Alle Beiträge von Ulrich Hermann

Ein Schlag aufs Wasser

Placidus von Camerloher (1718-1782)
Kamermusik, Sinfonien, Arien

Neue Freisinger Hofmusik Leitung: Sabina Lehmann

CTH 2629 Thorofon
4 003913 126290

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Placidus von Camerloher, der Zeitgenosse Glucks und Philipp Emanuel Bachs, ist mithin ein Vorläufer von Haydn, Mozart und deren Zeitgenossen, und durchaus kein Unbekannter in der Musica Bavarica. Jetzt also eine neue CD der neugegründeten Neuen Freisinger Hofmusik, geleitet von der Cellistin Sabina Lehmann: die elf Instrumentalistinnen und Instrumentalisten von der Traversflöte bis zur Erzlaute spielen aus dem bis heute nur spärlich veröffentlichten Werk  des Freisinger Musikers und Geistlichen Herrn Camerloher zwei Sinfonien, zwei Arien auf lateinische Texte und ein paar Stücke aus seiner Kammermusik.
Was als durchaus von mehreren Seiten unterstütztes Projekt daherkommt – die Danksagungen im Booklet sprechen es aus –, entpuppt sich allerdings beim Anhören als ein ziemlich uninspiriertes Unterfangen, das an der Oberfläche des Notentextes und somit an den Ohren vorbeirauscht. Von Phrasierung oder irgendwie zusammenhängend bewusstem musikalischen Ansatz scheinen die Spieler weder je etwas gehört zu haben noch gar zu wissen. Ihr Tun erschöpft sich darin, die vorliegenden Noten in meist sehr hurtigen Tempi herunterzuspielen. So nebensächlich und rasch vorbei ist diese Musik sicher weder gemeint noch einst gespielt worden, da nützen auch die beiden Solostücke auf der Gallichone nichts,  oder auch die beiden Arien, die Bass Matthias Winckler bemüht, aber mit viel abgehackter Sechzehntel-Artikulation realisiert.  (Wie so etwas wirklich gesungen werden kann, könnte er sich bei Cecilia Bartoli einmal zu Gemüte führen, da muss das Zwerchfell einfach auf Zack sein bei solchen Läufen).
Dabei ist der Stil Camerlohers, wie die Leiterin Sabina Lehmann im Begleitheft beschreibt, alles andere als uninspiriert oder altmodisch. Sie nennt ihn sogar einen modernen Tonkünstler seiner Zeit, der größten Wert legte auf melodische und harmonische Klarheit und Einfachheit. Und die auf- und niederfahrenden Tonleitern in der neuen Mannheimer Art, häufige Synkopen, Seufzermotive, Sechzehnteltriolen oder unvermutet eintretende Generalpausen gehören zwar durchaus zu seinem musikalischen Stil, müssen aber auch dementsprechend erlebt und musiziert werden, sonst bleiben es bloße Beschreibungen ohne Inhalt. Denn so neu, wie Camerlohers Musik damals gewesen zu sein schien, davon muss auch der heutige Hörer etwas mitbekommen.
Es ist und bleibt der Makel bei unzähligen unserer heutigen – zwar ausdauernd geübt habenden, aber musikalisch so wenig beschlagenen – Musikerinnen und Musikern, dass sie zwar technisch alles „draufhaben“, aber die Bedeutung der „Klangrede“ ihnen sehr oft vor lauter Geschwindigkeit völlig entgeht.
Allerdings könnte jede Person sich die Violinschule von 1756 von Leopold Mozart zum Lesen nehmen oder auch die beiden sehr „erleuchtenden“ Bücher des Altmeisters Nikolaus Harnoncourt, etwa „Musik als Klangrede“, einverleiben, die einem einen entsprechenden Ansatz vermitteln können, wenn außer dem „Üben“ noch Zeit zum Lesen und Verstehen bliebe! Warnte doch schon Frédéric Chopin seine Schüler, nicht länger als drei Stunden am Klavier zu verbringen, sonst würden sie nämlich: „doof“.

Insofern ist diese CD mit Musik eines Zwischenmeisters leider ein – zugegeben recht lautstarker – Schlag ins Wasser, der vielleicht Placidus Camerlohers lokale Reputation unterstreichen, ihm jedoch keinen überregionalen Glanz verschaffen kann. Schade. Denn dass hinter Noten Musik zum Staunen und Überraschen steckt, konnte man zwar ahnen beim Anhören dieser CD, aber eben leider nicht hören. Mit der Exekution der auf dem Pult liegenden Noten ist es einfach nicht getan, wenn es um Musik geht.

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]

Eine Be-„Reicha“-rung

Antoine Reicha (1770 Prag-1836 Paris)
Bläser-Quintette

Thalia Ensemble

CKD 471 Linn Records
6 91062 04712 8

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Gewiss ist die Gattung des Streichquartetts oder des Klaviertrios mit Streichern den Bläser-Ensembles weit voraus an Literatur und Bedeutung in der Musikgeschichte, aber was wäre das klassische Orchester ohne seine Holzbläser oder seine Hörner?  Schon lange vor den reinen Bläserquintetten, wie sie auf der vorliegenden CD zu hören sind, war die sogenannte Harmoniemusik, gerne unter freiem Himmel gegeben und dort, ohne akustischen Rahmen, weit geeigneter als Streicher, allseits beliebt.  Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gewann dann die Besetzung mit  Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott zunehmend an Bedeutung, auch durch die Kompositionen des böhmischen Musikers und Komponisten Anton Reicha, der vor allem in Paris lebte und arbeitete.

Aus seiner Feder stammen die vorliegenden Stücke op. 88 und 100. Über 20 Quintette für diese Besetzung schrieb Reicha, der als unorthodoxer Fugenpapst renommierte Zeitgenosse Beethovens, jünger als Haydn und Mozart und durchaus auch von diesen beeinflusst. Reicha, der ein vorzüglicher Flötist war, wirkte auch Pädagoge und seine Schriften waren – wie seine Kompositionen – über ganz Europa verbreitet, was auch seinen emsigen Verlegern zu verdanken war. Unter ihnen war Simrock wohl der bedeutendste, übrigens selbst ein Hornist.

Wir hören mit den Musikerinnen und Musikern des Thalia Ensembles eine spannende und abwechslungsreiche Aufführung beider Quintette. Reicha schreibt sehr genaue Vortragsbezeichnungen, die hier auch sehr gewissenhaft befolgt werden. Das leider nur auf Englisch vorliegende Booklet gibt auch Aufschluss über die instrumentalen Schwierigkeiten, besonders, wenn es um die Ausführung auf den „normalen“ modernen Instrumenten geht, bei denen die Klangbalance viel schwieriger zu erreichen ist als auf den „historischen“. Und das ist einer der echten Vorzüge dieser CD, dass sowohl Klang als auch weitgehend Tempo und Phrasierung sich dem Stand der Forschung und Erkenntnis zur damaligen Musizier-Praxis so weit als möglich annähern. Das erweitert das Vergnügen am Hören dieser Musik des Anton Reicha, die im damaligen Paris einen regelrechten „Boom“ auslöste. Reicha versteht es in diesen Quintetten den jeweiligen Instrumenten gemäß ihrer Eigenart und Möglichkeiten sozusagen die Melodien und damit natürlich auch die Harmonien  „auf den Leib zu schneidern“. Oft stellt er die höchsten Register der Flöte den tiefsten Lagen im Fagott gegenüber. Natürlich sind die Melodien von der Klassik beeinflusst, aber die häufige Verwendung auch höchster oder tiefster Lagen, sowie die Einbeziehung der Chromatik in den Melodien, oder Tonartenwechsel innerhalb eines Satzes weisen durchaus darüber hinaus in den Beginn der romantischen Tonsprache eines Car Maria von Webers zum Beispiel.

Die Quintette sind klassisch viersätzig, eine Ausnahme bildet nur das sehr schöne Adagio „pour le cor anglais“ in d-moll, wo eben statt der Oboe ihre tiefere Variante, das Englischhorn, seine Farbe dazu gibt. In jedem Stück weist Reicha den verschiedenen Instrumenten neben melodischen Anteilen auch begleitende Funktion zu, und das Staunen, dass das (damals) ventillose Horn diese Aufgabe bestens erfüllt, ist nicht gering. Im großen Ganzen ist es ein Genuss, der Farbigkeit dieses Ensembles zu lauschen., das 2013 Gewinner eines Wettbewerbs in York war. Wenn ich mir nicht ab und an etwas mehr Gelassenheit und Ruhe in einzelnen Sätzen gewünscht hätte, aber das ist eine Crux, die fast allen wohlausgebildeten Musikerinnen und Musikern eignet: Sie können sich nur schwer in das Zeit- bzw. Lebensgefühl der damaligen Zeit hineinversetzen, in der bald darauf die ersten Eisenbahnen mit ihren anfangs 8 km/h für medizinische Warnungen vor Herzinfarkten und anderen Gebresten sorgten, die bei solcher Geschwindigkeit unweigerlich einträten… Sie hatten eben weder Fernsehen noch Internet, weder Auto oderFahrrad noch Telefon oder Handy, und ein galoppierendes Pferd mit seinen maximal 36 km/h war das Höchste an Geschwindigkeit und das auch nur maximal zwanzig Minuten lang.

Abgesehen von dieser – unserer schnelllebigen Zeit geschuldeten – Manier ist diese CD eine wahre Be-„Reicha“-rung der Musikwelt und zeigt wieder einmal die vorzügliche Aufgabe, die der Tonträger haben kann und hat, wenn wir ihn intelligent zu nutzen verstehen.

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]

300 Jahre Louis XIV

Le Concert Royal de la Nuit

Ensemble Correspondances
Sébastien Daucé

Harmonia Mundi HMC952223.24
3 149020 222379

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Die CD beschert uns regelmäßig Neuentdeckungen oder Wiederaufführungen vergessener oder verschollener Werke. So weit, so gut, dafür ist sie das geeignete Medium. Ob das allerdings auch für die hier vorliegende Scheibe in jeder Hinsicht gilt, ist eine Frage. Im Februar 1653 – kurz nach den Aufständen der Fronde in Frankreich –  erlebte ein eindrucksvolles höfisches Schaustück der frühen Regierungszeit Ludwigs XIV. im Louvre seine Uraufführung: das Ballet Royal de la Nuit. Sogar der König selbst im zarten Alter von 15 Jahren tanzte daselbst mit – als Sonnengott, als Verkörperung seiner umfassenden eigenen Macht.
Über dieses Riesenprojekt gibt das fast 200 Seiten umfassende „Booklet“ erschöpfend und mit unzähligen Bildern geschmückt in fünf verschiedenen Sprachen Auskunft. Welch ein Aufwand für die zwei dazugehörigen CDs des Ensembles Correspondances aus Grenoble, das  Sébastien Daucé gegründet hat und leitet.
Die Musik stammt wie das Libretto von damals sehr bekannten Autoren, die allerdings heute mehr oder weniger vergessen sind und nur den Spezialisten der Alten Musik etwas sagen dürften. Nun gut, es kommen ja in den letzten Jahren erstaunliche Meisterleistungen wieder zum Vorschein – ob berechtigt oder nicht, ist für den, der sich damit beschäftigt, nie die erste Frage. Und Sébastien Daucé hat sich damit sehr ausführlich befasst, das zeigt diese Produktion ganz klar.
Er und seine MusikerInnen und Musiker versuchen, einen der großen Momente der französischen Geschichte wiederauferstehen zulassen, als um 1653 die Zeit des „Sonnenkönigs“ eben erst begonnen hatte, die ja zu den Höhepunkten der Histoire Française gehört. Ob allerdings – trotz oder gerade wegen  – des bilderreichen, umfassenden beigegebenen Booklets die CD dafür der geeignete „Rahmen“ ist, bleibt zu fragen.
Warum nicht die ganze „Arbeit“ verbinden mit einem Fernseh-Feature, sei es mit der Aufnahme, sei es als eigene Produktion. (Wie es Cecilia Bartoli mit „The Mission“ bei Arte wunderbar gelungen ist: Auch da gibt es ein massives Booklet zur Scheibe.)
Und wenn „nur“ die Musik erklingt, dann doch bitte mit der Intensität und Lebendigkeit eines Jordi Savall oder eines der beispielhaften Ensembles für Alte Musik. Ansonsten bleibt diese Kunst – wie auch auf diesen beiden CDs – seltsam blass und als bloßes historisches Dokument zu unergiebig und zu belanglos. Denn Bilder schöner Kostüme und die dazugehörigen Tanzposen ersetzen nicht die tänzerische und musikalische Wirklichkeit, die dieses Ereignis ja damals – und mit geeigneter Umsetzung auch heute –haben konnte und noch haben könnte.

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]

Die Reise zu Busch geht weiter

Adolf Busch (1891-1952)
Kammermusik CD 2
Bettina Beigelbeck
Busch Kollegium Karlsruhe

Toccata Classics  TOCC0293
5 060113442932

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Divertimento für Klarinette, Oboe und Englischhorn op.62b (1944)
Sonate in A-Dur für Klarinette und Klavier op. 54 (1939, rev. 1940)
Suite in d-Moll für Klarinette solo op.37a (1926)
Hausmusik: Duett No. 2 für Violine und B-Klarinette op.26b (1921)
Fünf Kanons in Unisono für drei Instrumente, BoO 60 (1949)
Hausmusik: Deutsche Tänze für B-Klarinette, Violine und Violoncello op.26c (1921)

Mit der zweiten CD mit Kompositionen von Adolf Busch – den meisten nur als einer der überragenden Geiger des 20. Jahrhunderts bekannt – füllen Bettina Beigelbeck und das Kollegium Karlsruhe eine weitere Lücke im Schaffen des als Komponist immer noch allzu unerschlossenen Geigers, neben Fritz, Hermann, Willi und Heinrich der genialste von fünf Brüdern.
Es beginnt mit einem sehr aparten, sechssätzigen Divertimento für Klarinette, Oboe und Englischhorn aus dem Jahr 1944, als Adolf Busch längst nach Amerika ausgewandert war und dort eben mit anderen Kollegen seine Projekte realisierte. Die seltene Besetzung der drei Holzbläser vereinigt aufs Schönste die verschiedenen Klangfarben, die Themen sind sowohl vom Melodiösen als auch vom Rhythmischen her kleine Kostbarkeiten. Wobei das dunkelgetönte Englischhorn die Bassfunktion hat. Zum Abschluss wird der erste Satz noch einmal wiederholt und gibt so dem ganzen Stück eine  gelungene zyklische Struktur.
Die 1939 entstandene und 1940 revidierte Sonate für Klarinette und Klavier, die Busch auch seiner Freundschaft mit dem englischen Klarinettisten Reginald Kell (1906-1981)
„verdankt“, wie auch seinem legendären Duo-Partner und Schwiegersohn Rudolf Serkin (1903-1991), ist ein Schwergewicht in drei Sätzen und dauert auch fast eine halbe Stunde. Bettina Beigelbeck und der Pianist Manfred Kratzer spielen das Allegro ma non troppo, das Scherzando vivace und das Grave, Adagio espressivo e cantabile, Allegretto, Molto Allegro – quasi presto mit der entsprechende Hingabe und lassen diese Komposition als ein Hauptwerk für diese Besetzung aufscheinen. Beiden Partien sind alle möglichen virtuosen und umfassend musikalischen Schwierigkeiten einkomponiert, die aber den melodischen und musikalischen Fluss niemals stören oder zum Selbstzweck werden. Die Kombination Klarinette und Klavier hat ja durchaus schon längere Tradition, man denke an Schumann oder an Saint-Saëns, Draeseke, Reger und andere.
In der Suite in d-Moll für Klarinette solo wünschte ich mir noch mehr Gelassenheit und befreiten linearen Fluss, der den Intervallen, die ja auf der Klarinette vollkommen mühelos zwischen Extremlagen springen können (ein besonderes Merkmal dieses so wundervoll singen-könnenden Instruments), mehr Gerechtigkeit widerfahren ließe. Sie sind ja doch das A und O dieser viersätzigen Suite, die mich  daran erinnert, dass auch Igor Strawinsky (1882-1971) drei Stücke für Klarinette solo komponierte, die ich einmal mit Ralph Manno (geb. 1964) in staunenswerter Aufführung hörte.
Dass Adolf Busch den Terminus „Hausmusik“ und Stücke dieser Art nicht verschmähte, war schon bei der nicht weniger lohnenden ersten CD mit Kammermusik mit Klarinette zu hören. Auch hier stehen vier Duette für Klarinette und Violine, von 1921, an. Wieder  die berührende Melodik zweier sehr gut zu einander passenden Instrumente, die diesen Stücken eine Leichtigkeit geben, die zum Nachspielen durchaus reizt. Es mag Hausmusik sein, allerdings auf hohem Niveau.
Auch die fünf Unisono-Kanons für drei Instrumente von 1949 –neben der Klarinette sind auch zwei Oboen mit von der Partie –, als Geschenk zu Weihnachten für Buschs zweite Frau Hedwig (1916-2006) komponiert, sind Hausmusik im eigentlichen Sinne, jedoch gespickt mit Herausforderungen, sowohl was das Zusammenspiel als auch was die technischen Schwierigkeiten anbelangt.
Auch als „Hausmusik“ deklariert sind die Deutsche Tänze aus dem Jahr 1921, das für Busch sowieso ein wichtiges war, denn zum ersten Mal ging er da zu Aufnahmen ins Schallplattenstudio. Außerdem entstand damals sein Violinkonzert a-Moll.
Mit einem „gemütlichen“ Walzer beginnen sie, sehr “groovy“, ein wunderschönes Stück für die drei Instrumente. Der Walzer führt dann unmittelbar in ein humoristisches Vivace über, das wiederum von einer Walzer-Reminiszenz abgelöst wird, der ein poco tranquillo folgt und melancholische Töne bringt, die allerdings schnell einer erneut walzerseligen Stimmung weichen. Äußerst hörenswert, durchaus auch wieder zum Nachspielen reizend, ist diese kleine Folge von fast biedermeierlichen und durchaus nicht im Tiefsinn versinkenden Tänze.
Also nicht nur als phänomenaler Geiger, dessen Beethoven- und Mozart-Einspielungen bis heute Gültigkeit haben (neben unzähligen anderen Aufnahmen, die Adolf Busch auch einmal zusammen mit seinem Bruder, dem Dirigenten Fritz Busch, machte), ist Adolf Busch eine Erscheinung von Ausnahmerang, und es wird Zeit, dass er auch als Komponist seinem Rang entsprechend wahrgenommen wird, wofür die ausgezeichnete Klarinettistin Bettina Beigelbeck und ihre vortrefflichen Mitstreiter nun eine wahrhaft scharf geschliffene Lanze gebrochen haben. Beide CDs (Nr. 1 und 2) sind ein bravouröser Beginn und lassen auf Weiteres nachdrücklich hoffen.

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]

[Rezensionen im Vergleich 3a] Das Leben des Jubilars

Volker Tarnow
SIBELIUS
Biografie

Henschel-BärenreiterVerlag 2015

ISBN 978-3-89487-941-9 (Henschel)
ISBN 978-3-7618-2371-2 (Bärenreiter)

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„Gott aber öffnete seine Tür für einen Augenblick – und sein Orchester spielte … VALSE TRISTE“  (S. 277)

Volker Tarnow, der ja schon zusammen mit Helga Schönweitz ein sehr informatives und lesenswertes Buch schrieb mit dem Titel „Das Romantische Schweden“, legt diesmal hier ein Werk über Finnland vor, besser über Finnlands bekanntesten und für das heutige Konzertleben bedeutendsten Komponisten, Jean Sibelius.
Anders als das sehr voluminöse und nicht immer einfach zu lesende Sibelius-Kompendium von Tomi Mäkelä (Breitkopf & Härtel, 2007) ist Tarnow hier eine Biographie gelungen, die sich herrlich leicht liest – auch deswegen, weil die Anmerkungen hinten einen eigenen Platz im Buch bekommen und so der Lesefluss nicht unterbrochen wird.
Nach diesen Ausführungen über Sibelius‘ Leben und dessen Begleitumstände habe ich noch mehr Lust, mich mit dem einzigartigen Werk dieses Komponisten – von dem mir bislang (abgesehen von einigen der vielgespielten Werke wie dem Violinkonzert) recht wenig bekannt war – intensiver zu befassen. Wie gut, dass da unlängst gerade bei ARTE die Aufführung der 1. Symphonie mit den Berliner Philharmoniker unter Sir Simon Rattle zu sehen war, der alle großen symphonischen Werke des Finnen bereits auf CD einspielte. Die Reihe im Fernsehen soll fortgesetzt werden – hoffentlich. Denn das Lesen der Noten, das unter anderem mit der leider sehr teuren, erst vor kurzem erschienenen Gesamtausgabe bei Breitkopf möglich gemacht wird, wird wunderbar ergänzt durch das Anschauen der Orchester-„Arbeit“ am Bildschirm.
Tarnow erzählt die Lebens- und die Zeitgeschichte mit leichter Hand, manchmal fast zu anekdotisch flott, dafür liest sich alles eingängig, und man bekommt nicht nur trockene Daten oder Fakten zur Musik, sondern auch die entsprechenden – oft feuchtfröhlichen – Hintergründe mitgeliefert. Gerade, dass Sibelius ein großer Raucher und Trinker vor dem Herrn war – eine zeitweilige Abstinenz wurde bald wiederaufgegeben – und wie die Zusammenhänge zwischen Jugendzeit, Ausbildung und Familienleben das Komponieren wieder und wieder beeinflussten und auch oft irritierten, wird so dargestellt, dass das finnische Urgestein unbändig hervortritt.
Auch die überbordende Reiselust in den frühen und mittleren Jahren, oft aus dem Zwang heraus, woanders als zu Hause gerechter beurteilt und anerkannt zu werden, nimmt entsprechenden Raum ein.
Am hervorstechendsten sind natürlich die Beschreibungen der Musik, wobei Tarnow trotz seines Studiums nicht davon ausgeht, dass die Leserin oder der Leser alle Fachausdrücke versteht, also sind sie kurz und bündig erklärt. Der Überblick über Sibelius’ Kompositionen auch im Zusammenhang mit seinen Zeit- und Landesgenossen – seien es Musiker oder Maler, Dichter oder andere Musengeküsste – ist bemerkenswert und lässt darauf schließen, dass Tarnow „seinen“ Sibelius sehr genau kennt und schätzt.
Insgesamt ein Buch, das eine ideale Lektüre zum 150. Geburtstag von Jean Sibelius am 8. Dezember 2015 bildet. (Den wir mit „meinem“ Ensemble „DIE ALTEN RÖMER“ und einigen Gästen mit oben erwähntem „VALSE TRISTE“  zu feiern vorhaben.)

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]

Sibelius aus der Provinz

Onba Live Musicales Actes Sud; harmonia mundi ; ASM 25; EAN: 3 149028 070125

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Sibelius
Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 43
Lemminkäinens Heimkehr. Legende op. 22 Nr. 4

Orchestre National Bordeaux Aquitaine

Paul Daniel, Leitung

Zum 150. Geburtstag von Jean Sibelius (1865-1957) gerade recht erscheint die neue Live-Aufnahme seiner zweiten Symphonie und der Legende „Lemminkäinens Heimkehr“ vom Orchestre National Bordeaux Aquitaine unter seinem Dirigenten Paul Daniel, der dort zuletzt Aufnahmen von Richard Wagner und Gustav Mahler machte.
Es ist eine wohlklingende Aufnahme im neuen Opernhaus von Bordeaux, dem man eine gelungene Akustik nicht nur nachsagt, man hört sie auch auf dieser Aufnahme. Dass die zweite Symphonie im großen Ganzen ein wenig zu „mondän“ klingt, ein wenig  zu schmeichelnd und vordergründig, liegt sicher nicht am Orchester, das vorzüglich und klangvollst spielt – allzu sehr wird da betont, was Sibelius eigentlich nie war, nämlich ein „Landschafts-Beschreiber“ –, aber die inneren Strukturen seiner für damalige Verhältnisse durchaus verstörenden und neuartigen melodischen und harmonischen, ja auch der rhythmischen Gegebenheiten scheinen mir doch zu sehr dem Schönklang und dem musikalischen „Rausch“ geopfert. Natürlich darf man dabei nicht an die schon 1965 aufgenommene Mono-Aufnahme des damaligen Stockholmer Orchesters unter Sergiu Celibidache denken, oder an andere wie Beecham, Stokowski, Berglund oder Storgårds, die Sibelius’ Klangsprache adäquater vermitteln können, aber dass Sibelius’ Zweite Symphonie so „süffig“ daherkommt, so eingängig und stromlinienförmig, scheint mir nicht der angemessenste Weg zu sein, dem immer noch von nichtssagenden Urteilen (besonders in Deutschland seit Adorno) sehr belasteten Werk dieses Komponisten neue Freunde zu gewinnen.
Der genialische Hans Jürgen von der Wense übrigens, in seinen Urteilen über Sibelius und seine Kompositionen zwiespältig, lässt doch die Symphonien gelten und erkennt in ihm – vor allem in seinem Spätwerk – eine außergewöhnliche, sich jeder Einordnung in gängige Klischees entziehende Persönlichkeit.
Das überreich ausgestattete Booklet enthält nicht nur wunderschöne Bilder aus Finnlands Natur, sondern neben zwei Artikeln zu Sibelius und den Kompositionen auch die Namen aller Musiker, die dem Orchester angehören, besonders „besternt“ sind die „Kolleginnen“ und „Kollegen“, die bei dieser Live-Aufnahme mitwirkten. (Sergiu Celibidache deutete einmal auf die Frage eines Reporters nach seinen „Kollegen“ auf die vor ihm sitzenden Musiker und sagte nur : „Das da sind meine Kollegen!“)
Man wünscht sich das bei CDs noch öfter, dass die eigentlich Mitwirkenden – außer dem Dirigenten – namentlich genannt werden. Allerdings ist dieses luxuriöse Album – soll ich sagen: typiquement – nur en français, auch eine englische Übersetzung, von einer deutschen ganz zu schweigen, fehlt, was schade ist.
Das zweite Stück – Lemminkäinens Heimkehr, das Finale aus den vier Lemminkäinen-Legenden – ist natürlich ein Reißer. Schon die volle Besetzung mit allen Blechbläsern und vollem Schlagwerk einschließlich der vorgeschriebenen Röhrenglocken sorgt für Furor und schließt wirkungsvoll das Konzert im neuen Opernhaus in Bordeaux ab.  Stürmischer Beifall und Bravos zeigen die Begeisterung des Abends deutlich. Also hat nicht nur die französische Hauptstadt eine neue Philharmonie zu bieten, auch „in der Provinz“ kommt die holde Kunst bei unseren Nachbarn nicht zu kurz – sogar Sibelius, den auch in Frankreich mittlerweile die Modernen mehr schätzen als die Traditionalisten, was gewiss ein gutes Zeichen ist.

[Ulrich Hermann, November 2015]

[Rezensionen im Vergleich 1a] Das vergessene Violinkonzert

Sonntag, 08.11.2015 19 Uhr
KUBIZ Unterhaching

Bruckner Akademie Orchester
Rebekka Hartmann, Violine
Jordi Mora, Leitung

Robert Schumann
(1810-1856)
Konzert für Violine und Orchester in d-moll WoO1

Ludwig van Beethoven
(1770-1827)
Symphonie Nr. 4 B-Dur op.60

Welch ein Konzert!  Auch wenn ich nur den fast letzten ergatterbaren Platz in der ersten Reihe ganz links außen bekam – dafür konnte ich Solistin, Dirigent und die Musikerinnen und Musiker beim Neuentstehen dieser beiden fabelhaften Stücke nahezu hautnah erleben. Und ein Erlebnis der ganz besonderen Art war dieser ganze Abend im ausverkauften KUBIZ in Unterhaching.

In einem bodenlangen blauen Kleid kam Rebekka Hartmann mit ihrer Stradivari von 1675 auf die Bühne. Schumanns Violinkonzert, sein letztes vollendetes Orchesterwerk, galt lange Zeit erstens als unspielbar und zweitens meinte man, die Geisteskrankheit des Komponisten darin zu hören und zu spüren. (Wer über dieses sehr merkwürdige Kapitel im Leben des Komponisten Robert Schumann mehr erfahren möchte, tut gut daran, das hervorragende Buch von Eva Weisweiler über Clara Schumann zu lesen, denn die Rolle der Ehefrau Roberts ist alles andere als klar und eindeutig. Sie war es ja auch zusammen mit dem Widmungsträger Joseph Joachim, die das Werk erst gar nicht aufführen ließen, sehr merkwürdig, aber die Rezeptionsgeschichte dieses Werkes weist noch mancherlei Merkwürdigkeiten auf.)

Aber all das war vergessen und spielte gar keine Rolle mehr, als Orchester und Solistin diese wundervolle Musik zum Erklingen brachten. Nach einer machtvollen Einleitung setzt die Solistin mit dem gleichen gewaltigen Thema machtvoll ein und führt über zu einem sehr lyrischen Seitenthema, das Orchester begleitet die Geige zurückhaltend, hat dazwischen immer wieder Tutti-Stellen,  Geige und Orchester stehen wie zwei erratische Blöcke gegeneinander. Natürlich spielte Rebekka Hartmann – wie es bei ihr gar nicht anders vorstellbar ist – mit Leib und Seele, die Körpersprache ist einfach hinreißend und macht die in diesem Konzert innerwohnende Energie und Kraft auch äußerlich deutlich mit ihrer Bewegtheit und der Phrasierung, die das melodische und harmonische  Erklingen mitträgt. Schumann als Melodiker kommt am intensivsten im zweiten – langsamen – Satz zum  Vorschein, und immer wieder während der drei Sätze überraschen seine unerhörten harmonischen Wendungen.

Jordi Mora und das Bruckner Akademie-Orchester, das in den Streichern aus Laien exzellenten Schliffs zusammengesetzt ist, gaben der Solistin die bestmögliche Begleitung und den Raum, dass sich Rebekka Hartmanns wunderbares Spiel völlig entfalten konnte und den ganzen Saal danach zu Begeisterungsstürmen hinriss. Sie „musste“ noch eine Zugaben spielen: von Fritz Kreisler Rezitativ und Capriccio op. 6. Noch einmal versprühte sie mit ihrer Geige ein musikalisches Feuerwerk erster Güte.

Nach der Pause folgte die nicht allzu häufig gespielte vierte Symphonie von Ludwig van Beethoven, die er 1806 zwischen der „Eroica“ und der „Fünften“ komponierte. In München war sie erst vor kurzem mit dem Bayerischen Rundfunk-Symphonie-Orchester unter Herbert Blomstedt zu hören gewesen. Aber was ich heute Abend an Musik „in statu nascendi“  vom Bruckner Akademie Orchester  unter Jordi Mora zu hören bekam, machte meine Ohren staunen und eröffnete teils völlig neue Erlebnisse. Schon der Beginn des ersten Satzes mit dem eindrucksvollen, fast düsteren Thema kam in aller Ruhe – schließlich steht auch Adagio als Tempovorgabe über den Noten – bevor im Takt 39 das Allegro vivace die volle Wucht und Kraft der Beethoven’schen Klangsprache zeigt.
Himmlische Melodien hat Beethoven ja häufigst geschrieben, auch wenn er für vieles – wie man an seinen Notizbüchern sehen kann – schwer gearbeitet hat, bis diese „Himmlischkeit“ seinen Melodien eignete. Immer wieder ist es eine Beglückung, seinen Adagio-Sätzen – wie hier dem zweiten – zuzuhören und sich in andere Gefilde mitnehmen zu lassen.
Im dritten Satz – hieß es im Programmblatt – streiten die zwei Grundrhythmen der westlichen Musik, der Zweier- und der Dreiertakt miteinander. Im Bayerischen heißt das „Zwiefacher“. Und mit dieser einfachen aber stimmigen Erklärung war ich der rhythmischen „Raffinesse“ dieser Musik nicht mehr ganz so hilflos ausgeliefert. Jordi Mora ließ dieses Allegro vivace und das Trio in voller tänzerischen Kraft und Eleganz entstehen, die Musikerinnen und Musiker spielten mit aller Lust und Freude merklich animiert, keiner saß bei seinem Spiel etwa angelehnt auf seinem Stuhl, wie man das durchaus bei einigen Berufsorchestern immer wieder sehen kann.
Das Finale machte mir ganz besonders deutlich, was für ein Vorgänger als Symphoniker Beethoven auch für Schubert war, der sich ja sehr oft in dessen Schatten stehend fühlte.  Beethovens Musik ist auch heute noch – vor allem, wenn sie so entsteht und „aus der Taufe“ gehoben wird wie an diesem denkwürdigen Abend im Kubiz in Unterhaching vom Bruckner Akademie Orchester und seinem Leiter Jordi Mora – ein tief bewegendes und anrührendes  Erlebnis.

Donnernder Applaus für Orchester und Dirigent.  Und auch von mir ein ganz großes Dankeschön für dieses wunderbare Geschenk.

[Ulrich Hermann, November 2015]

Die äthiopische Renaissance

XVIII – 21 Le Baroque Nomade – Melothesia Æthiopica

harmonia mundi EVCD O14; EAN: 3 149028 078626

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Jean Christophe Frisch, Leitung
Cyrille Gerstenhaber, Gizachew Goshu, Stimmen
Emmanuelle Guigues, Pascal Clément, Thibault Roussel,
Mathieu Dupouy, Endres Hassen, Misale Legesse, Zenash Tsegaye, Melaku Belay

Crossover-Programme sind en vogue. Ob schon früh bei Tony Scott mit „Music for Zen Meditation“ oder letztens das AsianArt Ensemble mit „Rituals“, nun also Äthiopien und Renaissance, eine kühne Kombination, oder? Im Booklet erfährt man über die christlich-jesuitische Vergangenheit, für die vor allem Portugal und seine Musikkultur im 17. Jahrhundert zuständig war.
Soweit der Background dieser CD. Obwohl  ja Abessinien auch eine Zeit lang italienische Kolonie war und der Rückgriff auf die italienische Renaissance-Musik auch von daher sich anbot, hinterlässt diese Produktion, so gut und engagiert sie sicherlich gemeint war und ist, einen eher zwiespältigen Eindruck. Zu überlegen ist die Energie, die von den „indigenen“ Musikern, Tänzern und Sängern aus Äthiopien auf den Hörer einströmt – oft so überzeugend, dass sich dazu tänzerisch zu bewegen beinahe zwingend notwendig wird – besonders bei Stück Nr. 5, wo der Groove einfach unwiderstehlich rüberkommt. Wenn dann die französischen Musiker ihren Beitrag anstimmen, instrumental durchaus verhaltener und teilweise stimmig auf den entsprechenden Instrumenten wie Gambe, Laute oder Flöte, dann ist der Unterschied fast zu eindrucksvoll.
Besonders, wenn Cyrille Gerstenhaber ihre durchaus kunstvolle Stimme einsetzt, aber eben „Kunst“ macht, dann wird die Kluft zwischen Kunstmusik und lebendiger Darbietung der Musiker Äthiopiens einfach zu groß. Der Beifall am Ende der Stücke ist eben auch dementsprechend mau und kurz.
Natürlich ist es spannend, zwei so verschiedene Kulturen einander begegnen zu lassen und gegenüber zu stellen, aber auch oder gerade wenn es ein Mitschnitt eines Live-Auftritts ist, wird eben überdeutlich, wo die Grenzen solch einer Crossover-Veranstaltung liegen. Und Renaissance-Musik muss nicht brav und akademisch daherkommen, auch nicht als mit wohl aus(ver)bildeter Stimme sich fast opernmäßig ins Trommelfell bohrender Gegensatz. In ihren besten Momenten hat sie durchaus Groove und wäre da ein echtes Pendant zur originären, lebendigen Musik-Kultur eines christlich-afrikanischen Landes, das auf weiter zurückreichende Wurzeln zurückblicken kann als es Europäern oft bewusst wird. Insofern hat diese CD – wie viele Einwände auch dagegen sprechen – eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Ich wünschte mir dazu eine europäische Sängerin, die aus nicht weniger unverbildeten Kraftquellen schöpfte wie ihre abessinischen Kolleginnen und Kollegen. Und solche Stimmen gibt es sowohl in Frankreich als auch in Italien durchaus, siehe Anna Magnani in „Riso amaro“.

[Ulrich Hermann, November 2015]

Douglas Lilburn zum 100. (02.11.1915)

Naxos 8.572185; EAN: 7 4731321857 8

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Prospero Dreaming
Neuseeländische Gitarrenmusik
von Douglas Lilburn und David Farquhar

Gunter Herbig

Douglas Lilburn (1915-2001) und sein Schüler, der Komponist David Farquhar (1928-2007) sind nicht nur einfach zwei herausragende Vertreter der neuseeländischen Musik, sondern weit mehr als das. Als Komponisten sind sie bei uns immer noch völlig unbekannt, aber das ändert sich pünktlich zum 100. Geburtstag am 2. November zumindest bei Lilburn, denn da wartet auf die europäische Musikwelt eine schier unglaublich reiche und spannende Entdeckung.
Christoph Schlüren schreibt in seiner Lilburn-Würdigung in der aktuellen Neuen Musikzeitung, Lilburn sei „ein Meister von universellem Karat, eine singuläre Stimme in der unglaublichen Vielfalt der Musik des 20. Jahrhunderts. Wo seine Musik erklingt, strahlt sie auf Musiker und Zuhörer eine unwiderstehliche Wirkung aus – magisch, belebend, verwandelnd.“ Ich kann ihm nur uneingeschränkt zustimmen. Also, unbedingt anhören, das ganze Spektrum seines Schaffens ist es wert!

Auch diese CD vom Label Naxos – das sich ohnehin seit Jahren um die Neu- und Wiederentdeckung verschollener Musik verdient macht – ist ein Volltreffer. Ganz besonders auch dazu deswegen, weil mit dem Gitarristen Gunter Herbig endlich mal ein wahrer Musiker die Gitarre spielt, der nicht nur seine Fingerfertigkeit zeigt oder jugendliche Unbekümmertheit und Temperament ins Spiel bringt, sondern die Stücke von Lilburn und Farquhar in ihrer ganzen Tiefe und musikalischen Struktur ‚singend’ zum Leben erweckt.

Schon lange habe ich keinen so überzeugenden klassischen Gitarristen erlebt wie Gunter Herbig. Sein phänomenologisches Verständnis für die melodischen und harmonischen Abläufe, für rhythmische und klangliche Nuancen ist bemerkenswert. Außerdem lässt er den Tönen und Klängen die Zeit zur Entfaltung, schreckt auch vor Zäsuren nicht zurück, auf dass der Zuhörer das Neu-Entstehen von Musik wie in einer gelungenen Improvisation im Augenblick des Spiels mitvollziehen kann.
Natürlich gibt es bei 29 Stücken, die auf dieser CD versammelt sind, Lieblingsstücke und welche, die mir persönlich weniger zusagen. Aber sowohl vom Melodischen als auch vom Rhythmischen und Harmonischen her sind sie alle authentisch erlebt und äußerst musikalisch realisiert. Besonders gut gelungen scheinen mir die vier Canzonas von Lilburn und Prospero Dreaming von Farquhar.

Die Magie der Gitarre, seit eh und je ein Hauptaspekt dieses Instruments, kommt bei Gunter Herbig voll zum Tragen, aber abgesehen vom Instrumentalen entsteht eben auch wirklich Musik in ihrem ganzen Reichtum.
„Es gibt viele Prim-Geiger, aber nur einen Bream-Gitarristen!“ heißt ein  vielzitierter Satz über das „Problem“ Gitarre und ihre SpielerInnen. Mit Gunter Herbig und der neuen CD der beiden neuseeländischen Komponisten hat eine singulär überzeugende musikalische Vorstellung Gestalt angenommen, die mich – ich bin selber Sänger und Gitarrist – ganz besonders angesprochen und begeistert hat.

[Ulrich Hermann, Oktober 2015]

Nimm zwei

Alpha Classics CD 211; Outhere Music ; EAN: 3 7600141 192111

Ulrich2

PATRICIA KOPATCHINSKAJA
TAKE TWO
Duos from a thousand years of
musical history for young people
aged from 0 to 100

Music by
Jorge Sanchez-Chiong (*1969) Heinz Holliger (*1939) Leo Dick (*1976) Heinrich Ignaz Franz von Biber (1644-1704) Winchester Troper (early 11th century) John Cage (1912-1992) Darius Milhaud (1892-1974) Manuel de Falla (1876- 1946) Mauricio Sotelo (*1961) Orlando Gibbons (1583-1625) Guillaume de Machaut (ca. 1300-1377) Bohuslav Martinû (1890- 1959) Claude Vivier (1948-1983) Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Performed by
Patricia Kopatchinskaja violin, baroque violin & voice
Jorge Sanchez-Chiong electronics & turntables
Anthony Romaniuk Harpsicord & toy-piano
Reto Bieri clarinet, okarina & violin
Laurence Dreyfus treble viol
Matthias Würsch darbuka
Pablo Marquez Guitar
Ernesto Estrella voice

Alice muse & painting

Suchen Sie für Ihr Kind – falls es schon alt genug dafür ist – einen passenden Adventskalender für dieses Jahr? Hier ist er! Die neue CD der Geigerin Patricia Kopatchinskaja ist genau das Richtige, 24 Stücke vom 11. Jahrhundert bis heute, am Heiligen Abend dann als Höhepunkt Bachs „Chaconne“ aus der Partita d-moll für Violine solo, improvisierend begleitet am Cembalo vom Australier Anthony Romaniuk, der seine Kunst noch bei drei weiteren Stücken ( Biber, Cage & Martinu) zeigen kann. Natürlich spielt die moldawische Virtuosin all ihre Trümpfe aus, nicht nur musikalisch auf exzellentem Niveau, auch pädagogisch und im wunderhübschen, einfallsreichen Booklet, das schon fast ein richtiges Buch geworden ist, samt Erklärungen zu den einzelnen Komponisten, ihren Stücken, und einem Gespräch zwischen Mutter und Tochter à la Alice in Wonderland. Der Bogen, den uns diese CD spannt, reicht zurück bis in die Anfänge der Zweistimmigkeit im 11. Jahrhundert, wo ein Alleluja auf Geige und Diskantgambe – gespielt von Laurence Dreyfus, dem Leiter des hervorragenden Gamben-Ensembles „Phantasm“, der noch zwei weitere Male mit seinem Instrument zu Wort kommt – einen wunderbar entspannenden Kontrast zu Leo Dicks Entrée burlesque: Prelude to the music theatre piece «au contraire» bildet. Zu jedem der 24 Stücke hat sich Kopatchinskaja sicher ihre Gedanken gemacht, mit jedem der erwähnten Musiker spielt sie mit größtem Spaß und spürbarer Freude, die jedem aufgeschlossenen Zuhörer und sicher auch den angesprochenen Kindern gefallen wird. Der Schweizer Klarinettist Reto Bieri entzückt mich besonders bei Darius Milhauds «Jeu» (Vif) aus der Suite für Violine, Klarinette und Klavier op. 157B, an anderer Stelle spielt er Okarina oder sogar Geige, es ist eine Überraschung nach der anderen, womit diese CD aufwartet. Sogar Heinz Holliger ist mit drei Stücken mit von der Partie, eines davon nach einer kleinen Geschichte von Patricias Tochter Alice – auch die Rechtschreibfehler sind einkomponiert –, und die Mutter realisiert dieses originelle Werk mit ihrer Stimme und Geige. Am wenigsten gefallen mir persönlich die Stücke ihres Studienkollegen Jorge Sanchez-Chiong, der Elektronisches und Plattenteller mit ins Spiel bringt, aber das mag für andere Ohren anders und aufregender klingen. Auch Melodramatisches für Violine und Poet ad. lib. ist vertreten vom Spanier Mauricio Sotelo, der sich vom Flamenco beeinflussen lässt, dazu rezitiert Ernesto Estrella stimmgewaltig und hochdramatisch sein Poem „noche cerrada“. Ebenso ist Otto Matthäus Zykan – er spielte vor Jahren Schönbergs Klaviermusik ausgezeichnet ein –  dabei mit der Komposition „Das mit der Stimme“ von 2001 für Geige und Stimme.
Natürlich klingen die Stücke von Gibbons und Machaut für einen Renaissance-Liebhaber besonders schön, aber die Abschluss-Chaconne bringt dann doch noch ein ganz besonderes Erlebnis: Ein solch bekanntes Stück mit einem einfühlsamsten Begleiter neu zu entdecken und zu gestalten, das ist der Höhepunkt für den Heiligen Abend dieses musikalischen Advents-Kalenders, auch wenn er vermutlich gar nicht als solcher geplant und gedacht war und ist: Es gibt keine Zufälle, aber Fügungen! Und diese CD ist eine besonders schöne Fügung im Jahr 2015.

[Ulrich Hermann, Oktober 2015]

Eine kluge Wahl

CPO 777 740-2
EAN: 761203774029

5

August Klughardt (1847-1902)

Symphonie Nr. 4 c-Moll op. 57
Drei Stücke für Orchester op. 87

Anhaltische Philharmonie Dessau
Antony Hermus

Dass durch die CD der musikalische Kosmos sich enorm erweitert und vergrößert hat, gehört zu den Segnungen diese Mediums (auch wenn die Vinyl-LP bei einigen Enthusiasten wieder auf dem Vormarsch ist).
Zu diesen unzähligen Neuentdeckungen zählt auch die Produktion von CPO mit zwei Werken des Dessauer Komponisten August Klughardt (1847-1902). Das wieder einmal lobenswert umfassende, von Ronald Müller kenntnisreich verfasste Booklet verdeutlicht den Werdegang und das musikalische Umfeld des heute bis auf sein spätes Bläserquintett nahezu unbekannten Komponisten, der immerhin Anhaltischer Hofkapellmeister war und als glühender Wagner-Verehrer 1893 eine erste zyklische Aufführung des „Ring der Nibelungen“ in Dessau auf die Bühne brachte.
Sogar in New York erklang seine Vierte Symphonie 1893 drei Monate vor der Neunten von Antonín Dvorák!

Die Kritik bescheinigte Klughardt erstaunliches kontrapunktisches Geschick, was man beim Mitlesen der Partitur – sie ist bei IMSLP einzusehen – auch sehr gut nachvollziehen kann. Überhaupt hinterlässt Klughardts Werk einen durchaus überzeugenden Eindruck. Die Melodik des zweiten Satzes (Andante cantabile) ist von reicher Erfindung, wie auch die Kritik nach der Uraufführung bescheinigte. Seine Instrumentation ist natürlich von seinen Vorbildern nicht unbeeinflusst, die intensive Verwendung der Blechbläser und der poetisch bewegliche Einsatz der Holzbläser erinnern an Dvorák, stellen aber mitnichten eine Kopie dar. Klughardt ist ein konservativer Meister der Generation zwischen Brahms und Bruch einerseits, Strauss und Mahler andererseits, mit offenem Geist zwischen den Zeiten tätig.

Was immer wieder erstaunt, ist und bleibt die Verwirklichung der Partitur – zu einer Zeit, als es weder Notendruckprogramme noch Computer gab, alles musste also händisch zu  (Noten)Papier gebracht werden – in klingende Strukturen, in mitnehmende und ansprechende Musik. All das wieder aufleben zu lassen, ist bei dieser Aufnahme mit dem holländischen Dirigenten Antony Hermus und der Anhaltischen Philharmonie dem Label CPO wieder einmal sehr gut gelungen, das Klangbild ist wunderbar eingefangen, der Reichtum des Orchesterklangs und die transparente Vielschichtigkeit des Satzbildes machen die bislang ziemlich vergessene Musik von August Klughardt zu einer bemerkenswerten Neu- und Wiederentdeckung.

Die drei Orchesterstücke op. 87 – einer Gönnerin des Orchesters gewidmet – sind leichtere Kost, die jedoch Klughardts Kunst auch ansprechend widerspiegelt. Besonders die Harfe im ersten Stück bringt eine aparte, bei diesem Komponisten selten anzutreffende Farbe ein, der er viel Raum gibt. Das zweite Stück, eine Gavotte, haucht der vorklassischen Tanzform neues Leben ein, ohne allzu sehr in die Tiefe zu gehen, doch auch da verdient die brillante Instrumentation Erwähnung. Ausnehmend gut gelaunt kommt die abschließende Tarantella daher, leichtfüßig und schwungvoll beschließt sie diese Orchester-Suite.

[Ulrich Hermann; Oktober 2015]

Respighi in neuem Licht

BIS – 2130 SACD

 Respighi

Ottorino Respighi (1879-1936)

Metamorphoseon (1930)
Ballata delle Gnomidi (1920)
Belkis, Regina di Saba, Suite (1934)

Orchestre Philharmonique Royal de Liège
John Neschling, conductor

Respighi? Wer ist denn das? Und gibt es von dem außer der Römischen Trilogie und der Antiche Danze ed Arie-Streichersuite überhaupt noch was? So eine Frage kann auftauchen, wenn es um die italienische Musik des frühen 20. Jahrhunderts geht. Na klar, Puccini mit seinen Opern, Mascagni, Leoncavallo, überall weltweit gespielt, aber Respighi?

Wie gut, dass diese neue CD mit solchen Unkenntnissen gründlich aufräumt, denn was das Orchestre Royal aus Liège (Lüttich) da präsentiert, ist allerbeste und wohlklingendste Musik eines Komponisten, dessen Werke leider immer noch allzu unbekannt sind. Das sehr ausführliche Programmheft weist auf seinen späteren Einfluss auf – vor allem – Filmkomponisten hin, denn Respighis Instrumentations-Kunst ist einfach umwerfend, hat er ja auch von Rimsky-Korsakoff entscheidende Anregungen bekommen. Ravel und Einflüsse von Strauss und Debussy sind zu hören, aber vor allem eine durch und durch melodiöse, oft auch überbordend rhythmische Struktur zeichnet diese Musik aus.

Wie ja Respighi die Anregungen von überall her aufgriff, was besonders bei seiner orientalisierenden Ballett-Suite Belkis von 1934 zu hören ist. Tanz war sicher eine der anregendsten Quellen für seine Musik, wofür die effektstrotzende Tondichtung „Ballata delle gnomidi“ von 1920 ein fesselndes Beispiel bietet.

Das Hauptwerk auf dieser CD ist das 1930 komponierte „Metamorphoseon“, Tema con variazioni, ein monumental aufgebautes Stück, das Respighis Meisterschaft der Orchester-Behandlung so deutlich werden lässt, dass ich mich frage, warum es nicht unzählige Orchester als Bravourwerk im Programm haben, es müsste für die Musiker eine Wonne sein, es spielen zu dürfen.

Die Aufnahme-Technik dieser hörenswerten CD ist bemerkenswert, lässt sie doch den ganzen Klangreichtum und die Fülle, die das Orchester unter seinem – in Brasilien geborenen und dort auch tätigen –Dirigenten John Neschling aufzubieten weiß, überzeugend in die Ohren und in das für diese „süffige“ Musik offene Gemüt dringen.

Vom Gesamtwerk dieses „europäischen“ Komponisten kommen hoffentlich noch viele, bislang unterschätzte Schätze zunehmend ans CD-Licht.

[Ulrich Hermann, August 2015]