Alle Beiträge von Ulrich Hermann

Frauenrollen und Frauengestalten

Carattere di Donne
Frauenrollen und Frauengestalten bei Schubert, Rossini und Verdi

Cornelia Lanz, Mezzosopran

Stefan Laux, Klavier

Hänssler Classic
HC16019
8 81488 126019 2

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Merkwürdig! Sonst wird üblicherweise bei einer Aufnahme für Gesang und Klavier zuerst die singende Person genannt, dann der „Begleiter“ oder die „Begleiterin“. Nicht so in diesem Booklet: Hier lässt sich der Pianist Stefan Laux ausgiebig und exklusiv über die Wichtigkeit der Klavierbegleitung und des Klavier bei Schubert aus, dann kommt – nach den notwendigen Texten, denn wie üblich verstünde man den gesungenen Text ohne Beilage kaum – dazu nachher mehr! – der ausführliche Lebenslauf des Begleiters, bevor am Schluss die eigentliche Hauptperson der CD, die Sängerin Cornelia Lanz, zu ihrem Recht kommt. Wobei ihre Beschreibung wieder einmal –wie so oft – primär aus name-dropping besteht, mit wem sie schon berühmterweise zusammen sich hat hören lassen und welche Berühmtheit sie folglich eigentlich ist.  Das also ist der erste Eindruck, der sich leider beim Anhören nur bestätigt: Die Klavierbegleitung drängt sich bei fast allen Schubert-Liedern ungebührlich in den Vordergrund, obwohl sie – bei allem wohlverdienten Anspruch – doch eben der „Begleitung“ des Sängers, der Sängerin zu dienen hat; außer an den Stellen – die es natürlich gibt –, wo das Klavier fortführt, entscheidend kommentiert oder ergänzt.

Dass die sehr genauen Dynamik-Vorschriften und Tempovorgaben  – wobei zu berücksichtigen ist, dass die Musiker von damals keine höheren Geschwindigkeiten kannten als ein galoppierendes Pferd, und weder Radio noch TV noch CD oder sonstiges Entertainment hatten –  vom Pianisten und der Sängerin oft nicht oder nur teilweise beachtet werden, ist zudem fragwürdig – es gibt bei Schubert, vor allem, wenn man die damaligen Klaviere mit  berücksichtigt, vom ppp bis zum fff alle Stufen mit sämtlichen Zwischenwerten,  auch bei den Tempoangaben ist Schubert ungemein vielseitig und genau, aber das scheinen für die Aufführenden nur Marginalien zu sein. Und natürlich ist beim heutigen Gesangsunterricht die Stimme das Wichtigste, die Poesie oder das Wort sind zumindest sekundär, wenn nicht völlig ausgeklammert. Aber Musik und Poesie sind Geschwister, und vor allem beim Lied bilden  die beiden im idealen Fall zusammen einen Gipfel und nicht einen Berg, bei dem die eine Flanke, nämlich die Musik das Übergewicht haben soll, sonst entsteht statt eines Gipfels nur eine seltsame Abplattung. Hans Gal beschreibt in seinem Buch „Schubert und die Melodie“ (dem meines Erachtens besten Buch über Franz Schubert) solch ein „Gipfelerlebnis“ als Ziel jeglichen Liedgesangs. Die Sentenz „prima la musica è poi le parole“ mag bei der Oper eine gewisse Berechtigung haben, aber beim Lied ist diese Reihenfolge völlig verfehlt. Man bedenke nur, wie normalerweise vom Text die Energie zur Vertonung ausgeht, wie also das Gedicht das Primäre ist, dann gesellt sich die Musik dazu, im allerbesten Fall – wie eben bei Schubert und ähnlichen Liedmeistern – als gleichberechtigte Schwester, aber nicht als übergeordnete „Herrscherin“. Und auch heute noch machen Sänger wie Herr Gerhaher deutlich, wie solch ein Gipfelerlebnis sich anhören kann.

Im Großen und Ganzen ein zwar interessantes Thema für eine Lieder-CD, aber vom Begleiter und auch von der Sängerin kein „Gipfelerlebnis“!

[Ulrich Hermann, März 2016]

cpo schlägt wieder zu

Friedrich Gernsheim  (1839-1916)

Violinkonzert Nr. 1 op. 42 in D-Dur
Fantasiestück für Violine und Orchester op. 33 in D-Dur
Violinkonzert Nr. 2 op. 86 in F-Dur

Linus Roth, Violine
Hamburger Symphoniker
Johannes Zurl

cpo 777 861 – 2
7 61203 78612 1

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Friedrich Gernsheim? Nie gehört!
Und wieder hat cpo „zugeschlagen“ und eine CD veröffentlicht, die grandiose unbekannte Musik bereithält. „Das Wichtigste in der Musik, mein Freund, ist die Melodie!“, soll Gioacchino Rossini zu Gernsheim in Paris gesagt haben. Gernsheim hat sich daran gehalten, denn seine drei Kompositionen auf dieser CD – die beiden Violinkonzerte und das Fantasiestück für Violine und Orchester – stecken voller erinnerungswürdigen Melodien – welch eine wunderbare Neuentdeckung eines Komponisten, an dem sich sicher viele seiner Vorbilder fest machen lassen, der aber doch einen ganz eigenen Stil und seine ureigensten Klänge und musikalischen Strukturen komponiert hat, die äußerst ansprechend und mitreißend sind.

Schon der Anfang des ersten Konzerts, bevor der Solist – hervorragend Linus Roth! – nach 54 Takten einsetzt, sind überraschend und machen neugierig auf das, was folgt. In Satz 1 und 2 hat der Solist Gelegenheit, in zwei brillianten Kadenzen seine ganze Kunst und sein Können zu zeigen. Von D-Dur im ersten Satz moduliert der zweite nach E-Dur, und dann ist H-Dur dran, also nicht allzu klassisch. Wobei dem Komponisten, der schon früh als Wunderkind auf Klavier und Geige reüssierte – das Booklet von Jens Laurson gibt reiche Auskunft über Weg und Schicksal des Komponisten –, das allzu Klassische vermutlich kaum wichtig gewesen sein dürfte. Seine Musik klingt jedenfalls so überzeugend und frisch, dass es hoffentlich bald viele weitere CDs mit Musik von Friedrich Gernsheim geben wird.

Auch das Fantasiestück op. 33 für Violine und Orchester ist eine gelungene, melodiöse Komposition, und ganz besonders das zweite Violin-Konzert op. 86 in F-Dur, das mit einer unerhört spielfreudigen und bewegenden Musik aufwartet. Der dritte Satz ist ein richtiger rhythmischer und  virtuoser „Reißer“.

Wie gut, dass der interessierte Hörer, die interessierte Hörerin vieles von Gernsheim via Internet mitlesen oder sogar ausdrucken kann, das gibt doch einen ganz anderen Einblick in die Kompositionen, in die Potenziale dieser Musik. Zusammen mit den engagierten Plattenfirmen wird so der sowieso schon riesige Kosmos der Musik auf erfreuliche und oft überraschende Weise erweitert, auch wenn der allgemeine Musikbetrieb – von wenigen Ausnahmen abgesehen – immer noch die gleiche Repertoire-Einfalt breit und breiter vor sich herschiebt. Aber freuen wir uns über das Erfreuliche, denn dort liegt die Zukunft, auch wenn sie vor langer Zeit ins Leben gerufen wurde. Neben Mendelssohn, Schumann, Brahms, Bruch, Strauss, Busoni und Pfitzner, auch den großen Außenseitern Hermann Goetz und Hans Huber, hat das deutschsprachige Musikleben der romantischen Epoche so wunderbare Violinkonzerte wie die beiden Gernsheim’schen hervorgebracht, das lässt uns beinahe ungläubig staunen, wie hoch die Qualität des Wiederzuentdeckenden sein kann.

[Ulrich Hermann, März 2016]

Theorien und hohle Felsen

hohler fels
new works for flute

Karin de Fleyt, Flöten

Peter Mercks, Klarinetten und Bassklarinette
Jakob Fichert, Klavier
RNCM Wind Orchestra, Mark Heron

Rolf Gehlhaar *1943
Grand Unified Theory of Everything
for piano, bass & alto flute and bass &alto clarinet (15:59)

Christopher Fox *1955
stone, wind, rain, sun (10:43)

Paul Goodey *1965
Hohler Fels (37:39)
Concerto for bass flute, alto flute, C flute, piccolo and wind orchestra

Métier msv 28555
8 09730 85552 8

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Vom ersten Ton an schlägt mich die Musik von Rolf Gehlhaar in Bann, und das bleibt so bis zum letzten verklingenden Klavierakkord. Was da die drei Instrumente an Tönen, Klängen, Spannungen und Zusammenhängen entstehen lassen, ist magisch. Natürlich haben die verschiedenen Blas-Instrumente , die Bass- und die Alt-Flöte, die Bass- und die Alt-Klarinette neben den verschiedensten Klavierklängen daran größten Anteil, aber mitnehmend ist vor allem der musikalische Bogen, der entsteht vom ersten bis zum letzten Ton.

Rolf Gehlhaar, in Schlesien geboren und mit den Eltern und Geschwistern 1953 in die USA ausgewandert, war jahrelang als Assistent bei Karlheinz Stockhausen tätig. Er selbst schreibt im – leider nur englischsprachigen Booklet – über die Inspiration und Idee zu dieser Komposition: „Es ist der musikalische Versuch, die endgültige Weltformel [so die Übersetzung für Grand Unified Theory] für eben alles und jedes zu finden oder wenigstens musikalisch zu kreieren. Wobei Gehlhaar betont, dass es lediglich „snapshots“ sein können, die ihn angeregt haben.

Leider gilt das gleiche Faszinosum für die beiden anderen Kompositionen nicht – wenigstens, was meine subjektive Wahrnehmung und Empfindung angeht. Ich finde 10 Minuten lange, wenngleich verstärkte, Klappen- und Atemgeräusche als „Musikstück“ einfach nur „boring“, wie der Engländer sagen würde. Und Effekte jeglicher Art nützen sich ungeheuer schnell ab, wenn dahinter keine andere Idee steckt als einzig dem sinnlichen Reiz huldigendes scheinbar Neues oder Originelles, dann langweilt das nur.

Vom dritten Stück habe ich mir aufgrund der Enstehungsgeschichte und des Titels mehr erhofft, aber mir erschließt sich dieses Concerto trotz des großen Aufwandes nicht. Natürlich spielt die Solistin fabelhaft und auch alle anderen Musiker sind gefordert und erweisen sich als Könner. Allein die Komposition, trotz einiger atmosphärisch bezwingender „Höhlenklänge“, vermittelt keine eigentliche Idee oder Struktur über die Klangerzeugung hinaus. Und ausschließlich clusterhafte Klangballungen ergeben eben noch keinen Zusammenhalt oder  etwas, was mich als Hörer tatsächlich erreichte und anspräche. Schade!

[Ulrich Hermann, März 2016]

Guitar Gala Night

Guitar
GALA NIGHT
Amadeus Guitar Duo . Duo Gruber & Maklar

Michael Praetorius (12571-1621)
Luigi Boccherini (143-1805)
Mauro Giuliani (1781-1829)
Dale Kavanagh (geb. 1968)
Manuel de Falla (1876-1946)
Alexander Borodin (1833-1887)

Naxos 8.551370
EAN: 7 30099 13703 4

„Klang ist noch keine Musik! Klang  k a n n Musik werden!
(Sergiu Celibidache 1914-1996)

So lautet das Fazit über diese CD mit nicht nur zwei, sondern sogar vier Gitarren. Das klingt – wie man seit den „Los Romeros“ weiß – sehr beeindruckend. Wenn schon eine Gitarre – Meister Julian Bream zeigte es immer wieder in seinen Konzerten – so schön klingt, wie  dann erst deren vier!

Aber leider ist dem eben nicht so, denn schön klingen heißt noch nicht gute Musik, dazu gehört eben doch mehr als schnelle Finger und rauschende Akkorde wie z. B. beim alten Schlachtross Boccherini und seinem „Fandango“- Aber wenn es dann ans Eingemachte – sprich Mauro Giulianis op. 130 geht, ein Thema mit Variationen, dann reichen eben 10:14 Minuten Spielzeit keinesfalls, um diese wirklich klassische Musik entstehen zu lassen. Alles wird in rasendem Tempo vorgeführt, die Melodik wird völlig vernachlässigt, es wird bloße Fingerfertigkeit demonstriert,  Klang bleibt Klang, auch da nicht besonders schön oder erlebt, einfach ausgeführt. Wer wissen und hören möchte, wie das Stück klingen kann, höre sich die Aufnahme mit Vater und Sohn Romero an, die „brauchen“ für dasselbe  Stück nämlich nicht nur dreieinhalb Minuten länger , sondern lassen auch „ gelassen“ die Musik entstehen, die übrigens in jedem Stück von Mauro Giuliani versteckt ist. Aber die harrt bis heute – wenigstens bei den meisten Gitarristen – noch auf die adäquate Entdeckung.
In einer Kritik schrieb einmal jemand: „Die Gitarristen mögen sich doch bitte nicht so anstrengen! Ein MG ist halt doch immer noch schneller!“

Aber die Vier werden ihren Weg schon machen, allein die beeindruckenden Worte über die eigene Leistung  im Booklet sprechen Bände und „Mainstream“ sind sie ja allemal, wie die Auswahl bekannter „Reißer“ auf dieser (überflüssigen) CD beweist. Aber allein der Anblick von vier Gitarre spielenden Nichtmusikern reicht den  meisten Besuchern aus, das klingt auch noch schön, ist superschnell exekutiert und alles andere – die Musik zum Beispiel – ist dann egal.

(Nachsatz: Das DING heißt ja leider nicht ganz umsonst im allgemeinen Sprachgebrach „Klampfe“ und am Lagerfeuer ist es heiß begehrt. Aber Musik diesen sechs Saiten zu entlocken ist eine verdammt schwierige und mühsame Angelegenheit. Als Sänger und Gitarrist, der ich selber bin, maße ich mir dieses persönliche Urteil über diese CD an.)

[Ulrich Hermann  Februar 2016]

Wiener Klassik mit der Wilden Gungl

Samstag, 5. März 2016 Herkulessaal

Wiener Klassik

Marie-Luise Modersohn, Oboe
Michele Carulli, Dirigent
Symphonieorchester Wilde Gungl München

Franz Schubert (1797-1828)
Ouvertüre C-Dur op.26 D 644
zu „Die Zauberharfe“ (später „Rosamunde“)
Andante – Allegro vivace

Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
Konzert für Oboe und Orchester
C-Dur KV 314

Allegro aperto
Adagio non troppo
Rondo Allegretto

Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Symphonie Nr. 4
B-Dur op. 60

Adagio – Allegro vivace
Adagio
Allegro vivace
Allegro ma non troppo

Beethovens „Vierte“ innerhalb eines Jahres drei Mal in München? BR-Symphonie-Orchester mit Herbert Blomstedt, Bruckner Akademie Orchester unter Jordi Mora, und nun – im vollbesetzten Herkulessaal der Residenz die „Wilde Gungl“ unter ihrem neuen Chefdirigenten Michele Carulli.  Dazu vor der Pause Schuberts Ouvertüre zu „Rosamunde“  und Mozarts Oboenkonzert KV 314, das ganze Konzert unter dem Titel „Wiener Klassik“ Ein hoher Anspruch also, man durfte gespannt sein…
Dass Michele Carulli nicht nur ein exzellenter Solist auf der Klarinette ist, hatte er im Sommerkonzert im Brunnenhof schon glänzend bewiesen. Aber was er mit dem Orchester in den vergangenen Monaten ge- und erarbeitet hat, das war mehr als deutlich zu hören. Mit „anima e corpore“ hatte ich damals geschrieben, um sein Dirigieren zu charakterisieren. Allerdings hatte er diesmal alle Hände frei, und schon beim ersten Stück, der scheinbar allzu bekannten Ouvertüre zu Schuberts „Rosamunde“, bekam man den Eindruck, dass dieses Stück nicht nur melodienselig daherkommt, sondern eben auch sehr temperament- und kraftvoll. Schubert hatte – wie im sehr informativen Programmheft zu lesen war – sein Können schon vorher an zwei Ouvertüren italienischen Typs erprobt, kein Wunder also, dass diese Musik voller Elan und Feuer ist.
Und noch etwas war mir beim Zuhören aufgefallen: Waren die Streicher- und zwar alle von hoch bis tief –  wirklich so weich und dennoch intensiv, wie es mir vorkam? Nicht, dass sie in den vergangenen Konzerten nicht gut gespielt hätten, aber da war etwas Neues zu hören, etwas Verändertes!
Beim Mozart’schen Oboenkonzert würde man ja weitersehen!
Als die junge Solistin in ihrem langen roten Kleid die Bühne betrat, hatte sich das Orchester ein wenig auf „Mozart-Maß“ verkleinert.  Marie-Luise Modersohn ist seit 2005 Solo-Oboistin der Münchner Philharmoniker. Schon im ersten Satz, dem Allegro aperto, wurde deutlich: das Orchester – trotz seines martialischen Namens „Wilde Gungl“ – war alles andere als wild, sondern begleitete die Solistin mit der größtmöglichen Delikatesse. Es wurde eine Sternstunde. Das Spiel der Oboistin war samtweich und melodisch, nie schrill oder unangenehm näselnd, sondern klangschön und hingebungsvoll, so schön, wie Mozarts Musik eben nur sein kann. In aller aufmerksamsten Gelassenheit bescherte das Orchester unter seinem Dirigenten Michele Carulli den drei Sätzen das Silbertablett, wie eine gute Begleitung eben sein kann und sollte. Natürlich weiß Carulli als Bläser, wie sich ein Solist die ideale Begleitung wünscht und vorstellt. Das – vor allem natürlich im klangschönsten singenden zweiten Satz – gelang ausnehmend gut, dazwischen immer wieder die kleineren oder größeren Kadenzen der Solistin, einfach wunderschön. Tosender Beifall, den Marie-Luise Modersohn mit einer Zugabe – einem der fünf Stücke für Oboe solo von Benjamin Britten (1913-1976) nach Metamorphosen von Ovid, nämlich „Pan“ – „belohnte“.  Und es war wirklich etwas Neues im Klang der Streicher, wie deutlich wurde.
Nach der Pause dann die vierte Symphonie von Ludwig van Beethoven, die Schumann ja einmal „eine griechisch schlanke Maid zwischen zwei Nordlandriesen“ genannt hat.
Aber was die „Wilde Gungl“ und Michele Carulli da zu Gehör brachten, war alles andere als ein Zwischenspiel zwischen der Dritten (Eroica) und der Fünften (Schicksalssymphonie). Schon der Beginn des ersten Satzes – geteilt in ein einleitendes Adagio und ein heftiges Allegro vivace – machte klar, dass hier Beethoven und nicht etwa ein anderer Symphoniker zu hören war. Diese Energie, diese unmittelbaren Abbrüche und Aufschwünge, diese Übergänge vom Energischsten zum fast unbewegt Ruhevollen, seine ausgefeilte Melodik und die das ganze Orchester souverän einsetzende Instrumentation und Harmonik, das ist stets aufs Neue bewegend und erhebend.  Der zweite Satz schwelgt natürlich in himmlischen Gefilden, was mich immer wieder davon überzeugt, dass Beethoven eben doch einer der größten Melodiker war und ist.
Die rhythmischen Vertracktheiten des dritten Satzes sind für ein klassisches Scherzo noch immer verwirrend und Rätsel aufgebend: Ist es nun ein Menuett oder eben doch ein „Zwiefacher“? Jedenfalls entfesselte der Dirigent mit all seinem Temperament und seiner Energie das gesamte Potential an Klang und Rhythmus in diesem Satz.
Konnte noch mehr kommen? Ja, es kam ein Finale von überschäumendem Temperament, wie es im Programmheft hieß. Und das kam dann auch, Michele Carulli verdeutlichte mit all seinem Einsatz, welch eine ungeheure Energie diese Beethoven’sche Musik in sich birgt und wie man sie – das Orchester „Wilde Gungl“  und sein Dirigent  – beschwört und erlebbar macht.
Riesengroßer Beifall, Bravo-Rufe, die eine Zugabe nach sich zogen, nämlich nochmal die Reprise des vierten Satzes, mit einer kurzen Unterbrechung, in der Michele Carulli auf die Bedeutung der Beethoven’schen Musik hinwies und sich sehr eindrucksvoll bei „seinem“ Orchester bedankte. Wenn das so weiter geht, wächst da ein nächstes – nicht mehr zu überhörendes und übersehendes – großes Orchester in der Münchner Musik-Landschaft heran, und das kann dieser Stadt und ihren Zeitungen ja nur gut tun.

[Ulrich Hermann, März 2016]

Zu den Wurzeln

Martin Fröst
Roots
The Royal Stockholm Philharmonic Orchestra

Verschiedenste Stücke verschiedenster Couleur

Sony Classical 88875065292

8 88750 65292 8

Ulrich0018

Voilà! La Musique!  Vom ersten Ton auf dieser CD mit dem schwedischen Klarinettisten – und Ausnahme-Musiker – Martin Fröst bis zum letzten: einfach nur Musik! Aber was für eine! Von alten Griechen – Seikilos-Epitaph – über Georg Philipp Telemann (1681-1767), über schwedische Folklore, jiddische Klezmer-Musik, Bernhard Crusell (1775-1838), einem der Ahnväter der schwedisch-finnischen  Musik, Johannes Brahms (1833-1897), Robert Schumann (1810-1856), Béla Bartók (1881-1945), Manuel de Falla (1876-1946), Astor Piazzolla (1921-1992) bis hin zu zeitgenössischen schwedischen Komponisten wie Göran Fröst (geb. 1974), Anders Hillborg (geb. 1954) und dem Letten Georgs Pelècis (geb. 1947) brennt dieser „Klarinetten-Spieler“ ein musikalisches Feuerwerk vom Hinreißendsten ab, aufgenommen  in hervorragender Klangqualität, was einem immer wieder staunende Bewunderung „abnötigt“. Er selbst beschreibt seine „roots“, also die Wurzeln seines Musizierens als riesigen Bogen von ersten Tönen bei den alten Griechen bis zu rein Improvisatorischem. Diese Wurzeln öffnen für Martin Fröst eben auch dadurch die Türen für eine Musik der Zukunft, wie sie sein großer Landsmann, der schwedische Komponist Anders Eliasson (1947-2013), in seinen Kompositionen schon aufgestoßen hat. Vielleicht hören wir demnächst auf einer neuen CD diesen wunderbaren Musiker einmal mit den grandiosen Klarinettenwerken von Eliasson, und dürfen Zeugen sein, wie beide durch dieses Tor durchgehen und uns einen musikalischen Ausblick in eine noch unerschlossene Zukunft der Menschheit ermöglichen.
Ob mit einer der ältesten überlieferten Melodien, dem griechischen Seikilos-Lied, dem sich  ein Stück von Hildegard von Bingen nahtlos anschließt, ob Stücke aus der schwedischen Folkore oder Klassisches vom finnisch-schwedischen Komponisten Bernhard Crusell zusammen mit dem Royael Stockholm Philharmonic Orchstra, die 5 Stücke im Volkston von Robert Schumann oder Rumänische Tänze von Béla Bartók oder aber Stücke im Blues-Charakter oder tangoähnliche von Astor Piazzolla oder Georgs Pelécics, immer überzeugt die überwältigende Spielfreude und musikalische Präsenz des Martin Fröst, man kann sich beim Hören nicht enthalten, selber ins Tanzen zu kommen, wie es dem Klarinettisten ja auch beim Spielen auf dem blauen Coverbild zu überkommen scheint. Musica vincit omnia – wie der alte Lateiner sagt.
Natürlich könnte ich über jedes dieser Musikstücke auf der CD seitenlang schwärmen, aber am besten ist es, diese CD sofort selber anzuhören, sie ist es im allerhöchsten Maße wert und zeigt die immerwährende Kraft wahrer Musik als einer diese Welt wenigstens eine Zeit lang transformierende musische Möglichkeit. Die Hoffnung stirbt – glücklicherweise – immer noch zu allerletzt.

[Ulrich Hermann, Februar 2016]

Im Zwiespalt

David Pia
Münchner Rundfunkorchester / Ulf Schirmer

Eugen d’Albert (1864-1932)
Konzert für Violoncello und Orchester C-Dur op. 20 (1899)
Max Bruch (1838-1920)
Kol Nidrei für Violoncello und Orchester op. 47
Ernst von Dohnányi (1877-1960)
Konzertstück D-Dur für Violoncello mit Orchester op. 12 (1903/04)
Max Bruch
Canzone für Violoncello und Orchester op. 55 (1891)

Farao Classics    B 108089
4 025438 080895

Ulrich0017

Diese CD hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Einerseits ist die Musik in allen Stücken wunderschön und ungeheuer melodisch, was ja auch  d i e  Stärke des Instruments Violoncello ist – kein Wunder, dass der einzig mich überzeugende Gitarrist, nämlich Julian Bream, eben einst auch Cello studiert hat, weswegen er auch wusste, wie man auf der klassischen Gitarre melodiös spielt, ganz im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen. Und alles, was den Solisten David Pia (geb. 1982) angeht und sein Spiel auf dem Stradivari-Cello von 1698, das ist absolut überzeugend in allen Bereichen, tonlich, gesanglich, emotional und musikalisch bewegt und bewegend, wie man es sich eigentlich nicht besser wünschen kann. Und zu allermeist ist auch die Begleitung des Münchner Rundfunkorchesters unter Ulf Schirmer technisch adäquat, besonders in den leisen Stellen, im piano oder pianissimo. Wird es aber laut, dann fährt einem der Schreck in die Glieder, den da entsteht an manchen Stellen einfach undifferenzierter Lärm. Von Struktur oder erkennbarem musikalischem Aufbau kann dann gar nicht mehr die Rede sein.  Beispiel: zweiter Satz der Canzone von Max Bruch, wo das Orchester an einer Forte-Stelle einfach „losplärrt“, schade!
Auch die Pauke im letzten Satz spielt leider einfach nur zusammenhangslose Noten, und differenziert den Dreier-Rhythmus überhaupt nicht, sind ja doch alles gleiche Noten, die da stehen – nein, von wegen!!
Auch fällt auf, dass an Stellen, wo eine Phrase oder ein Akkord im Orchester wiederholt wird, oft einfach nur dasselbe starr wiederholt wird, statt es  w i e d e r  zu holen, denn es gibt prinzipiell in der Musik keine Wiederholung, sondern ist etwas physikalisch scheinbar gleich, dann ist das zweite Mal doch nie unbeeinflusst vom erstmaligen Erklingen.
Aber das ist wohl für viele Musiker viel zu viel der Vertiefung, und solche Gedanken – das hält ja nur vom Üben ab!
Andererseits ist die Musik so überzeugend in den meisten Momenten, dass diese CD über weite Strecken eben nicht mit den altgedienten Cello-Schlachtrössern prunkt, sondern den Hörer mit Musik bekannt macht, die es verdient, öfter im Konzert gehört zu werden – was jetzt nicht für Kol Nidrei von Max Bruch gilt, das ja durchaus schon lange ein „Reißer“ ist. Aber für das wunderschön melodiöse Konzert von d’Albert und das – längere! – mächtige Konzertstück von Dohnányi gilt das natürlich nicht, das ist eine echte Bereicherung im Repertoire.

[Ulrich Hermann, Februar 2016]

Kinderlachen

Carl Reinecke (1824-1910)
Die wilden Schwäne op. 164
Dichtung nach Hans Christian Andersens Märchen von Karl Kuhn
Für Soli, Frauenchor, Harfe, Cello, zwei Hörner, Klavier und Deklamation

Kirsten Labonte, Sopran
Gerhild Romberger, Alt
Markus Köhler, Bariton
Shuang Shi, Sopran
Rebecca Blanz, Mezzosopran
Christian Kleinert, Erzähler

Mirjam Petri, Harfe
Hugh McGregor, Cello
Norbert Stertz und Peter Gulyka, Horn
Schwanen-Ensemble Hagen Enke, Ensembleleitung

Peter Kreutz, Klavier

CPO 777 940-2
7 61203 79402 7

Ulrich0016

Carl Reinecke (1824-1910) gehört mit seinem reichen kompositorischen Schaffen (es sind fast 300 Opera) zu den Vergessenen. Obwohl er nicht nur als Pianist, Dirigent und Komponist, sondern auch als Musikschriftsteller tätig war, ist seine Musik – bis auf wenige Ausnahmen – aus dem Repertoire verschwunden.  Umso begrüßenswerter ist die vorliegende cpo-CD, zu der auch ein sehr informatives Booklet wie selbstverständlich gehört.  Eine Märchenoper nach Hans Christian Andersen (1805-1875) ist natürlich ein zutiefst romantisches Sujet und nur eines der vielen Märchenstücke, die Carl Reinecke in Musik setzte.

Die Besetzung der wenigen weiteren Instrumente neben dem Klavier ist ad libitum und der Chor ist ein kleiner Frauenchor, so dass einer Aufführung im erweiterten häuslichen Rahmen wohl nichts im Wege stand. Wären da nicht die Solorollen oder der Erzähler.

Hätten in einer Privatwohnung unter den Zuhörerinnen und Zuhörern nämlich auch Kinder gelauscht, sie wären spätestens bei der ersten Arie der Königin in hysterisches Lachen ausgebrochen – ungeachtet einer guten oder schlechteren Erziehung. Und so ist es leider mit dem ganzen Stück auf dieser CD: Die völlig verkünstelte – fast opernhafte – Inszenierung, noch dazu mit einem fürchterlich langweiligen und uninspirierten Erzähler, erweist der Komposition einen echten Bärendienst.

Wer sich die Aufnahme zum zweiten Mal anhört, muss entweder ein Fan eines der Darstellerinnen oder der Darsteller sein, oder gerade diese Art von Märchen-Oper besonders lieben. Nicht, dass die Musik nicht ihren Reiz hätte, auch die Instrumentation ist durchaus passend und hörenswert, aber diese „verbildete“ Art des Gesangs ist für eine damals für gutbürgerliche Kreise auch von seinem Schöpfer gedachtes Werk alles andere als zielführend. Vibrato in allen Ehren – oder eben eher nicht –, aber die spontane Reaktion eines Kindes auf solch eine „Opernstimme“ ist vorhersagbar staunendes Lachen oder gar Entsetzen. Weniger wäre auch hier sehr viel mehr und würde den tatsächlichen Reiz dieses Märchen-Musicals nicht nur erhöhen, sondern überhaupt erst hörbar machen.

Da könnten sich viele der heutigen, mit viel zu hohen Ansprüchen aufgeladenen Inszenierungen sogenannter Kinderopern ein gutes Stück von den Musical-Darstellern und ihren Bühnenfassungen abschauen, falls sie sich nicht ein Beispiel nähmen an adäquaten – meist amerikanischen – Verfilmungen solcher Stoffe.

Schade, denn die Musik ist sehr ansprechend in ihrer (auch in den Chorpartien) teils einstimmigen, immer eingängigen Melodik, auch die obligate – natürlich schlichte – Klavierbegleitung, die das Orchester vor allem dann ersetzt, wenn die anderen vorgesehenen Instrumente, also Harfe, Cello und zwei Hörner, nicht zur Verfügung stehen sollten, ist hörenswert und bindet das Ganze zusammen. Die mögliche „Orchestration“ erweist sich durchaus als Bereicherung des romantischen Kolorits und weist den Komponisten als erfahrenen Musiker aus. Schließlich war er dreißig Jahre lang Kapellmeister des Leipziger Gewandhaus-Orchesters.  Bleibt als Fazit:  Sängerisch und sprecherisch hätten der dichterische Stoff und die Komposition eine hochklassigere Aufführung verdient.

[Ulrich Hermann, Februar 2016]

Vier Quartette

Szymanowski Quartett Moskau
Andrej Below, Violine
Grzegorz Kotów, Violine
Vladimir Mykytka, Viola
Marcin Sieniawski, Violoncello

Karol Szymanowski (1882-1937)
Sergei Prokofiev (1891- 1953)
Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893)
Myroslaw Skoryk (*1938)

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4 260085 53160 8

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Warum fällt mir diesmal die Besprechung so schwer und ich drücke mich davor, so gut ich kann? Liegt es am Anspruch der Streichquartettliteratur, liegt es an der „Modernität“ der Kompositionen, liegt es an meiner Befangenheit den Streichinstrumenten gegenüber?

Egal, mit der großen Partitur des zweiten Streichquartetts von Karol Szymanowski vor mir wage ich es. Das 1927 entstandene Quartett ist äußerst elaboriert und verwendet die vier Instrumente in allen erdenklichen Lagen und Zusammenhängen. Kein Wunder, dass sich das agierende Szymanowski-Quartett namentlich auf diesen „Vater der polnischen Musik“ bezieht, der in seinem Leben – geboren in der Ukraine – in ganz Europa umherreiste und die verschiedensten Einflüsse aufnahm und in seiner Musik verarbeitete bis hin zu orientalischen Idiomen. Vor allem unter dem Einfluss Scriabins und auch Strawinskys erweiterte er seine Tonsprache, auch um volksmusikalische Einflüsse, wie es außer ihm ja auch schon Tschaikowsky oder seine Zeitgenossen Bartók, Enescu und Kodály taten.

Streichquartette gelten neben Symphonie, Oper, Solokonzert und Sonate als Gipfelgattung der Komposition, und bis zum heutigen Tag sind zahlreiche geniale Meisterwerke aller Schattierungen und Ausdrucksformen entstanden oder noch im Entstehen. Das Quartett gilt als Prüfstein der reinen Substanz im musikalischen Schaffen eines Komponisten. Und die große Partitur der beiden Szymanowski-Quartette, die vor mir liegt, lässt erkennen, dass es mit einem einmaligen „Drüberweghören“ bei dieser Musik nicht getan ist.  Obwohl durchaus tonal und auch rhythmisch sehr ansprechend, bedarf es mehrmaligen Hörens, um die spezifische Qualität dieser Musik und der vier Spieler zu erkennen. Mit Tönen im höchsten Bereich beginnt die erste Geige, nach unten oktavverdoppelt vom Cello, die beiden mittleren Instrumente übernehmen  die harmonische Abrundung.  Das dreisätzige Werk – es dauert knapp 17 Minuten – erschließt sich beim mehrmaligen Hören, wie auch das zweite Streichquartett von Sergei Prokofiev, das besonders im zweiten, dem Adagio-Satz, durchaus schön klingt und unmittelbar anspricht. Natürlich ist die Ausführung des in Hannover beheimateten Quartetts makellos und intensiv, was unbedingte Voraussetzung für die Realisierung dieser Kompositionen  ist. Wobei ich besonders beim ersten Streichquartett von Tschaikowsky überrascht war, wie modern und fast zeitgenössisch es klingt. Auch da besorgte ich mir die Noten, denen ich diese Modernität auf den ersten Blick gar nicht ansah.

Das Schlussstück vom ukrainischen Komponisten Myroslaw Skoryk ist eines seiner bekannter gewordenen Werke, eine Filmmusik, die Skoryk „gegen“ die damals herrschende Sowjet-Ideologie komponierte. Das ausführliche Booklet informiert über die vier Komponisten ebenso wie über die vier Ausführenden. Und  nach anfänglichem Zögern kommt mir beim weiteren Anhören diese Musik denn auch immer vertrauter, ansprechender und wesentlicher vor.

[Ulrich Hermann, Februar 2016]

[Rezensionen im Vergleich 4b:] Argentinien in München

Hugo Schuler spielt am 31. Januar 2016 im FMZ Bach, Kaminski, Schwarz-Schilling, Canepa und Ginastera

Stellen Sie sich vor: Sie sind ein wirklich überragender Pianist, berühmt im eigenen Land vor allem auch als Bach-Spieler – nämlich ihrem Geburtsland Argentinien, wie Daniel Barenboim oder Martha Argerich eben – und fliegen nach München, um hier ein Konzert zu geben. Und Sie geben dieses Konzert nicht etwa in der Philharmonie oder wenigstens im Herkulessaal, nein, sie spielen im sog. „Festsaal“ des FMZ = Freies Musikzentrum in der Ismaningerstrasse vor wieder einmal einer Handvoll Zuhörerinnen und Zuhörer. Noch dazu ist den meisten Münchnern erst gar nicht bekannt, wo das FMZ überhaupt liegt, jedenfalls ernte ich oft ein Kopfschütteln, wenn ich jemanden danach frage.
Am Fall des Freien Musikzentrums kann man sehen, wie schwer es ist, einen neuen Klassikstandort zu etablieren in einer Stadt, die dem etablierten Starkult frönt und sich selbst genug ist. Da brauchen auch so ausgezeichnete Reihen wie ‚Backstage on Stage’ Jahre, um größere Publikumskreise zu erreichen. Nun, wir werden sehen, ob die Münchner aufwachen…
Doch genug der Klage, da bin ich sicher nicht allein. Zum Konzert selber:

In den vergangenen Jahren hat Hugo Schuler die Goldberg-Variationen oft gespielt, diesmal im ersten Teil ohne die üblichen Wiederholungen, was eine Spieldauer von ca. 40 Minuten bedeutet und eben ermöglichte, eine Pause einzulegen und danach noch ein Kontrastprogram zu bieten. Bei Schulers erstem Auftreten hier in Deutschland 2014 schrieb ich im alten, leider online nicht mehr verfügbaren „The Listener“:
„Völlig uneitel, versunken, intensivst und gleichzeitig mit größter Gelassenheit entfaltete Schuler die einleitende (und abschließende) Aria mit den folgenden 30 „Veränderungen“, wie sie Bach für den Grafen Keyserlink und dessen Cembalisten Goldberg (einen Schüler Bachs und seines Sohnes Friedemann) komponierte.“
Dem ist auch nach der „verkürzten“ Fassung nichts hinzuzufügen, es sei denn, dass Hugo Schuler noch durchdringender, selbstverständlicher – im besten Sinn des Wortes – und durchaus auch noch horchender, singender und entfaltender diesen Kosmos vor uns ausbreitet, dessen Kühnheit – es gibt doch nur diese 88 Tasten, bei Bach noch nicht mal alle – mich jedes Mal aufs Neue überrascht und mitnimmt. Es kommt eben in diesem Universum alles vor vom Leisesten, Melodiösen bis zum Abstrakten, fast Freitonalen. Besonders in der 25. Variation, einem Adagio, glaube ich die Bach’sche Tonsprache auch beim wiederholten Hören nicht zu fassen, so unvermittelt kommen da – gegen jede Erwartung – die Melodietöne in der rechten Hand. Es ist immer wieder unfassbar, welche harmonischen und melodischen Kühnheiten der alte Johann Sebastian aus der Kompositionstasche zieht, auf welche „Irrwege“ er uns dann und wann lockt, die ja für ihn überhaupt keine sind oder waren.
Nach der Pause dann die Fortsetzung mit zwei Kompositionen von Heinrich Kaminski (1886-1946)  – Präludium und Fuge, erschienen 1935 – und seinem einstigen Schüler Reinhard Schwarz-Schilling (1904-1985), die Klaviersonate von 1968.
In beiden Kompositionen wird das polyphone Erbe Bachs deutlich und erkennbar, neben einem strömenden musikalischen Fließen, wo natürlich die Errungenschaften der Musik des 20. Jahrhunderts im Ausdruck und im Charakter hinzukommen. Auch diese Musik ließ Hugo Schuler in all ihrer Größe und klanglichen Farbigkeit entstehen – es wird auch bald bei Aldilà Records Schulers Debüt-CD mit den Goldberg-Variationen und diesen Werken erscheinen.
Zum Abschluss zwei Stücke argentinischer Komponisten. Der erste Julio Canepa, ein Zeitgenosse, geboren 1940, schrieb drei Klavierstücke nach einem Bilderzyklus mit einem Boot, die sehr impulsiv und expressiv waren, besonders den unteren Teil der Klaviatur betonend.
Die „Danzas argentinas“ von 1937 – drei Tänze des großen argentinischen Komponisten Alberto Ginastera (1916-1983) – bildeten den temperamentvollen Abschluss und zeigten Hugo Schuler von seiner anderen Seite, die nicht nur dem Publikum, sondern auch ihm selber ersichtlichen Spaß machte. So bleibt nur zu hoffen, dass die Karriere des jungen argentinischen Pianisten ihn auch hier in München bald wieder einmal in einem repräsentativeren Rahmen dem großen Publikum erlebbar macht. Drücken wir ihm und uns die Daumen!

[Ulrich Hermann, Februar 2016]

Eine hohe Inspiration

Inspired by MOZART

Julius Berger, Violoncello
Margarita Höhenrieder, Klavier

Nimbus Alliance NI 6319
0 710357 631924

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Ludwig van Beethoven (1770-1827)
Zwölf Variationen über das Thema „Ein Mädchen oder Weibchen“ aus Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ op. 66 (1798)
Ludwig van Beethoven
Sieben Variationen über das Thema „Bei Männern, welche Liebe fühlen“ aus Mozarts Oper „Die Zauberflöte“ Kinsky-Halm WoO 46 (1801)
Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)
„Anfang eines Adagios“ für Violoncello und Klavier nach dem Fragment KV 480a (1790)
Franz Xaver Mozart (1791-1844)
„Grande Sonate für Klavier und Violoncello (oder Violine) E-Dur, op. 19 Nottelmann WV VI: 13 (1814)
(Amadame Josephine de Baroni, geborene Comtesse Castiglioni gewidmet)
Ludwig van Beethoven
Sonate für Klavier und Violoncello A-Dur, op. 69 (1809)
(dem Freiherrn Ignaz von Gleichenstein gewidmet)

Wenn eine exzellente Pianistin und ein hervorragender Cellist eine CD mit ausgezeichneter Musik aufnehmen, kann eigentlich nur etwas Außergewöhnliches draus werden, oder? Wenn dazu noch ein hochqualifizierter Tonmeister zur Verfügung steht,  kann sich das Ergebnis sowohl vom Musikalischen als auch vom Tontechnischen her hören und sehen lassen, wie die vorliegende CD zeigt. So ein direkt aufgenommener Flügel und ein wohlklingendes Violoncello sind selten in der weitgehenden Balance, kein Wunder, dass die Musik wie im echten Raum zu entstehen scheint. Natürlich sind das – bis auf eine Ausnahme – keine Novitäten, die man da zu hören bekommt, aber das Wie ist es eben, das den Unterschied macht. Auch wenn ich mir an einigen wenigen Stellen das Klavier zugunsten des Cellos etwas weniger im Vordergrund gewünscht hätte, so höre ich doch die beiderseitige Lust am Spiel und an der Gemeinsamkeit des Musizierens. Mit aller Energie und Spielfreude wird hier gespielt. Und die Sonate von Mozarts Sohn Franz Xaver ist eine echte Entdeckung, die seine quälenden Selbstzweifel im Nachhinein Lügen straft, ein absolut gelungenes Werk, dessen drei Sätze durchaus beeindrucken. Besonders das Andante espressivo lässt an musikalischer Tiefe und melodischem Reichtum nichts zu wünschen übrig.
Die Beethoven’sche Sonate op. 69 ist zum Abschluss natürlich das Stück, um die Möglichkeiten dieser Instrumental-Kombination, die ja auch heute mit den verschiedensten Musiker-Persönlichkeiten gut im Konzert vertreten ist, besonders eindrucksvoll zur Geltung zu bringen. So bleibt nur zu wünschen, die beiden Musiker nicht nur auf CD, sondern als Steigerung live im Konzert zu hören.

[Ulrich Hermann, Januar 2016]

Ewige Liebe im Jetzt

ETERNAL LOVE

SIMDI ENSEMBLE
MICHEL GODARD

DREYER GAIDO
CD 21095

4 26001 870952

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Diese Musik bringt einen sofort in Bewegung. Und wie spannend ein Zweier-Takt sein kann! Also ist man gespannt auf die weitere CD… Wenn dann der Leiter der Gruppe „Simdi“ = „Jetzt“ seine wohltönende Stimme einsetzt mit den für die vorderasiatisch-modale Musik typischen Tonleitern und Singstilen, dann ist die Faszination perfekt. Auf den Spuren der Sufi-Tradition, gibt das englische Booklet zu wissen, bewegen sich die Stücke, egal ob alt oder neu komponiert. Und die klangliche Bandbreite der sechs Instrumentalisten samt dem französischen Gastmusiker mit seinem Serpent – einem eher in der mittelalterlichen Musik beheimateten Instrument in Schlangenform mit Blechbläser-Mundstück – oder Tuba und Bass, ist verblüffend. Natürlich kommen einem sofort die üblichen Assoziationen von wegen Orient, Tausendundeine Nacht usw. Aber die Tradition, Lyrisches aus uralten Zeiten neu zu vertonen – einige Texte sind aus dem 12. Jahrhundert , also aus der Zeit Rumis – ist in der Türkei in gewissen Regionen absolut lebendig. Mehr über Rumi und seine Zeit vermittelt auch der wunderschöne Roman „Die vierzig Geheimnisse der Liebe“, den die junge türkische Autorin Elif Shafak schrieb. Oder auch die Bücher des Idries Shah. Die sufische Tradition ist eben in vielen Zweigen lebendig und die modalen und rhythmischen Qualitäten der Sufi-Musik sind ein wichtiger Teil der türkischen Musiktradition, neben Mehter-Musik oder  durchaus westlich verbundener „Klassik“ eines Ahmed Adnan Saygun (1907-1991).  Wie vielfältig die Musik-Szene in und um Istanbul ist – wo auch diese CD aufgenommen wurde –  zeigt besonders schön der Film von Fatih Akin „Crossing The Bridge“. Wer ein Ohr hat, zu hören, was da an Melodischem und Klanglichem, Rhythmischem und Zauberischem auf den Spuren der Sufi-Tradition auf uns einströmt, der ist mit dieser spannenden und sehr einfühlsamen CD des Simdi-Ensembles sehr gut beraten.

[Ulrich Hermann, Januar 2016]

Solosonaten vom Geiger-Zar

Eugène Ysaÿe (1858-1931)
Sechs Sonaten für Violine solo op. 27

Frederieke Saeijs

Linn Records CKD536
6 90162 05362 4

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Als der Komponist und überragende Geiger seiner Generation Eugène Ysaÿe den jungen ungarischen Geiger Joseph Szigeti Bach spielen hörte, war das der entscheidende Impuls für die Komposition seiner sechs Solosonaten op. 27. Natürlich bezog er sich dabei auch auf die sechs Bach’schen Solo-Sonaten und -Partiten, allerdings verwendete er in den 1923-24 entstandenen Werken alle bis dahin bekannten und von ihm selber bis an die Grenzen des damals Möglichen ausgeloteten musikalischen und kompositorischen Mittel. Jede einzelne Sonate ist einem bedeutenden zeitgenössischen Geiger gewidmet und auf dessen Eigenarten zugeschnitten. So entstand ein Kosmos, der bis heute, und heute mehr denn je, Geiger aller Schattierungen herausfordert.

Noch vor kurzem war mir ein Abend mit Violine allein schwer vorstellbar – aber seit einem Konzert mit dem jungen Geiger Lucas Brunnert mit Kompositionen von Heinz Schubert, Eduard Erdmann, Eugène Ysaÿe und Sergej Prokofieff bin ich ganz anderer Meinung – auch wenn so ein Solo-Abend oder in diesem Fall eine Solo-CD eine ganz besondere Herausforderung darstellt, nicht nur an die Musikerin, auch an den Hörer.

Die holländische Geigerin Frederieke Saeijs spielte diese sechs Solo-Sonaten für Linn auf einer Guarneri-Geige von 1725 ein. (Sie schreibt auch, mit welchem Bogen – einem Eugène Sartory – sie spielt, eine Seltenheit, aber sehr begrüßenswert.) Und Saeijs verfügt über die geigerischen, aber auch die musikalischen und geistigen Möglichkeiten, um diesen gigantischen Herausforderungen adäquat zu begegnen.
Vom zartesten Pianissimo bis zum wilden Ausbruch im Fortissimo stehen ihr alle Klangschattierungen zur Verfügung, aber was noch wichtiger ist: Nie geht der Zusammenhang verloren, jede Sonate ist eingebunden in einen großen gestalterischen Bogen, das Ende ist im Anfang enthalten, der Bogen schließt sich wieder.

Zu den einzelnen Sonaten:
Sonate op. 27 No. 1 – gewidmet Joseph Szigeti in g-moll mit den Sätzen Grave (Lento assai), Fugato (molto moderato), Allegretto (amabile) und  Finale con brio (allegro fermo).
Vor mir liegen die Noten, so dass neben dem Hören auch das Sehen der Strukturen hilft, diese so avancierte und ungeheuer komplexe Musik zu begreifen. Denn mit dem Hören allein – vor allem, wenn man die Sonaten zum ersten Mal hört – ist es hier nicht getan. Natürlich ist der zweite Satz, das Fugato, am leichtesten zu verfolgen, was an der polyphonen Struktur liegt, die sich leicht mitvollziehen lässt. Aber immer wieder erstaunt doch der fast grenzenlose Reichtum – und die Beherrschung der komplexen Kompositionen durch die junge  Geigerin (geboren 25. Januar 1979) – der Tonsprache Eugène Ysaÿes. Wo es doch nur 12 Halbtöne in einer Oktave gibt, auch wenn der Umfang der Geige über mehr als vier Oktaven gebietet.  Und jede der sechs Solosonaten ist einem anderen zeitgenössischen Geiger und seiner Art zu spielen verpflichtet.

Sonate op.27 No. 2 – gewidmet Jacques Thibaud in a-moll mit den Sätzen Prélude – Obsession (poco vivace),  Maliconia (poco lento), Danse des ombres (Sarabande – lento), les furies (allegro furioso).
Diese Sonate erschließt sich – nicht zuletzt wegen der Bach’schen Zitate im ersten Satz – leichter, was sicher auch an den Titeln der einzelnen Sätze liegt. Sie deuten ja eine Art Programm an, nehmen sicher auch Bezug auf die Art des Thibaud’schen Geigenspiels, von dem im Programmheft – leider nur in Englisch, aber sehr aufschlussreich –  der rumänische Geiger George Enescu (1881-1955) aufs Äußerste schwärmt: „Mir tut es leid für alle jungen Geiger, die Thibaud nie hören konnten…“

Sonate op. 27 No. 3 –  gewidmet George Enescu in d-moll in einem einzigen Satz: Ballade (Lento molto sostenuto, molto moderato quasi lento, allegro in tempo giusto e con bravura, tempo poco più vivo e ben marcato).
Mit einem geheimnisvollen Rezitativ beginnt diese Sonate, die sich über eine Melodie im Fünfviertel-Takt in ein Allegro und zum Schluss in ein überschäumendes Tempo steigert. Erstaunlich, was an Klängen aus so einem „kleinen“ Instrument wie einer einzelnen Geige sich entfalten kann, wenn eine Könnerin wie Frederieke Saeijs souverän über ihr Instrument und die Komposition verfügt. In allen Bereichen, pianississimo fast an der Hörgrenze bis schnellst im Fortississimo stehen ihr und ihrer Guarneri-Geige alle Mittel aufs Überzeugendste zu Gebote – was mich beim wiederholten Hören diesem „Geigen-Kosmos“ näher und näher bringt. (Und nichts Geringeres wollte Ysaÿe mit diesen sechs Solosonaten schaffen.) Es ist die Bekanntschaft mit einer Musik, von deren Existenz ich bis dahin nur wusste, aber bis auf die vierte Sonate noch nichts gehört hatte.

Sonate op. 27 No. 4 – gewidmet Fritz Kreisler in e-moll mit den Sätzen Allemanda (lento maestoso), Sarabande (quasi lento) und Finale (presto ma non troppo).
Fritz Kreisler, auch heute noch als  d e r  Wiener Geigen-König bekannt und geliebt mit seinen höchst eingängigen Kompositionen, die damals oft für die Spielzeit einer Schellack-Scheibe ausgelegt waren, gab dieser vierten Sonate die Patenschaft, was sich in ihrem kompositorischen Kalkül durchaus bemerkbar und hörbar macht. Auch hier zieht Ysaÿe alle Register seines kompositorischen Könnens, schnellste Arpeggien bis in die allerhöchsten Lagen, Doppelgriffe auf allen Saiten, aber auch langsame melodische Abschnitte in der Sarabande und natürlich alle auf der Geige möglichen Stricharten geben dieser Sonate ihren Charakter.

Sonate op. 27 No. 5 in G- Dur – gewidmet  Mathieu Crickboom mit den Sätzen L’aurore (Lento assai) und  Danse rustique (allegro giocoso molto).
Mathieu Crickboom war der zweite Geiger im Ysaÿe-Quartett, und so ist sein Name nicht nur als Geiger, sondern auch als Widmungsträger der fünften Solosonate erhalten geblieben. Dass er als zweiter Geiger durchaus solistisch tätig war oder sein konnte, merkt man diesem Stück an, das ganz einfach mit der leeren Quinte G-D beginnt; aus dieser „Einfachheit“ entwickelt sich eine simple Melodie, die dann aber mit großen Arpeggien über den ganzen Tonumfang der Geige ausschwingt. Dem zweiten Satz – im Fünfviertel-Takt – liegt ein kleines tänzerisches Thema zugrunde, das sich ins  dreifache Forte und mit vierstimmigen Akkorden steigert. Im Mittelteil, bevor das Thema noch einmal einsetzt und in einem schnellen Lauf übers gesamte Griffbrett zum höchsten g und auf der tiefen G-Saite endet, werden verschiedene Möglichkeiten auch mit dem Daumen der Bogenhand zu spielender Läufe gezeigt.

Sonate op.27 No.6 in E-Dur – gewidmet Manuel Quiroga mit dem einzigen Satz Allegro giusto non troppo vivo.
Diese Sonate, die der Widmungsträger – wie das Booklet informiert – nie selbst öffentlich gespielt hat, macht aus ihrem spanischen Einfluss – Quiroga war Spanier – keinen Hehl, selbst der Tango wird im zweiten Teil des einsätzigen Stückes „bemüht“, was das ganze Stück natürlich etwas leichter zugänglich  für die Hörerin, den Hörer macht als zum Beispiel op. 27 No. 1.
Auch auf diese Art kann man etwas für seinen Nachruhm tun, denn ohne Ysaÿes letzte Solosonate wäre der hochbegabte Manuel Quiroga heute wohl längst vergessen. Terzenläufe und Läufe in Oktaven, rhythmisch Vertracktes, Anklänge an spanische Folklore oder argentinischen Tango ertönen, und im Fortissimo und mit zwei Sechzehntel-Läufen bis in die höchsten Lagen und zum tiefen e – wie sich das für einen Grundton in E-Dur gehört – geht dieses Geigen-Universum zu Ende.

Selbst wenn alle möglichen Dissonanzen die Tonalität ab und an aufzulösen scheinen, bewegen sich die Stücke alle im tonalen Rahmen, was die Tonartenbezeichnungen am Beginn jeder Sonate unterstreichen. Auch als in anderen Musikbereichen die Tonalität längst verpönt war und die Gleichberechtigung aller 12 Halbtöne gefordert und erstrebt wurde, ist es nach den sechs Solopartiten für Geige von Johann Sebastian Bach (1685-1750) dem Komponisten und Geiger-Zar (diesen Ehrennamen bekam Ysaÿe in Russland zuerkannt) gelungen, einen ebensolchen Kosmos zu komponieren, an dem sich seit seiner Entstehung Geigerinnen und Geiger aller Schattierungen messen und wie im vorliegenden Fall die holländische Geigerin Frederieke Saijs in souveräner Gelassenheit dieses Riesenwerk vor unseren Ohren und Augen entstehen lassen kann. Wie schön, dass diese wunderbare Musik damit für mich kein unbekanntes Neuland mehr ist.

[Ulrich Hermann, Januar 2016]

Ein singender Kontrabass

Il Carnevale di Venezia

Michael Rieber, Kontrabass
Götz Schumacher, Klavier

Giacomo Puccini (1858-1924), Giovanni Bottesini (1821-1889),
Jules Massenet (1858-1924), Alexander Scriabin (1872-1915),
Serge Koussevitzky (1874-1951), Frédéric Chopin (1810-1849),
Vincenzo Bellini (1801-1835), Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847),
Federico Moreno Torroba (1891-1982)

Es-Dur  ES 2063
4 015372 820633

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„Ich bin begeistert von diesem wunderbaren Klang. Michael Riebers Kontrolle über sein Instrument ist verblüffend und man meint, einen hervorragend geschulten Bariton zu hören. Die schwersten Stellen des Repertoires spielt er mit einer Selbstverständlichkeit, die nicht ahnen lässt, welche technischen Herausforderungen zu meistern sind.“
Zubin Mehta

Wenn Das keine Hommage ist!  So lege ich diese CD in den Spieler und bin gespannt, was da tönen wird? Und es ist nicht zu viel gesagt von Herrn Zubin Mehta, dieser Kontrabass klingt an vielen, vielen Stellen wie ein Bariton, wie ein Cello in den schönsten Lagen, einfach verblüffend. Und mit welcher Gelassenheit und Musikalität die beiden Musiker ans Werk gehen! Als gäbe es auf dieser Riesengeige keine Schwierigkeiten, weder in der Tiefe noch in den höchsten Lagen, fabelhaft! Ob Opernarien, arrangierte Klavierstücke oder Bottesini’sche Originalmusik, alles wird von Götz Schumacher am Klavier und – im Mittelpunkt – Michael Rieber am Kontrabass mit staunenswerter Intensität und Leichtigkeit dargeboten. Traumhafte Klänge, die einen in ganz andere als erwartete oder „normale“ Klangwelten entführen. Und der Spaß, den die beiden am schier Unspielbaren haben, ist bei jedem Ton zu spüren und zu hören. Ein ganzer Kosmos entfaltet sich da vor den Ohren, von Puccini bis Bottesini, von Chopin bis Scriabin und von Bellini über Mendelssohn bis zu Torrobas Zarzuela reicht der gewaltige Bogen – den ein sehr ausführliches Booklet wunderbar ergänzt, in dem Michael Rieber auch Auskunft über seinen Zugang mit seinem „Summ-sa-sei“ (wie der Kontrabass in einem altbairischen Weihnachtslied treffend heißt) zu dieser besonders hörenswerten CD gibt.
Wie unsagbar leise, aber auch mit gewaltiger Lautstärke Michael Rieber sein Instrument „bespielt“, wie mit dem doch recht großen Kontrabass-Bogen solche Leichtigkeit „hergeht“, wie er jedem einzelnen Stück zusammen mit seinem hervorragenden, einfühlsamen Klavierpartner Götz Schumacher musikalische „Gerechtigkeit“ widerfahren lässt, das ist so, dass der weltberühmte Dirigent Zubin Metha mit seinem eingangs zitierten Urteil mehr als Recht hat.

[Ulrich Hermann, Januar 2016]

Meine „CD des Jahres“

Julia Lezhneva
Alleluja
Il Giardino Armonico / Giovanni Antonini

Antonio Vivaldi ( 1678-1741)   Georg Friedrich Händel (1685-1759)
Nicola Porpora (1686-1768)   Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)

Decca  478 5242
ISBN: 0 28947 85242

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Alleluja (Lobet Jehovah) ist der Titel dieser CD, die für mich eigentlich so etwas wie eine „CD des Jahres“ ist, auch wenn sie schon 2013 erschien – jetzt erst landete sie als Geschenk auf meinem Gabentisch.

Um es gleich vorweg zu sagen: So berührend, ergreifend, frohmachend und herzerfüllend habe ich schon lange keine Sopranistin mehr singen – besser jubeln – gehört wie die junge, damals 23-jährige russische Sopranistin aus dem fernen Sachalin. Zusammen mit dem Ensemble „Il Giardino Armonico“ unter seinem  Leiter Giovanni Antonini gelingt hier eine ungeheuer musikalische Aufführung von vier Motetten, die jeweils mit einem „Alleluja“ enden. Als erstes eine tieftraurige, melancholisch-dramatische Komposition von Antonio Vivaldi, „In furore iustissimae irae“, ein eher wenig bekanntes Werk, das in der eindrucksvollen Kombination aus Schnelligkeit und Verhaltenheit – besonders im zweiten Satz – die ganze Bandbreite von Antonio Vivaldis Ausdrucksspektrum vorstellt. Es folgt die Motette „Saeviat tellus inter rigores“ von Georg Friedrich Händel: auch hier wieder eine gelungene Mixtur aus virtuosen und getragenen Passagen, bei der Julia Lezhneva alle Register ihrer meisterhaften Stimmführung und  -beherrschung zeigen kann, allerdings immer im Sinne der Frau Musica und nicht als Ego-Trip wie bei so vielen anderen Sängerinnen und Sängern.
Ihre Stimme ist auch in den bewegtesten Koloraturen leicht, sehr obertonreich, und dabei spürt man, dass sie eben keine Mädchenstimme hat, sondern trotz ihrer Jugend mit all ihrer Leiblichkeit und Körperlichkeit singt. Die hohen Töne kommen nicht als abgesetzte „Spitzentöne“, sondern im Zusammenhang der Bögen, zu denen diese entweder hinführen oder als deren Höhepunkt den Abfluss der Linie einleiten. Und all das „getoppt“ von einem Jubel-Laut im Singen, der besonders ans Herz rührt.

Obwohl ich ja sonst eine Lanze breche für die langsamen Tempi, die heute von den allermeisten Künstlern nicht adäquat erfasst werden – was sicher auch am vielen „Üben“ und am wenigen „Nachsinnen“ liegt – bin ich immer wieder überrascht, mit welchen Geschwindigkeiten das italienische Ensemble aufwartet. Und zwar nicht nur schnell, sondern dabei eben auch wunderbar phrasierend, allen Phänomenen gerecht werdend, und ebenso schnell vom Bewusstsein und vom Geist her. Mir fällt als positives Beispiel immer wieder auch der Jazz-Pianist Cecil Taylor ein, der eben nicht nur rasende Geschwindigkeit zaubert, sondern die nötigen geistigen Voraussetzungen für diese Tempi und die dann immer noch unerlässlichen und verständlichen Phrasierungen mitbringt.

Dann entstehen wie auf dieser CD Momente des Glücks und der Beschwingtheit, die süchtig machen können. Und zwar bei allen vier Stücken, von denen das von Nicola Porpora einen weniger bekannten, sehr melodiösen Komponisten vorstellt.
Dass die inzwischen berühmte Vivaldi-Aufnahme von Cecilia Bartoli bei der 11- oder12 jährigen Julia den speziellen „Kick“ auslöste, davon erzählt die junge Russin, aber eben auch von der Zusammenarbeit mit Giovanni Antonini, von der sie sicher umfassend profitierte.
Natürlich ist mit „Exsultate, iubilate“ von Mozart ein besonderes „Schmankerl“ an den Schluss dieser außergewöhnlichen Scheibe gesetzt, der auch ein mehrsprachiges Booklet mit allen Motetten-Texten beigefügt ist.

So küre ich mit Dank und Freude diese CD zu meiner „CD des Jahres 2015“ und bin gespannt darauf, was wir noch alles von Julia Lezhneva zu hören bekommen werden.

[Ulrich Hermann, Dezember 2015]