Alle Beiträge von Ulrich Hermann

Und wieder ein neuer Komponist

Paul Le Flem (1881-1984): Complete Piano Works; Giorgio Koukl

Grand Piano GP 695; EAN: 7 47313 96952 4

Weder seinen Name je gehört, noch je etwas von seiner Musik! Aber das ist ja eine der allerschönsten Möglichkeiten des Mediums CD, dass sie zu immer neuen Entdeckungen Anlass bietet.

In diesem Fall Musik eines französischen Komponisten, der, in der Bretagne geboren, trotz seines biblischen Alters relativ wenige Werke hinterlassen hat. Dazu zählt seine wunderschöne Klaviermusik, die auf dieser CD vom tschechischen Pianisten, Cembalisten und Komponisten Giorgio Koukl hervorragend eingespielt wurde.

Das Booklet  gibt Auskunft über Le Flem, der zum Pariser Kreis  von Martinu, Alexander Tscherepnin, Tansman und Lourié gehörte, aber seine bretonischen Wurzeln in seiner Musik nie verleugnete und daraus viele seiner Melodien herleitete. Die frühesten Stücke stammen aus den Jahren 1896/97 und beziehen sich auf zwei bretonische Sagengestalten, die zu einer „Valse brétonne“ und zu einem „ Poème symphonique pour piano“ wurden.

Le Flems Tonsprache reicht von bretonischen Volksmelodien bis zu einem Stück für die rechte Hand alleine, das bis in fast atonale Bereiche vorstößt und 1961 geschrieben wurde.
Natürlich lässt sich der Einfluss seiner Zeitgenossen und Mitkomponisten Claude Debussy, Maurice Ravel und anderer nicht verleugnen, aber die Tonsprache von Paul Le Flem ist dennoch erstaunlich eigenständig und eine zauberhafte Bereicherung des Repertoires für Klavier.

Seine Komposition „Avril“ von 1910 lässt natürlich sofort an eine Komposition des Zeitgenossen John Foulds denken, der ein Jahr früher 1880 in England geboren wurde, dessen fulminant improvisatorisch überbordendes Stück „April- England“ allerdings 16 Jahre später entstand. Ob sich beide Komponisten später während Foulds’ Pariser Zeit kennengelernt haben? Jedenfalls klingt das Stück von Paul Le Flem mit seinen schwirrenden Bewegungen sehr viel impressionistischer als das Stück von Foulds, aber beide nehmen den Hörer unmittelbar gefangen. Wie die Klaviermusik des bretonischen Musikers mich unmittelbar anspricht, sehr bewegt ist und die Möglichkeiten der ganzen Klaviatur bravourös ausnützt. Was herauskommt, ist Klaviermusik vom Feinsten, die zu Hören enormes Vergnügen bereitet und mich neugierig macht auf sein symphonisches Werk oder auf seine Lieder. Sein kompositorisches Schaffen erlebte mehrere Unterbrechungen, auch durch den ersten Weltkrieg und dadurch, dass er jüngeren Komponisten wie etwa André Jolivet (1905-1974) Platz machte und ihnen sogar generös den Weg ebnete. Dass einer seiner Mitstudenten Edgard Varèse (1883-1965) war, sei am Rande erwähnt.

[Ulrich Hermann, Oktober 2016]

Sakrale russische Musik

Metropolit Hilarion Alfeyev (geb. 1966)
Stabat Mater; Gesang der Aufstiege; Weihnachtsoratorium

Hibla Gerzmava, Sopran; Nikolai Didenko, Bass; Protodeacon Viktor Shilovsky, Bariton; The Choir of the Popov Academy of Choral Art; The Boy’s Choir of the Moscow Sveshnikov Choral College; The National Philharmonic Orchestra of Russia; Vladimir Spivakov

Melodia, CD10 024 19; EAN: 4 600317 124190

Hilarion Alfeyev begann zwar schon mit drei Jahren mit dem Klavierspiel, spielte mit sechs Jahren Violine und komponierte mit zwölf Jahren seine ersten Stücke, aber nach einer Ausbildung in Moskau in Violine, Klavier und Komposition widmete er sich doch eine lange Zeit über ausschließlich seinen theologischen und geistlichen Ausbildungen. Er wurde ein bedeutender Repräsentant der russisch-orthodoxen Kirche, bekleidete und bekleidet bis heute hohe kirchliche Ämter, promovierte und erhielt mehrere Auszeichnungen und Ehrungen, auch auf musikalischem Gebiet. Nach langer Pause begann er – für ihn selbst überraschend –  mit fast 40 Jahren wieder zu komponieren.

Die Stücke auf diesen beiden CDs entstanden in der Zeit zwischen 2007 bis 2011 und wurden sofort sehr beifällig aufgenommen, sodass die Werke von Metropolit Hilarion Alfeyev heute zu den meistaufgeführten in Russland gehören. Wenn man diese Musik hört, kommen einem jede Menge Assoziationen in den Sinn, angefangen von Pergolesis „Stabat Mater“  über Bach bis zu Arvo Pärt und anderen neuen Sakralkomponisten des Ostens. Alfeyev will die Grenzen zwischen geistlicher und weltlicher Musik überwinden, so bedient er sich natürlich der Musiksprache aller ihm zur Verfügung stehenden Zeiten und Stile. Es entstehen sehr bewegende, aussagekräftige, mitreißende Passagen, die mich in ihrer Dramatik und Klangfülle auf intensive Musikerfahrungen mitnehmen.

Besonders angesprochen hat mich sein Weihnachtsoratorium, in dem er die Weihnachtsgeschichte mit großem Chor, Knabenchor, Solisten und großem Orchester erzählt und darstellt. Die herrliche russische Sprache tut ihr Übriges, um diese Komposition zu einer echten Neuentdeckung für die Weihnachtszeit zu machen.

Doch auch die beiden „kleineren“ Werke sind faszinierend, wobei mich besonders die Passacaglia im Stabat Mater und der vierte Satz „Paradisi Gloria“ mit seinem ergreifenden – einen nicht mehr loslassenden – Rhythmus begeistern. (Diesmal bedient sich Alfeyev der lateinischen Sprache – einer der vielen Sprachen, die er laut seiner Biographie  beherrscht, unter ihnen auch italienisch, deutsch und finnisch.) Auch die Psalmen-Vertonungen „Gesang derAufstiege“ (ebenfalls in russischer Sprache) sind ein sehr hörenswerter Beitrag lebendigster neuerer geistlicher Musik. Erfreulicherweise ist die Ausführung bei den Solisten, den Chören und ebenso dem Orchester unter Spivakov in besten Händen, das Klangbild – so es dieser gewaltige „Apparat“ erfordert – üppig und dennoch durchhörbar und verständlich.

Dass in Alfeyevs Musik die Polyphonie eine Hauptrolle spielt – es gibt vor allem im Oratorium eine Reihe herausragender Fugen –, ist seiner Liebe zur Musik von Johann Sebastian Bach geschuldet, was ja mitnichten ein schlechtes Vorbild ist für einen traditionsbewussten Komponisten, der sogar eine russische Matthäus-Passion zu seinen Werken zählt.

[Ulrich Hermann, Oktober 2016]

Eine Violine für alle Zeiten

Antonio Vivaldi (1678-1741): Concertos op. 8 Nr. 1-4  „Le quattro stagioni“ 1725; Roxanna Panufnik (*1968): Four World Seasons 2007-2011
BBC Symphony Orchestra; Graham Bradshaw, Tibetian Singing Bowl; Bradley Creswick, Leader; David Wright, Harpsichord; TASMIN LITTLE, Violin & Conductor

Chandos, CHSA 5175; EAN: 0 95115 51752 9

„Oh, je! Schon wieder eine CD mit Vivaldis Jahreszeiten“, seufzt der befangene Rezensent, allerdings gekoppelt mit einer Komposition von Roxanna Panufnik, der 1968 geborenen Tochter des polnisch-englischen Komponisten Andrzej Panufnik (1914-91), das ist natürlich etwas anderes, oder? Und in der Tat, dies ist nicht die x-te Runterspielung des Violinvirtuosen-Stücks par excellence, da hat sich die Geigerin – und Dirigentin – Tasmin Little eine ganze Menge Gedanken gemacht, die sie im sehr gut produzierten Booklet auch ausführlich zum Besten gibt.

Und herausgekommen ist: Eine Neueinspielung, die einen sofort mitnimmt, die überzeugt und begeistert. Natürlich ist das alles bekannt bis in die…. eben nicht! Denn das ist ja ein Verdienst der CD, dass sie es ermöglicht, verschiedenste Aufnahmen miteinander zu vergleichen und sich die subjektiv ansprechendste auszuwählen. Und diese neue gehört auf jeden Fall in die Kategorie „Lieblings-Aufnahmen“.

Das liegt sicher am Beitrag des Cembalisten David Wright, der seinen Part eben auch dazu verwendet, eigene Ideen in die sonst so langweilige Partie zu bringen.

Ein wenig anders sieht es allerdings beim zweiten Stück der CD aus: bei der Komposition „Four World Seasons“ von Roxanna Panufnik. Die Idee, verschiedene Jahreszeiten und ihr musikalisches Korrelat vier verschiedenen Ländern zuzuordnen, ist sehr schlüssig. Die Reihenfolge der Jahreszeiten folgt eben nicht der üblichen, auch von Vivaldi verwendeten, sondern beginnt im Herbst und in Albanien. Der erste Satz – „Autumn in Albania“ ist ihrem Vater gewidmet, der, wie sie schreibt: „… geboren, geliebt und gestorben im Herbst“. Er verwendet als Grundlage zwei albanische Melodien, einen Tanz und ein Liebeslied, und ergibt eine Komposition, die Orchester und Solistin wunderbar realisieren.

Dann die Winterzeit – es wird eine alte tibetanische Melodie auf zweifache Weise herangezogen, einmal in einer kunstvollen, dann in einer Nomaden-Version. Als Grundklang wird eine tibetische Klangschale verwendet. Das Stück fasziniert und nimmt gefangen.

Die beiden weiteren Stücke „Spring in Japan“ und  „Indian Summer“ sind zwar durchaus spannende Kompositionen, die mich persönlich allerdings nur teilweise begeistern, denn die Strukturen sind – verglichen mit den beiden ersten Stücken – zu zerfahren oder „beliebig“, was vielleicht aber auch an den tonalen Vorlieben des Rezensenten liegen mag.

Im Ganzen offeriert diese CD ein Hörerlebnis, das neue Wege zu scheinbar altbekannten Stücken und zu Unbekanntem öffnet.

[Ulrich Hermann, Oktober 2016]

Letzte Dinge…

Horst Lohse (*1943) – Letzte Dinge. Hieronymus Bosch Triptychon
Christoph Maria Moosmann, Orgel; Bamberger Symphoniker; Aldo Brizzi, Dirigent; Robert Hunger-Bühler, Stimme

NEOS 11604
4 260063 116049

Wenn sich ein Komponist 23 Jahre lang mit einem Thema beschäftigt – in diesem Fall angeregt durch das Bild des Malers Hieronymus Bosch (1450-1516) „Die sieben Todsünden“ -, dann kann man gespannt sein, wie sich dieses Bild in ein „Klangbild“ wandelt, oder auch in mehrere, wie im vorliegenden Fall.

In Horst Lohses Werkverzeichnis findet sich neben Pädgogischem auch  Mannigfaches, sein Œuvre ist sehr reichhaltig. Aber die CD mit der Orgel als „rotem Faden“ ist eben auch wegen der langen Zeit des Entstehens etwas Besonderes.

Das Triptychon hat drei verschiedene Ebenen, die auch musikalisch durch drei verschiedene  Kompositionen dargestellt werden: Die erste „Die sieben Todsünden“ ist die früheste und entstand 1989 für Orgel allein. Sie entspricht dem mittleren Rundbild. Die nächste Komposition, für Orgel und Orchester, entstand 1996/97 und  bezieht sich auf die vier kleinen Rundbilder in den Ecken der Gemäldetafel.

Die mittlere Darstellung, in der Jesus selbst abgebildet wird unter dem  Vermerk „Cave, cave Dominus videt“, bildet den Abschluss als Werk für Orgel und Sprecher/Stimme von 2011/12.

Im Booklet gibt es zu den einzelnen „Todsünden“ und ihrer Vertonung Hinweise, die in die Struktur der Stücke leiten. Die ‚Letzten Dinge’ sind ein Dialog zwischen Orgel und Orchester, in welchem es zu spannenden und packenden Klangballungen kommt. Für mich am überzeugendsten gelungen ist der dritte und letzte Teil, der einen Text von Michael Herrschel (geb. 1971) mit einbezieht – er ist im Booklet abgedruckt.

Der Sprecher und Sänger Robert Hunger-Bühler ist für die Realisation dieser Komposition eine ideale Besetzung, auch wenn man zu Beginn die Lautstärke-Regler halsbrecherisch hoch aufdrehen muss, um überhaut etwas zu vernehmen, so pianissississississimo fängt das Ganze an. Umso überraschender und „brüllender“ ist dann der Fortgang, der eben ins Zentrum des Bildes und der Komposition führt.

Horst Lohse kam – wie er mir in einem Telefongespräch mitteilte – über die Malerei und eine Begegnung mit Hans Werner Henze zum Komponieren. Er war eine Zeitlang auch als Grundschullehrer tätig, wovon einige seiner Bühnenwerke zeugen.

Dass ihn der phantastische Realismus der Bilder von Hieronymus Bosch schon früh faszinierte, hatte sicher auch mit dem bildenden Schaffen seines Schwiegervaters Caspar Walther Rauh (1912-1983) zu tun, das ebenfalls dem phantastischen Realismus zugeordnet wird.

Das zweite Stück auf der CD ist eine Koproduktion mit dem BR, die beiden anderen Stücke spielte der Organist Christoph Maria Moosmann an der Orgel des Rottenburger Doms ein.  (Allerdings brauchte es dazu sogar einen zweiten Organisten und „nicht unerheblichen technischen Aufwand“, wie Moosmann im Booklet schreibt, um alle Anforderungen der Partitur erfüllen zu können.)

Die Wandlung eines Gemäldes in ein „Klangbild“ ist jedenfalls ein spannender Prozess, den ich auf vielen Vernissagen selbst schon  – zum Erstaunen der Malerinnen und Maler – improvisatorisch mit Stimme und/oder Instrumenten gestaltet habe.

[Ulrich Hermann; Oktober 2016]

Singe, wem Gesang gegeben…

Hans Koessler (1853-1926): Chorwerke
Cantabile Regensburg; Matthias Beckert

Helbling HI-C7937CD
9 783990 355251

Schon oft erwähnt: Einer der großen Vorzüge des Mediums CD ist die überaus große Bereicherung des Repertoires seit Jahrzehnten. Von Musikern bekommen wir zu hören, die oft der Vergessenheit oder der Ignoranz zum Opfer fielen, gäbe es nicht immer wieder neue Entdeckungen, für die man den Firmen stets aufs Neue Dank sagen muss.

So auch für diese CD mit Werken eines mir bis dato unbekannten Komponisten namens Hans Koessler (1853-1926), des Begründers der großen ungarischen Schule, aus welcher in nächster Generation Dohnányi, Bartók, Kodály, Leo Weiner, Fritz Reiner und Lajtha hervorgehen sollten, und aus deren Budapester Schule wiederum die prägenden Dirigenten Szell, Dorati, Fricsay, Solti, Kertesz usw. Die große ungarische Schule, geboren aus der Tätigkeit eines einzigen Mannes. Auch wenn ich selber jahrelang in verschiedensten Chören gesungen habe, selber Chorleiter bin, war mir dieser Herr bisher nicht geläufig. Was ein Fehler ist, wie diese CD mit dem Regensburger Chor Cantabile unter seinem Dirigenten Matthias Beckert beweist. Denn die Werke, die wir zu hören bekommen, sind Chormusik vom Feinsten.  Dazu gibt das sehr umfassende Booklet Auskunft über einen Musiker, der – entfernter Cousin von Max Reger und wie dieser in der Oberpfalz geboren – sein Glück machte, als ihn Franz Liszt 1882 nach Budapest an die ungarische  Landesmusik-Akademie berief. Dort wurde er der prägende Lehrer in der Nachfolge seines sächsischen Vorgängers Robert Volkmann (1815-1883).

Koessler selbst hielt sich und seine Kompositionen möglichst im Hintergrund, bis die Musikverlage auf ihn aufmerksam wurden und er den durchaus verdienten Ruhm empfangen konnte. Wenn er auch alles andere als ein Neutöner war – Brahms beehrte ihn mit seiner Freundschaft –, so zeugt seine Musik von absoluter Meisterschaft und ist eine wunderbare Bereicherung des Chor-Repertoires in der Nachfolge Brahms’. Seien es  seine neun Lieder nach Texten von Goethe und anderen, seien es seine drei ernsten Chöre oder seine geistlichen Chorwerke und auch die altdeutschen Minnelieder, alles ist meisterlich komponiert und ebenso meisterlich vom Chor Cantabile gesungen. Die Palette reicht dabei vom durchaus kraftvollen Fortissimo bis zum kaum hörbaren – aber eben umso intensiver erlebten – Pianissimo, das Matthias Beckert – seines Zeichens Professor in Würzburg und Hannover – „seinem“ Chor ermöglicht. Der Klang bleibt immer offen, was für mich ein Zeichen ist, dass eben nicht gesungen wird „wie ein Mann“, sondern das Erleben und Gestalten der Musik im Vordergrund steht.

Dass im Booklet alles Informative samt den Liedtexten auf Deutsch, Englisch oder auch auf Lateinisch abgedruckt ist, zeigt, wie wohl durchdacht und überlegt diese CD gestaltet wurde. Der Helbling-Verlag im schwäbischen Esslingen hat übrigens einiges davon auch in Noten neu herausgegeben und veröffentlicht seine CDs in Zusammenhang mit diesen sehr empfehlenswerten Notendrucken.

Eine bedingungslose Empfehlung ist die verdiente Folge solcher Aktivitäten!

[Ulrich Hermann, September 2016]

Nur Kinderlieder…?

Pjotr Tchaikovsky (1840-1893): 16 Songs for Children op.54
The boys Choir of the Glinka Choir College; Vladimir Begletsov – Conductor; Alexey Goribol, piano
Melodya CD 10 02436; EAN: 4 600317 124367

Eigentlich…!? Ja, eigentlich mag ich ja Kinderchöre nicht, aber… Diese CD ist etwas Anderes. Die 16 Kinderlieder, die Tchaikovsky zwischen 1878 und 1883 komponierte, sind etwas ganz Besonderes. Nicht nur, dass er ein großer Melodiker ist, das wissen wir von seinen Symphonien sowieso, ebenso seine Klavierstücke zeigen ihn als Meister auch dieser Formen. Aber so wie diese Melodien vom „Boy Choir oft he Glinka Chor College“  unter seinem Dirigenten Vladimir Begletsov und dem Pianisten Alexey Goribol musiziert werden, ist es eine wahre Wonne. Da hört man eben nicht gedrillte Kinderstimmen, auf Einklang ausgerichtet „wie ein Mann“, sondern einen wunderbaren offenen Chorklang, der trotz – oder gerade wegen – des Unisono den ganzen Charme und die ganze Kunst des Komponisten erlebbar werden lässt. Nicht geringen Anteil daran hat auch der Pianist Alexey Goribol, der die nicht sehr virtuose Klavierbegleitung aufs Feinste und Geschmackvollste realisiert.  Die 16 Lieder, die sicherlich nicht von der üblichen „verlogenen“ Kindlichkeit oder der idealisierten Kinderzeit erzählen, sind eine wunderbare Ergänzung zum Symphoniker oder Ballett-Musiker Pjotr Tchaikovsky. Diese CD mit dem Booklet auf russisch und auf englisch – leider sind die Liedertexte nicht abgedruckt – ist ein Kleinod und aufs Äußerste zu empfehlen.

[Ulrich Hermann, September 2016]

[Rezensionen im Vergleich:] Unorthodoxe musikalische Zeitreise

Lucy Jarnach spielt am 24. September 2016 um 20 Uhr
im Kleinen Konzertsaal im Gasteig: Schubert, Grieg, Jarnach, Greif

Wenn es in der Welt richtig zuginge, müssten alle Menschen einen ebensolchen Weltblick besitzen wie Bismarck, ein ebensolches Gehirn wie Kant, einen ebensolchen Humor wie Busch, ebenso zu leben verstehen wie Goethe und ebensolche Lieder singen können wie Schubert.  (Egon Friedell 1878-1938)

Und es ging in der Welt richtig zu an diesem Samstag-Abend im Kleinen Konzertsaal im Gasteig in München, als die Pianistin Lucy Jarnach sich an den Steinway-Flügel setzte und die ersten Akkorde der G-Dur-Klaviersonate D894 erklingen ließ. Denn was Egon Friedell uns in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit über Franz Schubert so hellsichtig beschreibt, das stimmt ja. Diese auch heute noch immer wieder überraschende und  berührende Sonate aus Schuberts letzten Schaffensjahren, sie ist und bleibt ein Mysterium – wenn der spielende Musiker sie so erlebbar werden lassen kann, wie uns das die junge Lucy Jarnach besonders eindrucksvoll vom ersten bis zum letzten Ton vorspielte, nein, besser, vorlebte, „vorsang“. Denn Schuberts himmlische Melodien und höchst überraschende Harmonien – seiner damaligen Zeit genau so voraus wie die seines hochverehrten Kollegen Beethoven, wenn auch von völlig anderen Ideen und Möglichkeiten geschöpft  – müssen erst einmal zusammenhängende Gestalt gewinnen und singen und klingen, wenn sie uns erreichen sollen. Mit aller geheimnisvollen Neuartigkeit, die auch heute, 250 Jahre später so in Bann schlagen kann, wie sie Lucy Jarnach mit verzaubernder Kantabilität und wohllautendstem Klang auf dem Steinway-Flügel hervorspielte. Drei langsame Sätze und ein schnellerer vierter, dann war der erste Teil des Abends in seiner Verzauberung vorüber. (Wieder einmal musste ich daran denken, dass Schubert viele Jahre lang nur ein abgespieltes Tafelklavier zur Verfügung stand, was würde der wohl heute für Ohren machen (können)!)

Der zweite Teil begann mit einer kurzen Erklärung der Pianistin zu Edvard Griegs Ballade g-moll op. 24 von 1878, einem Stück, was sehr vielen Zuhörern noch immer ziemlich unbekannt sein dürfte. Ein melancholisches, an ein norwegisches Volkslied angelehntes Thema wird im Lauf der Komposition in 14 Variationen abgewandelt: sowohl harmonisch als auch melodisch, in allen Klangregistern des Flügels.

Was mich an Griegs Klaviermusik schon immer fasziniert , ist seine weit in die Zukunft weisende Harmonik, eine Tonalität und Klanglichkeit, die teils sogar den Impressionismus eines Debussy schon vorweg zu nehmen scheint. Und auch bei den viel bekannteren Lyrischen Stücken ist für mich wieder und wieder erlebbar, dass Grieg eben nicht nur der leicht fassliche „Unterhaltungs-Komponist“ kleiner Formen war, sondern in vielen seiner Werke – wie das auch Lucy Jarnachs Spiel sehr überzeugend zum Ausdruck brachte – ein durchaus in der Entwicklung vorausschauender Künstler und Komponist war.

Im Anschluss daran folgte eine Sonatine über eine alte Volksweise, op. 33 (eigentlich ist es eine Komposition von Leonhard Lechner (1553-1606), die dem Stück zu Grunde liegt) von Philipp Jarnach, dem Großvater der Pianistin, der von 1892-1982 lebte und seine entscheidenden Impulse von Ferruccio Busoni (1866-1924) bekam. Diese Sonatine spielte Lucy Jarnach mitnichten aus einer verwandtschaftlichen Verehrung für ihren Großvater, sondern zeigte uns, was für ein wunderbares Stück Musik da unter ihren Händen zu uns sich entfaltete, durchaus tonal und melodiös, aber doch ein Stück zeitgenössische Musik aus dem 20. Jahrhundert.

Das letzte Stück des Abends des frühverstorbenen französischen Komponisten Olivier Greif – dürfte den allermeisten Konzertbesuchern sicher völlig unbekannt gewesen sein, wie die Musik dieses aberwitzigen Franzosen leider bei uns bis heute so gut wie gar nicht auftaucht. Er wurde 1950 als Sohn eines jüdisch-polnischen Neurochirungen  geboren, der die Gräuel in Auschwitz überlebte. Diese Tatsache beeinflusste die Musik seines Sohnes, der mit 9 Jahren anfing zu komponieren. Aus «Le Rêve du monde» (1993)

Spielte Lucy Jarnach den dritten Satz «Wagon plombé pour Auschwitz». Das Thema ist eine jiddische Melodie, die allerdings nach kurzer Zeit durch gewalttätige „Schüsse“ zerrissen wird, darstellend die Horrorszenen, denen die in den Viehwagons Eingesperrten dann in Auschwitz ausgesetzt waren. Das unfassbare Grauen so auf einem Klavier darstellen zu können, ist eigentlich unvorstellbar, trotzdem ist es dem Komponisten und auch der Pianistin gelungen, in diesem kompakten Stück all das auf sehr eindrückliche Weise den Zuhörern zu vermitteln.

Großer, verdienter Beifall für die Pianistin und ein Programm, das so sicherlich im ach so konservativen München – noch dazu zur Wiesn-Zeit – noch nie zu hören war.

Mit einer kurzen Zugabe (‚Fast zu ernst’ aus Schumanns op. 15, den „Kinderszenen“) entließ uns Lucy Jarnach in einen sehr nachdenklichen Abend.

(Auch die „Gräuel“ dieses Abends seien ganz am Rande erwähnt, also der vollendete Amateurismus des lokalen Veranstalters, der das Konzert miserabel beworben hatte und sowohl dem unterzeichnenden Kritiker eine Pressekarte als auch der Künstlerin Blumen verweigerte. Sein Mangel an Professionalität wurde jedenfalls mit einem fantastischen Auftritt belohnt.)
Oder, um mit Egon Friedell abzuschließen:
„Es gibt Menschen, die selbst für Vorurteile zu dumm sind.“

[Ulrich Hermann, September 2016]

Bulgarisches…

Emil Tabakov (b.1947)
Complete Symphonies, Volume One
Five Bulgarian Dances (2011) & Symphonie Nr. 8 (2007-2009)
Bulgarian National Radio Symphony Orchestra; Emil Tabakov

Toccata Classics TOCC 0365; EAN: 5 060113 4456

Bulgarische Sänger? Na klar, Ghiaurov etc. und natürlich Ari Leschnikoff von den „Comedian Harmonists“ und noch ein paar andere, wie Spass Wenkoff, aber ansonsten? Ja, doch, die bulgarischen Rhythmen, vertrackt, vertrackt, aber von einem Symphoniker, von einem bedeutenden Komponisten? Wenigstens mir bis dato ziemlich unbekannt.

Doch das hat sich spätestens mit dieser CD des bulgarischen Komponisten und Dirigenten Emil Tabakov gründlich geändert. Denn dessen fünf bulgarische Tänze von 2011 sind ein Feuerwerk und gehen nicht nur in die Ohren, nein, in die Beine und wie!

Eine wunderbare ergötzliche musikalisch-musikantische Musik, noch dazu vom Komponisten selber aufs Beste in Szene gesetzt und dirigiert. Diese Personalunion ist zwar nicht ganz selten, aber auf solchem Niveau wünscht man sie sich öfter.

Vier schnelle und ein gemäßigter Tanz, die mit ungleich zusammengesetzten Rhythmen, für die ja die bulgarische Musik – auch die Folklore – berühmt ist, bravourös spielt, ein Parade-Beispiel für die Qualität des Bulgarischen Nationalen Rundfunk-Symphonieorchesters aus Sofia. Eine Wonne, die nicht nur den Ohren guttut, auch dem ganzen zuhörenden und bewegten Menschen.

Sperriger kommt die achte Symphonie daher, die von 2007-2009 entstand. Tabakov komponiert nämlich – wie auch Kollege Mahler – hauptsächlich in den Ferien im Sommer. Angesichts dieser Beschränkung ist sein Werkverzeichnis äußerst reichhaltig,  wie das Booklet ausweist. Abgesehen von neun Symphonien stehen auch Werke fast aller anderen Gattungen zu Buche.

Seine achte Symphonie baut meist auf kleinen verständlichen Motiven auf, die aber in allen möglichen Arten verarbeitet werden, klanglich, rhythmisch, melodisch oder harmoniemäßig, sodass ein dichtes, dunkles, erratisch abgründiges Klangwerk zu hören ist, das Tabakov als Meister der Instrumentation und der Komposition ausweist. Auf zwei langsame Largo-Sätze folgt ein schnelles Presto, das die fast 44 Minuten lange Komposition abschließt.

Diese erste CD einer Serie mit Werken von Emil Tabakov unter seinem Dirigat ist ein empfehlenswerter Beitrag zur Musik eines Landes, dessen „klassische“ Musik-Kultur dankenswerter Weise dadurch aus dem Schatten tritt.

[Ulrich Hermann, September 2016]

Auch in Dänemark

Ole Buck (b. 1945)
Sinfonietta Works

Athelas Sinfonietta Copenhagen
Jesper Nordin, conductor

Da Capo 8. 226589
6  36943 65892 5

Doch, auch in Dänemark! Der diesjährige Preisträger des Ernst von Siemens Musikpreises ist der dänische Komponist Per Nørgård, der 1932 geboren wurde. Ole Buck, Jahrgang 1945, ist selbst im eigenen Land ein „Geheimtip“, und so kamen zu seinem 70. Geburtstags-Konzert erstaunlich viele Besucher, die Ole Bucks Musik endlich mal leibhaftig erleben wollten. (Wie im Booklet erzählt wird, waren die Zuhörer sehr erstaunt und berührt von dem, was sie da zu hören bekamen von der Athelas Sinfonietta unter ihrem Dirigenten Jesper Nordin.)

Und so ging es mir auch, als ich diese Musik zum allerersten Mal vernahm. Noch dazu, wo eine Klarinette ihre unvergleichlichen Melodien singt – vor allem, wenn die so gespielt wird wie im ersten Stück von 1991 „fiori di ghiaccio“ für neun Instrumente. Eine Komposition, die mit so wenig „Material“ auskommt und dennoch nie die Langeweile mancher Minimal Music aufkommen lässt, im Gegenteil. Sie zieht einen förmlich soghaft in ihren Bann, der einen nicht mehr loslässt. Über Stück und Komponist sowie die Ausführenden bietet das Booklet erschöpfend Auskunft.

Genau so fesselnd die anderen Stücke: „A Tree“ (1996) für 13 Spieler, – ganz anders als das erste Stück, Klänge und Rhythmen, die eine pflanzenhafte  Struktur hervorrufen, wobei die Wurzeln der Tradition und die Verbindung zum Heutigen, die Äste das sich in die Moderne Erstreckende darstellen. Bis ins Raumhafte und Verschwindende oder ins Unhörbare oder in die Leere, wie eben auch ein Baum nicht einfach aufhört mit dem, was das Auge sieht oder den Ohren der „Baumklang“ sich mitteilt.

Das Dritte, ein Stück ohne Titel (2010) für 8 Instrumentalisten, intensiv rhythmisch fast  wütend beginnend mit harschen Klängen, die von tiefen Instrumenten kontrapunktiert werden. Diese unterschwellige „Wut“ durchzieht das ganze Stück rhythmisch wie auch klanglich, auch wieder mit ganz wenig Tonmaterial, das aber sehr intensiv wieder und wieder, fast maschinenhaft ertönt.

Als längstes die „Flower Ornament Music“ für 17 Instrumente, das mit dem ersten die größten Gemeinsamkeiten hat. Mal erinnert der Beginn an Tony Scott’s „Music For Zen-Meditation“, so “japanisch“ kommt der Begin  daher, dann wieder halten Liegetöne die Spannung zum nächsten rhythmischen Übergang, an dem von Bongos bis zum Gong verschiedenste Instrumente sich beteiligen. Übrigens sind alle Stücke Ersteinspielungen auf dieser CD.

So schön und spannend kann Musik sein, die mit wenigen Tönen spielt, mit Rhythmen und Klängen jongliert und auch ohne großes Brimborium den Hörer anspricht und mitnimmt auf eine Klangreise, die es in sich hat. Für den, der sich nichts darunter vorstellen kann: Es ist ein bisschen, als würde die aus sich selbst sich entwickelnde Unendlichkeits-Klangwelt Per Nørgårds mit dem Moll-Archaismus von Arvo Pärt eine Ehe eingehen, die in eine unbekannte erfüllende Zukunft verweist.

Dass Ole Buck auch Musik für Tänzer und Theater-Musik geschrieben hat, er, der heute auf dem Land lebt und arbeitet, macht neugierig auf mehr von diesem intensiven Klangmagier.

[Ulrich Hermann, September 2016]

Leider hochaktuell…

Die letzten Tage der Menschheit
Karin Wagner, Klavier   Csongor Szántó, Bariton   Fritz Schuh, Sprecher

Österreichische Kriegslieder vs. Texte von Karl Kraus

Gramola 99116
9 003643 991163

So erschreckend die Zusammenstellung von Liedern, die den Krieg (wenigsten den ersten Weltkrieg damals) verherrlichten und scheinbar notwendig werden ließen gegen die übermächtigen Feinde rings um die beiden Kaiserreiche Deutschland und Österreich – und damals waren ja bis auf ganz wenige Ausnahmen wie Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht fast alle, auch die Besonnenen, für die militärische Auseinandersetzung –, und den geradezu hellsichtigen und auf den Punkt genauen Texten des Österreichers Karl Kraus (1874-1936) auch ist: Sie ist leider auch heute noch oder wieder fürchterlich aktuell, wie man ja auch am Erstarken des Rechtsradikalismus hier und überall sieht.

Dass sich Komponisten wie Robert Stolz (1880-1975) oder Carl Michael Ziehrer (1843-192), Emil Hochreiter (1872-1938 oder Ralph Benatzky (1884-1957) für solche „patriotischen“ Machwerke hergaben, wundert heute vielleicht keinen mehr, denn die meisten hatten ihren „common sense“ damals zu Hause gelassen; im Booklet stehen einige erschreckende Zeugnisse sogar von Arnold Schönberg (1874-1951) und Anton Webern (1883-1945)!

Der Kontrast zwischen den durchaus überzeugend vorgetragenen Liedern – die Pianistin und der Sänger geben fast zu viel Herzblut darein, was aber beabsichtigt zu sein scheint – und den auch heute noch bezwingenden Kraus-Texten gegen den Wahnsinn der Kriegsmaschinerie, angeheizt durch eine entsprechende Presse – die Parallelen zu heute sind geradezu schockierend – ist dennoch schwer auszuhalten, denn Sprecher Fritz Schuh lässt die Unerbittlichkeit (und da steckt ja das Wort „bitter“ durchaus drin!) mit beklemmender Intensität Wirklichkeit werden. Man denkt natürlich auch an die einmalige Sprachkunst des Helmut Qualtinger, wenn Schuh seine ganzes Können in den Dienst dieser auch heute noch nichts von ihrer Aktualität verloren habenden Texte des Mahners Karl Kraus stellt und sie in all ihrer Wahrhaftigkeit gestaltet. Oft läuft es einem kalt den Rücken hinunter ob der furchterregenden Übereinstimmung mit heutigen Phänomenen. Und das ist sicher beabsichtigt von einer CD, die genau diese Abgründe zwischen „gut“ gemeint und „böse“ geworden, zwischen objektiver Klarheit und oberflächlichem Mitläufertum schauererregend erlebbar werden lässt.

[Ulrich Hermann, September 2016]

Alte Musik? Oh, je…

William Lawes 1602-1645

Complete Music for solo lyra viol
Richard Boothby , lyra viol

Harmonia mundi HMU 907625
0 93046 76252 0

Historizismus ist ja gut und recht, und Musik auf dem ältesten noch erhaltenen Instrument zum Leben zu erwecken, ist an und für sich ehrenwert, aber der Rezensent – erfahren in Alter Musik und grundsätzlich sehr bewegt von  Gamben-Consort-Musik –hat bei dieser CD mehr als eine Schwierigkeit, diese Töne – und es sind immerhin 35 Sätze, die hier vorgestellt werden – überhaupt als in sich bezügliche, irgendwie auch nur im kleinsten Zusammenhang erfahrbare Musik wahrzunehmen. Abgesehen vom Klang des zeitweise faszinierend klingenden Instrumentes, der Lyra Viol, einer speziellen Gambenart, über die das Booklet informativ berichtet, ist das, was an die Ohren dringt erstens auf die Dauer und zweitens auch im Kleinen richtungslos und folgerichtig ausgesprochen langweilig. Es fehlt jeglicher rhythmische Fluss, der schon im Ansatz fortwährend ausgehebelt wird durch mechanische „Rubati“, die jedes Mal auftreten, wenn ein Akkord die leider auch nicht vorhandene melodische „Linie“ – so man von einer solchen überhaupt ab und an sprechen will – abrupt und wie ein Schluckauf unterbricht. Dabei ist die Melodie ja gerade bei der englischen Gambenmusik der lineare Grund, auf dem dann auch die ausgefallensten Harmonien sich ereignen können, wie man beispielsweise bei Purcells Fancies von 1680 unschwer nachvollziehen kann.  Lawes’ Consort-Musik ist doch auch alles andere als ein unzusammenhängendes Lavieren von einem Ton zum anderen.

Und die Frage, ob eine CD, die ein komplettes Werkganzes für eine Besetzung vermitteln will, dieser Musik nicht außerdem einen Bärendienst erweist, sei am Rande zusätzlich eingeworfen. Denn auf diese philologisch akkurat geordnete – und klanglich extrem kontrastarme – Art sind die Stücke auf der Lyra Viol zu Lawes’ Zeit am Stück sicher niemals aufgeführt worden, und waren auch nicht zu solch enzyklopädischem Zweck gedacht. Da hilft selbst das apart aufgemachte Äußere dieser CD dem Gesamteindruck nicht auf die Sprünge.

Hauptkritikpunkt jedoch bleibt der völlige Mangel an erlebbarer melodischer Beziehung zwischen den Tönen, und damit einhergehend natürlich der Verlust der elementaren Tanzcharaktere und die offene Frage, wie denn die Musik als originelle Äußerung eines schöpferischen Geists, der Lawes ja zweifelsohne ist, überhaupt würde.

[Ulrich Hermann, September 2016]

Totentanz als Urthema

FRANK MARTIN (1890-1974)
Ein Totentanz zu Basel im Jahre 1943

ARMAB ORCHESTRA
SACRAMENTSKOOR
HINENI STRING ORCHETRA
BASEL DRUMS
Geofrey Madge, Piano
Bastiaan Blomhert, conductor

Cpo 777 997-2
7 61203 79972 5

Um die Mitte des 15. Jahrhunderts  malte man auf die Friedhofsmauern des Dominikanerklosters zu Basel 37 Bilder, die das schon seit langem bekannte Sujet des Totentanzes darstellten. Zerstört im Jahr 1805, blieben nur wenige Stücke für die Nachwelt erhalten. (Bei Google gibt es ein Aquarell mit allen 37 Darstellungen!)

1943 bat die Pantomimin Mariette von Meyenburg ihren Onkel Frank Martin um die Musik zu einer entsprechenden Theateraufführung. Leider ist nicht die gesamte Musik erhalten, einige Stücke wurden neu komponiert, andere aus anderen Kompositionen übernommen. Das hervorragende, mit mancherlei Bildern bestückte Booklet gibt ausführlich Auskunft und enthält auch die gesungenen Texte. Die Textverständlichkeit der Chöre lässt allerdings oftmals sehr zu wünschen übrig, was bei diesem holländischen Chor ein echter Makel ist. Zumal wo die Texte oft geistlichen Ursprungs sind, oder, wie auch das von ca. 1580 überlieferte Landknechts-Lied  mit dem Text „der grimmig Tod mit seinem Pfeil“ von Balthasar Bidembach (1533-1578). Also wäre ein Coach fürs Deutsche dringend nötig gewesen. (Beispiel gefällig: Kann ihm ent-rie-nen bzw. von hie-nen, statt entrinnen und von hinnen!!) Und das ist nicht der einzige Lapsus.

Die Musik, ausgehend von noch heute in Basel lebendigen Trommelstücken bis hin zu jazzmäßigen Einschüben aus Martins Kompositionen, fußt auf entsprechenden Liedern aus diversen evangelischen Gesangsbüchern, die meist mit kleinem Orchester begleitet werden. Sie beleuchten die verschiedenen „Paarungen“, die der Tod mit den Personen eingeht, die er sich holt, oder die ihn suchen. Martin, der seinen Stil aus Zwölftontechnik und klassischer tonaler Tonsprache entwickelte, komponierte neben einer ganzen Reihe von Vokalwerken (z. B. der Messe für zwei vierstimmige Chöre von 1922 und 1926) oder einem Requiem (1971/72) auch Instrumentalkonzerte für verschiedene Instrumente, Opern wie „Der Sturm“ von 1956 und Kammermusik. Seine Musik ist ansprechend ohne je simpel zu sein, so auch auf der vorliegenden CD von cpo. Neben Malern, die sich mit dem Thema „Totentanz“ beschäftigt haben, gibt es Tonschöpfungen, z. B. Franz Liszts (1811-1886Totentanz (1847-49), den „Danse Macabre“ von Camille Saint –Saëns (1835-1921) oder „Ein Totentanz“ von Wilhelm Kempff (1895-1991), und auch von Hugo Distler (1908-1942). Wolfgang Andreas Schultz (*1948) komponierte 1986 einen Totentanz. Frank Martins 1943 entstandene Komposition, die in Basel mitten im zweiten Weltkrieg auch ihre beeindruckende Uraufführung – und abgesehen von einer Wiederaufnahme 1992 einzige Aufführung – erlebte, wie die Bilder im Booklet  ebenfalls zeigen, knüpft an eine Vorlage an, die nicht nur für Maler wie Dürer und Holbein oder für Dichter wie Gryphius und Goethe oder Rilke Anlass schöpferischer Auseinandersetzung waren, sondern auch immer wieder Musikern wie Schubert, Mussorsky, Alban Berg oder Honegger und vielen anderen als Vorwurf zu ihren Kompositionen dienten.

[Ulrich Hermann, Juli 2016]

Trotz alledem

SADIE HARRISON
The Rose Garden of Light
(A Crossover Between Afghan and Western Music)
Traditionelle Afghanische Musik und Musik von Sadie Harrison

ANIM  Junior Ensemble of Tradtional Afghan Instruments
Kevin Bishop, Viola
Ensemble Zohra
Cuatro Puntos

TOCC 0342, EAN: 5 060113443427

Afghanistan hat düstere Zeiten erlebt und erlebt sie bis heute. Dass das Regime der Taliban mit Kultur oder gar mit Kunst gar nichts am Hut hatte, dass ihnen Tradition und Menschlichkeit einfach egal waren und sind, ist bekannt. Dass aber dabei auch alle Musikinstrumente systematisch zerstört wurden, war mir neu. Über die Hintergründe und den Neuanfang vor ungefähr zehn Jahren gibt das Booklet sehr informativ und klar Auskunft, auch über die Musikerinnen und Musiker, über deren Zusammenarbeit mit westlichen, besonders amerikanischen Künstlern und Lehrern – Kevin Bishop sei hier stellvertretend genannt.

Die Komponistin Sadie Harrison wurde 1965 in Australien geboren und lebt in England. Sie arbeitete einige Jahre zusammen mit dem Musiker Kevin Bishop im neugegründeten Musikinstitut in Kabul, wo sie die alten Traditionen der afghanischen Musik neu belebten und ihre Kompositionen entstanden.

Herausgekommen ist ein spannendes Crossover – was ja immer ein Risiko ist, wenn traditionelle Musik mit „westlicher“ zusammenkommen soll, von misslungenen, wie von gelungenen Beispielen gibt es eine große Anzahl. (Nachzulesen auch bei the-new-listener).
Aber im Fall dieser erfreulichen CD ist es sehr gelungen, angefangen vom ersten Stück mit dem Titel „Der Judasbaum“ des afghanischen Komponisten Ustad Mohammed Omar, eines berühmten Rubab-Spielers, gefolgt von einem Viola-Solo von Sadie Harrison von 2014 „Allah hu“, überzeugend gespielt von Kevin Bishop, bevor das Hauptstück der Komponistin „The Rose Garden of Light“ von 2015 für Streich-Sextett und Jugend-Ensemble erklingt. Es drückt vor allem die neugewonnene Hoffnung auf eine friedliche und menschenwürdige Zukunft dieses zerstörten und zwischen unterschiedlichen Interessen aufgeriebenen Landes aus.  Und ist mit einer Dauer von fast 25 Minuten das Zentrum dieser CD.

Es folgen einige traditionelle Folksongs, teils instrumental, teils arrangiert für Streichsextett von Kevin Bishop.

Die Schönheit und Gelassenheit des gemeinsamen Musik-Erlebens überträgt sich in wunderbarer Weise auf den Hörer und ermöglicht ihm eine Erfahrung jenseits aller oft ach so reißerisch aufgebauschten Medienberichte über eine uralte Musik und Kultur, die hoffentlich bald wieder zurück finden kann zu ihrer ureigensten Sprache und Form.

Es gibt so viel Staunenswertes und Erlebbares auf unserem „Blauen Planeten“, für ihren „kleinen“ Beitrag gebührt dieser runden Scheibe Dank und besondere Aufmerksamkeit.

[Ulrich Hermann, Juli 2016]

Schade, schade…

Overtones
Les saisons harmoniques
Wu Wei, sheng. Wang Li, guimboard

Harmonia Mundi, HCM902229
3 149020 222928

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Was für seltsame, bezaubernde Töne, wenn diese CD anfängt, nie gehörte Klänge mit dem Sheng oder der Maultrommel, auch Bodypercussion-Elemente, kurzum, alles was die beiden jungen Chinesen mit sich und ihren Instrumenten hervorbringen. Das hört sich zu Beginn ganz spannend an, zieht einen auch in den Bann der Klänge, aber…

Auf die Dauer wirken die ganzen Klangspiele sehr ermüdend oder gar einschläfernd. Vielleicht gut für eine entspannende Klangkulisse bei einer Massage-Session oder beim Meditieren, aber als Musik ist mir da doch zu wenig Struktur in diesen Beliebigkeiten, das ist das Manko.
Und so erschöpft sich der neue Klangreiz leider recht schnell und auch die eingestreuten rhythmischen Passagen können mich nur selten länger fesseln.

Die Schwierigkeit bei jeder Art von improvisierter Musik ist das Vermögen, zu spüren, wann ein Spannungsbogen beginnt, zu einem Höhepunkt hinleitet und wieder endet. Selbst Keith Jarrett musste das bei einigen seiner Konzerte erleben, dass ihm das nicht immer gelang, dann wurde eben keine CD oder kein Doppelalbum daraus, was er immer mit seinem Produzenten Manfred Eicher ganz klar abgesprochen hat.

So schön nun dieses neue Album daherkommt, mit gutem Booklet, schönen Bildern und teilweise faszinierenden Klängen, für eine CD mit 75 Minuten Spielzeit ist das letztlich zu wenig, schade!

[Ulrich Hermann, Juli 2016]

Der unbekannte E.J. Wolff

Erich Jacques Wolff
Im Wendekreis des Goldbocks

Ausgewählte Lieder, Transkriptionen für Klavier

Rebecca Broberg, Sopran
Rainer Klaas, Klavier
Pianopianissimo-musiktheater

Thorofon, CTH2631
4 003913 126313

Während eigentlich jeder Arnold Schönberg (1874-1951), oder auch Alexander Zemlinsky (1871-1942) und gewiss Gustav Mahler (1860-1911) heute kennt, ist der österreichische Komponist und Zeitgenosse Erich Jacques Wolff (1874-1913) bis heute fast gänzlich unbekannt geblieben. Diesem Umstand abzuhelfen ist eines der Hauptziele der amerikanischen Sängerin und Forscherin Rebecca Broberg – vor allem als Wagner-Sängerin bekannt.  Mit dem Pianisten Rainer Klaas sorgt sie auf dieser CD dafür, dass ein damals durchaus bekannter und geschätzter Musiker wieder in unser Bewusstsein rückt. Seine Kompositionen umfassen ca. 200 Lieder, Bühnenwerke und anderes, es lohnt sich also, die Bekanntschaft mit seiner Musik zu machen. Als Lehrer von Alma Schindler – der späteren Alma Mahler – ersetzte er den unsterblich in seine Schülerin verliebten Zemlinsky, wenn sie auch kein besonders positives Urteil über Wolff fällte: der Antisemitismus war auch damals schon sehr verbreitet.

Die Lieder und Stücke auf dieser CD sind natürlich dem Stil der damaligen Zeit verbunden, auch wenn sich die „reine Lehre“ Schönbergs nicht wiederfindet, da sie erst nach Wolffs Tod entwickelt wurde. Dazu sind Poesie und Musik eben vor allem im Lied keine Gegner (prima la musica, poi le parole, was in der Oper durchaus am Platz sein mag). Darunter leidet leider auch ein wenig die Textverständlichkeit, was aber dank des ausführlichen Booklets mit allen Texten lässlich ist. Viel wichtiger ist, dass eine Lücke geschlossen wird, die uns mit einem spannenden und interessanten Zeitgenossen der damaligen Musikerzunft bekannt macht. Auch der von den Nazis durchaus nicht verpönte Komponist Clemens Schmalstich (1880-1960) ist mit einer Improvisation über Wolffs „Märchen“ für Klavier solo vertreten.

Wolffs Bühnenwerk „Zlatorog“ (Romantische Ballettpantomime in 4 Bildern nach der gleichnamigen Alpensage von Martin Zunkovic) von 1906 wurde durch die Vermittlung Alexander Zemlinskys nach dem Tod des Komponisten 1913 in Prag uraufgeführt.

Diese CD vermittelt die Bekanntschaft mit einem fast verschollenen Musiker, dessen Vielseitigkeit auch heute noch bemerkenswert ist und dankenswerter Weise durch diese Scheibe – wie auch durch einige wenige andere – ins Bewusstsein der Gegenwart zu rücken beginnt.

[Ulrich Hermann, Juli 2016]