Archiv der Kategorie: Buchrezension

[Rezensionen im Vergleich 3b] Himmel und Hölle mit Sibelius

ISBN: 978-3-89487-941-9 (Henschel), 978-3-7618-2371-2 (Bärenreiter)

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Der Musikkritiker und Journalist Volker Tarnow verfasste anlässlich des 150. Geburtstags von Jean Sibelius, stattfindend am 8. Dezember 2015, die aktuellste Biographie, erschienen beim Henschel Verlag.

Eine biographische Würdigung des wohl bedeutendsten finnischen, aber schwedisch aufgewachsenen Komponisten Jean Sibelius ist eine sehr zu begrüßende Unternehmung, allein schon angesichts der immer noch spärlichen Literatur und Forschung zu dieser faszinierenden Persönlichkeit im deutschsprachigen Raum. Umso erfreulicher ist es dann auch, wenn Volker Tarnow auch bislang unübersetzte finnische Quellen wie beispielsweise Tagebucheinträge mit einbezieht. Herausgekommen sei dabei, so die Verlagsinformation, eine „Biografie, die ebenso den Menschen wie den Künstler im Fokus hat und zugleich eine ganze Epoche skizziert.“

Im Großen und Ganzen betrachtet erfahren hier tatsächlich ein Künstlerleben und dessen Zeitumstände eine eingehende Betrachtung, teilweise um kleinste Details und um literarisch-künstlerische wie historische Aspekte des damaligen Europa und Skandinaviens bereichert. Mehr noch, Tarnow versteht es, in einem Stil zu schreiben, der alles andere als trocken wirkt und den Leser in einem clever inszenierten Drama um den einzigartigen Künstler und Menschen Sibelius mitzureißen versteht.

Dabei mutet es jedoch etwas befremdlich an, dass viele Stellen (vor allem zeittypische Rezensionen) mit Belegen gespickt sind, während wiederum andere Passagen es scheinbar nicht nötig haben, nachgewiesen zu werden. Anders gesagt: Tarnow spart nicht damit, Behauptungen aufzustellen, die der nachvollziehbaren Grundlage entbehren. So lautet ein Beispiel von S. 127: „Dass der Geförderte (…) drei Monate lang in Berlin blieb und Sauern mit Persiko trank, (…) schockierte Freund Carpelan und Frau Aino doch ziemlich.“ Gewitzt konterkariert Tarnow dann in Bezug auf weitere Geldspenden, die Sibelius erhielt: „(…) niemals davor und danach tätigte Finnland eine bessere Investition.“

Sätze von solcher Art finden sich immer wieder, es fängt bereits beim Inhaltsverzeichnis der chronologisch aufgebauten Biographie an, wo romantisierende und modische Begrifflichkeiten wie „Karelische Träume“ und „Beethoven-Matrix reloaded“ einzelne Abschnitte aus Sibelius‘ Leben zu versinnbildlichen scheinen. Das sind allerdings nur sprachliche Kleinigkeiten, die ins Auge fallen. Tarnow gibt sich hinter seiner plakativen Inszenierung sehr wohl alle Mühe, ein differenziertes Bild von Jean Sibelius zu zeichnen, was ihm zum guten Teil auch gelingt. Es wirkt sogar ziemlich sympathisch, einen im Grunde eher egomanischen Komponisten zu skizzieren, der es trotz aller Tiefen und Abstürze im Leben am Ende zu etwas gebracht hat. Gleiches gilt für andere gewichtige zeitgenössische Kollegen Sibelius’ und deren Haltung zu ihm. Ein überraschendes Beispiel hierzu liefert Gustav Mahler, dessen Vorurteile gegen skandinavische Musik – für einen Weltkomponisten! – hier schonungslos präsentiert werden (vgl. S.160). Was dabei immer wieder unterschwellig ins Auge fällt, ist eine recht tendenziöse Art, die immer wieder Kopfschütteln auslöst. Es geht gar nicht so sehr um den häufig kolportierten Alkoholismus des Komponisten; der Autor möchte, trotz aller literarischen Raffinesse und Reflexion, Sibelius doch als den einzig ganz großen Musiker des 20. Jahrhunderts darstellen, während alle Musiker seinerzeit, trotz aller Würdigung, diesen Status niemals erreichen können. Warum sonst sollte Tarnow solche Sätze äußern wie ganz am Ende auf S. 277: „Irgendwann wird es sich herumsprechen, dass mit ihm die wahre Avantgarde begann, die Musik der Zukunft.“ Sicherlich war Sibelius eine singuläre Erscheinung und sowohl seinerzeit als auch in der Folge einflussreicher, als es manch deutschsprachiger Musikwissenschaftler eingestehen wollte. Dennoch könnte man bei Sätzen wie dem eben zitierten meinen, es handle sich mehr um einen Anti-Adorno-Reflex als um ein differenziertes Künstlerporträt.

Auch wenn es sich hier um keine wissenschaftliche Arbeit handelt, so hat diese Biographie doch deutlich ehrgeizige intellektuelle Ansprüche. Nun werden die daraus resultierenden Erwartungen, wie man vielleicht meinen könnte, keineswegs regelmäßig enttäuscht. Stimmig etwa beschreibt Tarnow den inneren Identitätskonflikt des Komponisten, was seine schwedischen und finnischen Wurzeln anbelangt, wodurch zumindest einige Charakterwidersprüche erklärt werden können. Besonderen Wert legt der Autor auch auf Seismogramme wichtiger Freundschaften, die der Komponist Zeit seines Lebens pflegte, wie zum Dirigenten Robert Kajanus. Doch sind auch diese Versuche nicht gänzlich frei von Überzeichnungen, zumal auch hier oftmals von einem Sibelius die Rede ist, der sich aller Förderung zum Trotz als undankbarer, zugleich auch eifersüchtiger Künstler und Freund erwies, wohingegen Kajanus offenbar von unendlicher Gutmütigkeit war (siehe etwa S. 165).

Erwähnenswert sind auch die musikalischen Analysen seiner Symphonien sowie zahlreicher anderen Opera. Besonderes Augenmerk legt der Autor auf Gelegenheitswerke, Kammermusik sowie Bühnen-Auftragswerke wie Kuolema oder die vielgespielte Karelia-Suite. Nicht zu vergessen sind die Beschreibungen seiner zahlreichen Liederzyklen, wobei Tarnow gerne das literarische Milieu der Liedtexte in Augenschein nimmt, dabei auch kompetente Einblicke in skandinavische Lyrik gibt. Sieht man auch hier von dem Eindruck, Sibelius immer wieder alleingültig zu glorifizieren, sowie der ziemlich blumigen Wortwahl ab, so kommen doch auch für gestandene Sibelius-Experten einige neue Erkenntnisse ans Tageslicht. Gerade in den Beschreibungen der Symphonien verfolgt Tarnow einen roten Faden, an dem sich Sibelius’ künstlerischer Werdegang ablesen lässt, und liefert informatives, aber niemals langweilendes Wissen beispielsweise zur Fassungs- und Deutungsproblematik der 5. Symphonie in Es-Dur Op. 82. Gleichzeitig findet sich auch hier wieder das oben beschriebene Problem: Tarnow behält seinen fantasievollen, ja kapriziös interpretierenden Erzählstil auch in den Analysen bei, wodurch bisweilen ein religiös verbrämter Beigeschmack entsteht (vgl. S. 227: „Sie [die Sinfonie Nr.5] verweist auf Kräfte, die größer sind als der Mensch, von ihm aber geahnt und ehrfürchtig bewundert werden können.“).

Als Fazit ist zu vermerken, dass die vorliegende Lektüre in ihrem Inhalt mit Bedacht zu genießen sei. Doch ist Tarnows schillernder Beitrag zum Jubiläumsjahr im Großen und Ganzen lohnend und verdienstvoll und möge die Beschäftigung mit Sibelius sowie dessen wissenschaftliche Würdigung gerade auch nach dem Jubiläum noch weiter vorantreiben!

[Peter Fröhlich, Dezember 2015]

[Rezensionen im Vergleich 3a] Das Leben des Jubilars

Volker Tarnow
SIBELIUS
Biografie

Henschel-BärenreiterVerlag 2015

ISBN 978-3-89487-941-9 (Henschel)
ISBN 978-3-7618-2371-2 (Bärenreiter)

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„Gott aber öffnete seine Tür für einen Augenblick – und sein Orchester spielte … VALSE TRISTE“  (S. 277)

Volker Tarnow, der ja schon zusammen mit Helga Schönweitz ein sehr informatives und lesenswertes Buch schrieb mit dem Titel „Das Romantische Schweden“, legt diesmal hier ein Werk über Finnland vor, besser über Finnlands bekanntesten und für das heutige Konzertleben bedeutendsten Komponisten, Jean Sibelius.
Anders als das sehr voluminöse und nicht immer einfach zu lesende Sibelius-Kompendium von Tomi Mäkelä (Breitkopf & Härtel, 2007) ist Tarnow hier eine Biographie gelungen, die sich herrlich leicht liest – auch deswegen, weil die Anmerkungen hinten einen eigenen Platz im Buch bekommen und so der Lesefluss nicht unterbrochen wird.
Nach diesen Ausführungen über Sibelius‘ Leben und dessen Begleitumstände habe ich noch mehr Lust, mich mit dem einzigartigen Werk dieses Komponisten – von dem mir bislang (abgesehen von einigen der vielgespielten Werke wie dem Violinkonzert) recht wenig bekannt war – intensiver zu befassen. Wie gut, dass da unlängst gerade bei ARTE die Aufführung der 1. Symphonie mit den Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle zu sehen war, der alle großen symphonischen Werke des Finnen bereits auf CD einspielte. Die Reihe im Fernsehen soll fortgesetzt werden – hoffentlich. Denn das Lesen der Noten, das unter anderem mit der leider sehr teuren, erst vor kurzem erschienenen Gesamtausgabe bei Breitkopf möglich gemacht wird, wird wunderbar ergänzt durch das Anschauen der Orchester-„Arbeit“ am Bildschirm.
Tarnow erzählt die Lebens- und die Zeitgeschichte mit leichter Hand, manchmal fast zu anekdotisch flott, dafür liest sich alles eingängig, und man bekommt nicht nur trockene Daten oder Fakten zur Musik, sondern auch die entsprechenden – oft feuchtfröhlichen – Hintergründe mitgeliefert. Gerade, dass Sibelius ein großer Raucher und Trinker vor dem Herrn war – eine zeitweilige Abstinenz wurde bald wiederaufgegeben – und wie die Zusammenhänge zwischen Jugendzeit, Ausbildung und Familienleben das Komponieren wieder und wieder beeinflussten und auch oft irritierten, wird so dargestellt, dass das finnische Urgestein unbändig hervortritt.
Auch die überbordende Reiselust in den frühen und mittleren Jahren, oft aus dem Zwang heraus, woanders als zu Hause gerechter beurteilt und anerkannt zu werden, nimmt entsprechenden Raum ein.
Am hervorstechendsten sind natürlich die Beschreibungen der Musik, wobei Tarnow trotz seines Studiums nicht davon ausgeht, dass die Leserin oder der Leser alle Fachausdrücke versteht, also sind sie kurz und bündig erklärt. Der Überblick über Sibelius’ Kompositionen auch im Zusammenhang mit seinen Zeit- und Landesgenossen – seien es Musiker oder Maler, Dichter oder andere Musengeküsste – ist bemerkenswert und lässt darauf schließen, dass Tarnow „seinen“ Sibelius sehr genau kennt und schätzt.
Insgesamt ein Buch, das eine ideale Lektüre zum 150. Geburtstag von Jean Sibelius am 8. Dezember 2015 bildet. (Den wir mit „meinem“ Ensemble „DIE ALTEN RÖMER“ und einigen Gästen mit oben erwähntem „VALSE TRISTE“  zu feiern vorhaben.)

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]

Authentische Mannigfaltigkeit

Heinrich Aerni: Zwischen USA und Deutschem Reich. Hermann Hans Wetzler (1870-1943). Dirigent und Komponist

Monographie, erschienen bei Bärenreiter (ISBN 978-3-7618-2358-3)

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Dieses Buch habe ich mit großer Spannung erwartet, nachdem wir in der Studienpartitur-Reihe Repertoire Explorer (www.musikmph.de) vier Orchesterwerke Hermann Hans Wetzlers erstmals nach langer Zeit wieder verfügbar gemacht hatten und Heinrich Aerni bei der Abfassung der Vorworte eine selbstlose Hilfe war. Hermann Hans Wetzler war in den 20er Jahren in Deutschland und auch – wenn auch in geringerem Maße – in den USA ein großer Name konservativer Couleur. Er ist einer der Meister jener mit maximaler äußeren Wirkung geschriebenen Musik fürs große Orchester, die wir als ‚Kapellmeistermusik’ kennen (dies ohne jeden abfälligen Beigeschmack!), also Musik, die mit immenser Beherrschung der instrumentalen Mittel im großen Maßstab verfasst wurde. Die heute prominentesten Komponisten dieser Sorte, die vor allem im deutschen Sprachraum erblühte, waren natürlich – in der Nachfolge von Wagner, Liszt und Bülow – Richard Strauss, Gustav Mahler, Hans Pfitzner, Alexander Zemlinsky, der späte Max Reger, Franz Schreker und schließlich als einer, der ganz andere Wege einschlug, Anton Webern, aber auch Paul Büttner, Hermann Suter, Emil Nikolaus von Reznicek, Max von Schillings, Siegmund von Hausegger, Wilhelm Furtwängler, Felix Weingartner, Max Fiedler, Georg Schumann, und gewiss Wetzler müssen hier, stellvertretend für viele weitere, genannt werden. Fast war es so, dass ein Dirigent, wollte er beweisen, wie tief sein musikalisches Verständnis gereichte, dies zu zeigen hatte, indem er eigene Kompositionen in die Öffentlichkeit brachte, und wer sollte schon mehr vom Orchester verstehen als er? (Auch wenn dem geringere Wirkung beschieden war wie bei Arthur Nikisch, Leopold Damrosch, Frederick Stock, Bruno Walter, Otto Klemperer, Robert Heger oder Leo Blech.)

Wetzlers Leben spielte sich zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland ab, mit einem späten, durch seine jüdische Herkunft erzwungenen Intermezzo in der Schweiz. 2006 gelangte sein umfangreicher und höchst geschichtsrelevanter Nachlass in die Zürcher Zentralbibliothek, wo Heinrich Aerni die Gelegenheit beim Schopf ergriff und sich der Sache intensiv annahm, was letztlich zur vorliegenden Buchveröffentlichung führte. Wie sehr wäre zu wünschen, dass eine derart fundiert informierende Publikation auch anderen Komponisten zugute käme! Wie schön wäre es z. B., ein Dresdner Bibliothekar nähme sich in vergleichbarer Weise Paul Büttners an, oder ein Basler Bibliothekar Friedrich Kloses oder Felix Weingartners – wenn man schon an der Quelle sitzt!

Am 8. September 1870 in Frankfurt am Main geboren, wuchs Wetzler zunächst in Chicago, dann in Cincinnati auf, wo er Violine, Klavier, Orgel und alle musiktheoretischen Fächer studierte und bald zusammen mit seiner Schwester auftrat. 1884 zog die Familie weiter nach New York, im Jahr darauf zurück nach Frankfurt. 1892 wurde Wetzlers Symphonie in Es dort am Hoch’schen Konservatorium uraufgeführt, und noch im selben Jahr übersiedelte er wieder nach New York und heiratete 1896 die Schwester eines Freundes, mit welchem er jahrelang zusammen an der Konstruktion eines ‚Luftschiffes’ arbeitete. 1898 dirigierte er sein erstes eigenes Konzert in New York, und 1902 gelang es ihm, mit geballtem Mäzenatentum im Rücken das Wetzler Symphony Orchestra zu gründen, welches zwei Spielzeiten lang für großes Aufsehen sorgte und u. a. 1904 die Uraufführung von Richard Strauss’ Sinfonia domestica spielte. Doch dann entglitt ihm das Glück. Er zog 1905 zurück nach Deutschland und trat nacheinander Kapellmeisterstellen in Hamburg, Elberfeld (ab 1929 Teil der neugegründeten Stadt Wuppertal), Riga und Halle an, bevor er 1915 in Lübeck Nachfolger Wilhelm Furtwänglers wurde und seine erfolgreichste Ära als Dirigent erleben durfte. In diese Zeit fiel auch 1917 der durchschlagende Erfolg seiner Ouvertüre (und Schauspielmusik) zu Shakespeares ‚Wie es euch gefällt’. 1919 wurde er neben Otto Klemperer erster Kapellmeister an den Städtischen Bühnen Köln, seine Symphonische Phantasie op. 10 kam zur Uraufführung, doch 1923 verlor er nach Zerwürfnissen seine Anstellung und fand auch keine andere mehr. Sein aufsehenerregendster Erfolg als Komponist gelang ihm 1923 mit den ‚Visionen’ (eigentlich ‚Silhouetten’) für großes Orchester, die ein Intermezzo ironico enthalten, in welchem in massiv grotesker Weise moderne Klischees verspottet werden. Höhepunkt seines Schaffens ist meines Erachtens freilich die symphonische Legende ‚Assisi’ op. 13, mit welcher er 1925 den 1. Preis im Kompositionswettbewerb des North Shore Festival in Michigan gewann. 1928 kam in Leipzig seine Oper ‚Die baskische Venus’ zur Uraufführung, die sehr gespaltene Reaktionen hervorrief. 1931 übersiedelte Wetzler in die Schweiz, 1932 spielte Gustav Havemann in Berlin erstmals seine Symphonie concertante für Violine und Orchester, 1933 starb Wetzlers Frau Lini in Wiesbaden, und 1935 zog Wetzler nach Ascona zu seiner Freundin Doris Oehmigen. 1937 wurde in Salzburg sein Magnificat aus der Taufe gehoben, und 1940 emigrierte er in die USA, wo er sein Streichquartett op. 18 vollendete, bei Paul Hindemith Unterricht in modernem Tonsatz in erweiterter Tonalität nahm, den ersten Satz einer American Rhapsody für Orchester schrieb und am 29. Mai 1943 in New York starb.

Als Komponist schwamm Wetzler im Fahrwasser seiner Vorgänger, mit einer immensen lyrischen und dramatischen Begabung versehen, und mit ungeheurem Ehrgeiz und Fleiß. Wagner, Strauss, vieles weitere, später auch Einflüsse jüngerer Provenienz sind omnipräsent, doch in seinen stärksten Werken, in den gelungensten Passagen gerade in ‚Assisi’, findet Wetzler zu einem magisch fesselnden Ton, der nicht nur mit grandioser Könnerschaft imponiert, sondern auch in einer Neigung zu versponnener Naturmystik fasziniert. Großartiger kann ein Orchester nicht klingen! Bei cpo ist vor sechs Jahren eine CD mit der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz unter Frank Beermann erschienen, mit den ‚Visionen’ und ‚Assisi’, die an dieser Stelle ausdrücklich empfohlen sei (natürlich stammt der fundierte Begleittext aus der Feder von Aerni).

Heinrich Aerni gibt in seinem Buch nicht nur einen höchst schattierungsreichen und spannenden Überblick über Leben und Schaffen Wetzlers, der vor allem mit seiner scharf beobachtenden, zitatenreichen Zeitzeugenschaft fesselt; er liefert zudem im zweiten Teil eine Fülle statistisch aufgeführter Fakten, die als solide Grundlage jeder weiteren Beschäftigung mit diesem vergessenen Komponisten und Dirigenten dienen werden: auf eine knappe Zeittafel folgt ein Werkverzeichnis mit allen relevanten Angaben (auch zu Wetzlers zeittypischen Bach-Bearbeitungen); ein Schriftenverzeichnis (darunter einiges Unveröffentlichte; hier dürfte noch manche wertvolle Entdeckung für die Öffentlichkeit gemacht werden, worauf auch zwei diesbezügliche Briefe Thomas Manns hinweisen); ein umfassendes Repertoireverzeichnis des Dirigenten, Pianisten und Organisten mit exakten Datierungen; eine Auflistung der Aufführungen von Wetzlers Werken zu seinen Lebzeiten (60 Aufführungen allein der Ouvertüre zu ‚Wie es euch gefällt zwischen 1917 und 1923, und 42 Aufführungen von ‚Assisi’ bis 1942); ein umfangreicher Anhang mit Notenbeispielen; drei ausgewählte Texte von Lini Wetzler und, wie erwähnt, Thomas Mann; und ein ziemlich ergiebiges Quellen- und Literaturverzeichnis.

Aerni versteht es, so zu schreiben, dass man alles mit Genuss und Gewinn liest. Gerne unterstreicht er Einzelfakten mit tabellarischen Mitteln, was sehr anschaulich ist. Auch das Bildmaterial ist bemerkenswert vielfältig. Wenn Wetzler damals als Dirigent umstritten war, so möchte ich dem einzig einen Gesichtspunkt anfügen, der bei Aerni nicht angesprochen wird. Damals war das technische Niveau der Orchester natürlich viel dürftiger als heute (jedes heutige deutsche B-Orchester wäre in dieser Hinsicht damals ein Spitzenensemble gewesen); bei den Dirigenten jedoch verhielt es sich umgekehrt: sie waren viel substanziellere Musikerpersönlichkeiten, und wir dürfen sicher sein, dass ein Mann von der Kompetenz, den Fähigkeiten und der unbändigen Energie Wetzlers heute in der allerersten Riege der Dirigenten zuhause wäre. Dies, um die Relationen über die Zeiten hinweg zurechtzurücken.

Fazit: ein exzellentes Buch, das uns nicht nur Hermann Hans Wetzler, sondern seine ganze Zeit und Zunft in einem Maße und einer authentischen Mannigfaltigkeit näherbringt, wie dies sehr selten ist.

Christoph Schlüren, August 2015