capriccio hätte mit dieser Veröffentlichung allerdings nicht sechs Jahre warten müssen: Die Aufführung mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter Leitung von Cornelius Meister liegt auf demselben Niveau wie die des SWR Symphonieorchesters. Das fordert geradezu zum direkten Vergleich heraus. Die Erstaufnahme auf Deutsche Grammophon – der Mitschnitt der Generalprobe von 1968, dirigiert vom Komponisten – fällt nach Meinung des Rezensenten eigentlich in allen Belangen schwächer aus, bleibt als historisch ganz ungewöhnliches Dokument aber weiterhin interessant.

Die Akustik der Elbphilharmonie – sicher nicht jedermanns Sache – kommt Eötvös‘ Streben vor allem nach Durchsichtigkeit dieses riesig besetzten Oratoriums gut entgegen, was aufnahmetechnisch entsprechend eingefangen wurde. Das Wiener Konzerthaus hat bei etwas mehr Hall – wohl nicht zuletzt deswegen braucht Cornelius Meister auch ca. 4½ Minuten länger – gleichzeitig mehr Wärme. Dies kommt gerade den Chören der Lebenden zugute – die anfangs nur von Bläsern begleitet werden. Später wechseln sie ja – bis auf die dann solistisch agierenden 14 Überlebenden – ins von den Streichern dominierte Reich der Toten. Eine erstaunliche Transparenz wird jedoch gleichfalls in Wien erreicht. Die Dynamik über alles scheint dabei hier größer.

Meister zielt ganz bewusst auf Drama – das gelingt über weite Strecken. Die Bemerkung Christoph Bechers im ansonsten ordentlichen Booklet zum unmittelbaren Schluss des Werks, dass Meister sich hier dafür entschied, die ursprüngliche Version sogar zu verstärken, ist allerdings schlicht falsch: Tatsächlich lässt der Dirigent – ebenso wie Eötvös – nach Charons abschließenden Worten „Die Überlebenden aber kehrten in die Welt zurück[…], fiebernd, sie umzustürzen“ im Orchester Henzes Revision von 1990 spielen, wo der Schlagzeug-Rhythmus des „Ho-Ho-Ho-Tschi-Minh“-Protestrufs melodisch eindringlich umwölkt wird, letzteren zusätzlich noch vom Chor verbatim skandieren. Das steht so in keiner Partitur, sondern reflektiert anscheinend nur die Situation, dass Henze sich seinerzeit als Reaktion auf die gar nicht erst begonnene Uraufführung zusammen mit einigen Studenten auf dem Podium eben dazu hinreißen ließ. Musikalisch widersprüchlich: Die ursprüngliche Fassung enthält zwar nur besagten, reinen Schlagzeug-Rhythmus, wirkt jedoch insbesondere durch die – auch nicht notierte – Beschleunigung in Henzes eigener Einspielung brandgefährlich, wohingegen die revidierte Fassung fast als visionäre Apotheose aufgefasst werden könnte. Beides zugleich ist eher Murks.

Waren schon die Leistungen der Chöre in der SWR-Aufnahme grandios, legen in der Wiener Aufführung der Arnold Schoenberg Chor – unter der erprobten Einstudierung Erwin Ortners – und die Wiener Sängerknaben noch eins drauf. Präzision und Ausdrucksstärke gehen hier derart Hand in Hand, dass man nur andächtig staunen kann. Die Qualitäten der Orchester lassen sich hingegen nicht gegeneinander ausspielen, beide Male absolut überzeugend. Meister wagt es allerdings, viele Details ganz unverfroren naturalistisch zu verstehen: Oft hört man bei seiner Darbietung etwa wirklich Klänge, die unmittelbar das Meer assoziieren usw. Also auch hier noch Hans Werner Henze auf den Spuren Richard Strauss‘? Diesen Vergleich hat der Komponist bekanntlich verabscheut…

Ungeachtet, wie die Rolle des Sprechers/Charons (Sven-Eric Bechtolf) live eingepegelt gewesen sein mag: In der Aufnahme gerät sie mir jedenfalls künstlich viel zu sehr in den Vordergrund. Bechtolf ist abgesehen davon o. k., kommt aber nicht wirklich an Peter Stein heran. Sarah Wegener als La Mort singt stimmlich ausgezeichnet, erscheint allerdings emotional blasser als Camilla Nylund. Dafür begeistert Dietrich Henschel in allen Belangen: Wärme, ergreifende Textausdeutung und intonatorische Treffsicherheit machen ihn zum bisher besten Jean-Charles auf Tonträgern. Dagegen wirkt Peter Schöne über Strecken fast zu artifiziell.

Muss man also eine der 2017er Aufnahmen klar vorziehen? Nein – aber Konkurrenz belebt nun hoffentlich auch für Henzes aufrüttelndes Oratorium das Geschäft. Mehr Dramatik, leichter Vorsprung für die Wiener Chöre und ein herausragender Dietrich Henschel bei Meister; mehr Analytik, stellenweise knackigere Tempi und ein beeindruckender Peter Stein bei Eötvös. Unter die Haut geht das in beiden Fällen und macht Cornelius Meisters Einspielung zumindest zu einer hochwertigen Alternative und unbedingt empfehlenswert.

Vergleichsaufnahmen: Camilla Nylund, Peter Schöne, Peter Stein, SWR Vokalensemble, WDR Rundfunkchor, Freiburger Domsingknaben, SWR Symphonieorchester, Peter Eötvös (SWR Classic SWR19082CD, 2017); Edda Moser, Dietrich Fischer-Dieskau, Charles Regnier, RIAS-Kammerchor, Chor & Orchester des NDR, Hans Werner Henze (Deutsche Grammophon 449 871-2, 1968)

[Martin Blaumeiser, 7. April 2024]

Faust singt Mezzosopran -Louise Bertins Oper „Fausto“ ist eine Entdeckung

Bru Zane, BZ 1054; EAN: 8 055776 01014 4

Im letzten Jahr brachte das Forschungsteam Palazzetto Bru Zane die Anthologie „Compositrices“ heraus – Werke von 21 französischen Komponistinnen umfasst die editorische Großtat, sie ist nichts weniger als ein Streifzug durch die feminine Musikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Glücklicherweise verfolgen die Spürnasen um Alexandre Dratwicki dieses Projekt weiter und sind dabei auf Louise Bertin gestoßen. Deren Biographie, wenn auch teilweise nur auf Spekulationen beruhend, ist in mancher Hinsicht ungewöhnlich. Bertin, 1805 geboren, wuchs in einer bürgerlichen Familie auf. Die Eltern – der Vater, Inhaber der angesehenen Zeitung „Journal des débats“, die Mutter, eine begabte Pianistin – förderten die künstlerischen Ambitionen der malenden, dichtenden und musizierenden Tochter. Die Autodidaktin, die wegen einer Kinderlähmung auf Krücken angewiesen war, entschied sich fürs Komponieren und nahm Unterricht bei den Lehrkoryphäen François-Joseph Fétis und Anton Reicha. Bei letzterem lernte sie Berlioz kennen, mit dem sie sich anfreundete und der ihr als Zeichen der Wertschätzung den Gesangszyklus Les nuits d’été widmete.

In einer Zeit, als Frauen in der Regel Werke für den Hausgebrauch oder kleine Besetzungen kreierten, wagte sich Bertin an größere Formate und komponierte immerhin vier Opern. Die letzte jedoch – La Esmeralda nach Victor Hugo – führte 1837 zum frühen Ende ihrer Karriere, bedingt durch Vorwürfe, Berlioz habe ihr bei der Partitur geholfen und die Aufführung sei nur durch familiäre Beziehungen zu Stande gekommen. Infolgedessen mied sie bis zu ihrem Tod 1877 die Öffentlichkeit, publizierte allerdings noch Gedichte.

Gute Kritiken bekam Louise Bertin hingegen für ihren 1831 im Pariser Théâtre-Italien in Starbesetzung uraufgeführten Fausto. Trotzdem wurde er nach drei Vorstellungen abgesetzt und verstummte: bis ihn der Palazzetto Bru Zane 2023 gleich im Dreierpaket wiedererweckte, bei einem Konzert in Paris mit paralleler CD-Einspielung der Urfassung und anschließend szenisch im Aalto-Theater in Essen.

Fausto ist die erste Opernadaption des Goethe-Schauspiels und dass sie von einer Frau komponiert wurde, die auch das französische, für die Gepflogenheiten des Théâtre-Italien ins Italienische übersetzte Libretto verfasste, macht sie zu einer musikgeschichtlichen Besonderheit. Orchestrale Dramatik, romantisches Gefühl und Buffo-Elemente – deswegen die Gattungsbezeichnung „Semiseria“ – sind kennzeichnend für Bertins Vertonung. Einflüsse bedeutender Vorbilder, etwa von Mozart, Weber und Rossini, verbinden sich mit stilistischer Individualität, wie die Wahl eines Mezzosoprans für die Titelpartie (die Premiere sang allerdings ein Tenor), dem weitgehenden Verzicht auf zeittypische Bravour und dem eigenwilligen Finale: keine pompöse Apotheose, sondern nur ein Tam-Tam-Schlag, dann Stille. Der Dirigent Christophe Rousset, der die Rezitative selbst am Klavier begleitet, überträgt seine Begeisterung und Versiertheit in historischer Aufführungspraxis auf die Originalklangformation Les Talens Lyrique und ein erlesenes Ensemble. Karine Deshayes und Karina Gauvin singen Faust und Margarita mit viel Empfindung und Belcantokultur. In den terzenseligen Duetten harmonieren ihre Stimmen aufs Schönste, nur unterscheiden sie sich vom Timbre her kaum. Den Mephisto gibt Ante Jerkunica mit tiefschwarzem, wendigem Bass. Zu einem Kabinettstück gerät seine Szene über die Vielfalt weiblicher Schönheiten, die an Leporellos Registerarie in Don Giovanni erinnert. Einen spektakulären Auftritt legt Nico Darmanin als Valentin hin. In der einzigen explizit virtuosen Rolle brennt der Tenor ein Koloraturenfeuerwerk ab und brilliert mit schneidigen Spitzentönen. Eine dicke Empfehlung also für diesen auch in den Nebenrollen treffend besetzten Fausto, der – wie beim Palazzetto üblich – in einem informativen und schön illustrierten CD-Buch präsentiert wird.

[Karin Coper, April 2024]

Oh Augenblick!

Aldilà Records, ARCD 017; EAN: 9 003643 980174

Mit der Symphonia Momentum hat der Dirigent Christoph Schlüren die CD Quintessence vorgelegt, auf der fünfstimmig angelegte Werke versammelt sind, so die Streichersymphonie Nr. 13 von Felix Mendelssohn Bartholdy, die für Streichorchester eingerichteten Bitten aus Über die Schwelle von Reinhard Schwarz-Schilling, bearbeitet von Lucian Beschiu, sowie das Hauptwerk dieser CD, das Streichquintett von Anton Bruckner, für Streichorchester eingerichtet von Christoph Schlüren.

Der ausgiebige, der CD beigegebenen und vom Dirigenten verfassten Text informiert über alle Aspekte der Werke in einer Tiefe, die weit über das gängige hinausgeht; dies verdient besondere Erwähnung, weil wir zunächst lesen, und später hören, wie umfassend die Einsicht von Christoph Schlüren in die Werke, die Gattung des Streichquintetts sowie die Problematik der Bearbeitungen von Kammermusikwerken für Streichorchester ist.

Der größte Eingriff findet da meist durch die Hinzufügung einer Oktave unterhalb des Cellos durch den Kontrabass statt. Die dadurch entstehende Bassoktave erzeugt durch die veränderte Obertonreihe einen neuen Klangreichtum für die oberen Stimmen, der sorgfältig behandelt werden will. Dies ist auf dieser Aufnahme durchweg gut gelungen, auch wenn die untere Oktave manchmal nicht als Klangeinheit, sondern als zwei parallele Klänge erscheint, was dem Gesamtklang hier und da etwas Wärme, also möglichen Reichtum, nimmt. Ansonsten wurden die Stimmen in ihren üblichen Proportionen zueinander hervorragend besetzt. Letztlich ist dieses Detail jedoch nicht entscheidend für die Beurteilung dieser Aufnahme, da der Klang, wie er eigentlich war, im Nachhinein ohnehin nur unzureichend beurteilt werden kann – eine Aufnahme ist und bleibt eben eine Art Photographie eines musikalischen Ereignisses, das einmal stattgefunden hat.

Wenden wir uns also den wirklich wesentlichen Dingen zu, für die im Booklet mit einem Zitat von Werner Oehlmann zum Werk „Bitten“ anlässlich dessen Uraufführung im Jahr 1975 folgende Worte zu lesen sind:

Unsere Musik ist säkularisiert, sie beschäftigt sich mit den Realitäten der Erde, den Leiden der Menschheit, den Fragen der Gesellschaft, mit der Not, Angst und Hässlichkeit des Lebens, dem der Tod ein Ende setzt. Hier klingt ein anderer Ton… Diese Musik leistet, was die eigenste … Aufgabe der Musik ist: sie verbürgt die Wirklichkeit der Transzendenz.

Wenn man die vorliegende Aufnahme im Ganzen mit wenigen Worten charakterisieren möchte, so durch diese. Denn zum Gelingen der Wiedergabe von Musik gehört nach der spezifischen Qualität einer Komposition die entsprechende Ausführung, nenne man sie adaequat, kongenial oder finde man noch eine andere Bezeichnung, es tut nichts zur Sache: diese Aufnahme leistet die Verwirklichung der zu Gehör gebrachten Partituren.

Sie tut dies, gleichwohl, hier und da auf eigenwillige Weise. Der klar strukturierte Kontrapunkt bei Mendelssohn lässt wohl etwas Wärme vermissen, jedoch in keinem Augenblick die Klarheit der Stimmführung, und die Artikulation der Einleitung bedient sich in der Tongebung etwas zu sehr an der Manier der Alte-Musik-Praxis. Die Akustik des Raumes tut ihr Übriges, es durchweht die gesamte Aufnahme eine Kühle, die diese Ästhetik stärker hervortreten lässt als notwendig, da sie die bestechende Eigentlichkeit der Darbietung stellenweise in den Hintergrund treten lässt, obwohl diese eine geistige Präsenz besitzt, wie man sie sich nur wünschen kann.

Das berückend schöne und innerliche Werk Bitten aus Über die Schwelle ist eigentlich ein Chorsatz, eine Motette, deren Tonsatz hier ohne den Text wirken muss, was auch vortrefflich gelingt – oder besser gesagt: zutiefst gelingt angesichts der inneren Ruhe und Tiefe dieses einzigartig-eigentümlichen Werkes und seiner Ausführung. Schwarz-Schilling ist aus dem Kaminski-Kreis der durch innere Schönheit seines Werkes hervorstechende Komponist und ein weiteres der unzähligen beklagenswerten Beispiele für eine musikalische Epoche, die durch die kulturelle Weltkatastrophe der Nazi-Zeit und des 2. Weltkrieges nicht zu ihrer vollen Blüte und Entfaltung kommen konnte.

(Dem Dirigenten Christoph Schlüren ist hier, das sei nebenbei angemerkt, vieles an Wiederentdeckung und Erhellung zu verdanken, er gräbt tief und schaufelt mit viel Elan die jungen Vergessensschichten über Kompositionen hinweg, über die die eiligen Zeiten hinweggestürmt sind; wie dies im Übrigen auch Intendanzen und Dirigenten der institutionalisierten Orchester machen sollten. Es ist zweifellos ein ungeheures Manko im Konzertbetrieb, denn das Publikum unbekannte Werke auf diesem Niveau entdecken zu lassen wäre eine ernstzunehmende Alternative zur fortschreitenden Popularisierung des ewigen Kanons der Symphonik und seiner Protagonistinnen und Protagonisten).

Das Herz dieser Aufnahme ist nun das monumentale Streichquintett von Anton Bruckner. Vorweggenommen, gelingt diese Darstellung des Werkes im Ganzen auf schönste Weise, so dass sich die symphonische Dimension des Werkes entfaltet. Christoph Schlüren wählt im sehr gelungenen ersten Satz ein ruhiges Tempo wie vorgegeben, klanglich transparent und im Ausdruck innig, der Augenblick so schön wie der musikalische ruhig dahinfließende Fluss, und auch wenn er ein eingezeichnetes „Langsam“ einmal übergeht, und auch einmal eine Pausenfermate etwas zu lange hält, ein späteres „Langsamer“ nicht ganz organisch entstehen lässt, ist die Entwicklung des inneren Dramas der Musik konsistent und lässt die Form des Satzes entstehen, getragen von der Schönheit des Augenblicks und von einer nahezu perfekt intonierenden Symphonia Momentum.

Was im ersten Satz noch gut funktioniert, erweist sich im zweiten Satz, dem Scherzo, als nicht so förderlich. Von Bruckner mit „Schnell“ überschrieben, wählt Schlüren ein sehr gemächliches Ländler-Tempo, das an sich seinen Charme hat und hier und da ein wenig Dvorak’sche Farben aufscheinen lässt, die man dort eigentlich nicht vermutet hätte. Der Kontrast zum zweiten Gedanken des Satzes, „quasi Andante“ überschrieben, fällt dadurch weniger stark aus, als dies möglich und wünschenswert wäre – auch in der 5. Symphonie von Bruckner gibt es einen solchen formbildenden Tempokontrast im Scherzo; erscheint er jedoch so zart aus wie bei dieser Aufnahme, bleibt die Musik abermals mehr dem schönen Augenblick verhaftet, anstatt eine symphonische Perspektive, die alle vorgeschriebenen Tempoveränderungen berücksichtigt, in diesem Satz zu fördern. Scherzi dieser Art sind jedoch, wie auch gewisse Menuette von Haydn, durchaus elastisch und verschiedenen Tempoauffassungen zugänglich, wie eine berühmte Anekdote aus dessen Leben belegt, als er eine Gruppe von Wirtshausmusikern in der Frage eines Menuett-Tempos mit den Worten beruhigte: „Wenn man danach tanzen kann, ist es auch gut“. Aber nochmals: die gewählte Tempodisposition steht zwar der Geschlossenheit der Gesamterscheinung des Satzes im Wege, nicht aber der augenblicksverhafteten Schönheit des Musizierens, und das ist auch etwas.

Ist das Streichquintett von Bruckner das Herz dieser Veröffentlichung, so ist das Adagio das Herz des Quintetts. Nicht umsonst ist dieser Satz, der die Kammermusik auf wirklich symphonische Dimensionen hebt, schon immer der gewesen, der aus dem Verbund der anderen Sätze gelöst wurde und als Streichorchesterstück für sich alleine stehen kann.

Was wir von langsamen Sätzen der Symphonien von Bruckner lieben, ist auch in diesem Satz vorhanden. Diese Liebe ist dem Dirigat von Christoph Schlüren anzumerken, sein Sinn für Breite im Tempo, der Wille zu zelebrierter Langsamkeit entfaltet sich hier auf das Schönste, die Geduld, die es braucht, die einzelnen Phrasen und musikalischen Gedanken sich entwickeln zu lassen, ist vorbildhaft, da hier das langsame Tempo sehr natürlich schreitet. Ein wenig ist aber auch hier der Wunsch Vater des Gedankens, als am Beginn der Wille zum langsamen Tempo per se obsiegt über das Wunder, das entstünde, wenn das Tempo am Beginn nur eine Spur fließender wäre. Man möge den Rezensenten des Beckmessertums zeihen, aber es muss darauf hingewiesen werden, dass es keinen musikalischen Grund außer dem der nur zu verständlichen Verliebtheit in die möglichst breite Langsamkeit an sich gibt, das erste Thema bei seinem ersten Erscheinen in einem sehr langsamen Tempo zu spielen und bei der Rückkehr des Themas (könträr zur Angabe „früheres Zeitmaß“) deutlich fließender. Hier gibt es eine fehlende Konsistenz, deren Richtigstellung vielleicht eine Überraschung verbergen würde, nämlich die Einheit der musikalischen Bewegung des ganzen Satzes wie er von Bruckner als Ganzes geschaffen wurde.

Schlüren schafft allerdings das Kunststück, mittels abermals großer Schönheit und Konzentation im musikalischen Moment, und wie in allen anderen Sätzen mittels Klarheit der Stimmführung, über diese kaum merklich fehlende Kohärenz hinwegzuhelfen, wofür ihm ein Kompliment nicht verwehrt werden kann.

Welche leisen Unstimmigkeiten die vorherigen Sätze denn auch gehabt haben mögen, sind von solchen fast keine mehr im Finale zu finden. Die Verhältnisse der Themen und Stimmen zueinander, in Ausdruck und Klarheit, im Atem der Bewegung, im im höchsten Grade einfachen und direkten Musizieren der Stimmen miteinander, erscheinen wie sie kaum logischer und klarer denkbar sind. Warum aber am Ende einer offen bleibenden Phrase aus drei Vierteln Pause eine Kunstpause, ja eine Fermate machen? Es unterbricht den Fluss, der im Finale doch noch selbstverständlicher strömt als in den vorherigen Sätzen, wo man als Hörer ansonsten beglückt daran teilhaben kann, dass Orchester, Dirigent und Komponist in Meisterschaft zu einer vollkommenen Einheit gefunden haben.

Es wäre interessant, wenn ein dirigentischer Kopf vom Niveau von Christoph Schlüren auf diese ganz kleinen persönlichen Freiheiten verzichtete – ob das Ergebnis dann nicht noch schöner und noch richtiger wäre? Denn schön und richtig ist es, was wir auf dieser Aufnahme hören dürfen. Denn hier klingt ein anderer Ton.

[Jacques W. Gebest, April 2024]

Anmerkung der Redaktion: Hier geht es zur Besprechung des Konzerts, das auf der CD festgehalten wurde.

Feine und weise Mathematik der Töne – Andrea Vivanet spielt Jan Pieterszoon Sweelinck

Piano Classics, PCL10280; EAN: 5 029365 102803

Der italienische Pianist Andrea Vivanet hat eine in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Aufnahme von Werken für Tasteninstrumente von Jan Pieterszoon Sweelinck vorgelegt.

Die Flut der neu eingespielten CD’s nimmt nicht ab. Wozu dienen sie? Kommerziell sind sie längst bedeutungslos, auch Einnahmen aus diversen Streaming-Plattformen, deren Namen hier zu nennen sich aus Gründen des Respekts vor der Würde des Künstlertums vieler ernsthafter Musikerinnen und Musiker verbietet, sind ebenfalls marginal. Es wird wohl Geld damit verdient, aber dieses landet nicht bei den Ausübenden, deren Kunst auf diese Weise irgendwie hörbar gemacht wird.

Junge, alte, bekannte, unbekannte Künstlerinnen und Künstler, stehen einfach unter dem Druck, gehört zu werden, soll ihre Existenz kein Selbstzweck sein, mehr als l’art pour l’art (als wenn genau das nicht schon etwas wäre). Der oft aus gutem Grunde klarsichtig-nörgelnde Dirigent Sergiu Celibidache hat sehr richtig den zunehmenden Tod der Musik aufgrund der Kommerzialisierung durch die damals noch so genannte Plattenindustrie kommen sehen.

Lassen wir die technischen Aspekte außer Acht – dass keine Aufnahme so klingt wie ein Konzert in einem wirklichen Konzertsaal, weiß nun schon jedermann, und dass die Gewohnheit, den Klang aus dem Smartphone als normal zu akzeptieren, auch normal geworden ist. Die kommerzielle Aufnahmeindustrie ist noch machtvoll tätig, Aufnahmen sind aber kein Selbstzweck mehr, sondern auf einem gewissen Niveau ein Paketbaustein, um eine Karriere zu fördern oder zu bestätigen, z.B. wird ein Symphonien-Zyklus aufgenommen, um damit das Interesse an einer Tournee mit diesem Programm zu fördern, und umgekehrt.

Aufnahmen sind also irgendwie virtuell in dem Sinne, dass sie keine Tatsächlichkeiten, keinen Sinn als Dokumente haben, sondern Teil eines kommerziellen Zwecks sind. Das geht in Ordnung, denn das Geschäft muss laufen, daran gibt es rein gar nichts auszusetzen. Die klassische Musik ist auf diesem Niveau schon zu einer Popkultur geworden, was ganz in Ordnung geht, wenn man diese Popkultur nicht mit der Musik selber verwechselt. Sie, die Popkultur, ist nicht die Spitze eines Eisbergs, dessen größere Hälfte im Meer verborgen schwebt, sie ist mehr eine wolkenhafte Erscheinung, die sich von einer nie enden wollenden Kreativität von Komponistinnen und Komponisten und Musikerinnen und Musikern und von ihrem nie versiegenden schöpferischen Reichtum längst abgekoppelt hat.

Die viel beschworene Krise dieser Musik scheint daher auch eher eine Krise der Musikindustrie zu sein, als eine Krise der klassischen Musik und der in ihr lebenden und ausgeübten Kreativität selber. Eine Diskussion hierüber spielt an diesem Platz jedoch keine Rolle.

Denn es hat, und darauf läuft dieser kleine Text hinaus, die Flut der eigenspielten CD’s, oder „Alben“, noch einen anderen, gar nicht kommerziellen Effekt: die meist dem sogenannten breiten Publikum unbekannten Künstlerinnen und Künstler finden Unentdecktes, denken musikalisch-kuratorisch und werden im besten Fall mit ihrer vorangegangenen geistigen Beschäftigung mit den eingespielten Werken doch wahrgenommen – und gehört.

Und dann erscheint, trotz der erwähnten Kassandrarufe, in Einzelfällen eine Überraschung in Form einer positiven, ja zutiefst gute Seite der Aufnahmeflut: Sorgfalt ist am Werk, Respekt vor dem Werk, vor der humanen Dimension der künstlerischen Arbeit, womit Musik wieder im besten Sinne zum Selbstzweck, nämlich eine l’art pour la humanité wird. Aufnahmen werden dann nicht eingespielt, produziert, sondern als Ergebnis einer wirklichen Beschäftigung mit der Materie, von der sie handeln, tatsächlich v o r g e l e g t.

Einen solchen glückliche Fall haben wir hier mit der vom italienischen Pianisten Andrea Vivanet erschienenen Aufnahme von Werken für Tasteninstrumente von Jan Pieterszoon Sweelinck, der von 1562 bis 1621 lebte und Zeit seines Lebens Organist in der Oude Kerk in Amsterdam war. Die hier zu hörenden Werke wurden von Sweelinck selber nie veröffentlicht und überlebten die Zeitläufte nur durch glückliche Umstände, wie dem aufschlussreichen Booklet von Florian Schuck zu entnehmen ist.

Wer den Komponisten nicht kennt, hat hier eine wunderbare Gelegenheit, ihn kennenzulernen und dabei auch, im Vorbeigehen sozusagen, eine sympathische Freundschaft mit dem Kontrapunkt einzugehen und diesen als Klarheit, die zu Schönheit führt, zu erleben. Toccaten und Variationen legen Zeugnis ab dafür, wie aus einer geheimnisvollen, feinen und weisen Mathematik der Töne Musik wird.

Andrea Vivanet lässt uns in seiner Aufnahme hören, wie zeitlos Musik ist, die dieser seltsamen Mathematik entspringt, die ja keine Mathematik ist, sondern einfach nur vor lauter Klarheit unmöglich zu fassen und mit keinem Wort zu definieren. Schon die ersten erklingenden Töne zeigen uns die musikalische und instrumentale Beherrschung, die aus dem wirklichen Verständnis des Pianistischen und eines kontrapunktischen Tonsatzes entspringt. Vivanet verwirklicht auf das Schönste die Klarheit, Einfachheit und die natürliche Selbstverständlichkeit dieser feinen Partituren.

Eine bestimmte Form des Purismus mag gerne stirnrunzelnd bemängeln, dass der bemerkenswerte Pianist keine historischen Tasteninstrumente gewählt hat, um uns diese Musik näherzubringen, doch verhallt diese Beschwerde in einer anderen, ebenfalls strengen Form des Purismus, nämlich jener, die stirnglättend Wert darauf legt, dass ein Tonsatz wie vom Komponisten erdacht, gehört und niedergeschrieben, wieder in allen Parametern in der Aufführung neu entsteht.

Der moderne Flügel, den Andrea Vivanet hier wählt, scheint dabei für die feinen Sweelinck’schen Wahrheiten denn auch unter seinen Fingern gerade das perfekte Instrument zu sein.

[Jacques W. Gebest, März 2024]