Alle Beiträge von Peter Fröhlich

Musikalischer Geigenherbst

Onyx classics – ONYX4142

Mullovabild

Victoria Mullova spielt, mit Begleitung des HR-Sinfonieorchesters Frankfurt unter Paavo Järvi, das Violinkonzert Nr. 2 in G-Dur op.63 von Sergej Prokofieff, gefolgt von dessen Sonate für zwei Violinen in C-Dur op. 56 (mit Tedi Papavrami als Duopartner) sowie dessen Sonate für unbegleitete Violine in D-Dur op. 115.

Seit Beginn ihrer Karriere zählt Viktoria Mullova zu den führenden russischen Geigern in der internationalen Konzertszene und ist als bodenständige Künstlerin sich und ihrem Charakter stets treu geblieben. Umso mehr erfreut es, dass sie mit über fünfzig Jahren nicht müde wird zu musizieren, mehr noch, dass sie jegliches, für ihre Altersgruppe nicht unübliche, divenhafte Äußere nicht nötig hat.

Natürlich verändert sich jeder ernsthafte Musiker im Laufe der Zeit und reift bestenfalls als solcher. Dies kann deutlich im Violinkonzert Nr.2 in G-Dur op. 63 wahrgenommen werden, welches Mullova schon vor Jahren mit dem Royal Philharmonic Orchestra unter André Previn einspielte. Hier nun, in der Wiedergabe mit dem HR-Sinfonieorchester unter Paavo Järvi, offenbart die Geigerin schon in dem eröffnenden Allegro moderato einerseits ein wärmeres, leicht dunkleres Timbre, als man es von ihrem eher schlanken, betont unsentimentalen Spiel gewohnt ist. Andererseits scheut sie gerade in den zahlreichen schnellen Passagen keinerlei Risiken und stampfende Direktheit in den Akkorden, um wiederum an den langsamen Stellen eher zurückhaltend und lyrisch zu klingen. Sehr sicher übernimmt sie das Thema des Satzes, bestehend aus einem aufsteigenden g-Moll-Grundtonakkord, von den Bässen, mit denen sie hierauf in einen Dialog tritt. Überhaupt ist es das Zusammenspiel mit dem Frankfurter Klangkörper, welches zu den Stärken dieser Einspielung gehört. Sei es nun in den schnellen oder in den langsamen Abschnitten, worin das Thema und dessen Varianten mal im Orchester, mal in der Violine wiedererklingen. Ebenso tritt der eher herbstliche Charakter des Konzerts trotz der zerklüfteten Satzstruktur doch gut hervor, ohne dass die Gestaltung in völliger Melancholie versinkt, was sicher nicht Prokofieffs Absicht entsprochen hätte.

Einen objektiven Kontrast bietet das Andante assai. Dieser Mittelteil, der ja grundsätzlich von seinem lyrischen Serenadenton lebt, besticht durch die zuvor erwähnte schlanke Linie und die Neigung zu melodischer Schlichtheit, die Mullova in ihren Geigenton und ihr dezentes Vibrato legt. Dieser Gestus ändert sich auch nicht im folgenden B-Teil, da die Solistin auch hier kontrollierte Ruhe über ihre Tremololäufe bewahrt. Überhaupt ist die Ausgewogenheit zwischen Orchester und Violine hier am gelungensten, vor allem in den teils fein verästelten Nebenstimmen. Erst nach der Hälfte des Satzes wird der Ton für kurze Zeit etwas burschikoser und verweist auf den ungestümen Schlusssatz voraus. Dennoch halten sich die Musiker an die auskomponierte Symmetrie des Andante, lassen dieses ähnlich schlicht und ruhig ausklingen, wie es begonnen hat.

Bezeichnenderweise eröffnet das Allegro, ben marcato einen schmissigen Kehraus, dessen Beginn die Solovioline mit Tanzschritten auszeichnet, deren Charakter fast an Mahler gemahnen: „Etwas täppisch und sehr derb“. Dieses klassische Rondofinale, in dem sich der junggebliebene Prokofieff offenbart, ist keineswegs auf eine solche Bezeichnung reduziert; gerade die ruhigeren Zwischentöne, an denen die Musiker dezent das Tempo zurücknehmen, verleihen dem Satz Tiefe und Abwechslung. Dennoch überwiegen die burlesk-rustikalen Seiten des Satzes, den das Orchester zusammen mit Mullova in unterschwelliger Steigerung zu einem brillanten Ende führt.

Zusammenfassend kann man über diese mindestens sehr gelungene Einspielung noch sagen, dass sich das Orchester als würdiger Begleiter der Mullova erweist, die, ohne zu sehr ihren Stempel aufzudrücken, niemals einen Zweifel an ihrer Position als prima inter pares gegenüber den Musikern zulässt. Gerade bei dem heterogenen Charakter der Ecksätze fällt doch auf, wie sehr alle Beteiligten um eine möglichst gute musikalische Detailzeichnung bemüht sind und das forte mancher Stimmen zu laut gegenüber anderen erscheint. Mit anderen Worten, es zeigt sich speziell bei diesem späteren Werk Prokofieffs einmal wieder, dass die SACD einfach nicht jeder Nuance gerecht werden kann. So, wie sich dieser Live-Mitschnitt anhört, hätte man als Konzertbesucher immer noch mehr vom Ganzen.

In der darauf erklingenden Sonate für zwei Violinen in C-Dur op. 56 von 1932 tritt diese Diskrepanz natürlich weniger auf. Obgleich Mullova hier mit ihrem vollkommen gleichwertigen Partner Tedi Papavrami schon das Andante cantabile stets mit Bedacht auf gleichmäßigen Fluss, auf natürliche Phrasierung und mit tief empfundener Musikalität intoniert, muss es doch mal gesagt sein: Ein kleines bisschen weniger Vibrato hätte dem Klangbild auch gut getan. Auch im Allegro, einer furiosen Toccata, wo sich die beiden Künstler am Rande der Spielsicherheit bewegen, könnte weniger mehr sein, was die Risikobereitschaft angeht, trotz der überwiegenden spielerischen Brillanz. Im darauffolgenden Commodo (quasi Allegretto) scheint es endlich keinen Makel mehr zu geben; eher geisterhaft als gemütlich (so die Satzbezeichnung wortwörtlich) schwebt der dritte Abschnitt der Sonate vorüber und lebt vollständig von der zarten Phrasierung beider Künstler. Auch perfekt durchdacht ist das Allegro con brio, worin Mullova und Papavrami zum genau richtigen Tempo-Klang-Verhältnis ein Finale präsentieren, das bei allem Feuer nie zu schnell und fast schon zu kontrolliert klingt. Das gilt auch für die Episode mit ihren heiklen Arpeggienläufen in der Mitte des Satzes, wo gerade Papavrami sich als exzellenter Musiker erweist.

Der Lebensabschnitt Prokofieffs zwischen dieser Sonate und dem späten Solo-Geschwisterwerk im Jahre 1947 wird von der Musikwissenschaft gern als derjenige seines „monumentalen Spätwerks“ (aufgrund seiner KPdSU-Auftragswerke, Filmmusiken etc.) bezeichnet. Nichts dergleichen weist der letzte CD-Beitrag, ebenjene neobarocke Sonate für unbegleitete Violine in D-Dur op. 115, auf. Es ist fast schon selbstverständlich anzunehmen, dass Victoria Mullova auch dieses Werk zu meistern problemlos imstande sei. Jedenfalls bewegt sie sich weit weg von Darbietungen bloßen Zugabecharakters: Mit ungebrochener intonatorischer wie musikalischer Sicherheit spielt sie alle Facetten des eröffnenden Moderato aus und behält so eine logische Linie mit einem völlig unplakativen D-Dur bei. Bemerkenswert ist auch hier der Wechsel zwischen lyrisch-melodischen und tänzerisch-perkussiven Phasen. Im Andante dolce/Tema con variazioni offenbart die Geigerin Parallelen zwischen den Solopartiten Bachs und dem Werk Prokofieffs. Bei der Dauer von 2´37 erstaunt es doch, wie viele Variationen sich auf kleinsten Raum entfalten können; nichts wirkt oberflächlich noch überladen. Der sogleich folgende Schlusssatz con brio unterscheidet sich deutlich von einem typischen Kehraus (trotz der Steigerung zu einer Musette), ein letztes Mal kostet Mullova die melodisch-kontrapunktischen Schichten des Werkes aus. Vor allem jedoch zollt sie der darin versteckten Tanzsuite ihren Tribut: Graziös und nachdrücklich erklingt das Menuett im ersten Viertel, das Bourrée kapriziös.

Insgesamt zeigt Prokofieff sowohl in seinem 2. Violinkonzert als auch in seiner Kammermusik, dass er selbst als reifer Komponist niemals an Einfallsreichtum und Energie eingebüßt hat. Auch Victoria Mullova, zum Zeitpunkt der Aufnahmen 53 bzw. 55 Jahre alt, steht als konzertierende Künstlerin noch im Zenit ihres Könnens, wie sie hier über weite Strecken beweist. Somit garantiert diese CD reife Ernte aus dem musikalischen Geigenherbst Sergej Prokofieffs.

[Peter Fröhlich, Oktober 2015]

Jünger einer Sondergeneration

cpo 777 672-2, ISBN: 7 61203 76722 9

Larssonbild_2

Das Symphonieorchester Helsingborg unter Andrew Manze spielt Orchesterwerke von Lars-Erik Larsson, Volume 2

Nach der vielgelobten ersten Einspielung der Orchesterwerke des Schweden Lars-Erik Larsson schien es im Jahr 2011, als seien die Helsingborger Musiker mit ihrem Chefdirigenten dem Wunsch der Fachwelt nach einer Fortsetzung nachgekommen und haben diesen vom ersten Höreindruck her betrachtet auch tadellos erfüllt. Doch auch beim zweiten Mal dürfte jeder unvoreingenommene und zugleich anspruchsvolle Hörer seine Befriedigung erfahren, hat man es, wie der engagierte Booklettext der vorliegenden CD aussagt, doch mit einem gewichtigen Vertreter der sogenannten klassischen Moderne Schwedens in zweiter Generation (Jahrgänge 1900er Jahre) zu tun; einer Generation, die zugleich ästhetisch in sich geschlossen stand und daher, wie weiterhin zu lesen ist, als „Zwischengeneration“ wahrgenommen wurde. Wie nun Larsson in seinem langen und produktiven Leben dazu stand, ist nicht weiter relevant – bis auf die Tatsache, dass er als Symphoniker sowohl verkannt als auch extrem selbstkritisch war. Zu Unrecht, wenn man schon in seine zweite Symphonie hineinhört, die von Anfang zur Aufmerksamkeit zwingt.

Diese Symphonie Nr. 2 op. 17, gleich zu Beginn in entschiedenem e-Moll, lässt in ihrem Ausdruck nahezu selbstverständlich an Sibelius, in ihrem Temperament an Nielsen denken – kein Wunder, wenn man bedenkt, wie sehr Larsson beide Komponisten verehrte. Erfreulicherweise entfernt sich der Schwede dennoch von jeglichem Epigonentum, wenn man die Einfälle, die Satzabschnitte und die Art der Themen und Motivverarbeitung durchhört, die sich deutlich von der Arbeit mit elementaren Motivpartikeln in sibelianischer Art abgrenzen. Neben der Tatsache kompositorischer Eigenständigkeit, die man gerade in dieser Musik erst mal erkennen muss, ist es zudem die angemessene Art der Darbietung, die hier positiv auffällt. Andrew Manze, der für seine lebendige, zuweilen radikale Geigerpraxis bekannt ist, hält sich grundsätzlich an den Tempocharakter des ersten der drei Symphoniesätze, Allegro con moto, ohne ein sklavisches Metronommaß durchzupeitschen: unter seiner Stabführung spielen die Helsingborger in zügigem Fluss, der jedoch niemals gehetzt wirkt, trotz der oftmals affirmativen Paukenschläge. Stattdessen gelingt dem Orchester das Kunststück, dass ohne jegliche Rubati viele Zwischentöne der reichen Themen und Farblandschaft zu hören sind, sowie eine durchfühlte Agogik in den Einzelstimmen. Sei es etwa das aufschwingende Hauptthema, welches die Klarinette gleich zu Beginn leicht, aber durchdacht artikuliert, wobei es weder oberflächlich noch sentimentalisierend klingt. Oder die Bydgedans-Begleitung der Bässe zu Beginn des D-Dur-Themas, die sich pointiert und voll, aber nicht zu behäbig geben. Da die SACD zudem den Vorteil hat, auf einem Standardplayer spielbar zu sein, bedarf es zum Erfahren der totalen Tonreichhaltigkeit nicht unbedingt einer Dolby Surround Anlage, um musikalischen Genuss und Anspruch zu auszukosten. Der wohl einzige Wehrmutstropfen liegt am Ende des Satzes: Da in der Coda das Allegro molto vivace-Tempo doch sehr buchstäblich genommen wird, kommt das Ende so abrupt, dass die Vielschichtigkeit dieser stimmungsvollen Musik etwas geschmälert wird.

Nicht einfach zu werten ist auch der zweite Satz, worin Larsson ein Andante und ein Scherzo miteinander verquickt. Dabei bietet das Andante zunächst einen wunderbaren Kontrast, dessen kammermusikalische Linien (die in ihrer Motivik an die 2. Symphonie Brahms´ erinnern) die Helsingborger fein nachzeichnen. Überhaupt ist es das Orchester, welches dann durch seine Klangfreudigkeit im kritischen Scherzo überzeugt. Kritisch deshalb, da die nahezu unablässige Wiederholung desselben musikalischen Inhalts leicht redundant werden kann. Wobei man gerechtigkeitshalber hinzufügen muss, dass Larsson es auch hier versteht, seiner Partitur durch abwechslungsreiche und gekonnte Instrumentierung Steigerung und Entwicklung zu verleihen.

Derlei Einwände dürften im darauffolgenden Finale vergessen sein: Der Ostinato betitelte Kehraus rundet nicht nur die Symphonie dank Bezugnahme auf die Kopfsatzmelodie logisch ab, sondern ist auch für sich betrachtet einfach ein Glanzstück des selbstkritischen Larsson: Wie sich die Thematik aus der Tiefe der Streicherbässe entfaltet und zunächst eine Passacaglia aufbaut, um schließlich in einen immer dramatischeren Strudel à la Schostakowitsch zu geraten, ist einfach ohnegleichen! Auch hier leistet wieder das Orchester makellose Arbeit, stets mit Hingabe und mit konsequenter Beherrschung des Tempos, auch in der riskanten Presto-Mitte. Und immer, selbst in den entfesselten Passagen, herrscht kultivierte Balance zwischen den Instrumentengruppen, trotz der eher mäßigen Orchestergröße von 61 Musikern.

Allein die Sinfonie also lohnt somit bereits den Kauf dieses Tonträgers. Doch würde man Lars-Erik Larsson nicht gerecht, wenn den ebenfalls hier eingespielten Werken keine entsprechende Aufmerksamkeit gezollt wäre. In den Variationen für Orchester op. 50 beweist der Komponist, dass er auch fernab betont dramatischer Symphonik schreiben kann. Eine dezente Dodekaphonie bestimmt das Thema der Klarinette, das die daraufhin folgenden Varianten bestimmt. Im überaus schwierigen Gebiet der Zwölftonmusik bieten sich allein in formalpsychologischer Hinsicht oftmals wenige Lösungen, die vollends überzeugen. Larsson geht das Problem jedoch recht klug an, indem er zum einen sehr aparte Instrumentierungen für seine huschende Motivik wählt, zum anderen seinen „Variationen“ die Möglichkeit zur freien Entfaltung gibt, sowohl im Aufbau als auch im eher polytonalen denn wirklich dodekaphonischen Tonsatz. Der Streichersatz etwa in der Mitte dieses Opus 50 überrascht aufgrund seiner Ruhe und seines jähen Melos, das gegen Ende des Stückes nochmals eine Referenz erfährt, bevor statt eines Tuttifinales ein bedächtig-ironischer Blechchoral das Werk abschließt. Das Orchester wird dem geistreichen Charakter der Variationen durchaus gerecht, indem Manze auch hier auf die stete Balance in Klang und Tempo achtet. Gleichzeitig jedoch wirkt dieses Orchesterstück in seinem gänzlichen unemotionalen Charakter auch etwas unbeteiligt neutral, was aber vielleicht weniger am Werk selbst als an der Reihenfolge Symphonie-Variationen liegen dürfte.

Nichts von diesen Mankos gilt für die Barococo-Suite für Orchester op. 64. Weder Altersknappheit noch sonstige Spätstil-Topoi prägen dieses Werk des 65-jährigen Komponisten, vielmehr burleske Heiterkeit und pfiffiger Humor. Allein schon in der Entrata, die ihren Bezug zu Strawinsky nicht verleugnet, gleitet das Orchester niemals in bloß stilisierende Belanglosigkeit ab, sondern wird mit seiner längst bewiesenen Spielfreude dieser burschikosen Eröffnung musikalisch gerecht. Auch die nur scheinbar bedächtigere Gavott offenbart einen bissigen Charakter, den die Helsingborger jedoch niemals überziehen, sondern durch ihr konsequent musikalisches Gestalten eher bestärken. Dies gilt auch für die Stellen, wo sich Larsson verfremdende Zitate (so aus dem Thema der Gavotte von Bachs dritter Partita für Violine Solo in E-Dur) in noch fremderen Orchesterfarben erlaubt (Posaune, Fagotte sowie Streicherbässe): man darf hier Persiflage nicht mit lustlosem Imitat verwechseln. Speziell ehemalige Suzuki-Geigenschüler werden sich beim Soloviolin-Zitat des Gavottthemas von Francois-Joseph Gossec ein Prusten oder Schmunzeln nicht verkneifen können. Von welchem Zusammenhalt die Violingruppe der Helsingborger ist, zeigt allein deren Solo in der Serenata, das bestechend klar und zugleich wie aus dem Hintergrund erklingt. Gleiches gilt für die Holzbläser, vor allem Klarinetten und Fagotte, im darauffolgenden Menuett, die sich hier einen augenzwinkernden, mitunter temperamentvollen Dialog mit dem übrigen Orchester leisten. Dass diese Suite auch ruhigere Seiten hat, zeigt sich in der darauffolgenden Barkarol, deren pastoralen Charakter die Helsingborger durch klangliche Schlichtheit betonen, nicht ohne die Doppelbödigkeit dieses Tanzes zu unterstreichen. Schließlich beweist das Orchester in der Kadrilj & Galop ein letztes Mal, dass es dem quirligen Humor der Suite genauso gewachsen ist wie den Charakteristika aller Stücke und Werke davor auch.

Insgesamt also haben die Helsingborger mit dieser CD nicht nur ihre eigene Klasse und ihr Profil als ein nordisches Referenzorchester bewiesen. Auch Andrew Manze ist, obgleich die Aufnahme schon vier Jahre alt ist, als Dirigent immer noch eine Neuentdeckung, die sich keineswegs vor kommerziell etablierteren Größen wie Simon Rattle oder Mariss Jansons zu verstecken braucht. Außerdem vermag diese Aufnahme dem Hörer ein vielfältiges Bild von Larsson und seinen Schöpfungen zu vermitteln, unabhängig davon, ob man selbst Experte oder Liebhaber ist. Das Gesamtresultat sind somit gute Voraussetzungen, um Lars-Erik Larsson und allgemein seine „Sondergeneration“, zu der auch Dag Wirén und Allan Pettersson gehören, in ein noch helleres Licht zu rücken, als sie es in Schweden vielleicht schon sind.

[Peter Fröhlich, Oktober 2015]

Potpourri voller Überraschungen

Musiques Suisses MGB CD 6284

Juon_Silhouettes_Cover

Die jungen Geigentalente Malwina Sosnowski und Rebekka Hartmann bringen, zusammen mit ihrem Klavierpartner Benyamin Nuss, lang in Vergessenheit geratene Kammermusik-Kostbarkeiten von Paul Juon zum Erklingen

Rechtzeitig zum 75. Todesjahr des Russischen Brahms mit Schweizer Wurzeln, Paul Juon, hat Musiques Suisses eine CD herausgebracht, die das breite Spektrum des Geigers und Professors für Komposition und Kammermusik unter Beweis stellen. Die talentierten Geigerinnen Malwina Sosnowski und Rebekka Hartmann, letztere bereits weithin bekannt als Konzertsolistin, erarbeiteten mit Benyamin Nuss als vorzüglichem Klavierpartner zwei Werkgruppen – den Silhouettes-Zyklen, genannt Bücher, und die sieben kleinen Tondichtungen –, in denen Juon ausschließlich mit der seltenen Besetzung für zwei Violinen und Klavier agiert und beweist, dass diese dem klassischen Klaviertrio in nichts nachsteht.

Das erste Buch der Silhouettes erklingt unter den Händen der jungen Musiker mit gekonnter Balance zwischen Klangsinnlichkeit (manchmal an der Grenze zum Schmalz) und formalem Einfühlungsvermögen. Halten sich die Idylle und der Douleur noch eher im Rahmen anspruchsvoller Salonstücke, so bietet die Bizarrerie – so lang wie beide Sätze davor zusammen – schon deutlich symphonischere Züge. Allein das innere Wesen dieses Schlussstückes strotzt nur so von einer für Juon charakteristischen Polarität, sprich zwischen ausgelassener Vitalität als Beginn und Ende und versonnener Melancholie in der Mitte.

Deutlich andere, ja nahezu mulmige Töne schlägt der Anfang des zweiten Buches an. Tatsächlich fühlt man sich wie am Ende von Schuberts Winterreise, sobald der Conte mysterieux, sprich der unheimliche Graf erklingt, zumal die gedämpften Geigen und das in der Begleitung reduzierte Klavier deutlich an den Leiermann erinnern. Doch Juon wäre nicht er, wenn auch nicht dieser Satz eine für seinen Stil charakteristische Abwechslung beinhaltete. Lichter wird der Satz, lebendiger die Klavierbegleitung – um dann wieder in die gedämpfte Stimmung des Beginns zurückzufallen. Dabei ging es Juon offensichtlich nicht um bloße Schauerromantik, vielmehr huldigte er wie so viele seiner Kollegen seinerzeit alten Formen und Tänzen, wie die Musette miniature, Danse ancienne beweist. Spätestens hier kommt die Stärke des Trios Sosnowski-Hartmann-Nuss zum Tragen: eine ernste, aber unbeschwerte und neugierige Herangehensweise an jeden einzelnen Satz. Klingt der Conte zwar deutlich düster, aber nicht zu schwer, so überzeugt aufgrund dieser Fähigkeiten zur Differenzierung nicht weniger die Musette, die sich leicht und semibarock, aber nicht oberflächlich anhört. Die Parallele zu Grieg und dessen Huldigung an Holberg ist unüberhörbar. Daraufhin ist es der Schlusssatz, der die Musiker vor besondere inhaltliche Herausforderungen stellt: Nach einem wuchtigen und fast etwas zu groben Klavierbasssolo zu Beginn der Obstination entspinnt sich eine bloße Kontrapunktik, die bezeichnenderweise auf einem Basso ostinato, dem Motto dieses Finales, basiert. Die Bewertung dieses Kontrastes fällt nicht leicht angesichts der vorhergehenden Charakterstücke: Paul Juon beweist spätestens hier, viel mehr als ein bloßer Unterhaltungsmusiker zu sein, da er all seinen spieltechnischen und innermusikalischen Anspruch gerade auf diesen Schluss der ersten Silhouettes-Serie konzentriert. Gleichzeitig hat es den Anschein, als gerate er damit an seine Grenzen, da die Obstination in ihrem heterogenen Aufbau etwas überladen wirkt, was auch die klangfreudige und souveräne Aufführung nicht ganz vergessen machen kann.

Dessen ungeachtet kann man dieser wie der darauffolgenden zweiten Serie (drittes Buch) entnehmen, dass Juon seine Ziele beharrlich verfolgte und sich weiterentwickelte. Erfreulich ist beim eröffnenden Prélude, wie der Anspruch nach mehr Komplexität sich mit gekonnter Knappheit verbindet. Der Komponist, der hier seiner Verehrung sowohl für Tschaikowsky als auch für Brahms Ausdruck verleiht, zeigt außerdem gerade in dieser Eröffnung – wie könnte es anders sein! – eine Nähe zu J. S. Bach, ohne dabei je epigonal zu klingen. Ruppige Geigenkaskaden und eine herbere Harmonik sprechen ihre eigene Sprache.

Aber wie so oft ist Juon mit seinen unterschiedlichen Nationalitäten in Personalunion für Überraschungen gut. Auf das Prélude, dem man eine gewisse Neigung zum Handwerk anhört, folgt als deutlicher Kontrast ein Chant d´amour. Mittlerweile haben die Silhouettes sich jedoch von ihrem schlicht-schönen Anstrich als romantische Charakterstücke entfernt – der Chant d´Amour erinnert mit seiner weithin verschachtelten Harmonik gleichermaßen an Szymanowskis Kammermusik und Alban Bergs frühe Lieder. Demgemäß erklingt hier kein zartes Ständchen, vielmehr gestalten Leidenschaft, der die Musiker freien Lauf lassen, und Dramatik im Wesentlichen die Liebesszene, die dennoch versöhnlich verklingt.

Anstatt darauf einen wohlfeilen Kehraus folgen zu lassen, bricht Juon mit seinen eigenen Konventionen und erweitert die zweite Serie nun um ein vielfaches, da er aus dem nächsten Satz gleich drei macht: Ein kurzes erstes Intermezzo klimpert in den Geigen und dem Klavier vorbei. Als wolle er mit den Hörern seinen Spaß treiben, schiebt Juon eine kurze Walzerepisode ein, die so rasch verklingt, wie sie daherkam. Sosnowski, Hartmann und Nuss finden selbst in diesem Epigramm den Ausgleich, indem sie weder sich noch das Stück zu wichtig nehmen, aber auch nicht in lieblose Routine verfallen. Im zweiten, gesanglichen Intermezzo Tranquillo erklingt zunächst ein Lied ganz im Stile des Wiegenliedes Opus 49/4 von Brahms, nur um langsam umzuschlagen und sich zu einem Tanz mit Bordun aufzuschwingen. Dieser Vorgang wiederholt sich innerhalb kürzester Zeit und offenbart, wie viel der Komponist auf kleinsten Raum zum Ausdruck bringen konnte.

Ähnlich gestaltet, aber deutlich russischer erklingt das dritte Intermezzo. Reizvoll ist hier vor allem die Stimmgleichberechtigung der zwei Violinen neben dem Klavier, mit der diese kurzen Stimmungsbilder abschließen. Deutlich erklingt nun die Melancolie, deren Intimität auf motivischen Kombinationen und konzentriertem Ausdruck beruht. Ein gelösterer Mittelteil in H-Dur verläuft sich in Seufzern der ersten Violine und fällt wieder zurück in die unbeantwortete Frage des Anfangs. Wie um den nun fälligen Bogen zum Anfang zu spannen, beschließt diese zweite Serie ein Danse grotesque. Wieder ist es die Neigung zum Makabren und Ausgelassenen am Ende eines Zyklus, die Juon hier sehr beherrscht hervorkehrt.

So bilden allein die Silhouetten einen Kosmos, der Paul Juon als sehr begabten Komponisten, als Russen und Weltbürger zugleich vorstellt. Mit den anschließend dargebotenen Sieben kleinen Tondichtungen op. 81 gelangt seine sehr ausgewogene Tonsprache zu größeren Dimensionen, wie sich dies schon im ersten Gedicht, der Pastorale, offenbart. Erscheinen die Silhoutten noch wie spielerische Experimentierfelder, so findet Juon hier zu einer abgeklärten und formal ausgereiften Sprache, welche die Eröffnung schon als Einzelwerk gelten lassen könnte. Auch das darauffolgende Intermezzo hat im Vergleich zu seinen Silhouetten-Geschwistern deutlich an Eigenständigkeit gewonnen. Wie man den fünf restlichen Nummern entnehmen kann, ist der Komponist seinem Prinzip, eingängige Charakterstücke mit gemischten kompositorischen Stilen zu schmücken, ohne dabei nachahmend zu wirken, insgesamt treu geblieben. Dies beweisen das ausgelassene Impromptu, das abermals an Grieg, diesmal dessen norwegische Springtänze, erinnert, die Barcarole, in welcher die Jahreszeiten von Tschaikowsky anklingen, sowie das spritzige Capriccietto, das zwischendrin mit ruhigen Tönen besticht. Originell, ja von archaischer Erhabenheit ist das vorletzte Tongedicht, die Ciaconna. Ätherisch schlängelt sich deren Soggetto durch die Geigen, dann durch das harfenartige Klavier, nur um sich zu temperamentvoller Entfaltung aufzuschwingen. Wie schon im Prélude der Silhouetten belässt es Juon auch hier nicht bei bloßer Handwerksübung, sondern entwickelt die Chaconne im kurzen, aber nicht allzu knappen Rahmen eigenständig weiter und schafft Kontraste, indem er sie im brachen d-Moll verklingen lässt. Dafür beschert er uns dann einen heiteren Schluss der Tondichtungsgruppe in Form der Burletta, welche ein letztes Mal seine Vorliebe für brillante Kehraus-Stücke unter Beweis stellt.

Als Fazit für dieses Potpourri voller Überraschungen gilt durchaus, was der Präsident der Internationalen Juon-Gesellschaft, Ueli Falett, im Booklet der vorliegenden Erscheinung schreibt: Es kommt dem Komponisten vor allem auf Ausdrucks- und weniger auf Formalmusik an. Obgleich Juon, wie man bei genauem Hinhören erfährt, auch der Form die Chance zur Entfaltung gibt, reduziert er sie im Großen und Ganzen auf einen soliden, meist dreiteiligen Rahmen und widmet sich ganz seiner vielfältigen Klangsinnlichkeit. Herausgekommen ist eine CD, die zur Entdeckung eines völlig zu Unrecht vergessenen, konservativen Meisters der Zeit des Umbruchs zur Moderne einlädt und jeden Hörer ohne musikideologische Vorurteile ansprechen sollte.

 [Peter Fröhlich, August 2015]