Alle Beiträge von Ulrich Hermann

Ein alter Text aus Chios

Eleni Karaindrou: DAVID. Szenische Kantate für Soli, Chor und Orchester auf den Text eines unbekannten Dichters des 18. Jahrhunderts von der Insel Chios

Kim Kashkashian, Viola; Irini Karagianni, Mezzosopran; Tassis Christoyannopoulos, Bariton; Vangelis Christopoulos, Oboe; Stella Gadeni, Flöte; Marie-Cécile Boulard, Klarinette; Sonia Pisk, Fagott; Vangelis Skouras, Horn; Sokratis Anthis, Trompete; Maria Bildea , Harfe; Renato Ripo, Violoncello; Katerina Ktona, Cembalo.

ERT Choir, Antonis Kontogeorgiou (Chorleiter); Camerata Orchestra, Alexandros Myrat (Dirigent)

ECM New Series 2221 4814499; EAN: 0 28948 14499 0

Schon der Beginn dieser CD – geheimnisvoll und klangschön – lässt aufhorchen und gespannt sein, was alles folgt. Und das ist eine ganze Menge. Instrumentales und Chorisches, Solistisches vokal und instrumental, man möchte gerne die dazugehörige Aufführung auf DVD oder Blue Ray haben, um das Gesamtkunstwerk auch visuell erleben zu können, aber vielleicht kommt das ja noch.

Eleni Karaindrou wurde im Bergdorf Tichio geboren und wuchs in Athen auf. Sie studierte am Athener Konservatorium Klavier und Musiktheorie sowie an der dortigen Universität Geschichte und Archäologie. Von 1969 bis 1974 setzt sie ihre Ausbildung in Paris an der Sorbonne (Volksmusik) und der Schola Cantorum (Komposition) fort. Zurück in Griechenland, gründete sie das Laboratory for Traditional Instruments am ORA Cultural Centre. Seit 1975 komponiert sie Theater- und Filmmusik.

Mit der Bratschistin Kim Kashkashian arbeitete sie schon öfters zusammen, und ihre Klangsprache bewegt sich auf den verschiedensten Ebenen, wobei sie keine „Berührungsängste“ kennt. Die szenische Kantate „David“ nach einem auf der Insel Chios gefundenen Libretto aus dem 18. Jahrhundert beschäftigte die Komponistin 36 Jahre lang, ehe die Uraufführung 2016 in Athen stattfand. Die Verse des anonymen – wahrscheinlich – katholischen Dichters von der Insel Chios dürften größtenteils ursprünglich gesungen worden sein, und die Komponistin vermutet Einflüsse der damaligen Barockmusik. Sie selber bedient sich einer durchaus zeitgemäßen Tonsprache, wie man sie von ihr kennt, und der Zuhörer hat keinerlei Schwierigkeiten, das Geschehen als Ganzes zu verfolgen. Der bei der Aufführung die Teile verbindende Sprecher fehlt auf der CD. Ergänzend zum Booklet-Text spricht Eleni Karaindrou nicht nur den Solisten, sondern auch dem Produzenten Manfred Eicher ihren Dank für die Unterstützung ihres großen Projektes aus.
Das Ganze besteht aus 13 Abschnitten beginnend mit einer Ouvertüre und endet mit  dem Finale für Mezzo-Sopran, Bariton, Trompete, Chor und Orchester. Die Klangsprache der Komponistin ist sehr farbig, spannend und mitnehmend. Der griechische Text ist in englischer Übersetzung beigegeben und erleichtert das Verständnis des Werks enorm.

Im Ganzen also eine sehr spannende, unterhaltliche „Oper“, die diejenigen Lügen straft, die meinen, man könne so etwas heutzutage gar nicht mehr komponieren, und wenn ja, dann nur so, wie man es bei manchen Werken der modernen Oper schreckerfüllt hinnehmen  zu müssen meint.
[Ulrich Hermann April 2017]

Happy Birthday Händel

Messiah-Konzert in Halle am 25. Februar 2017

Gillian Keith, Sopran –  Franziska Rabl, Alt  – Robert Sellier, Tenor –  Padraic Rowan, Bass – 400 Sänger aus aller Welt  – Staatskapelle Halle

 Proinnsías Ó Duinn, Dirigent

Das Konzert in der Georg-Friedrich-Händel Halle in Händels Geburtsstadt Halle hat zwei verschiedene Aspekte: einen gesellschaftlichen und einen musikalischen. Seit 2000 findet alljährlich um den Geburtstag des Komponisten (23. Februar 1685) eine Aufführung des „Messias“ statt. Dazu lädt der „Happy Birthday Händel–Verein“ Sänger und Chöre aus der ganzen Welt ein. Die Hallenser Staatskapelle spielt und ungefähr 400 Sängerinnen und Sänger singen unter der Leitung des irischen Dirigenten Proinnsías Ó Duinn. Die erste Probe ist am Donnerstag Abend, eine weitere am Freitag und nach der Generalprobe am Samstag Vormittag ist am Abend die Aufführung. So weit das Äußerliche.

Schon zu Händels Lebzeiten wurde die Aufführung des „Messias“ mit immer größeren Chören ein Teil der Rezeption, die ja in Amerika zu Johann Strauß’ Zeiten mit Tausenden von Sängern ihre Fortsetzung fand. Und auch heute ist Händels „Messias“ ein bevorzugtes Stück der Chorbewegung, die seit ungefähr 15 oder 20 Jahren Sängerinnen und Sänger zu allen möglichen Projekten zusammenführt, wie etwa dem „Requiem“ von Mozart, den Messen von Schubert, dem Verdi-Requiem oder anderen Kompositionen. Längst ist daraus tatsächlich eine richtige „Bewegung“ geworden, die natürlich beide Seiten – das gemeinsame Singen und das gemeinsame „Feiern“ – miteinander verbindet.

Einen gemischten Chor von 400 Menschen zusammen zu führen, ist eine ganz besondere Aufgabe, die Proinnsías Ó Duinn allerdings seit Jahren in souverän vereinigender Weise übernimmt. Er kennt natürlich seinen „Messias“  in- und auswendig, und er schafft es, in den wenigen Proben aus der „Masse“ der Singenden einen wirklichen Chor herauszubilden. Allerdings kennen sich viele der Mitwirkenden schon seit Jahren, und die Begegnung ist ein zentraler Aspekt der Aufführung. Auch haben sich fast alle gut vorbereitet, wodurch das Proben mit Proinnías Ó Duinn vom ersten Moment an „klappt“. Natürlich ist bei einer solchen Größenordnung nicht gerade an Feinheiten der Phrasierung oder an besondere Abstufung der Dynamik zu denken. Jedoch, er gibt sein Bestes, mit bestechender Energie und eine gehörigen Portion Humor bringt er die Massen zum chorischen Singen, versucht, das Beste aus der kurzen Probezeit herauszuholen, und so ist der Chor am Samstag Abend bereit, alljährlich diesen „Messiah“ zu einem Erlebnis werden zu lassen.

Unterstützt wird Proinnsías Ó Duinn dabei von vier Solisten und vor allem von der Staatskapelle Halle, die seit 2006 die Aufführung instrumental ermöglicht. Alle gehen sehr bereitwillig auf Ó Duinns Dirigieren ein, und da hilft natürlich die langjährige Vertrautheit von Orchester und Dirigent. Allerdings muss ich an dieser Stelle zwei Musiker herausgehoben erwähnen: die Konzertmeisterin Dorothée Stromberg, die mit unbedingtem Einsatz ihre Kolleginnen und Kollegen anführt, und den Kontrabassisten Steffen Slowik. Ganz selten habe ich jemanden erlebt, der seinen Continuo-Part und auch das Übrige so mit Leib und Seele und natürlich auch mit seinem ganzen Wissen und unwiderstehlicher Präsenz musiziert wie diesen Musiker. Auch er ließ den Abend zu einem ganz besonderen Erlebnis werden.

Ein Wort zu den Solisten, ohne deren Präsenz die Aufführung des „Messiah“ nicht möglich wäre: Schon im Vorfeld ist man ja immer gespannt, wer dieses Jahr die Solopartien singen wird. Wenn dann amSamstag vormittags bei der Generalprobe die vier zum ersten Mal hinzutreten und meist ihre Partie zum Chor gewendet singen, dann erst kommt das richtige „Feeling“ auf, bei einem Konzert mit dabei zu sein auch als Chorsänger – ich bin dabei einer von ungefähr 40 Tenören.

Proinnsías Ó Duinn begann mit dem zweiten Teil, also war Franziska Rabl mit ihrer Altstimme die erste, die wir hörten: „He was despised“. Dann kam Robert Sellier mit der Tenorklage: „All they that see Him,“ und den nachfolgenden, tief bewegenden Stücken „Thy rebuke…“. Auch wenn er in seiner Arie „Thou shalt break them“ bei der Probe „markierte“, seine Stimme, seine Gestaltung und seine Präsenz waren bewegend. Die eigentliche Überraschung bei den Solisten allerdings war der 26-jährige Padraic Rowan, der die Bass-Arie „Why do the nations“ mit voller Kraft und Stärke und einer staunenswerten Stimme erfüllte. Gillian Keiths Sopran kam trug in der wohl schönsten Arie „I know that my redeemer liveth“ leicht und bewegt im Riesenraum der Händelhalle.

Am Abend also die Aufführung: Natürlich lässt sich nach nur drei Proben dieses geniale Riesenwerk nur bedingt in seinem Potential ausschöpfen und auch nicht komplett wiedergeben – doch registriere man die Tatsache, dass es ja eh keine endgültige Fassung des „Messiah“ gibt, jede ist eine andere Auswahl, was ebenfalls dafür gesorgt hat, dass – anders als bei der „Matthäus-Passion“ von Bach – Händels „Messiah“ immer gegenwärtig war und blieb. Die Musik, vor allem die Chöre, kommt oft nicht über das schlichte Realisieren der Noten oder der Töne hinaus, allerdings ist bei den schnellen Tempi, die Proinnsías Ó Duinn nimmt, an ein bewussteres und musikalischeres Ausführen kaum zu denken, besonders die Koloraturen in den tiefen Stimmen oder die Dynamik bei den hohen, das kommt oft nur sehr plakativ daher. Auch sind Feinheiten wie „for unto us a child is born“ oder „His yoke is easy“ _ und nicht „His yoke is easy“ usw. – nicht möglich, was schade ist, denn Händel hat im „Messiah“ intensiv mit und nach der englischen Sprache komponiert. Auch das Halleluia-Schlachtross wird bei solch einem „Event“ natürlich nicht besonders differenziert musiziert, wie es zu wünschen wäre.

Dafür waren Solisten und Orchester in Hochform, besonders die beiden Männerstimmen sangen all ihre Arien mit bewegender Intensität. Und die „Pifa“ habe ich persönlich selten so fein und ausgezeichnet gehört wie dieses Mal.

Selbstverständlich gab es vom Publikum riesengroßen Beifall für alle, und als Zugabe wurde – längst Tradition – das „Halleluja“ wiederholt, womit ein großer Abend sein Ende fand.
Bei alledem wurde dem anderen, dem gesellschaftlichen Teil des Projekts jeden Abend nach den Proben und auch nach dem Konzert noch ausgiebig Rechnung getragen in den verschiedensten Kneipen, Wirtshäusern und Restaurants der Stadt Halle. So kamen alle auf ihre Kosten.

[Ulrich Hermann, Februar 2017]

 

 

 

Wales’ überragender Symphoniker

Daniel Jones (1912-93): Symphonien Nr. 1 & 10

Lyrita,  SRCD 358; EAN: 5 020926 035820

Der 1912  in Pembroke, Süd-Wales als Sohn eines  Komponisten-Vaters und einer Sängerin-Mutter geborene Daniel Jones schrieb 14 Symphonien neben anderen Kompositionen wie Kammermusik, aber auch zwei Opern und Musik für das Hörspiel „Under The Milkwood“ von Dylan Thomas, mit dem er auch befreundet war.

Seine „Erste“ komponierte Jones 1947, die „Zehnte“ 1981. Dazwischen liegt also eine beträchliche Zeitspanne und eine sehr deutliche Entwicklung seiner Klangsprache. Dauert die erste Symphonie über 50 Minuten, begnügt sich die 10. mit knapp 20. Beiden gemeinsam ist eine durchaus tonale und streckenweise sehr melodiöse Art, die durch sehr wirkungs-volle und beeindruckende Orchestrierung verrät, dass Jones  – so unbekannt er auch bei uns sein mag – eine Entdeckung wert ist. Besonders die langsamen Sätze seiner beiden Symphonien beeindrucken durch magische Klangwirkungen und intensive Melodik. Überhaupt ist seine melodische Erfindungsgabe verbunden mit dem Wissen um die Umsetzung ins Orchestrale ein herausragendes Merkmal seiner Musik.

Beide Aufnahmen sind Mitschnitte der BBC von 1990 unter Leitung des erfahrenen späten Bryden Thomson und überzeugen durch ein Klangbild, das dieser symphonischen Musik ein adäquates Hörerlebnis vermittelt.

Wie schade, dass diese Kleinodien vom heutigen – wenigstens deutschen – Musikbetrieb so ganz und gar übergangen werden. Um so mehr ist es zu begrüßen, dass das Label Lyrita sich Jones’ Musik annimmt und uns damit bekannt macht: Eine wahre und begeisternde Neuentdeckung eines Komponisten, dessen 1. und 10 Symphonie im Kontext  britischer Musik schon längst ihren Platz gefunden hat.

Natürlich bietet das ausführliche Booklet genügend Information zu Leben und Werk des Daniel Jones, wenn auch leider nur auf Englisch.

[Ulrich Hermann, Februar 2017)

Konzert „Verzupft“ im Wildwuchs

Am Samstag den 4. Februar stellte das Gitarren-Ensemble „Verzupft“ seine Debut-CD im Rahmen eines Konzerts im „Café Wildwuchs“ in der Münchner Leonrodstrasse vor. In diesem kleinen – von Beginn an rauchfreien – Saal begannen die drei Musiker um  den „Primarius“ René Senn , die zweite Gitarre spielte Doris Leibold, und die dritte Gitarre war gut aufgehoben in den Händen von Thomas Kohl.

Die drei begannen mit sogenannter „Bauernmusik“. Wer aber nun allzu sehr an Wirtshaus und Krachlederne dachte, wurde sogleich eines Besseren belehrt. Was da von der Bühne kam, war alles andere als die übliche Bayerische Volksmusik. Wer – wie  René Senn – zu seinen Vorbildern den Bayerischen Musiker Joseph Eibl (den Eibl Sepp), aber andererseits auch Jimi Hendrix  zählt, von dem darf man auch in Punkto Volksmusik etwas Anderes erwarten. Und das hörte man auch vom ersten Stück an: Der Gitarren-Bayerische, eine Original-Komposition für drei Gitarren von Tobi Reiser sen. (1907-74), gemeinhin der Begründer jener klassischen „Stub’n-Musik“, wie sie heute so verbreitet ist – allerdings spielte „Verzupft“ laut Ansage dieses Stück heut zum letzten Mal, denn wie unlängst die Recherche von Doris Leibold ergeben hatte, spielte Tobi Reiser im Dritten Reich eine sehr unerquickliche Rolle, weshalb sich nicht nur das Ensemble, sondern sogar die Stadt Salzburg sich von ihm distanziert hat.

Es folgte eine ganze Reihe von Tänzen und Stücken aus einer Sammlung, die sich tatsächlich „Bauernmusi“ nennt, und die jeweils nach den Ansagen von Doris Leibold erklangen. Unterbrochen wurde diese Session von einem altenglischen Liebeslied „As I Was Awalking“ mit Doris Leibold als Sängerin, die mit ihrer hellklingenden Stimme von den beiden Gitarristen wunderbar untermalt wurde. Überhaupt ist – im Gegensatz zu sehr vielen klassischen Gitarristinnen und Gitarristen – das gesangliche Melodiespiel vor allem bei René Senn und Thomas Kohl ein ganz besonderes Merkmal. Wie wunderbar phrasiert diese Melodien daherkommen, kontrapunktiert von den Bassläufen auf der dritten Gitarre von Doris Leibold, ist beispielhaft. Aber ist es bekanntlich bei der Bayerischen Volksmusik sowieso zentraler Ausgangspunkt: Das Singen. Demzufolge können einiger der besten Volksmusik-Gitarristen – siehe der Eibl Sepp – Melodien so natürlich  spielen, wie „es sich gehört“, da sie es bereits mit der Muttermilch aufgesogen haben. (Wie auch Sergiu Celibidache darauf hinwies.) Und sowohl René Senn als auch Thomas Kohl gehören zu dieser „Gattung“ zweifellos dazu. Auch auf der CD ist das alles nachzuhören.

Aber der zweite Teil des Abends brachte noch andere Musik in unser Ohr: Und da ging dann einfach musikalisch die Post ab! Blues vom Feinsten, rhythmisch mit der Kontrabass-Gitarre von Doris Leibold zum schönsten grooven gebracht und von den beiden Herren in bester Spiellaune dem knallvollen Saal präsentiert. T-Bone Walker, Freddy Q und andere standen dann auf dem Programm, und die Tatsache, dass eben auch Jimi Hendrix zu den Vorbildern gehört, war genau wieder einmal der Beweis, dass es letztlich nur zwei Arten von Musik gibt: Gute – wie an diesem Abend – und schlechte, über die wir hier allerdings kein weiteres, überflüssiges Wort verlieren wollen.

[Ulrich Hermann, Februar 2017]

Erleuchtender ÜberBach

ÜberBach – von Arash Safaian

Neue Meister 0300 825 NM (Edel Classics); EAN: 885470008257

Auf diese CD haben wir lange warten müssen… seit in den 1960ern Jacques Loussier uns völlig neue Möglichkeiten der Bachschen Musik eröffnete.

Erst jetzt erleben wir durch den Münchner Komponisten Arash Safaian einen wirklich zeitgenössisch gestylten, zeitgemäßen Johann Sebastian Bach. Er passt hervorragend zum Berliner Label „Neue Meister“, das es sich ja zur Aufgabe gemacht hat, grenzenlose neukomponierte Musik der Welt zu schenken. Eine von diesen bisher acht CDs ist „Überbach“.

Ohne historischen oder hysterischen Ballast, ohne „von des Gedankens Blässe angekränkelt zu sein“ – um mit Hamlet zu sprechen –, wird hier endlich die volle Genialität der Musik des im Iran geborenen, aber in Bayreuth groß gewordenen Malers und Komponisten Safaian erlebbar. Er macht sich die Bach‘sche Musik auf seine ganz eigene, unschuldige – wie er im Programmheft schreibt – Art und Weise zu eigen. Seine Mitstreiter sind der Pianist Sebastian Knauer, der Vibraphonist Pascal Schumacher (er selbst am Synthesizer) und das Züricher Kammerorchester. Sie weisen endlich einmal ohne eine beengende Zurückhaltung auf all ihre Verdienste, Meriten oder Auftritte hin. Man weiß also als Hörer dieser CD die Tatsache zu schätzen, dass hier endlich einmal wirkliche Könner am Werk sind und keine Dilettanten.

Und so erleben wir einen zeitgemäßen ÜBERBACH, der endlich das erfüllt, was die Musik des Altmeisters seit Jahrhunderten vergeblich versprach: Die volle Erfüllung seiner Kunst, die Arash Safaian und seine höchst emsigen Mitmusiker endlich endlich hörbar machen. Das ist so allgewaltig und überzeitgemäß, dass es auch keine Spur einer erfühlenden Phrasierung braucht, sondern nur den klaren, knackig hervorgehobenen Beat, womit der Pianist voll in seinem Element ist.

Diese CD ist eine wahre „Erleuchtung“ und wird die Entwicklung der modernen Musik in gigantischer Weise neu ordnen und beeinflussen. Und wir dürfen voll Stolz sagen, dass wir dabei gewesen sind, wie der alte Goethe, als er die Schlacht um Mainz miterleben durfte.

[Ulrich Hermann, Februar 2017]

Tristan Meets Prokofieff

Hochschule für Musik und Theater München: Klavierfestival 2017
Studierende der Klasse Professor Antti Siirala

Am Donnerstag, den 2. Februar 2017 fand in der Hochschule im Rahmen des Klavierfestivals 2017 ein Abend mit Studierenden von Professor Antti Siirala statt.
Um es gleich vorweg zu sagen: Klavier spielen können sie natürlich alle, und wie! Aber das Spannende an diesem Klavier-Abend ist halt die Möglichkeit des Vergleichs.
Nicht bezüglich der Auswahl der Stücke, die von Johann Sebastian Bach bis zu Lowell Liebermann reichte, einem Komponisten, der 1961 geboren wurde und in Amerika lebt, sondern auch hinsichtlich der sehr persönlichen Art, mit der jede Spielerin, jeder Spieler sich und die Musik vorstellte.

Gabriel Reichert begann mit Bachs Toccata aus der Partita Nr. 6 in e-moll BWV 830. Man würde gerne noch mehr gerade von dieser Partita hören von diesem jungen Musiker. Natürlich hat es der erste besonders schwer, denn alles Andere folgte ja noch.

So sprang Yi Yi gleich buchstäblich ins kalte Wasser mit dem Stück „Gargoyles op.29“ von Lowell Liebermann. (Auch ich musste nachschauen, was Gargoyles eigentlich heißt.: Wasserspeier!) In dem Stück faszinierte mich persönlich der zweite Teil „Adagio semplice, ma con molto rubato“ am meisten. Es klang besonders gesanglich und war am unmittelbarsten zugänglich.

Erica Guo gefiel mit den ersten 12 Préludes op. 28 von Frédéric Chopin, von denen ja einige besonders bekannt sind und sicher einige Zuhörerinnen und Zuhörer an eigene Klavier-Versuche gemahnten.
Insgesamt kamen die Stücke gesanglich und mit schön gestaltetem Ton daher.

Vor der Pause bekamen wir von Junhyung Kim die „Trois mouvements de Pétrouchka“ von Igor Stravinsky zu hören. Natürlich sind diese drei Stücke ein Reißer, den uns Junhyung Kim auch mund- und hörgerecht servierte. Ein Entertainment für Herz und Ohren, mit aller körperlichen Energie dem Steinway-Flügel nicht nur entlockt, sondern auch knackig dargeboten. Die ziemlich einfachen, aber sehr eingängigen Melodien, mit denen Stravinsky seinen Pétrouchka da auftreten lässt, verfolgen einen natürlich noch in der Pause, auch die ganze rhythmische Attitüde ist aufs Beste in den Händen des Pianisten aufgehoben. Das Vergnügen, das er selbst am Spielen hat, überträgt sich durchaus auf die Zuhörer.

Nach der Pause zunächst die herrlichen Variationen f-moll Hob. XVII: 6 von Joseph Haydn. Ho-Yel Lee spielte sie mit feinstem Gespür für Melodik und Harmonik. Auch sein „Anschlag“ – welch ein grausiges Wort für dieses „Fingerspitzengefühl“ – ließ die Musik des so oft unterschätzten Joseph Haydn zur vollen Blüte kommen. Nach der Stravinsky’schen Musik war kaum ein größerer Gegensatz denkbar.

Amadeus Wiesensee hatte Liszts Transkription von Richard Wagners „Isoldens Liebestod“ aus Tristan und Isolde aufs Programm gesetzt. Mir schwante Schauerliches on solchen Unterfangens, aber: Wie groß war die Überraschung, als Wiesensee schon mit den ersten Anfangsakkorden dem Flügel einen wirklich magischen Klang entlockte, den er durchaus bis zum allerletzten verklingenden Ton beibehielt. Die Magie dieser Musik wurde in einem Maß erlebbar, die ich keinem der jungen Spielerinnen und Spieler zugetraut hätte. Aber Amadeus Wiesensee und sein – mir von früheren Konzerten bereits bekanntes – wunderbar ausgehörtes und erlebtes Klavierspiel machte die Wagnerschen Melodien und Harmonien zu einem unerhörten Erlebnis.

Was konnte danach denn überhaupt noch kommen? Nun. Die Choreographie des Abends – klug ausgewählt – brachte mit So-Hyang In und ihrem Stück, nämlich der 8. Sonate in B-Dur op.44 von Sergej Prokofieff, eines der beeindruckendsten Klavierwerke des 20. Jahrhunderts als Abschluss. Wie So-Hyang In dieses ungeheuerliche, dreisätzige Meisterwerk mit all ihrem Können und ihrer Kunst im großen Konzertsaal der Musikhochschule zur Aufführung brachte, verdient hohe Anerkennung und brachte ihr viele Bravos und Hervorrufe ein.
Diese achte von Prokofieffs Klaviersonaten – Emil Gilels gewidmet – ist ein Koloss. Mit einem langsamen Andante dolce beginnend, kommt es über ein Andante sognando (ein träumerisches Andante) zum letzten Satz, der nicht nur Vivace überschrieben ist, sondern der Spielerin alles an Kraft und Präsenz, aber auch an kluger Disposition abverlangt, was möglich ist. Diese Musik von Sergej Prokofieff  bewegte mich so sehr, dass ich sie – kaum zu Hause angelangt – sofort noch einmal bei Youtube  anhören musste, was natürlich nur ein schwacher Abglanz der Darbietung sein sollte, die mir an diesem Abend in der Münchner Musikhochschule geschenkt wurde.

[Ulrich Hermann, Februar 2017]

Die Klarinett’, die Klarinett’…

Paul Hindemith (1895-1963) Klarinetten-Konzert (1947); Jan Van der Roost (*1956) Klarinetten-Konzert ; Richard Strauss (1864-1949) Romanze in Es für Klarinette und Orchester

Eddy Vanoosthuyse, Klarinette; Central Aichi Symphonie Orchester; Sergio Rosales, Dirigent

Naxos 8.579010; 7 47313 90107 4

Von allen Holzblasinstrumenten ist die Klarinette schon seit langem mein Favorit, und das nicht nur wegen Giora Feidman. Das große Konzerte von Hindemith von 1947, zu dem damals Benny Goodman den Auftrag gab, und das  jüngere von Van der Roost, das dem auf vorliegender CD spielenden Solisten gewidmet ist, dazu eine Komposition des 15 Jahre alten Richard Strauss: wahrlich ein volles Programm.

Sowohl Solist als auch Orchester bringen zu Beginn eine Musik zu Gehör, die alle faszinierenden Seiten des Instruments voll Kraft und Spielfreude darstellt. Das viersätzige Werk von Hindemith spart nicht mit polyphonen Strukturen, die an einigen Stellen im Orchester noch klarer artikuliert werden könnten, aber im großen Ganzen ist die Musik auf der Höhe  des damals längst nicht mehr Bürgerschreck sein wollenden Komponisten. Sein Erfindungs-Reichtum in melodischer wie auch harmonischer Hinsicht ist unerschöpflich, und Eddy Vanoosthuyse legt eine herrlich zündende und feinsinnige Aufführung hin..

Das zweisätzige Konzert vom belgischen Komponisten Jan Van der Roost – der vor allem für Blechbläser ein reiches Œuvre vorzuweisen hat – ist dem Solisten gewidmet und beginnt mit einem langsamen Satz, der vor allem die gesanglichen und melancholischen Seiten der Klarinette hervorhebt. Während im zweiten Satz- giocoso e con bravura – alles an Möglichkeiten dieses singen, lachen und weinen könnenden Instruments effektvoll zur Geltung kommt. Der Solist ist in allen Registern gefordert. Das Orchester ist ihm adäquater Begleiter, farbig und rhythmisch breitet es dem Solisten das nötige „Silbertablett“ aus. Die  durchaus freitonale, aber nicht atonale Musik überzeugt in ihrer Klangsinnlichkeit nicht nur des Soloparts sondern auch im Orchestersatz.

Natürlich ist dem damals erst 15 Jahre alten Richard Strauss mit „seiner“ Romanze für Klarinette und Orchester bereits ein Meisterstück gelungen, das anzuhören einfach schön ist. Sowohl die dankbare Behandlung der Solostimme, die auch ein wenig an Weber erinnert, als auch der farbige Orchestersatz lassen den künftigen Meister-Komponisten erkennen.

Fazit: Eine gelungene Neuerscheinung mit einer überzeugenden Zusammenstellung und einem vortrefflichen Solisten aus dem Hause NAXOS.

[Ulrich Hermann, Januar 2017]

Savonarola und die Musik: Scattered Ashes

Savonarola und die Musik: Scattered Ashes
Josquin’s Miserere & The Savonarolan Legacy
MAGNIFICAT, dirigiert von PHILIP CAVE

Linn Records, CKD 517

Giramolo Savonarola (1452-98) war mir bisher nur als Religionskritiker ein Begriff, der die Verbreitung seiner Ideen mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen büßen musste. Dass er aber eine ganze Reihe von Texten – außer seinen Predigten – hinterlassen hat und bis zuletzt Texte wie das vorliegende Miserere verfasste, war mir neu. Und dass diese Texte sich in ganz Europa in Windeseile verbreiteten und von vielen zeitgenössischen Komponisten – aber auch in späteren Jahrhunderten – vertont wurden, das wirft sowohl auf den Text und seinen Verfasser als auch auf die Komponisten der damaligen Zeit ein völlig neues und sehr auf- und anregendes Licht.

Zumal mit einem Ensemble wie dem 1991 von seinem Leiter Philipp Cave gegründeten Chorensemble „Magnificat“, das sich die Restaurierung und Wiederaufführung  vergessener chorischer Meisterwerke aus Reformation und später Renaissance zur Aufgabe gemacht hat. Das Booklet gibt über den Chor, seinen Leiter, die Mitwirkenden und natürlich über die Texte und geschichtliche Hintergründe erschöpfend Auskunft, wenn auch nur auf Englisch.

Was diese Gruppe an Musik überzeugend gestaltet und wiederbelebt, ist beispielhaft und braucht den Vergleich mit anderen Ensembles wahrlich nicht zu scheuen. Die Ausgewogenheit der Stimmen, die Phrasierung, die Darstellung vertracktester polyphoner Strukturen, die Textverständlichkeit  und natürlich überhaupt der Klang von „Magnificat“ sind so, dass mich diese Musik in einen Bann zieht, der so manches andere an „musica antiqua“ verblassen lässt. Besonders beeindruckt hat mich die große Ruhe, mit der jede einzelne Komposition gestaltet und dargestellt wird, ob sie vom Titelgeber Josquin des Prez (1450/55-1521) oder von den anderen Komponisten wie Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-94), Claude Le Jeune (1528-1600), Orlando di Lasso (1532-1594), Jean Lhéritier ( 1480?-1551?), Nicolas Gombert (1495?-1560), Jacobus Clemens non Papa (1510/15-1555/56) und William Byrd (1543-1623) stammt.  Sicher hat daran der Leiter des Ensembles einen besonders großen Anteil, denn wie das Programmheft beschreibt, scheint er ein „Besessener“ zu sein, dessen großes Engagement sich offenkundig auf alle Sängerinnen und Sänger übertragen hat.

(Noch dazu, dass in der damaligen Zeit die Menschen sich ihrer Ausrichtung bewusst waren, zu „Mutter Erde“ und „Vater Himmel“ – oben wohnt „der liebe Gott“ und unten „der Teufel“ und wir als Menschen eben dazwischen eingespannt oder eingesperrt ad libitum.)
Natürlich wäre ohne Savonarola und Jan Hus mit ihren Schicksalen einige Jahrzehnte später ein Mann wie Martin Luther nicht denkbar gewesen, auch wenn ihm glücklicherweise der Scheiterhaufen erspart blieb.

Die Kompositionen auf dieser CD unterstreichen, dass Savonarolas Ideen und Texte eben keine Eintagsfliegen geblieben sind, sondern eine weiter reichende Wirkung hatten, allen Widerständen zum Trotz.

Eine CD, die neue Maßstäbe im Bereich der Chormusik setzt, besonders auf dem Gebiet der „Alten Musik“, und das ist höchst erfreulich.

[Ulrich Hermann, Januar 2017]

Sousa classics – Classical Sousa

Music for Wind Bands Vol. 12 – John Philip Sousa (1854-1932)
The Royal Swedish Navy Band  – Keith Brion

Naxos American Classics 8.559691; EAN: 6 36943 96912 0

Wer auf gute Blasmusik steht, kommt an den Stücken von John Philip Sousa nicht vorbei, vor allem dann nicht, wenn diese „Gassenhauer“ der Blasmusik so gut und temperamentvoll vorgetragen werden wie auf dieser Scheibe. Die Schwedische Königliche Marine-Band unter ihrem englischen Dirigenten Keith Brion legt da los mit „erhörbarem“ Schwung und Elan, dass es eine wahre Wonne ist.

Natürlich sind die Stücke, deren Entstehungszeit von 1876 bis ins Jahr 1924 reicht, einfacher Tonalität vom ersten bis zum letzten Ton verpflichtet, aber es wird dadurch nie langweilig oder eintönig. Einiges kommt als Suite daher: „Maidens Three“ oder „Leaves From My Notebook“ – besonders berühmt war ihr Schöpfer allerdings für seine unerschöpflichen Einfälle an Märschen zu diesem oder jenem Anlass, an denen es dem Leiter mehrerer Militär-Kapellen nie mangelte. Daher auch sein Beiname „The March King“. Auch als Verwerter anderer Komponisten wie Gilbert & Sullivan, deren Melodien in einigen seiner Märsche sich wiederfinden, oder als Komponist zu feierlichen Staatsbegräbnissen fungierte er. Er war sozusagen der Johann Strauß jr. der amerikanischen Marschmusik.

Dem Liebhaber besonders fein ausgearbeiteter und auch besonders delikat gespielter amerikanische Blasmusik wird diese CD aus der Reihe „American Classics“ von Naxos hochwillkommen sein.

[Ulrich Hermann, Januar 2017]

Historisch nicht hysterisch

Johann Sebastian Bach (1685-1750): Dialog-Kantaten
Ach Gott, wie manches Herzeleid BWV 58; Liebster Jesu, mein Verlangen BWV 32; Concerto für Oboe d’amore & Orchester BWV 1055R; Selig ist der Mann BWV 57

Hana Blaziková, Sopran; Dominik Wörner, Bass; Kirchheimer BachConsort; Alfredo Bernardini, Oboe, Oboe d’amore und Leitung

Cpo 555 068-2; EAN: 7 61203 50682 8

Bei dieser CD stimmt alles, das Tempo – gemessen und nie überhastet –, der Klang, die Phrasierung, die Stimmen, das Timbre, kurz: eine Entdeckung. Besonders das Konzert für Oboe d’amore und Orchester BWV 1055R ist ein echter Fund, aber auch die Dialog-Kantaten bereichern das Repertoire. Bei Bach –wie das kürzlich erschienene Buch von John Eliot Gardiner mit dem Titel „Bach – Musik für die Himmelsburg“ zeigt – gibt es immer wieder und immer noch Ungeheuerliches zu entdecken. Besonders das Verhältnis vom Text zur Musik ist in seiner ganzen Tiefe noch längst nicht ausgelotet. Aber auch bei den Instrumental-Stücken, wie das vorliegende Beispiel zeigt, ist noch Luft für Neues, Unerhörtes. Alfredo Bernardini leitet nicht nur gelassen und überzeugend begleitend die Kantaten, sondern ist auch als Solist auf der Oboe in allen Bereichen kompetent und vom Klang her – hin und wieder erinnert die Oboe d’amore fast an ein Cello – sehr gültig und beeindruckend.

Über Weiteres gibt das – wie bei CPO fast immer – umfassend informierende Booklet Auskunft. Mein Fazit ist also, dass diese CD ein überzeugender Treffer ist und das Bach’sche Œuvre auf CD erfreulich bereichert.

[Ulrich Hermann, Januar 2017]

Bezaubernde Vielfalt

Lebanese Piano Music; Tatjana Primak-Khoury, Piano
Anis Fuleihan: Klaviersonate Nr. 9 (1970);Houtaf Khoury: Piano Sonata No. 3 «Pour un instant perdu…» (2013); Boghos Gelalian: Tre cicli (1969); Boghos Gelalian: Canzone e toccata (1981); George Baz: Esquisses (1959); Toufic Succar: Varations sur un Thème oriental (1947)

GP 715; EAN: 7 47313 97152 7

Libanon? Und Musik? Ja, Palmen, Zedern, Meer, Gebirge, Beirut, Krieg und alle möglichen politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, aber komponierte Musik?

Doch, es gibt Komponisten im Libanon, und die schreiben wunderschöne und sehr vielfältige Musik, wie diese CD beweist. Vier Ersteinspielungen und Klaviermusik vom feinsten, gespielt von einer hervorragenden urmusikalischen Pianistin, die – in der Ukraine geboren und aufgewachsen – mit dem libanesischen Komponisten Houtaf Khoury (*1967) verheiratet ist. Sie ist eine exzellente Sachwalterin nicht nur der Klaviermusik ihres Mannes, nein, all der Stücke, die auf dieser faszinierenden Scheibe erklingen. Das reicht von einem Variationszyklus vom ältesten Komponisten Toufic Succar (*1922) von 1947, einem herrlich verspielten Stück bis hin zu Khourys Sonate Nr. 3 von 2013, einem dreisätzigen Werk, das einen pessimistischen, aber ungeschminkten Blick auf das derzeitige Leben in diesem so zerrissenen Land freigibt, einem Land, von dem Houtaf Khoury sagt:

„ Die Libanesen glauben mehr an ihre Künstler als an ihre Politiker. Und ich glaube, wir als Künstler können viel verändern.“ (In welchem Land der derzeitigen Welt wäre es anders?) Das dreisprachige Booklet gibt umfassend Auskunft über die einzelnen Komponisten und ihre Situation. Einige, wie der 1900 geborene und 1970 verstorbene Anis Fuleihan (die hier vorliegende 9. Klaviersonate schrieb er kurz vor seinem Tod), wurden auch im Ausland populär, andere wie George Baz (1926-2012) spiegeln den französischen Einfluss wider, unter dem der Libanon ja bis 1943 stand. Baz beschreibt seine Musik als „Erinnerung an den Impressionismus, angereichert durch kleine persönliche Entdeckungen.“ Was in seiner Klaviermusik auch deutlich zu hören ist, aber das ist ja nicht die schlechteste Voraussetzung für klanglich überzeugende und bewegende Kompositionen.

Auch Boghos Gelalian (1927-2011) hatte unter widrigen Umständen zu leiden, zuerst als Armenier, dann im Libanon als Klavier- und Kontrapunktlehrer, der seinen Unterricht stoisch und unter erschwertesten Bedingungen fortsetzte.

Seine Musik, von der mir besonders die klagende „Canzone“ zusagt, ist meisterlich. Aber allen Stücken gemeinsam ist, dass sie von einer Pianistin ins Leben gerufen werden, deren Spiel bei aller manchmal erforderlichen Lautstärke nie hart wird, immer äußerst melodisch und durchhörbar bleibt und einen ganz speziellen Klang produziert, der immer daran erinnert, das die „Dinger“ T A S T E N heißen.

Wie schon Heinrich Jacoby 1945 in seinem überaus wichtigen Buch „Jenseits von Begabt und Unbegabt“ auf Seite 329 schreibt: Der Name „Tasten“ sagt im Grunde alles aus, was zu geschehen hätte, wenn jemand mit dem Klavierspielen anfangen will!“ (Wie viele Pianisten vergessen das immer wieder?) Nicht aber Tatjana Primak-Khoury, die mit dieser Einspielung der libanesischen Klaviermusik den denkbar besten Dienst erweist und uns mit einer wunderbaren, bisher unbekannten Kunst bekannt macht.

[Ulrich Hermann, November 2016]

Persischer Zauberer

Persian Fantasy: Nima Farahmand Bafi , Klavier

Nima Farahmand Bafi: Persian Fantasy; Fantasy On Torkaman By Hossein Alkizadeh; Persian Poem Nr. 1 & 2
Frédéric Chopin: Polonaise Op.53
André Aminollah Hossein: Hommange à Kayam
Franz Liszt: Hungarian Rhapsody No. 12
Aram Khachaturian / Nima Farahmand Bafi: Prelude and Lezginka from „Gayneh Ballet“

ACD 6154 ANIMATO; EAN: 4 012116 615432

„Alle Stücke in diesem Projekt ergänzen sich in ihrer emotionalen Stimmung und zusammen bilden sie eine musikalische Reise. Sie reflektieren, wie traditionelle persische und westliche klassische Musik mich inspiriert haben….“  So schreibt der inzwischen in Stuttgart lebende Pianist Nima Farahmand Bafi im Booklet über seine CD und die Hintergründe für diese spannende und  hörenswerte „Cross-Over“–Reise. Schon das erste Stück, die Persische Fantasie, nimmt den Hörer in eine völlig andere Klangwelt als die gewohnte klassische eines Klavierabends. Die modale Melodik der iranischen Musik – wovon der Pianist sicher auch nur einen Ausschnitt wiedergeben kann, denn die persische Kultur gehört ja zu den ältesten der Zivilisation – ist sehr fasslich und nachvollziehbar. Noch dazu, wenn sie von einen solchen Meister ins Spiel gebracht wird mit der intensiven Delikatesse, was Ton und „Anschlag“ angeht.  (Welch ein grausiges Wort für die Berührung der weißen und schwarzen „Tasten“, wie sie doch ganz richtig im Deutschen heißen!)

Nein, die Musik seiner iranischen Heimat lässt der 1984 geborenen Musiker – der auch ein promovierter Physiker ist(!) – zu einem wundervollen (= voller Wunder) Hörerlebnis werden. Dass er aber auch anders kann, zeigen die drei gleichfalls aus folkloristischem Fundus schöpfenden „westlichen“ Stücke, wobei mich die Übertragung des armenischen Stücks von Aram Khachaturian am meisten fasziniert. Es ist eben einer der Vorzüge des Mediums, immer neue Hörwelten nachvollziehbar werden zu lassen. Bei Chopins Polonaise op. 53 – die ja zu seinen bekannteren Stücken zählt – kann Nima Farahmand Bafi seine andere , die klassisch- pianistische Seite ausspielen, da klingt der Steinway eben nicht mehr so melodiös singend, da kommen die dynamischen Möglichkeiten des Instruments und seines Spielers zum Zuge, ebenso in der 12. Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt. Aber das für mich wichtigere Erlebnis besteht eben im Kennenlernen einer völlig anderen, eigenständigen Musiksprache eines Landes, dessen Kultur derzeit in den Medien leider fast nur noch unter merkwürdigen politischen Gesichtspunkten gesehen und beschrieben wird.

Dafür bildet die CD mit und von Nima Farahmand Bafi ein höchst willkommenes und verzauberndes Gegengewicht.

[Ulrich Hermann, November 2016]

Alles von wild bis berückend zart

Konzert vom Sonntag, den 27. November 2016  19 Uhr; Herkulessaal der Münchner Residenz

Symphonieorchester Wilde Gungl München; Margarita Oganesjan, Klavier, Doren Dinglinger, Violine, Uladzimir Sinkevich, Violoncello; Michele Carulli, Dirigent

Ludwig van Beethoven: Konzert für Klavier, Violine, Violoncello und Orchester (Tripelkonzert) C-Dur op. 56; Johannes Brahms: Symphonie Nr. 1 c-moll op. 68

Photo Matthias Hallensleben
Photo Matthias Hallensleben

Die allererste Frage nach dem Tripelkonzert von Beethoven: Warum, unbegreiflicherweise, hört man diese wundervolle Musik nicht viel öfter im Konzertsaal?  Oder, etwas „cooler“ gefragt: Was ist besser als ein Solist? Eben deren drei, noch dazu von derart exquisitem Zuschnitt wie an diesem Abend. Dass Michele Carulli die Wilde Gungl und sich selbst hinter die drei Solisten postierte – übrigens auf seinen Wunsch, um dem Trio das bessere Zusammenspiel zu ermöglichen –, führte zwar an einigen Stellen zu leichten Irritationen, ist jedoch dennoch bemerkenswert. Und diese beeindruckende Musik unmittelbar beim Entstehen erleben zu können, ist jedesmal ein solches Erlebnis, damit kommt keine noch so gute und perfekte CD mit. Live is Life! Und die Musiker des Orchesters begleiteten die Solisten mit äußerster Intensität und bereiteten ihnen das wünschenswert obligate „Silbertablett“. Michele Carulli dirigierte wie immer mit Leib und Seele, befeuerte seine Instrumentalisten und brachte vor allem wieder einmal die Streichergruppen zum Blühen und zum Klingen. Besonders schön gelang der zweite Satz, das melodiöse Largo, in dem der Cellist zu Hochform auflief. Was allerdings nicht heißen soll, dass die anderen beiden Solisten es ihm nicht gleich getan hätten. Aber die dem Cello einkomponierte Kantilene ist eben besonders beeindruckend und war bei Uladzmir Sinkevich in allerbesten Händen. Margarita Oganesian, die in München schon des öfteren zu hören war, ist eine wunderbare Musikerin, die den Klavierpart nicht nur bravourös spielte, auch das Zusammenspiel der drei war großartig, wozu die Geigerin Doren Dinglinger ihre silberne Geige bestechend ins Spiel brachte. Intensiver Applaus und Blumen….

Nach der Pause stand ein Koloss auf dem ambitionierten Programm: Die erste Symphonie in c-moll op. 68 von Johannes Brahms. Im – im Ticketpreis inbegriffenen – Programmheft war über die vielen Skrupel des Komponisten zu lesen, mit denen die Entstehung seiner späten „Ersten“ befrachtet war. Nach der Aufführung wurde mir klar, warum Arnold Schönberg sich immer auch als Nachfolger und in der Tradition von Brahms stehen sah: So kühn und modern ist sie eben auch heute noch, diese Symphonie.

Nicht, weil sie ein wirklich großes Orchester verlangt mit Kontrafagott, vier Hörnern und drei Posaunen, wobei letztere bis zum letzten Satz warten müssen. Was  den Musikerinnen und Musikern da abverlangt wird, geht hart an die Grenze, da ist nicht mehr von Amateurorchester oder Laienspielern die Rede, da wird alles gefordert, auch vom Dirigenten – der „seine“ Wilde Gungl mit Feuereifer und vollem Körpereinsatz zum Entstehen dieses Werkes anleitete und anregte. Vom wilden Fortissimo bis zum sanftesten Pianissimo ist alles vertreten, bis hin zu den schönsten Klängen oder der berückenden, wohlbekannten Melodie im letzten Satz. Seine „kontrapunktischen Kunststücke“, wie sie Eduard Hanslick bemängelte, machten dessen Urteil nach der Wiener Erstaufführung nicht schlechter, im Gegenteil, er lobte sie als eines der „eigentümlichsten und großartigsten Werke der Sinfonieliteratur.“

Langanhaltender Beifall, wiederholtes Erscheinen des Dirigenten, der dann per Handschlag sich bei allen besonders geforderten Orchester-Solisten – Hörner, Bläser, Pauke usw. – bedankte und seiner Begeisterung mit einer Zugabe – einem Teil aus dem vierten Satz – freien Lauf ließ.

Ein Abend, der wieder einmal zeigte, zu welchem Niveau die Liebe zur Musik und die Arbeit an der Musik im Stande sind. Das Orchester „Wilde Gungl“ ist unter seinem neuen Dirigenten Michele Carulli wieder ein großes Stück gewachsen, was das zahlreich erschienene Publikum begeistert und dankend zu Kenntnis nahm und nimmt.

Ceterum censeo: Es wird Zeit, dass das verschlafene Münchner Zeitungsfeuilleton die „Wilde Gungl“ und ihre Konzerte endlich einmal zur Kenntnis nimmt. Auch das gehört zur Aufgabe einer Münchner Zeitung!

[Ulrich Hermann, November 2016]

Musik für die Zukunft

Henri Dutilleux (1916-2013): Sur le même accord; Les citations; Mystère de l’instant; Timbres, espace, mouvement (ou „La nuit etoilée“)

Seattle Symphony; Ludovic Morlot, Dirigent; Augustin Hadelich, Violine; Mahan Esfahani, Cembalo; Chester Englander, Cimbalom; Mary Lynch, Oboe; Jordan Anderson, Kontrabass; Michael A. Wernern, Perkussion

SSM1012; EAN: 8 55404 00 6512

Ein großer Einzelgänger, das war er, der französische Komponist Henri Dutilleux. Er lebte zurückgezogen auf einer kleinen Seine-Insel mitten in Paris. Moden, Mainstream, die Haute volée, all das interessierte ihn wenig. Seine Kompositionen sind häufig von Themen aus der Malerei angeregt, wie z. B. „Timbres, espace, mouvement“ vom entsprechenden Bild des Sternenhimmels von Vincent van Gogh.

Das erste Stück auf dieser faszinierenden CD ist ein Nocturne, für dessen Ausarbeitung  Dutilleux 15 Jahre von der Idee bis zur fertigen Fassung benötigte – er war ein von Selbstzweifeln geplagter Schöpfer, der viele seiner frühen Kompositionen radikal vernichtete. Augustin Hadelich ist der exzellente Solist, und ich erinnere mich mit großem Vergnügen an die Einspielung der beiden Violinkonzerte von Sibelius und Thomas Adès vor einiger Zeit mit dem Dirigenten Hannu Lintu. Auch bei diesem Stück von Dutilleux – es ist Ann- Sophie  Mutter gewidmet –  ist die Solopartie bei Hadelich in besten (musikalischen) Händen. Die Intensität der Dutilleux’schen Klangsprache ist bezwingend, die Eigenständigkeit seiner Musik – weitab von jeder Mode wie „seriell“ oder „atonal“ zeigt einmal mehr, warum ihn z. B. Sergiu Celibidache für einen der drei besten Komponisten des späten 20. Jahrhunderts hielt.

Dem Booklet ist zu entnehmen, dass das Orchester aus Seattle unter seinem Dirigenten  Ludovic Morlot sich sehr ausführlich in seinen Programmen mit Neuer Musik befasst und es auch als seine Aufgabe ansieht, sie dem Konzertpublikum – ob jung oder alt – nahezubringen. Dass es dabei von vielen Gönnerinnen und Gönnern unterstützt wird, ist ein Tradition in der amerikanischen Kulturszene.

Das Quartett „Les citations“ ( die Zitate) für Oboe, Cembalo, Kontrabass und Perkussion ist nicht nur wegen seiner ausgefallenen Besetzung hörenswert. Als „composer in residence“  im Sommer 1985 in  Aldeburgh (dem Festival, das Benjamin Britten zusammen mit Peters Pears ins Leben gerufen hatte) schrieb Dutilleux den Beginn, aber erst fünf Jahre später war das Stück seinen Ansprüchen entsprechend fertig. Es zitiert nicht nur den jungverstorbenen Jehan Alain (1911-1940) – in der Art des Renaisssance-Komponisten Clement Janequin (1485-1558) –, sondern auch Benjamin Brittens Oper „Peter Grimes“. Von langsamen und zarten Tönen bis hin zu jazzmäßigen, rhythmisch vertrackten Passagen ist das fast 14 Minuten lange Kammermusikwerk ein avanciertes Meisterstück. Und in den Händen der im Orchester mitspielenden vier Solisten bestens aufgehoben. Mit jedem Anhören gewinnt es an Tiefe und Bedeutung. „Gut Ding will Weile haben“, könnte einer von Dutilleux’s Wahlsprüchen gewesen zu sein. „Es ist kein Scherz, Musik zu schreiben. Tiefe ist  dazu nötig: eine Art Mystik“, beschrieb er seinen Arbeitsprozess.

Auch Paul Sacher, Anreger und Nestor der Neuen Musik, dem viele Meisterwerke der Moderne ihre Entstehung verdanken, gehörte zu Dutilleux’s „Auftraggebern“ Seine Komposition „Mystère de l’instant“ (Das Geheimnis des Augenblicks) von 1989 war eine der letzten, von Paul Sacher angeregten Kompositionen. Über die Einzelheiten dieses für  Streicher, Perkussion und Cimbalom geschriebenen Werkes gibt das Booklet informativ Auskunft, wenn auch nur auf Englisch. Das Werk verwendet Noten des Namens „Sacher“ und besteht aus 10 aufeinanderfolgenden kurzen, quasi improvisatorischen Stücken.

Die Anregung zur vierten Komposition auf dieser CD geht auf den Cellisten Mstislav Rostropovich zurück und natürlich auf das berühmte Bild von Vincent van Gogh „Die Sternennacht“ mit den bewegten Sternen und den Zypressen vor dem tiefblauen Firmament. Der erste und dritte Teil entstanden 1978, bevor Dutilleux 1991 ein Zwischenspiel einfügte.

Nébuleuse, Interlude und Constellations heißen die drei Sätze. Vom tiefsten bis zum höchsten Ton des Orchesters, durch alle möglichen melodischen, arabeskengleichen , rhythmischen und klanglichen Kombinationen, ist das Werk ein ganz eigenes Faszinosum in der Geschichte der Neuen Musik. Und lässt hörbar werden, wie weit sich Henri Dutilleux von allen „Strömungen“ – denen er stets aufgeschlossen gegenüber stand – frei machte und sich mit seiner ureigenen, unvergleichlichen Musiksprache in seiner Art und immer wieder  von Zweifeln und Umarbeitungen geprägten Weise als einer der spannendsten und wichtigsten Komponisten des 20. Jahrhunderts weiterentwickelte.

Der Aufnahme, teils konzertant, teils in Studio-Sessions entstanden, ist die Begeisterung der Musiker, des Dirigenten, aller Beteiligten deutlich anzuhören. Auch bei leisesten oder lautesten, volltönendsten  Klängen ist die instrumentale Perspektive jeder einzelnen Stimme klar und deutlich eingefangen. Obwohl es keineswegs „easy listening“ ist, wenn es um die Musik von Henri Dutilleux geht: der Gewinn, der von diesen „Klängen“ ausgeht, wirkt nachhaltig und ist eine grandiose Bereicherung des eigenen Hörens.

[Ulrich Hermann, November 2016]