Pēteris Vasks: Angele Dei. Gebet an (Deinen) Schutzengel für gemischten Chor
(SATB) a cappella Schott: C 60012. ISMN: 979-0-001-21421-6.
Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Stimmen immer lauter wurden, dass die Tonalität erschöpft sei und man nun andere Wege beschreiten müsse, wer hätte da gedacht, dass es hundert Jahre später nahezu anders herum ist: Nun scheint gerade das Suchen und Experimentieren erschöpft. Die Grenzen ausgelotet, die Extremata errungen, schlichtweg alles offen. Sich in dieser musikalischen Welt einen Platz zu erringen, beschert unmittelbar Gegenstimmen: Zwischen konservativ-altväterlich und unhörbar-klanglastig, zwischen formalistisch und willkürlich, die Gruppen sind gespalten.
Einen spannenden Weg schlug schon früh der in Lettland geborene Komponist Pēteris Vasks ein. Seine Musik gestaltet sich modern und doch stets der Tonalität verpflichtet. Ihr oberstes Gebot, und das lässt sie unter unzähligen Komponisten unserer Zeit herausleuchten, betont die Schönheit, die Anmut und die Eleganz – andere Stimmungen und Gefühle finden freilich ihren Platz, doch stets einer größeren, im Innersten positiv aufwärts gerichteten Energie verpflichtet. Die Musik bleibt verständlich. Eine Ehrfurcht vor der Natur und dem Raum durchflutet jede Note, die oftmals durch einen christlich geprägten Tonfall ergänzt wird.
Die Werke von Pēteris Vasks werden bei Schott herausgegeben, wo mit großem Eifer auch die neuesten Werke angemessen rasch gedruckt und publiziert werden. In sauberem, gut leserlichem Design laden die Werke Profi- wie auch engagierte Amateurmusikerinnen und -musiker ein, diese Musik auszuprobieren.
Eines der frisch herausgegebenen Werke ist das Chorstück Angele Dei, ein Gebet an „(Deinen)“ persönlichen Schutzengel: „Engel Gottes, mein lieber Schutzengel, wem mich Gottes Liebe hier verpflichtet, immer diesen Tag, sei an meiner Seite, zu beleuchten und zu bewachen, zu regieren und zu führen. Amen“. Es wurde 2021 komponiert und am 16. April des gleichen Jahres unter Leitung seines Widmungsträgers Sigvards Kļava uraufgeführt, der schon mehrere Werke Vasks‘ aufgeführt und eingespielt hat.
Bei Angele Dei handelt es sich um eine Meditation für Chor a cappella, ein inniges Werk voll Gefühl, Dankbarkeit und Licht. Es lässt sich auch von Amateurchören realisieren, wenngleich ein umfangreicher Atem vorausgesetzt wird sowie die Fähigkeit, die Intonation auch bei langen Tönen sauber halten zu können. Die Musik weist eine klare Bogenform auf, hin zu einem Höhepunkt auf das Wort „custodi“ (bewachen), wonach die Musik sich wieder entspannt. Das Werk steht, ohne Vorzeichen notiert, in Es-Dur und bleibt dieser Tonart treu, wenngleich changierende Harmoniewechsel innerhalb der durchspürbaren Grundtonart vielfältige Klangfarben evozieren. Immer wieder würzt Vasks die Akkorde durch Erweiterungen, die aber nie schmerzhaft, sondern warm resonieren und Freundlichkeit ausstrahlen. Die vier Stimmen mäandern allmählich vor sich hin und entwickelt sich stetig, ohne dabei auffallend hervorzustechen, vergleichbar am ehesten mit einer Pflanze, die unaufhaltsam ihren Weg zum Licht sucht, ohne dass wir dieses Streben aktiv mitbekommen, dann aber doch deutlich verspüren. Erreicht wird das Licht am Ende, wo nach einer plagalen Kadenz über f-Moll sich plötzlich ein luzider C-Dur-Akkord fast übernatürlich rein erhebt.
Corina Nastoll: Üben geht klar! Effizient und mit Freude üben.
(Schott: üben & musizieren spezial)
UM 5031; ISBN: 978-3-7957-3094-9
Das Thema ÜBEN prangt in all seinen Facetten omnipräsent über dem Alltag aller Musikschaffenden wie auch aller Musikpädagogen. Ausgebildete Profimusiker beschäftigen sich ihr Leben lang damit, wie man am besten, am effizientesten und am zielführendsten die Zeit am Instrument ausnutzt – haben dabei, und das macht den Profi aus, stets große Ziele vor Augen. Nun gelten in der Pädagogik ganz andere Voraussetzungen. Denn wie will man Schülern, welche solche Ziele nicht haben, die ohne große Ambitionen – oder gar nur, weil es die Eltern wollen – ihr Instrument erlernen, die vielleicht die Motivation der Anfangsphase verloren haben, den Zugang zur Musik ermöglichen? Wie die Freude am Spielen? Wie will man Ziele überhaupt etablieren? Hierüber gibt es zahlreiche Ansätze, Methoden und natürlich Lektüre; das Feld wird nun bereichert durch ein kompaktes wie ausgesprochen lohnenswertes Heft von Corina Nastoll.
Der große Verdienst von Corina Nastolls Sammlung aus acht Artikeln unter der Überschrift „Üben geht klar!“ liegt gerade darin, dass sie auf diejenigen Schülerinnen und Schüler eingeht, die nicht von selbst ihren Weg zur Musik erkennen, sondern welche die Unterstützung tatkräftiger Pädagoginnen und Pädagogen benötigen, Spaß am Instrument (wieder) zu entdecken und sich im Idealfall eigenständige Ziele zu setzen. Den Lesern bietet sie ein reiches Feld an Ideen und Methoden, sich solchen Schülern zu widmen, stellt Arbeitsblätter bereit und verweist auf vielseitige weiterführende Literatur: Bücher, Podcasts, Apps, Videos – ein Großteil kostenfrei zugänglich. Auf kompakten 43 Seiten im A4-Format gebündelt, in acht Artikel separiert und durch Unterüberschriften gegliedert, mit Bildern aus dem Übealltag und kleinen Kästchen mit Tipps und weiterführenden Hinweisen ansprechend gestaltet, lädt das Heft auch zur Lektüre für zwischendurch ein und kann immer wieder wertvollen Input geben, der sogleich auf den eigenen Unterricht übertragbar ist.
Das Leitthema dieses Heftes besteht darin, Übeunlust zu überwinden. Corina Nastolls Methodik stützt sich in erster Linie auf einen persönlichen Zugang und eine individuelle, sprich gewissermaßen von Methodik ferne, Annäherung an die Bedürfnisse der Schüler: Zunächst gilt es, ein angenehmes, stressfreies Unterrichtsklima zu schaffen, in dem sich die Schüler öffnen und entfalten können, um von dort aus die Reise zu starten. Hier angekommen, beginnt sie, die Gründe für die mangelnde Motivation herauszukristallisieren: Zeitprobleme, Rahmenbedingungen zuhause, psychosoziale Ursachen, also alles von gewissen Entwicklungsphasen der Kinder und Jugendlichen zu sozialer Einbindung, übertriebenen Ansprüchen bis zu mangelnden Beziehungen zuhause oder im Unterricht. Selbstreflektiert geht Corina Nastoll immer wieder auch auf die Unterrichtsgestaltung ein, sucht auch hier Gründe für Übeunlust. Damit etabliert sie in erster Linie die Unterrichtsweise zum Kernthema, lässt das eigene Unterrichten immer wieder hinterfragen, in Folge dessen aktualisieren und personalisieren. Dazu erstellte sie auch mehrere Vorlagen für Feedbackbögen.
In den folgenden Artikeln geht Nastoll darauf ein, wie Pädagogen die erkannten Gründe neutralisieren und überwältigen können. Zunächst beschreibt sie Methoden, den inneren „Übecoach“, also die oft lähmenden Stimmen im Kopf der Eleven, positiv zu beeinflussen: Dazu gehört, zu loben, Wünsche an das Spiel nicht als Kritik, sondern als aufbauende Elemente darzustellen, und nicht zuletzt, Fehler zu akzeptieren. Sie arbeitet an „Soft Skills“, besonders dem Hören in Verbindung mit dem Instrument, will den Schülern helfen, „Vertrauen“ zu sich selbst zu stärken, und zielt darauf, die „Versenkung“, den sogenannten Flow, zu manifestieren, um noch mehr im Instrument aufzugehen. Eine hier bemerkenswerte Erkenntnis ist, dass Schüler oftmals mit prall gefüllten Gedanken in den Unterricht kommen und eigentlich gar nicht bereit sind für die intensive, den gesamten Fokus fordernde Arbeit. Hierfür stellt Corina Nastoll eine Reihe an kurzen, dadurch unterrichtsgeeigneten Konzentrationsübungen ohne Instrument vor, um von den ablenkenden Gedanken Abstand zu gewinnen und sich neu sammeln zu können. Ebenso erklärt sie die Rolle des Einspielens und der Stille im Unterricht.
Ein weiterer zentraler Punkt gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen ist die soziale Einbindung: So sehr das Instrument auch Spaß macht, wir verbringen viel Zeit zu Hause alleine am Üben, was dem sozialen Drang oft entgegensteht. So erklärt Corina Nastoll die Bedeutung von Gruppenunterricht und zeigt auf, wie dieser effizient genutzt werden kann; sie spricht sich klar für Ensembles aus und hebt Musizier-Partnerschaften hervor, wo auch Schüler unterschiedlichen Niveaus voneinander profitieren können. Schließlich setzt sie für ihre Schüler klare, erreichbare und motivierende Ziele, die auf die Interessen der Schüler angepasst sind, auch lange Ferien überdauern und sich erneut auf die Übermethodik zurückbeziehen. Auch hier stehen zahlreiche Arbeitsblätter parat.
In einem getrennten Abschnitt behandelt Nastoll das Üben mit erwachsenen Schülern, die ganz eigene Erfahrungen mitbringen und andere Ziele verfolgen: Meist steht hier nicht der virtuose Vortrag, sondern das Absetzen vom Alltag, die Zeit für sich, im Vordergrund. Dies bedarf ganz anderer Methodik. Auch hier gibt Corina Nastoll Übungen zum Üben, zum Integrieren des Instruments in den Alltag und zum Wohlbefinden.
CD: Dreamlover, Music for Saxophone by Albena Petrovic. Joan Martí-Fresquier, Kebyart Ensemble, Cynthia Knoch, Romain Nosbaum.
Solo Musica, SM 394; EAN: 4 260123 643942.
Albena Petrovic gehört zu den produktivsten Komponistinnen unterer Zeit. Die in Bulgarien geborene, in Luxemburg lebende und wirkende Musikerin schrieb über 600 Werke in unterschiedlichsten Gattungen und für diverse Besetzungen. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie 2013 den Ordre de Mérite du Grand-Duché de Luxembourg (Rangstufe: Chevalier). Soeben erschien nach Crystal Dream, The Voyager und Bridges of Love ihre nunmehr vierte monographische CD beim Münchner Label Solo Musica: Es trägt den Titel Dreamlover und umfasst Werke für Saxophon, die in Bezug stehen zum ausübenden Künstler Joan Martí-Frasquier. Albena Petrovic bezeichnet Dreamlover als „Konzeptalbum“, das exemplarisch ihr Schaffen für das Saxophon in seinen verschiedenartigen Facetten umreißt. In diesem Interview spricht die Komponistin Albena Petrovic über ihren Zugang zur Musik, über das Saxophon und die Werke, die auf ihrem neuen Album Dreamlover zu hören sein werden.
Oliver Fraenzke (OF): Albena Petrovic, Ihre neueste CD widmet sich dem Saxophon. Dieses ist zumindest in der klassischen Musik ein vergleichsweise neues Instrument, das abgesehen von wenigen Ausnahmen (wie bei Bizet) erst im 20. Jahrhundert aufblühte: man denke an Debussy und Ravel, an Glasunow und an Alban Berg. Am meisten verbinden wir es aber nach wie vor mit dem Jazz, wo es zwar ebenso spät einzog, sich aber nachhaltig durchsetzte. Wie kamen Sie dazu, für dieses Instrument zu komponieren und was spricht Sie an ihm so an?
Albena Petrovic (AP): Tatsächlich war es der Zufall, der viele Dinge bewirkt, der mich dazu gebracht hat, Saxophonisten kennenzulernen. Ich hatte vorher nie die Gelegenheit, für Saxophon zu komponieren, weil ich keine Konzert-Interpreten kannte – ganz logischerweise lag dieses Instrument nicht in meinem Blickfeld. 2006 komponierte ich das Quartett Gebet zum Nichterscheinen, das von der Musikwissenschaftlerin Danielle Roster und ihrem Projekt mit CID Femmes-Luxembourg bei mir in Auftrag gegeben wurde. Ich war sehr dankbar für dieses Projekt, das die meisten Blasinstrumente umfasste. Nach der Uraufführung wurde das Quartett mehrfach aufgeführt – unter anderem in Österreich. Dann schrieb ich mehrere andere Kammermusikstücke, darunter mit Saxophon, aber nichts für dieses Instrument allein. Entscheidend war mein Treffen mit Joan Martí-Frasquier bei Classical Next im Jahr 2016. Er ist eine Art Fürsprecher für sein Instrument – das Bariton-Saxophon: Er bittet Komponisten oft um neue Stücke für sein Instrument. Er hat mehr als 30 Werke uraufgeführt und mit seiner Hingabe an das Schaffen und Entdecken hat er es geschafft, dass ich Lust bekommen habe, für ihn zu komponieren. Außerdem engagiert er sich enorm für zeitgenössische Musik, ganz „puristisch“: Kommerzielle Musik passt keine Spur in sein Repertoire. Mit kommerzieller Musik meine ich Stücke, die mit dem Publikum „flirten“ und in Richtung Populismus abgleiten. Nach dem ersten Stück – DREAMLOVER – komponierte ich 2018 das Konzert mit Streichorchester und die Ouvertüren zum Operndyptich Liebe und Eifersucht. Dies war schon genug Musik, um an eine CD zu denken!
OF: Bei den Werken dieser CD erkunden Sie explizit die Spieltechniken jenseits der „traditionellen“ Musizierweise. Welche klangtechnischen Besonderheiten entdeckten Sie beim Saxophon?
AP: Die Saxophonfamilie ist sehr reich an Klangmöglichkeiten – so virtuos wie eine Klarinette, aber mit Vorteilen in der Klangpalette – sehr unterschiedliche Klangfarben, mehrere Register von Geräuschen und Effekten und natürlich mehr Kraft und Lautstärke. Im Bereich des Ausdrucks und der Suche nach dunklen, auch unschönen Paletten ist das Bariton-Saxophon also in seiner Stärke. Gleichzeitig kann es auf Anfrage wie die menschliche Stimme singen und zart und warm sein – es fällt mir schwer zu sagen, was mit diesem Instrument nicht möglich ist, besonders wenn der Instrumentalist so virtuos ist wie Joan Martí.
OF: Wenn mir gestattet ist, die vorausgegangene Frage weiterzuverfolgen: Allgemein fällt auf, dass Sie in fast jeder Phrase erweiterte Spielweisen benutzen und die klanglichen Möglichkeiten für jedes Instrument durch neue Techniken ausreizen. Sind Sie der Ansicht, die traditionelle Tongebung habe für die neue Musik ausgedient, sei abgenutzt? Oder geht es Ihnen hierbei mehr um eine Umsetzung Ihrer Vorstellungen, die nur eben durch solche Klangsphären erreichbar gemacht werden?
AP: Ich denke, tonale Musik ist unbegrenzt, man kann mit Tonalität viel machen, aber ich habe eine sehr große Neugier, Besonderheiten zu entdecken und zu suchen. Außerdem geht es mir darum, meine Ideen gemäß meiner persönlichen Ästhetik auszudrücken, und ich brauche meine persönliche Sprache.
Des Weiteren sind die Themen, die mich beschäftigen, eher düster, und ich orientiere mich an der philosophischen oder tragischen Seite der Dinge. Ich kann nicht wirklich (nach eigener Entscheidung) Musik zur Unterhaltung komponieren – dafür gibt es sehr spezifische Genres. Gelehrte Musik, wie wir sagen, Kunstmusik, muss sich von Themen und tiefen Gefühlen nähren, und das inspiriert mich auch. Es fällt mir schwer, meine Enttäuschung oder die Einsamkeit von heute mit einer Melodie auszudrücken, die vor 200 Jahren hätte komponiert werden können. Und jeder Schöpfer ist in seiner eigenen Welt – das „Gepäck“, das er mit sich trägt und seine menschlichen Erfahrungen sind absolut untrennbar mit seiner Schöpfung verbunden. Meine persönliche Reise war sehr schwierig und voller Hindernisse – die Zeit meiner Jugend war sehr dramatisch und das ist der Grund, dass mein Aussehen und meine Ästhetik nicht die gleichen sind wie die Schöpfer, die in einem einfachen und unbeschwerten Kontext sich entwickelt haben. Auf heute projiziert: Könnten diese Menschen, die unter den Bombardements in der Ukraine aufwachsen, die gleichen Visionen haben wie die anderen, die auf Mallorca Urlaub machen?
OF: Ihr musikalisches Material setzt sich bei den Werken dieser CD hauptsächlich zusammen aus kurzen Motiven, die vor allem rhythmisch-dynamischer Natur sind oder sich durch individuelle Klanglichkeit auszeichnen. Wie kreieren Sie damit Zusammenhang in den großen Formen? Auf welche Weise gelingt es Ihnen, die einzelnen Sätze oder Werke zusammenzuhalten?
AP: Große Formbauten – hier zum Beispiel das Concerto – werden wie große Gebäude gebaut – proportional und der Form und Dramaturgie eines zuvor erstellten Plans folgend, sonst stürzt das Gebäude ein. Kleine Formen sind Detailarbeit, die oft schwieriger zu erreichen ist. Bei kleinen Formen ist jede kleine Geste sehr wichtig und sichtbarer. In Topform arbeite ich als Architekt – ich plane, bevor ich anfange, und folge dem Plan. Dann hat jede Stufe ihre Rolle in der Dramaturgie des Ganzen.
OF: Allgemein fällt auf, dass Ihre Musik ausgesprochen sanft und weich erscheint, bewusst extreme Kontraste in Sinne von Härte umgeht. Dazu verleihen Sie Ihren Werken vornehmlich poetische Titel, die ebenfalls träumerischen bis melancholischen Charakters sind. Was wollen Sie mit Ihrer Musik vermitteln? Welchen Eindruck erhoffen Sie, bei Ihren Hörerinnen und Hörern beim ersten Höreindruck zu erzielen? Und durch welche Haupt-Charakteristika wollen Sie diesen Eindruck in erster Linie erreichen?
AP: Meine persönliche Ästhetik ist stark von den Impressionisten und Expressionisten beeinflusst. Für mich muss jede Musik eine Inspiration in sich tragen, die vom Herzen kommt. Meine Musik ist rational komponiert und oft übermäßig durchdacht, aber der Hauptzweck ist, dass sie beim Zuhörer ein Gefühl und eine Reaktion hervorruft. Diese nachdenkliche Seite ist für mich essenziell. Also suche ich nach einem einzigartigen und wiedererkennbaren Sound-Look. Ich möchte nicht, dass wenn Sie sich mein Stück anhören, sich fragen, ob das Gershwin oder Bernstein oder Poulenc ist.
OF: Beim ersten Werk auf der vorliegenden CD handelt es sich um ein Solokonzert, ursprünglich für Bariton-Saxophon und Streichorchester als op. 204 komponiert, auf Wunsch von Joan Martí-Frasquier später in der hier zu hörenden Fassung mit Klavier umgeformt. Wie treten Sie der klassischen Form des Solokonzerts heute gegenüber? Welche formalen Teile projizierten Sie in die Gegenwart und wie schaffen Sie eine nach wie vor aktuelle Form?
AP: Das Konzert ist zweisätzig – vor und nach einer imaginären Katastrophe – ein Vorwarnteil voller Angst und Drohung und ein Teil zur Trauer über die Katastrophe. Es gibt auch Sonaten und Konzerte in einem Satz, was seit dem 20. Jahrhundert ein Trend ist, der auch sehr typisch für Opern ist, die bereits in 1–2 Akten üblich sind.
Ich halte es für sinnvoll, die Längen zu kürzen – ich entziehe mich nicht dem Trend, Formen zu schneiden und Mittel zu sparen. Heutzutage dauern Konzerte nicht länger als 60–75 Minuten ohne Pause und das war’s; Das Publikum hört nicht mehr zu, wenn die Musik komplex ist und Reflexion und nicht nur Unterhaltung erfordert. Die Zeit vergeht anders und das wirkt sich auf die Größe der Werke aus.
OF: Bemerkenswert gestaltet sich Ihr Zyklus Poèmes–Masques op. 236, der die bislang einzigartige Formation zwischen Gesang und Saxophon in den Mittelpunkt stellt. Wie harmonisieren die menschliche Stimme, die ja vor allem in der Mittellage bis Höhe Glanz und Volumen erreicht, und das Saxophon, welches ja in der Tiefe mächtig erscheint? Auf welche Weise wirken die zwei Melodieinstrumente zusammen und wie können sie gemeinsam harmonische Vielfalt erreichen?
AP: Es ist sehr natürlich – ich behandle das Bariton-Saxophon wie eine menschliche Stimme, aber ohne Worte – es steht logischerweise im Dialog mit dem Sopran. Und es ist auch sehr harmonisch und sogar melodiös. Ich habe mehrere andere Stücke, in denen ich die Stimme als Instrument behandle, aber hier habe ich die Entscheidung nach dem Inhalt getroffen – die Poèmes–Masques sind sehr theatralisch, wie kleine Skizzen – es gibt Vorschläge, mit denen man den Hörer nicht ablenken darf durch zu viel Virtuosität, die Intimität des Textes suggeriert auch eine intime Textur.
OF: Die Texte der vier Lieder stammen ebenfalls aus Ihrer Feder. Im Booklet beschrieben Sie, dass der schöpferische Prozess des Entstehens von Text und Musik zusammenfällt. Wie kann man sich das vorstellen? Könnten Sie das anhand eines Beispiels erklären, wie Sie bei Liedkompositionen vorgehen?
AP: Ich denke über die Botschaft nach, die ich vermitteln möchte, dann fange ich an, eine Textur auszuarbeiten – Instrumente, Klangfarben und die Worte, die diese Botschaft am besten ausdrücken. Rational und intuitiv sind die beiden Arbeitsweisen, die bei meiner Textarbeit Hand in Hand gehen. Arbeiten ohne Text ist viel rationaler.
OF: Es folgen drei Stücke für das Saxophon allein: DREAMLOVER op. 189 (2017) und die Zwei Stücke für Alt-Saxophon o. O., die aus Ihrer Kammeroper Love & Jealousy stammen. Ein Melodieinstrument ohne Begleitung stellt Komponistinnen und Komponisten vor besondere Herausforderungen. Vor welchen Aufgaben standen Sie hier?
AP: Es ist wirklich sehr anspruchsvoll, ein Stück für Soloinstrument zu bauen, aber ich mache es nur, wenn ich wirklich glaube, dass dies der einzige Weg ist, die Botschaft zu vermitteln – in der Dyptich-Oper Love & Jealousy, also Liebe und Eifersucht, ist das Saxophon die Verkörperung der Einsamkeit – es spielt diese Rolle auch in der Dramaturgie der Klangfarben; im DREAMLOVER ist es ähnlich – marginal, realitätsfern in Einsamkeit und Isolation.
OF: Zu DREAMLOVER vermerkten Sie, es ließe viel Raum für die Phantasie der Interpretinnen und Interpreten. Auf welche Weise?
AP: Eines der Bücher, das mich geprägt hatte, war Opéra Aperta des Schriftstellers und Philosophen Umberto Eco – die offene Form, die Raum lässt für die anderen Teilnehmer des Dreiecks – für Darsteller und sogar für die aktive Teilnahme des Publikums im Bezug auf die ‚Ausführung‘ des musikalischen Werkes – ich gehe nicht zu weit in diese Richtung, aber ich gebe dem Interpreten kontrollierte Freiheit, damit er dem Endergebnis seinen Stempel aufdrücken kann. Er muss sich wirklich in die Haut des Komponisten hineinfühlen und die Emotion seines eigenen Wesens leben. Ansonsten sind die Noten streng geschrieben, auch die Nuancen. Die Freiheit betrifft Rhythmus, Tempo und Ausdruck.
OF: Das letzte der zu hörenden Werke trägt den Titel Gebet zum Nichterscheinen op. 102, es ist das früheste der aufgenommenen Werke und für vier Saxophone komponiert. Hier näherten Sie sich das erste Mal dem Saxophon: Wie bereiteten Sie sich auf das Schreiben für dieses Instrument vor? Und was zeichnete die Arbeit an dem Werk aus?
AP: Das ist mein erstes Werk für Saxophon, es gab einen Auftrag, dieses Werk zu komponieren, aber ich kannte die Instrumente schon lange vorher, seit dem Ende meines Studiums; 2006 ergab sich die Gelegenheit. Das ist für mich etwas ganz Besonderes – ich muss immer einen Bühnentermin im Blick haben, sonst kann ich nicht komponieren. Wenn es möglich ist, die Interpreten sogar persönlich zu kennen, ist dies der beste Weg, um die Werke zu fühlen und ihnen Energie zu verleihen. Und der erste Klick ist sehr wichtig – die Idee und der Titel. Ohne Titel und Idee, die einander entsprechen, kann ich ebenfalls nicht komponieren. Und doch ist es der Ton, der die Inspiration bringt. Ich habe Blaubart von Kurt Vonnegut gelesen und fand die Reflexion von Erscheinen und Nichterscheinen sehr inspirierend. Ich habe mich auch entschieden, mit „soggeto cavato“ und „Augenmusik“ zu experimentieren und bestimmte Texte, Namen etc. in das thematische Material zu kodieren – das ist das Unsichtbare hinter den Noten. Da es sich bei Saxophonen um transponierbare Instrumente handelt, ist diese Codierung in der C-Partitur ersichtlich. Dasselbe mache ich seit Jahren mit vielen Instrumentalstücken – es ist eine Technik, die es mir erlaubt, eine gewisse Erdung und eine artifizielle Modalität / fast Tonalität zu erzeugen.
OF: Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Antworten!
[Interview geführt von: Oliver Fraenzke, April 2022]
Ein Portrait des Komponisten Josef Schelb (* 14. März 1894 in Krozingen; † 8. Februar 1977 in Freiburg im Breisgau)
Überblickt man den Lebensweg von Josef Schelb (1894–1977), reflektiert dieser an mancher Stelle beinahe exemplarisch das Schicksal vieler Tonkünstler des 20. Jahrhunderts, zeugt von großen Visionen und herben Rückschlägen. Schelb stand über Jahrzehnte im Licht der Öffentlichkeit, wohl aber ohne jemals als einer der „Stars“ der Szene zu gelten. Dabei steht außer Frage, dass er eine wahre Künstlernatur gewesen ist, die sich mit Talent und unermüdlichem Fleiß bis zuletzt aufopfernd in den Dienst der Musik stellte. Mehr denn je ist es an der Zeit, sein Schaffen aufblühen zu lassen, um es vor der Vergessenheit zu retten.
Geboren wurde er als Christian Albert Joseph Schelb am 14. März 1894 in Krozingen, heute Kurort, nahe Freiburg in einem interessiert laienmusikalischen Haushalt. Sein erster wichtiger Lehrer wurde der Pianist und als Symphoniker bedeutende Hans Huber (1852–1921), zu dem Schelb nach Basel pendelte. Nach seinem Abitur zog er zum Studieren nach Genf, wo der damals populäre Liszt-Schüler Bernhard Stavenhagen (1862–1914) ihm Unterricht gab; daneben besuchte er die Kontrapunktklasse von Otto Barblan (1860–1943). Zwanzigjährig erhielt er das „Diplôme de Virtuosité avec Distinction“, etablierte sich schon während des Ersten Weltkrieges als Pianist und lehrte über seinen Wehrdienst hinaus zwischenzeitlich am Freiburger Konservatorium.
Im Jahr 1924 erhielt Josef Schelb eine Anstellung am Konservatorium in Karlsruhe, die er (mit Unterbrechung in den 40er-Jahren) bis 1958 innehatte. Die vielfältigen Berichte aus dieser langen Epoche seines Lebens lassen schlussfolgern, dass Schelb ein gewissenhafter wie bemühter Lehrer war, der jedoch immer das Künstlerische dem Pädagogischen vorzog. Er beteiligte sich rege an Lehrerkonzerten und brachte eine Vielzahl seiner Kompositionen in den Veranstaltungen der Ausbildungsstätte unter, doch durch seine intensiven Konzertvorbereitungen und seinen kompositorischen Fleiß kam es oftmals zu Zeitkonflikten: Über die Jahre verteilt finden sich mehrere Beschwerden, da er oft zu spät erschien oder bei wichtigen Institutsveranstaltungen fehlte. Schelb versuchte mehrfach, seine Mindestunterrichtszeit zu senken, um mehr Zeit fürs Komponieren und Üben zu haben. Ein früher Höhepunkt seiner Karriere war eine dreimonatige Amerikareise mit dem Violinisten Juan Manén (1883–1971).
Am 21. Juli 1936 heiratete Josef Schelb die 1915 geborene Sängerin Lotte Schuler, die vor ihrer Gesangsausbildung Schelbs Klavierklasse besuchte. Lotte Schelb hob die meisten der Vokalwerke ihres Mannes aus der Taufe. 1938 erlangte das Konservatorium in Karlsruhe staatliche Anerkennung, wodurch auch Schelb eine angemessenere Vergütung zuteil wurde; im Folgejahr wurde er verbeamtet und zum „Dozentenführer“ ernannt, was aber hauptsächlich lästige Pflichten ohne künstlerische Mitsprachen mit sich brachte.
Während eines Fliegerangriffs 1942 wurden große Teile des Konservatoriums zerstört und auch Schelbs Wohnung fiel den Bomben zum Opfer, wobei große Teile seiner bisherigen Kompositionen unwiederbringlich verbrannten. Schelb nutzte den Einschnitt, um sich vorläufig für ein Jahr beurlauben zu lassen, damit er sich aufs Konzertieren konzentrieren konnte: Aufgrund der „Wichtigkeit der Wehrmachtsbetreuung während des Krieges durch gute Konzerte“ wurde ihm die Abwesenheit gewährt. Josef Schelb verlängerte seine Beurlaubung jährlich bis Kriegsende. Für den letzten Volkssturm wurde er eingezogen, er setzte sich jedoch vor dem Einsatz ab.
Wegen seiner hohen kulturellen Stellung besonders als Dozentenführer sowie seines allgemeinen Ansehens während der NS-Zeit (er war 1933 – eigenen Aussagen zufolge aus Zwang – Mitglied der NSDAP geworden) hatte es Josef Schelb in der Zeit nach dem Krieg schwer. Er wurde trotz vielfacher Stellungnahmen und Empfehlungsschreiben durch Kollegen, welche ihm unpolitische bis systemkritische Haltung attestierten, nach mehreren Verhandlungen erst 1947 als Mitläufer gegen Geldstrafe entnazifiziert. Im Februar 1948 erlangte er seine alte Stellung zurück. Schelb hielt sie bis Ende 1958, als er sich aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig pensionieren ließ.
In den letzten knapp zwanzig Jahren wirkte Josef Schelb als freischaffender Komponist, der bis zuletzt mit ungebrochenem Eifer neue Werke schrieb. Seine Musik genoss durchaus Ansehen, wurde im Rahmen großer, öffentlichkeitswirksamer Konzerte und Festivals uraufgeführt; besonders die Musica Viva profilierte sich durch eine Vielzahl an Premieren. Dabei muss angemerkt werden, dass Schelbs kompositorische Präsenz im Konzertleben in erster Linie auf die unermüdlich neuen Uraufführungen zurückzuführen ist, denn nur die wenigsten der Werke wurden Zeit seines Lebens wiederholt.
1976 erlitt Schelb einen Schlaganfall, von dem er sich nie mehr ganz erholte. Am 7. Februar 1977 starb er in Freiburg, wo er im Familiengrab beigesetzt wurde.
Die Musik Josef Schelbs beweist sich durch Eigenständigkeit. Am einfachsten fasslich zeigt sie sich durch ihren formalen Sinn, denn die Werke wie deren einzelne Sätze sind in klassischen Formschemata errichtet, die recht streng eingehalten werden. Halt gibt ebenfalls die motivische Arbeit, die stringent durch die Werke navigiert und ein Gefühl vermittelt, wo im Werk man sich befindet. Modern hingegen ist der Inhalt, der sich kaum an harmonische Gesetzmäßigkeiten hält, sondern frei durch den Tonraum mäandert. Interessanterweise nutzt Schelb dabei vergleichbar wenige chromatische Verläufe, sondern erlaubt sich, neue Zwischenzentren auch sprunghaft zu erreichen, wodurch er die Dichte der Kontraste zur ständigen Verfügung hat, im Umkehrschluss Abwechslung durch rasche Änderungen bezüglich Dynamik, Artikulation und Tempo schaffen muss, was nicht zuletzt die Musik auszeichnet.
Exemplarisch sollen an dieser Stelle drei Werke aus dem Bereich der Kammermusik kurz vorgestellt werden, deren Noten bereits veröffentlicht vorliegen und von denen entweder bereits eine Aufnahme existiert oder sich zumindest auf dem Wege der Publikation befindet.
Das früheste der hier zu nennenden Werke ist das Zweite Klaviertrio von 1954, ein lebendiges, keck sprunghaftes Werk, das seine packende Energie aus dem regen Zusammenspiel der Instrumente zieht. Motorische Begleitfiguren treiben nach vorne, während die melodischen Stimmen kontrapunktisch kommunizieren, sich in den Verschiedenheiten ergänzen. Die ersten zwei Sätze erscheinen wie aus einem Guss, wobei das Vivace leggiero die Wucht des Kopfsatzes noch potenziert, dabei Motive aus diesem neu entwickelt. Das Adagio basiert auf einer Zwölftonreihe, die aber einerseits verschiedene Dreiklangbrechungen beinhaltet und somit Ausgangspunkt für die harmonische Entwicklung bildet, andererseits nicht durch dodekaphone oder gar serielle Fortspinnung weitergeführt wird, sondern als klar erkenntliches Thema behandelt wird. Dies nimmt Schelb als ein in vielen Werken vergleichbar erscheinendes Prinzip. Auch das Finale beginnt mit einer Zwölftonreihe, doch hier auseinandergerissen in zwei getrennte Motive plus den Auftakt zur Fortführung des Materials.
Während das Trio durch seine heitere Kurzatmigkeit und den musikalischen Scherz lebt, kommt im Quartett für Violine, Horn, Cello und Klavier aus dem Jahr 1962 mehr Dramatik auf. Das Werk ist ungemein dichter konzipiert und weist größere Flächen auf, die dabei für ein freitonales Werk bewundernswert orientierungsbewusst durchschritten werden. Schelb verwendet das Horn gerne für Haltenoten und das Klavier für motorisch gleichförmige Figuren, während sich die Streicher rhythmisch geladen ergänzen. Allgemein nutzt er prägnante Rhythmik für innermusikalischen Zusammenhalt wie auch Wiedererkennbarkeit seiner Motive, meißelt gerade durch dieses Element die Gesamtstruktur heraus.
Im späten Klavierquintett von 1970 sucht Josef Schelb vermehrt die Einheit und Ausgewogenheit. Die vier Sätze weisen annähert gleiche Länge auf, tarieren die ruhigeren und drängenderen Momente untereinander aus; auch die Instrumente wirken weniger kontrapunktisch gegeneinander, sondern entfalten Einklang. Die Tonsprache, vor allem aber die Rhythmik wirkt gesetzter, weniger sprunghaft und mehr auf große Bögen konzentriert. Im Quintett kehrt sich Schelb vermehrt zu polytonalen Strukturen, die dafür untereinander klarere Verläufe besitzen. So heben die drei hier angeführten Werke gänzlich unterschiedliche Aspekte der Musik Josef Schelbs hervor, legen eine klare Entwicklungslinie frei und entfalten parallel eine durchgehend wiedererkennbare Handschrift.
Auf ihrem Album mit dem Tite Volupté bündeln die Sopranistin Emma Moore und die Pianistin Klara Hornig Liederzyklen von Debussy, Kraus und Ullmann. Sie beginnen mit den vergleichsweise selten zu hörenden Cinq Poèmes de Charles Baudelaire von Debussy in ihrer für den Tonsetzer ungewohnt romantisch-wuchtigen Ausgestaltung. Im Zentrum stehen die Acht Gesänge nach Gedichten von Rainer Maria Rilke des eher als Dirigent bekannten Clemens Krauss. Ergänzt wird das Programm durch Viktor Ullmanns Fünf Liebeslieder nach Ricarda Huch op. 26.
Sinnlichkeit der Texte und der Musik, das bildet den Mittelpunkt des Albums Volupté von Emma Moore und Klara Hornig. Der nicht wörtlich ins Deutsche übersetzbare Titel steht dabei nach Aussagen der Künstlerinnen für das Schwelgerische, den Ausbruch aus den Konventionen und das Eintauchen in rauschhaft-weltfremde Zustände.
Als Auslöser für die Aufnahme fungierte ein Liedzyklus von Clemens Krauss bestehend aus acht Rilke-Vertonungen, der die Künstlerinnen seit Jahren in den Bann zieht und dem sie einen prominenteren Platz im Liedrepertoire wünschen. Die Musik von Krauss wird beeinflusst durch seine künstlerische wie private Nähe zu Richard Strauss, von dem er einige Werke uraufgeführt hat und sogar am Libretto der Oper Capriccio beteiligt war. Gerade harmonisch lässt sich die Nähe erkennen, wobei Krauss dem Höreindruck nach mehr den tonalen Zentren verbunden bleibt und unmittelbare Ausbrüche daraus ausschließlich in Ausdeutung des Textes unternimmt. Zumindest lässt Krauss seine Modulationen leichter verfolgen, als Strauss es meist tat – so behaupten sie Eigenständigkeit, die man ihnen nicht absprechen sollte. Die Acht Lieder muten im Klaviersatz äußerst orchestral an und bieten den Interpret*innen Herausforderungen nicht bezüglich des Mechanischen, sondern des Gestalterischen. In ihrer Wirkung erweisen sie sich jedoch als äußerst dankbar, da man den Text und die musikalischen Kommentare auf diesen gut verfolgen kann und sich so die Worte in den Tönen vornehmlich entfalten.
Die Cinq Poèmes de Charles Baudelaire erscheinen fast untypisch für Claude Debussy, so getragen voll und wuchtig behandelt er das Klavier. Trotz der typisch französischen Akkorderweiterungen schwingt ein wenig die deutsche Spätromantik mit, zumindest angesichts der ausladenden Gesten und des süffig schwelgenden Pathos. Allein die Länge des ersten Liedes erstaunt: Knappe neun Minuten misst es. Unabhängig dessen untermauern sie Debussys feines Gespür für die Texte und deren Bildlichkeit, die er bedingungslos in Töne verwandelt und es einmal mehr schafft, auch andere Sinne als das Hören allein durch die Imagination zu aktivieren.
Musikalisch am radikalsten begehren die Fünf Liebeslieder nach Ricarda Huch op. 26 auf, die gerade auch das sehnende, verlangende Element des Liebens thematisieren und greifbar mitfühlend ausdrücken. Ullmann setzt auf Kürze und Prägnanz, reduziert auf entscheidende Motive, statt die Linie frei dem Text nach umzusetzen, woraus eine extreme Geschlossenheit und Dichte resultiert. Er kreiert hoch expressive Mikrokosmen, die unter steter Hochspannung stehen. Ihm gelang wie nur wenigen anderen im Umkreis Schönbergs ein solch unverwechselbarer Personalstil.
Die vorliegende Aufnahme durch Emma Moore und Klara Hornig präsentiert eine innige, wohldurchdachte und doch emotionale Deutung der drei Liedzyklen. Die beiden Musikerinnen setzen auf Wärme und weichen Klang, auf Expressivität ohne Zwang. Klara Hornig denkt gerade Debussy und Krauss orchestral, was bei Letzterem an die Grenzen der klanglichen Möglichkeiten des Klaviers stößt. Ullmann erscheint bei ihr wieder pianistischer, dabei stets abgründig. Hornig kultiviert einen samtenen Anschlag frei von Härte und schlagenden Bewegungen, sie entwickelt eine ausgewogene Dynamik mit reicher Abstufung. Bei Emma Moore sticht besonders ihre klare Aussprache hervor, die jeden Konsonanten erklingen lässt, ohne ihn überzubetonen, was einerseits dem Textverständnis zugutekommt, andererseits aber auch einen angenehmen Ambitus an Konturen hervorbringt. Bis in die hohen Lagen brilliert sie durch einladend warmes Timbre. Unverkennbar bleibt die langjährige Zusammenarbeit der beiden Musikerinnen, die im gleichen Atem agieren und ihr Drängen und Innehalten perfekt abstimmen.
Das casalQuartett entdeckt die Musik von Anton Eberl, bei Solo Musica erscheint nun unter dem Titel „Rediscovered“ die Weltersteinspielung der drei Streichquartette op. 13.
Anton Eberl – bei eingehenderer Beschäftigung mit der Musik der Wiener Klassik kommt man kaum um diesen Namen herum; zu hören ist sein Schaffen allerdings ausgesprochen selten. Seine zu Lebzeiten hochgelobten Werke tauchen erst seit der Jahrtausendwende wieder vereinzelt auf der Bildfläche auf. Vor zwei Jahren erschienen die sieben Klaviersonaten in einer Einspielung durch Luca Quintavalle (Brilliant Classics), ebenso das Konzert für zwei Klaviere durch das Duo Tal & Groethuysen mit der Frankfurt Radio Symphony unter Reinhard Goebel (Sony), 2000 kamen die Symphonien durch das Concerto Köln heraus (Teldec). Nun darf das casalQuartett für sich beanspruchen, die Quartette Anton Eberls wiederentdeckt zu haben.
Der Name Eberl steht zumeist in unmittelbarer Verbindung zur Familie Mozart. Wolfgang Amadeus unterwies den um neun Jahre jüngeren Kollegen, woraus eine lebenslange Freundschaft zwischen den Familien erwuchs, die auch über den Tod Mozarts bestehen blieb, nämlich zu Constanze und ihrer Schwester. Der 1765 geborene Eberl trat in Kindertagen als Pianist auf, verschrieb sich nach einem aus finanziellen Gründen abgebrochenen Jurastudium vollständig der Musik. Fortan findet sich sein Name immer wieder an prominenter Stelle, so in Lobeshymnen von unter anderem Gluck, als Kapellmeister von Haydns Schöpfung in Russland, als Solist seines eigenen Klavierkonzerts neben Beethovens Eroica und als eigentlicher Autor von Mozart zugeschriebenen Werken. Die Presse überschlug sich förmlich des Lobes, zumeist übrigens mehr als über die Musik seiner heute bekannten Kollegen.
Wie so oft fällt, wenn ein unbekannter Tonsetzer aus der Vergessenheit geborgen wird, schnell das Wort „Epigonentum“, und es wird versucht, ihn in den Schatten des bewährten Meister zu stellen. Auch Anton Eberl war davor nicht gefeit, schnell reduzierte man ihn auf seinen Lehrer. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass Mozart seine Handschrift bei seinem Schüler hinterließ, allerdings nur im Bewusstsein darüber, wie die Naturgesetze der Funktionsharmonik walten und an welchen Stellen sie kurzzeitig umgangen werden können. Eberl lernte die Wendigkeit des musikalischen Geschehens und das Gefühl für gezielte Überraschungen und Unvorhersehbarkeiten. Die Art der Themenfindung, die aufkommenden Stimmungen und die Fortführung seines Materials hingegen sind genuin auf Eberl selbst zurückzuführen.
Die Drei Quartette op. 13 gab Anton Eberl 1801 gebündelt heraus und konzipierte sie als bewussten Zyklus dreier dennoch eigenständiger Werke, die sich in Gehalt und Spannung steigern – ähnlich ging vor allem Beethoven bei seinen frühen Opera vor, so den drei Sonaten op. 2. Die Drei Quartette halten sich an die klassische Viersätzigkeit und deren Formmodelle, brechen allerdings immer weiter die Strukturen auf. Gibt sich das Erste in Es-Dur noch recht normbewusst, begehrt die Nummer Zwei in D-Dur schon mehr auf. Das Hauptthema wirkt wie aus einer Oper entsprungen, schnell jedoch kippt die Situation und die Musik präsentiert auf knappem Raum eine Vielzahl an Stimmungen. Das Allegro-Menuett steht an zweiter Stelle und das Adagio non troppo an dritter: Hier keimt eine unerhörte Dunkelheit auf, die in ihrer introvertierten Spannung höchstens mit wesentlich später entstandenen Werken Schuberts vergleichbar wäre. Meisterlich gelingt der Übergang in den Schlusssatz, der noch verunsichert anhebt und erst allmählich anrollt, in der vorliegenden Aufnahme geschlagene zwanzig Sekunden braucht, bevor sich die gelöste Stimmung etabliert. Dies beweist, dass Eberl nicht nur an die Sätze an sich dachte, sondern die gesamte Dramaturgie bedachte. Das Dritte Quartett stellt ein Adagio an die erste Stelle, das in der Tonart g-Moll Licht und Schatten auslotet, wieder in beachtenswerte Tiefen blickt. Symphonisch hebt das Menuetto an, das bei aller scheinbaren Heiterkeit einen bitteren Beigeschmack nicht verliert. Auch in den kommenden Sätzen demonstriert Eberl die enorme Wirkung des schlichten Molls, spielt mit Kontrasten und legt bei enormer Wendigkeit des Geschehens jede Harmonie auf die Goldwaage.
Das casalQuartett setzt die Musik auf eine distanziert nüchterne Weise um, bleibt dabei höchst aufmerksam auf den Strom der Musik und geht in feinen Schattierungen auf die raschen Wechsel ein, welche hörbar werden, ohne zu sehr hervorzustechen. Übermäßige Kontraste vermeiden die vier Musiker, hüten sich also vor vermeidlichen Romantismen, welche die luzide Textur der Quartette zerfasern könnten. Die Stimmen entwickeln sich aus einem einheitlichen Klang heraus, bei dem die klangtechnisch oftmals auffallend weichere Bratsche sichtlich in die härteren Randinstrumente integriert erscheint. Das ermöglicht eine besondere Plastizität und Mehrdimensionalität des Klanges, da dieser einen einzigen Ursprung zu haben scheint. Unverkennbar besticht das fundierte Wissen, das die vier Streicher über die Entstehungszeit der Quartette und deren Aufführungspraxis besitzen (man beachte das Begleich-„Buch“ ihrer fünfteiligen Aufnahme Beethovens Welt 1799-1851 [Solo Musica, SM 283] mit allein 67 Seiten auf Deutsch vom Bratschisten des Quartetts). Dabei stellt das casalQuartett die Quartette nicht als verstaubte Museumsstücke dar, sondern holt die Kenntnis über jene Zeit in unsere heutige Klangkultur und schafft ein Stück lebendige Geschichte.
Ein Interview mit Susanna Klovsky und Martina Silvester vom Ensemble Clazzic
Das Ensemble Clazzic spielt mit Genregrenzen, bahnt sich im Dickicht unterschiedlichster Stile und Einflüsse einen ganz eigenen Weg, frei und eigenständig. Nach zwölf Jahren ihres Bestehens legten die vier Musiker nun ein Debut-Album vor, das vor sprühender Lebendigkeit nur so strotzt (Solo Musica SM 371). An einem spätherbstlichen Nachmittag Ende Oktober traf ich die beiden Gründungsmitglieder Susanna Klovsky und Martina Silvester zum Interview.
Oliver Fraenzke: Bei solch einer Musik, die zwischen allen Stühlen steht, muss ich natürlich zunächst fragen: Wie würdet Ihr den Stil Eures Ensembles beschreiben, wo positioniert Ihr Euch selbst?
Martina Silvester: Unseren Stil vergleiche ich gerne mit dem Bild eines Baums: Die Wurzeln befinden sich in der Klassik, und der Stamm auch noch. Darüber hinaus besitzen wir eine ganze Menge an Blättern und Blüten, die den Duft ganz anderer Genres verströmen. Prinzipiell sind wir für alles offen und das merkt man auch, so dass wir gerne Elemente beispielsweise des Jazz oder des Tangos aufgreifen – und mal sehen, was noch alles kommen wird! Das Wichtigste für uns ist, ein klassisches Ensemble zu sein, dass dann aber weitergeht und sich öffnet. Susanna Klovsky: Was mir an unserem Ensemble so gut gefällt, ist, dass wir alle vier eine klassische Ausbildung durchlaufen haben, aber darüber hinaus vielseitig interessiert blieben. Unser Schlagzeuger beispielsweise hat unter anderem viel im Bereich Pop gewirkt, unser Bassist spielt in Balkan-Formationen mit deren ureigenen Rhythmuselementen, fühlt sich auch im Jazz beheimatet. Martina hat sich auch neben anderem mit dem Beatboxen auseinandergesetzt und ich habe in Latin Bands gespielt. Wir beide vertreten parallel zum Ensemble Clazzic auch ganz andere Konzepte, wo man prinzipiell über stilistische Tellerränder blicken muss. So kann jeder von sich Ideen einbringen. Wir gehen üblicherweise von einem Grund-Werk aus, das bereits so vorliegt und im Idealfall für uns komponiert wurde, und sehen dann, was sich daraus ergibt, was wir alles daraus machen können.
Oliver Fraenzke: Wie lief dies denn im Falle Eures Paradestücks ab, der Clazzic Suite?
Martina Silvester:TheClazzic Suite, die man auf unserer Debut-CD Intersec#ion hören kann, wurde extra für uns komponiert. Wir fragten den israelischen Komponisten Uri Brener, ob er solch eine Suite für uns schreiben würde und waren auch selbst am Kompositionsprozess beteiligt. Uri fragte dezidiert nach unseren Wünschen an das Werk und welche Musik wir gerne hören, hat uns damit das Werk förmlich auf den Leib geschrieben. Wir legten auch Wert darauf, dass jeder von uns einen eigenen Satz bekommt, was ja dann auch so geschah: Saltarello ist mehr der Schlagzeug-Satz, Funky Bird gehört dem Bass und hat ein großes, von Strawinskys Feuervogel abgeleitetes Solo, Susanna am Klavier darf in Amadevans an Mozarts A-Dur-Klaviersonate treten und Syrinxation kommt natürlich von Syrinx, einem Flötenwerk von Debussy. Der Bachsatz, Walking Bachwards, stammt von einer Gambensonate (ursprünglich für zwei Flöten) – diese habe ich mir gewünscht, weil ich diese Sonate so sehr liebe.
Oliver Fraenzke: Jede Epoche und Musikströmung bringt ja auch ganz eigene Techniken mit sich, was sich am Klavier beispielsweise durch die Anschlagsart abzeichnet, beim Gesang sogar durch ganz unterschiedliche Mundhaltung und Stimmfärbung. Wie geht Ihr auf Euren Instrumenten mit diesem Mix an Grundtechniken um; entlehnt Ihr Euch diese nach Bedarf aus den jeweiligen Stilen oder bleibt Ihr im Ursprung den klassischen Artikulationsweisen treu?
Susanna Klovsky: Es schadet nicht, die Stilistik der jeweiligen Strömungen zu kennen. In meinem Falle ist es so, dass mein Vater Jazzmusiker ist und ich so ganz natürlich auch mit deren besonderer Phrasierung und Artikulation in Berührung gekommen bin. Und immer, wenn ich dorthin kam, etwas in diesem Stilbereich zu spielen, sagte mein Vater mir, wie ich es zu phrasieren und artikulieren habe. Aber das wirkt für das Ensemble Clazzic eher im Unterbewusstsein, denn wir wollen uns nicht den Anstrich verpassen, Jazzmusiker zu sein: Das sind wir nicht! Man möchte zwar schon einer gewissen Phrasierung gerecht werden, die dem geforderten stilistischen Idiom entspricht, aber wir bleiben uns treu. Martina Silvester: Das ist ein Credo: Wir bleiben uns treu. Was bei Susanna der Jazz ist, ist bei mir Bach: Ich studierte auch Traverso und weiß, wie man Bach „pur“ spielt. Das versuche ich auch in unseren Arrangements zu integrieren, aber nicht wortwörtlich, sondern angepasst, dass es wieder „unseres“ wird. Beim Spielen denken wir, so habe ich das Gefühl, gar nicht zu viel nach, was alles in uns verwurzelt ist und wie genau wir etwas umsetzen, das Gedankliche geschieht oftmals erst im Nachhinein. Im Zusammenspiel mit dem Ensemble bemerken wir dann auch eigene Grenzen und wollen uns dementsprechend fortbilden. Was Susanna nun im Jazzidiom bereits kannte, musste ich erst lernen, und nahm dann Unterricht in diesem Bereich bei einem Saxophonisten. Ebenso für Milonga: Hier lernte ich noch bei einer Tango-Flötistin, der Frau des Komponisten Exequiel Mantega. Und am Ende fließen unsere Vorzüge und alles Gelernte zusammen, münden dann in einem großen Ganzen, das uns ausmacht.
Oliver Fraenzke: Also kann der Prozess beim spielerischen Erkunden bis zur finalen Wiedergebe als natürliche Genese beschrieben werden, so dass am Ende die Intuition das Gelernte überlagert?
Susanna Klovsky: Es entsteht aus unserer Zusammenarbeit, besonders aus dem gegenseitigen Zuhören. Bei der Einstudierung hören wir beispielsweise, dass der Bass von Alex [Bayer] – der sich im Bereich Jazz ja zuhause fühlt – groovt und swingt. Das setzt eine Kommunikation in Gang, auf die wir reagieren. Man tüftelt, man probiert aus, man hinterfragt: Ist das der Weg, den wir gehen wollen? Obwohl es so klingt, möchten wir es vielleicht doch ganz anders machen? Das ist das Spannende daran, dass wir vier uns austauschen. Wir schauen, wie wir am besten zusammenkommen, dass es auch danach klingt. Martina Silvester: Unsere Formation hat sich im Laufe der Zeit auch mal verändert; unser Schlagzeuger Thomas [Sporrer] kam als letztes hinzu. Er hat dann neue Facetten hineingebracht, sogar die Suite bereichert – dem Schlagzeugsatz viel größere Dimensionen verliehen, als vorgesehen war. Das hat uns dann erst zu dem Klang verholfen, den wir heute haben. Susanna Klovsky: Darum heißt unser Album auch Intersec#ion, Schnittpunkte. Weil wir vier uns gerade hier in dieser Formation treffen und unsere jeweiligen Wurzeln und Kenntnisse zusammenführen. Wir kommen aus verschiedenen Richtungen, treffen uns im Hier und Jetzt, schauen dann, wo wir gemeinsam hingehen.
Oliver Fraenzke: Die Idee, verschiedene Stile zu vermengen, gibt es wohl schon seit Jahrhunderten, wobei natürlich die Entwicklung und vor allem Popularisierung von Musikwiedergabemedien Anfang des 20. Jahrhunderts einen gewaltigen Sprung mit sich führte: Denn plötzlich schwappte der Jazz auch nach Europa und viele Komponisten griffen ihn auf. Die Liste derer, die das in ihren Stil integrierten, was man als Jazz bezeichnete, ist lang, von Milhaud über Antheil zu Krenek, Schnabel etc. – und umgekehrt wollten Komponisten wie Gershwin und Ellington die klassische Welt erkunden. Dieser Austausch herrscht bis heute an, man denke allein an die Klazz Brothers oder Cuba Percussion, Joachim Horsley oder Ernán López-Nussa. Habt Ihr in diesem gewaltigen Kosmos konkrete Vorbilder oder eine Idiomatik, die Ihr weiterführen wollt?
Martina Silvester: Am Anfang, bevor es unser Ensemble Clazzic gab, habe ich mit Freude Ensembles wie die Klazz Brothers gehört und fand diese Stilvermengung immer cool. Ich sage nicht, dass ich so etwas einmal machen wollte, aber ich fand es äußerst erfrischend, weil es anders war als das, was man sonst kennt. Die Idee, mal raus zu kommen aus den Konventionen, das beflügelte uns natürlich. Kopieren wollten wir aber nie – immer unser Eigenes sein. Susanna Klovsky: Wir begannen mit Suiten von Claude Bolling, die bereits damals auf Tonträger zu hören waren – so tasteten wir uns allmählich an die Stilvermengung heran. Aber schon da dachten wir uns, dass wir das noch aufbrechen und extremer machen müssten. Meine großen Vorbilder hier sind Michel Camilo und Chick Corea. Es gibt ja auch auskomponierte Teile bei ihnen und trotzdem klingt alles frisch und lebendig, alles brodelt. Martina Silvester: Damit begann unsere Suche. Bei der Bolling-Suite kam Susanna plötzlich auf die Idee, dass man doch einen HipHop-Rhythmus daruntersetzen könnte. Daraus wurde „Bolling Reloaded“ – ich habe dann probiert, dazu ein wenig zu beatboxen.
Oliver Fraenzke: Das sind ja alles Sachen, die man zunächst beherrschen, also lernen muss. Mit den Grundelementen des Jazz sind die meisten klassischen Musiker durch die Musik des 20. Jahrhunderts zumindest rudimentär vertraut, aber HipHop liegt in einer ganz anderen Sphäre.
Susanna Klovsky: Für den HipHop-Part haben wir mit unserem Schlagzeuger wahnsinnig viel getüftelt, bis wir vom Ergebnis überzeugt waren. Andere sonst wenig vertretene Elemente lagen uns da deutlich näher, so beispielsweise der Salsa, denn früher habe ich viel in Salsa-Bands gespielt, so war mir das zumindest in Grundzügen vertraut. Daher wohl auch die Verbindung zum Latin Jazz mit Michel Camilo.
Oliver Fraenzke: Also begegneten Euch die meisten diese Elemente schon während Eurer Laufbahn?
Martina Silvester: Zu guten Teilen ja. Anderes wie das Beatboxen habe ich erst jetzt angefangen. Auch nehme ich nun Jazzunterricht, da ich einfach keine Jazz-Flötistin bin und da Nachholbedarf verspüre. Ich will und werde nie eine Jazz-Flötistin sein, habe auch beim Improvisieren einen ganz eigenen, eher aus der Klassik kommenden Stil, aber ich will es kennenlernen, die Theorie dahinter und einige Handgriffe verstehen. Susanna Klovsky: Wir wollen den Fachleuten auch nichts vormachen: Wir sind wer wir sind. So werden Jazz-Puristen bei uns keine Freude haben, aber das ist okay, denn in dem Bereich gibt es genug großartige Musiker und Bands, da wollen wir uns nicht einmischen. Wir finden einen Haken für verschiedene Menschen, so erreichen wir viele, die wenig vertraut sind mit einigen der Genres, die wir verarbeiten. Es gibt genug reine Klassik-Hörer, die keinen Kontakt mit Jazz hatten, und unsere Konzerte großartig fanden; auch manche, die nie Bezug zur Klassik hatten, konnten wir ansprechen. Aber natürlich, vieles kennen wir von früh auf, so hat mein Vater immer sehr produktive Tipps gegeben, wenn ich geübt habe, und hat auch unser Ensemble am Anfang gecoacht. Er hat uns sogar ein Stück geschrieben.
Oliver Fraenzke: Das kommt dann auf Eure zweite CD?
Martina Silvester: Ja, wir sind schon am Sammeln!
Oliver Fraenzke: Da hat Euch nun wohl das CD-Fieber gepackt! Intersec#ion ist ja Euer erstes Album, dabei existiert das Ensemble Clazzic seit zwölf Jahren. Wie kamt Ihr dazu, erst jetzt und genau jetzt ins Studio zu gehen?
Martina Silvester: Wir hatten einen langen Weg und zwischenzeitlich mit unterschiedlichen Bassisten und Schlagzeugern gespielt – nur Susanna und ich blieben uns von Anfang an treu. Wie gesagt begannen wir mit Bolling, ließen uns dann aber recht bald die Clazzic Suite schreiben. Die haben wir auch aufgeführt, dachten aber lange nicht daran, sie auf Tonträger festzuhalten. Susanna Klovsky: Wir hatten verschiedene Mitmusiker, und manche stellten einfach fest, dass dies nicht die Richtung war, in die sie gehen wollten – was vollkommen in Ordnung ist, und sie sind dem Ensemble noch sehr lieb verbunden. Diese Suite zunächst so zu lernen, wie sie dort steht, das lag manchen nicht im Naturell. Bis man dann die für unseren Weg richtigen Leute findet, und sich dann ein Stil kristallisiert, mit dem wir so zufrieden waren, dass wir ihn festhalten wollten, das hat lange Zeit gedauert. Auch Corona war natürlich noch einmal ein großer Schlag. Martina Silvester: Wir haben bei allem immer an unser Projekt geglaubt. Unsere Konzerte kamen von Anfang an gut an und wir alle hatten großen Spaß dabei. Doch natürlich musste man zunächst Worte finden, sich zu beschreiben, überhaupt an Veranstalter und zu Publikum zu kommen – auch den richtigen Moment zu finden. Wenn man nur liest, was wir machen, sagt das vermutlich den meisten nichts, deshalb haben wir nun die CD als klingende Visitenkarte, die zeigt, wie wir tönen.
Oliver Fraenzke: Im Kern der CD steht die Clazzic Suite. Nun habe ich ja bereits einiges von Eurer Musizierpraxis gehört: Klingt die Suite noch so, wie sie in der Partitur steht?
Susanna Klovsky: Nein, die Suite hat sich mit uns gewandelt. Wir haben einige der Rhythmen geändert und auch die Klangfarben; dann gibt es improvisierte Teile.
Oliver Fraenzke: Vorgegebene oder selbst eingefügte?
Martina Silvester: Beides. Manche schrieb Uri Brener vor, andere stammen von uns. In Syrinxation gab es eine Solostelle, wo ich zunächst alles wörtlich so spielte, wie es in den Noten stand – dann fragte ich aber Uri, ob ich nicht auch etwas Eigenes hinzufügen könnte, und er antwortete: „Super, noch viel besser!“ Ich glaube sogar, es entspricht seinen Vorstellungen, dass nun jeder von uns eigene Improvisationen einfließen lässt. Susanna Klovsky: Die Suite wurde ja schon recht früh komponiert, und da wussten wir selbst noch nicht, in welche Richtung es uns treiben würde. Und das hat Uri gemerkt, der schließlich selbst ein Ensemble hat, wo er ähnliches tut – so war ihm klar, dass man so etwas nicht einfach schwarz auf weiß in Noten fassen kann, sondern Freiräume lassen muss, die wir im Laufe der Jahre füllen; oder uns eigene Freiräume schaffen. Martina Silvester: Ich schickte ihm eine ganz frühe Aufnahme der Suite. Seiner Antwort zu Folge fand er es schön, aber – mit anderen Worten – noch recht brav gespielt. Als ich ihn dann in die CD reinhören ließ, war er begeistert: „Ja, das ist es!“
Oliver Fraenzke: Neben der Suite gibt es noch zwei Milongas auf der Platte. Nun ist das wieder ein anderer Fall, denn solch eine Tangomusik lässt sich schwieriger in Noten fassen als eine klassische Komposition.
Susanna Klovsky: Beim Tango ist die erste Frage stets: Wie instrumentiere ich ihn? Der Rhythmus ist ja festgelegt. Wir haben nun kein Tangoorchester, sondern sind mit vier Musikern eh recht reduziert. Beim Schlagzeuger würde man fragen, welche Instrumente er einsetzt. Die Cajon, die Thomas verwendet, hat eigentlich in der Milonga traditionell nichts zu suchen, fügt aber eine sehr schöne Klangfarbe hinzu. Und je nachdem, wie ich dann phrasiere, oder der Bassist Alex, ändert sich die Klangtextur, wird möglicherweise etwas schärfer als im Original. Für eine Tanzaufführung braucht es eine gewisse Kontinuität, damit die Tänzer darauf überhaupt tanzen können; wir können uns für eine Konzertaufführung mehr Freiheiten nehmen. So können wir an einer Stelle etwas akzentuierter spielen, fetziger, an anderer Stelle eher sentimentaler werden, als man es sonst machen würde.
Oliver Fraenzke: Sind die beiden Stücke auf Eurer CD dann noch Milonga geblieben?
Martina Silvester: Ja, auf jeden Fall. Wir sind jetzt nicht ein Schrecken von Komponisten geworden, dass wir alles möglichst anders machen. Wir wollen ja den Kern der Musik erkunden, und nicht zwanghaft Anders sein. Bei vielen aufgeschriebenen Milongas steht sogar das Wort „frei“ dezidiert in der Partitur.
Oliver Fraenzke: Wo wollt Ihr Eure Musik dann im Konzert positionieren: Konzertsaal oder Jazzclub?
Beide: Im Konzertsaal. Susanna Klovsky: Wir sehen die Musik ganz eindeutig für den Saal. Glücklicherweise konnten wir uns mittlerweile auch einen Ruf aufbauen, sodass die Zeiten vorbei sind, wo niemand wusste, was wir machen, und wir nur Stand- oder gar elektronische Klaviere zur Verfügung hatten. Martina Silvester: Wobei wir sogar schon in Jazzclubs gespielt haben. Am Bodensee traten wir einmal in einem Club auf, wo es wahnsinnig eng war, Susanna und ich dann Rücken an Rücken spielten, nur über einen Spiegel kommuniziert haben. Dennoch war es ein wahnsinnig schönes Konzert mit ganz eigener Stimmung. Auch wenn solch ein Ambiente nicht unserem Hauptidiom entspricht, bleiben wir da natürlich möglichst offen.
Oliver Fraenzke: Also Hauptsache akustisches Klavier.
Susanna Klovsky: Ja, diese Musik kann man einfach nicht auf einem E-Piano spielen, noch weniger auf einem Synthesizer. Da müsste man die gesamte Musik neu darauf auslegen, aber das wollen wir nicht.
Oliver Fraenzke: Und wie sieht es mit dem Bass aus?
Martina Silvester: Uri Brener hat tatsächlich überlegt, ob er Funky Bird für E-Bass konzipiert, und Alex könnte das ja auch spielen, aber wir kamen dann doch weg von dieser Idee.
Oliver Fraenzke: Beim Bass macht es aber mehr Sinn, denn auch der E-Bass hat noch echte Schwingungen, ist nur durch die Bünde und den elektronischen Klang gekennzeichnet. Aber ist es nicht schwierig, einen Veranstalter zu finden, wenn man so wie Ihr zwischen den Stühlen steht?
Susanna Klovsky: Ja, gerade am Anfang. Veranstalter brauchen immer eine Kategorie, müssen einen in eine gewisse Schublade stecken – das war schwierig für uns. Dies wurde schließlich auch zu einem der Hauptgründe für unsere CD, denn wenn man uns hört, versteht man unsere Intention und kann uns einordnen. Aber glücklicherweise sprechen sich Auftritte schnell herum, und wenn man einen großen Auftritt hatte, bekommt man auch andere Aufträge.
Oliver Fraenzke: Und wie wird es weitergehen; folgt noch eine zweite Clazzic Suite?
Susanna Klovsky: Ich glaube, wir werden in andere Richtungen weitergehen. Diese eine Suite ist so stimmig, da brauchen wir gar keinen Nachfolger. Nun haben wir neue Ideen, es wartet schon einiges neues auf uns.
Oliver Fraenzke: Also gerade nun, wo Ihr eine Schiene gefunden habt, drängt es Euch schon weiter?
Susanna Klovsky: Genau. Es wäre schön, wenn wir uns stets selbst neu erfinden könnten! Zwar sehen wir es nicht als konkrete Aufgabe, Neues zu suchen, sind aber überzeugt, dass Neues kommt. Zumindest war es bisher immer so. Wir haben so verschiedene Einflüsse und machen so viele neue Erfahrungen, dass diese unweigerlich ins Ensemble (zurück-)fließen müssen.
Edition Schott: Gingerbread Man op. 111 ED 23033; Wheel of Fortune op 113 ED 23035
Mehrere späte Werke des ukrainischen Komponisten Nikolai Kapustin erschienen nun bei Schott, darunter die hier besehenen Gingerbread Man op. 111 und Wheel of Fortune op. 113.
Die meiste Zeit seines Lebens blieb Nikolai Kapustin ein Geheimtipp. Man war sich uneins über seine Position, konnte seine widersprüchliche Musik nicht so recht einordnen. Den Umsturz bedeutete eine Aufnahme Steven Osbornes aus dem Jahr 2000, die mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik prämiert wurde und plötzliches Interesse an der Musik Kapustins aufkeimen ließ. Vor allem Pianisten folgten: Marc-André Hamelin, Christopher Park und Elisaveta Blumina seien exemplarisch für die Vielzahl an namhaften Virtuosen genannt, die nun den Ukrainer entdeckten und ebenfalls einspielten. Als Kapustin am 2. Juli 2020 verstarb, überschlugen sich die Medien geradezu vor Kondolenzbekundungen – aus dem Insider war einer der gefragtesten Musiker geworden.
Die Laufbahn des am 22. November 1937 in Nikitowka, Vorort der ukrainischen Stadt Horliwka, geborenen Nikolai Kapustin fand nahezu vollständig in Moskau statt. Nach erstem Klavierunterricht durch seine Mutter und durch Pjotr Winnitschenko (unter dem auch eine Erste Klaviersonate entstand, geschrieben mit dreizehn Jahren), reiste er 1952 in die russische Metropole, um sich für das Academic Music College zu bewerben. Dort nahm in Awrelian Rubach in seine Klasse auf, einem sehr gefragten Lehrer, der aus der Tradition Felix Blumenfelds kam. 1956 bestand er seine Prüfung fürs Moskauer Konservatorium, studierte dort beim legendären Pianisten und Komponisten Alexander Goldenweiser. Anzumerken sei hierbei, dass Kapustin sich ausschließlich am Klavier ausbilden ließ, sich das Komponieren autodidaktisch erarbeitete.
Noch vor seinem zwanzigsten Geburtstag hatte der Student seine Passion für Jazz entdeckt und empfand diesen als die ideale, seinem Naturell entsprechende Form der musikalischen Kommunikation. Er spielte in mehreren Bigbands, gründete ein Jazz-Quintett und musizierte über mehr als zehn Jahre im Orchester von Oleg Lundstrem, einem Schüler Ellingtons und Armstrongs. In den 70ern kam Kapustin ins Orchester von Boris Karamyschew, das bekannt war, auch symphonischen Jazz zu spielen, und schrieb für dieses zahlreiche Kompositionen – unter anderem das Zweite Klavierkonzert op. 14, durch das er 1980 zum Mitglied des Sowjetischen Komponistenverbands wurde, wodurch erstmals sein Werk auch als staatlich anerkannt galt. Von 1984 an wirkte er ausschließlich freiberuflich.
Die Musik Kapustins empfindet man beim Hören als dem Jazz deutlich verwandt, wobei die Strukturen denen klassischer Formen näher sind. Die meisten Werke strahlen durch treibende Rhythmik und physisch-virtuose Brillanz, die einen unverkennbar haptischen bis gar körperlichen Eindruck verleiht. Die Linien wirken oftmals frei, wie improvisiert, und doch steckt eine innere Struktur dahinter, die auf eine deutliche Reifung durch den Kompositionsprozess verweist.
Hauptverleger Kapustins ist der deutsche Verlag Schott, der Ende 2021 wieder neue Werke in seinen Katalog aufnahm – namentlich kürzere Klavierkompositionen nach 2000, die Opusnummern über 100 aufweisen. Von diesen liegen hier Gingerbread Man op. 111 (ED 23033) und Wheel of Fortune op. 113 (ED 23035) vor. Es handelt sich in beiden Fällen um von den Erben autorisierte Versionen, die erstmalig auf dem Markt erschienen. Die beiden im Jahr 2003 komponierten Werke unterscheiden sich deutlich durch Struktur und Klang: Gingerbread Man op. 111 könnte vom Höreindruck ausgehend rein aus der Improvisation entstanden sein, denn das thematische Material kehrt nie wörtlich zurück, nur in größtenteils recht weit vom Ausgangspunkt entfernten Variationen. Schon nach wenigen Takten spinnt sich der Initialgedanke fort und in der Mitte der zweiten Seite heben improvisatorisch anmutende Linien an, uns vollends vom Ausgangspunkt fortzutragen. Man folgt dem Fluss der Musik, lässt sich treiben und bewundert die immer neuen rhythmischen wie harmonischen Wunder, die an einem vorbeiziehen. Dabei steht Gingerbread Man durchweg im 4/4-Takt ohne Tempoänderungen, folgt also einem kontinuierlichen Strom. Ganz anders Wheel of Fortune, das wie der durch den Titel besungene Reichtum launisch und wechselhaft erscheint. Im Zentrum steht eine eingängige, rhythmisch aufgeladene Bassfigur, die immer wieder deutlich hervortritt und somit die Form prägt. Dadurch wirkt das Stück ungleich klassischer, durchkomponierter. Dazwischen heben wieder freie, virtuose Läufe an, doch scheinen sie hier gefasster im allgemeinen Strom – auch wenn die regelmäßigen Taktwechsel mit Fokus auf den 7/8-Takt versuchen, dies zu unterminieren. Beide Stücke erfordern fundierte technische Kenntnisse des Klaviers, rhythmische Prägnanz, klaren Anschlag und gewisses Grundwissen auch über Harmonik und Aufführungspraxis im Jazz.
Die Ausgaben von Schott setzen auf ein klares, feines Notenbild, das die Noten vergleichsweise klein setzt, um Raum für die Vielzahl an auftretenden Vorzeichen zu lassen und die rhythmische Struktur offenzulegen. Auch für Anmerkungen beim Üben finden wir reichlich Platz zwischen den Systemen, was das Arbeiten mit diesen Ausgaben ausgesprochen angenehm macht. Alles wirkt geordnet, regelrecht „aufgeräumt“. Dadurch erhöht sich natürlich die Seitenanzahl, wobei das Blättern bei solch einer pausenlos strömenden Musik nicht immer leichtfällt; doch darf dies im Ausgleich für das leicht leserliche und gut konturierte Notenbild zweifelsohne das kleinere Übel (und kaum vermeidbar gewesen) sein. Die Fingersätze erscheinen durchweg gewählt und sinnig, dabei nicht inflationär, sondern nach Möglichkeit an Stellen, die mehrere Optionen offenlassen und somit die Hand in die Irre führen könnten.
Der 1994 in Hamburg geborene Pianist Spartak Margaryan stellt sich Ludwig van Beethovens kolossalen 33 Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli in C-Dur op. 120, heute hauptsächlich als Diabelli-Variationen bekannt. Die CD erschien beim Label Sonus Eterna.
Die umfangreichen wie anspruchsvollen, allein durch die Länge von etwa einer Stunde ehrfurchtgebietenden Diabelli-Variationen C-Dur op. 120 gehören zu den Meilensteinen der Klavierliteratur, zu einem Höhepunkt der Form allgemein. Dass Beethoven das schlichte, zu Beginn seiner diesbezüglichen Beschäftigung gar als „Schusterflecke“ verhöhnte Thema nicht mit bloßer Ornamentik und glitzerndem Fingerwerk füllen würde, erklärt sich von selbst, besieht man seine anderen als Variationen titulierten wie auch in anderen Großformen enthaltenen Ketten an Veränderungen. Selbst in seinen mit zwölf Jahren komponierten Dressler-Variationen WoO 63 beweist er schon das Gespür, Themen nicht bloß zu füllen, sondern als Ausgangspunkt für eigene Entwicklungen zu nutzen. Die Gattung der Variation sah Beethoven als lebenslanges Training für Kreativität und Formgestaltung, feilte entsprechend unentwegt daran, den Themen immer neue Facetten abzuringen. In den Diabelli-Variationen, einem seiner spätesten Klavierwerke, forderte er die Variation in all ihren Aspekten heraus, bewies vollständige Durchdringung des Themas und konnte jeden noch so nichtig erscheinenden Aspekt herauspicken und eigens ins rechte Licht rücken. Anders als in den zwischenzeitlich entstandenen drei letzten Klaviersonaten von 1822, wo die thematischen Fortspinnungen in Großformen zusammengeschweißt wie aus einem Guss erscheinen, brechen sich die Veränderungen des Diabelli-Walzers auf und scheinen in gewissen Teilen gar untereinander austauschbar zu sein: Beethoven präsentierte ein Kaleidoskop an Möglichkeiten, eine kaum würdig erscheinende Vorlage in hohe Kunst zu transformieren. (Dabei sollte die Vorlage doch nicht verachtet werden, denn sie wurde explizit als Vorlage für Variationen komponiert. Ihre Anlage fordert es, mit ihr frei zu verfahren, den Sinn für eigene Expansion und Gestaltungsgabe auf die Probe zu stellen.)
In der hier vorliegenden Aufnahme wagt sich ein junger, aufstrebender Pianist an dieses Spätwerk, welches neben fingertechnischen wie auch gestalterischen Höchstleistungen profunde Kenntnis der Genese der Beethoven’schen Variationsformen voraussetzt. Wäre dies nicht schon bemerkenswert genug, dass Spartak Margaryan sechsundzwanzigjährig das Studio betritt mit solch einem schwierigen, in zahlreichen Referenzaufnahmen bereits erschienenen „Brocken“ der Klavierliteratur, so besticht seine enorme Gesetztheit und profunde Kenntnis, ja Durchdringung des Werkes. Das Spiel ist weit entfernt von jugendlichem Stürmen und Drängen, von Selbstpräsentation – ganz im Gegenteil: Margaryan reduziert äußeren Glanz auf ein Minimum und taucht ein in die Tiefen von Beethovens Klangkosmos.
Spartak Margaryan sieht Beethoven nicht als polternden Vorreiter einer Ausdruckskunst, die wir landläufig als „Romantik“ bezeichnen, sondern bezieht Beethovens Satz auf die klangliche Verfeinerung und Differenziertheit der Wiener Klassik. Ungestümen Forti und Sforzati schwört er ab, nimmt auch Pedal mit Bedacht, lässt so eine luzide, gebändigte Klangkultur aufkeimen. Dabei schafft Margaryan doch Kontraste durch den deutlichen Unterschied zwischen Forte und Piano sowie zwischen den Variationen durch gewählte Tempi. Gerade die langsamen Veränderungen nimmt Margaryan gewagt langsam, fordert den innermusikalischen Zusammenhalt in einer Extremsituation heraus – geht aber in den meisten Fällen siegreich hervor. Lediglich die Variationen, die sich ununterbrochen um das immer gleiche Motivfragment drehen, so insbesondere die Variationen I und IX, könnten noch an Stringenz des Aufbaus hinzugewinnen, um die Form zu straffen. Umso gelungener dafür die kontrapunktische Ausgestaltung aller Stimmen, durch die selbstredend gerade die mehrstimmig angelegten Variationen aufblühen (also in erster Linie IV, V, XI, XIV, XIX, XXIV, XXX und XXXII), doch auch die restlichen Veränderungen ziehen große Vorteile aus der aktiven Gestaltung der Gegenstimmen, namentlich III, XII, XV und XVIII. Dagegen weiß Spartak Margaryan auch, Stimmen im Untergrund zu belassen, die ansonsten durch ihre Klangfülle die Melodie stören könnten (XVI und XXI).
Im Gesamteindruck legt Spartak Margaryan eine beeindruckende und in jeder Hinsicht bemerkenswerte Darlegung der 33 Veränderungen eines Walzers von Diabelli op. 120 vor, die durch präzise Kenntnis, musikalisches Feingefühl und gewählte Klangvorstellung überzeugt. Wir können gespannt bleiben, wie sich dieser junge Musiker weiterhin entwickeln wird!
In seiner 3-CD-Kollektion At the Heart of the Piano (“Am Herzen des Klaviers”) stellt Burkard Schliessmann ein Programm existentieller Klavierwerke unterschiedlicher Epochen zusammen. Er beginnt mit Bach/Busonis Chaconne in d-Moll, bewegt sich über Schumanns Großformen der Symphonischen Etüden op. 13 und der Phantasie C-Dur op. 27 zu Liszts h-Moll-Klaviersonate, präsentiert eine Auswahl an Scriabins Klaviermusik (Sonate fis-Moll op. 23, Auswahl an Etüden aus op. 2 und 8 sowie Préludes aus den Opera 11, 16, 37 und 74, sowie die beiden Tänze op. 73), rundet schließlich mit der Klaviersonate op. 1 von Alban Berg ab.
Nach seiner 2016 erschienenen und von den Medien hoch gelobten 3-CD-Box Chronological Chopin legt Burkard Schliessmann bei divine art nun eine neue Sammlung an drei CDs vor, betitelt sie At the heart of the piano, zu deutsch „Am Herzen des Klaviers“. Es ist der Versuch, sich dem Klavier als Instrument zu nähern und ihm seine innigsten Emotionen abzuringen. Der Titel spricht die philosophische Fragestellung an, ob das Klavier als zunächst körperfremdestes aller Instrumente, bestehend größtenteils aus Holz und Metall, das ohne Körpereinsatz durch simplen Tastendruck einen vollendeten Ton hervorbringt, überhaupt Gefühle vermitteln und ausdrücken kann – ein Herz besitzt. Dies will Burkard Schliessmann beweisen durch ein sehr inniges Repertoire, das ihm spürbar viel bedeutet und das verschiedene Aspekte der Klavierliteratur auf (für die Größe des Projektes gar knapp bemessenen) drei CDs zusammenfasst. Es handelt sich ausschließlich um ältere Aufnahmen der Jahre 1990 (Scriabin), 1994 (Bach/Busoni und Berg), 1999 (Schumann Fantasie und Liszt) und 2000 (Schumann Etüden), die jedoch entweder noch nie oder nur in kleiner Auflage und regional beschränkt erschienen sind, mit neuem Master in frischem Glanz erstrahlen, so dass ihnen nun die Reichweite ermöglicht wird, die ihnen zustehen. Für sämtliche Aufnahmen verwendete Schliessmann seinen eigenen Flügel, als Steinway Artist ist dies ein Steinway Piano D Concert Grand.
Selbst bezeichnet sich Burkard Schliessmann in seinem ausführlich informierenden, sowohl Fakten als auch persönliche Anschauungen zu den Stücken preisgebenden Begleittext zu der Trippel-CD als Repräsentanten der „große[n] romantischen Tradition. Technische Beherrschung ist natürlich wichtig, aber meine Interpretationen bleiben im Wesentlichen intuitiv. Ich denke nicht nach und mache mir keine Gedanken über die Umsetzung meiner Interpretation.“ Wenngleich dies sicherlich für den Moment der Darbietung stimmen mag, so verschweigt er damit die immense Arbeit, die er zuvor mit den Werken hatte – gehabt haben muss. Denn es bleibt unüberhörbar, dass sich Schliessmann genaue Gedanken gemacht hat, was er mit den Werken aussagen will und wie seine persönliche Stimme in die Noten miteinfließen soll. In den Aufnahmen zeigt er sich als charakterstarker Pianist, der weiß, die Werke nach seiner Vorstellung zu formen und sie so auf ihn zugeschnitten zu gestalten.
Die berühmte Chaconne d-Moll mit Johann Sebastian Bach in der virtuosen Transkription Ferruccio Busonis gestaltet Schliessmann als Versuch einer Synthese einer barocken und einer frühmodernen Spielweise, verzichtet auf halligen Klang und setzt auf präzisen, dabei wirkungsstark-prägnanten Anschlag. Das tempo rubato spart er sich für besondere Momente auf, um dort den Ausdruck zu maximieren.
Schumann spielt Burkard Schliessmann wahrhaft appassionato, wobei er die Phantasie vergleichsweise noch klassischer nimmt, um dafür die Symphonischen Etüden umso romantisch-beschwingter gestalten zu können – dieser Eindruck mag aber zum Teil auch am unterschiedlichen Hall liegen, denn bei den Etüden spielt leider der Raum deutlich mit hinein (während hingegen bei den anderen Aufnahmen die Akustik sehr deutlich und klar dem Klavierklang schmeichelt). Bei beiden Stücken nutzt der Pianist deutliche Tempokontraste und Rubati für starken Effekt, setzt einzelne Passagen deutlich gegeneinander ab und gibt so der Musik plastisch-lebendiges, dabei spontanen erscheinendes, beinahe improvisatorisches Antlitz. Er spielt mit dem Nachhall des Pedals, um orchestrale Klangfülle zu entwickeln, wobei ich behaupten würde, er sieht das „Symphonische“ der Etüden nicht auf die Nachahmung bestimmter Orchesterinstrumente, sondern rein auf die differenzierte Klangfarbigkeit des Klaviers bezogen. Auch experimentiert Schliessmann mit dem Verhältnis der Stimmen zueinander, was deutlich in den Variationen vier und sechzehn zutage tritt: Die Melodie bleibt deutlich, muss sich aber stets gegen die brodelnden Nebenstimmen behaupten, was das Zuhören ungemein spannend macht.
Franz Liszts gewagte, erst spät von der Öffentlichkeit anerkannte Sonate h-Moll stellt Burkard Schliessmann durchaus ruppig dar, lässt den Klang in ungeahnte Höhen aufschaukeln und nimmt sich sogar die Freiheit, manche Höhepunkte gewalttätig darzustellen – wohl ganz so, wie der große Virtuose und Publikumsmagnet Liszt es seinerzeit gespielt haben könnte, um mit dem Effekt zu polarisieren. Doch dass dieser bei Schliessmann nicht an erster Stelle steht, zeigt die zutiefst musikalische Ausgestaltung der Themen und deren Abwandlungen im Lauf des Stückes, wobei er besonders dem Hauptthema gespenstisch-erdrückende Präsenz verleiht. So gelingt ihm ein aus einem Guss erscheinender Gesamteindruck von ausgefeilter psychologischer Natur, die in sich stimmig erscheint.
Von Alexander Scriabin stellt Burkard Schliessmann ein Programm quer durch alle Schaffensperioden dar, von den noch auf Chopin bezogenen Etüden opp. 2 und 8 und den Préludes op. 11 über die an Eigenständigkeit gewinnende Sonate fis-Moll op. 23 bis hin zu den späten Tänzen op. 73 und Préludes op. 74, welche in ihrem spirituell anmutenden Habitus und der komplex erweiterten Harmonik absolut eigenständig in der Musikgeschichte erscheinen. Die fließenden, frei anmaßenden Formen liegen dem instinktiven Spiel des Pianisten, der so die einzelnen Momente zum Erblühen bringt und dabei die Gesamtform zusammenzuhalten weiß. Die rhythmische Polyphonie zwischen den Händen oder deren einzelnen Stimmen stachelt ihn an, ein hohes Maß an Feinheit zu erhalten, selbst in groß auftrumpfenden Passagen. Die Kontraste treibt Schliessmann auf die Spitze und zeigt so bereits den frühen Scriabin als modern-fortschrittlichen Komponisten.
Das Programm schließt mit Alban Bergs Sonate op. 1, ein Paradestück der frühen Moderne und besonders der freien Tonalität, die doch immer tonartliche Beziehungen erkennen lässt. Schliessmann schafft hier eine Brücke zwischen Zweiter Wiener Schule und dem ekstatischen Scriabin, holt auch bei Berg gewisses Volumen hervor und erlaubt sich tempomäßige Freiheiten, um die Dichte der Polyphonie zu unterstreichen.
So gelingt eine stilistisch einheitliche und doch vielseitige Darstellung von Schliessmanns pianistischem Schaffen, die uns durch die höchst persönlichen Anschauungen des Pianisten Meisterwerke verschiedener Epochen ganz menschlich nahebringt und uns einlädt, sie zu erkunden.
Wie funktioniert die Musik durch uns Menschen? Dieser Frage spürt der Cellist Prof. Julius Berger nach. Unser zweistündiges Gespräch über diese und damit verwandte Fragen, das wir am 18. Juni in Augsburg führten, sprengte alle Grenzen dessen, was in einer niedergeschriebenen Interviewform vermittelt werden könnte, weshalb es an dieser Stelle nur möglich ist, einen gewissen Teil davon wiederzugeben.
Wir beginnen medias in res im Sinnen über die Frage, wie wir Musik wie auch gesprochene Sprache in Zusammenhängen denken können, die durch den reinen Notentext überhaupt nicht abbildbar sind.
Julius Berger: Die Musik ist so vielschichtig, da ist das Gehörte nicht das Einzige: Es existiert auch das, was im immateriellen Raum steckt – also der Geist zwischen zwei Noten. Dort, wo am wenigsten hörbar ist, ist der Ausdruck am größten, wenn der Geist stark ist. Wenn Musiker zwei Noten ganz gleichgültig spielen, so entsteht kein Eindruck, auch wenn jeder Ton stimmt. In Wettbewerbs-Kommissionen habe ich oftmals versucht, meinen Kollegen verständlich zu machen, dass wir keinen Kriterienkatalog haben von „richtig“ und „falsch“. Jede Interpretation ist ja der Versuch einer Annäherung – und Gott sei Dank gibt es Annäherungen von verschiedenen Seiten. Aber dieses geistige Element, das Element einer inneren Vorstellung, durch das gewisse Dinge dann zum Tragen kommen … dass dann schon vor dem Beginn der Raum sich verändert. Zwei Noten können ausreichen, um vieles über den Interpreten auszusagen. Durch die Musik wird vieles in uns angestoßen, und manche Interpreten können einfach noch mehr in uns anstoßen, bewegen und somit den Menschen verändern.
Also ein rein mentaler Prozess?
Ja. Also in der Wirkung ein rein mental-geistiger Prozess. Sagen wir es so: Wenn ich Musikfotografen sehe, möchte ich ihnen am liebsten sagen: „Fotografiert doch nicht die Interpreten, fotografiert das Publikum!“ Wie die Menschen vor dem Auftritt aussehen, und dann, wie etwas in sie ‚hineinfließt‘, wie sie sich wandeln. Glücklicherweise haben wir nun aktuell wieder Konzerte nach den unendlich langen Pausen durch den Lockdown. Konzerte mit Menschen, und für diese ist die Aufführung ja gedacht.
Und wie gelingt es nun den Musikern, diesen Geist in den eigenen Körper zu bekommen und von dort in die Instrumente, dass er auf das Publikum überfließen kann? Wie verbindet man diese scheinbaren Gegensätze?
Ein wichtiges Zitat diesbezüglich stammt von Harnoncourt: „Wir müssen auch wissende Musiker sein.“ Also wenn ich mich als Musiker hineinversetze in die Zeit, in der beispielsweise Beethoven gelebt hat, oder Bach – folglich in eine Zeit, die durch ganz andere Paradigma geprägt war als unsere – dann ist dies einerseits eine Wissensquelle, mehr aber noch eine Inspirationsquelle. Und wenn ich hier noch hinzufüge, was die Schüler dieser Meister ausgesagt haben, was beispielsweise Czerny über Beethoven berichtete und was er wahrnahm, dann lassen sich daraus wieder neue Tendenzen erkennen. Man muss dies alles nicht übernehmen, aber es liefert doch Informationen, durch die wir unsere Darbietung innerlich bereichern. Bei Meistern jüngerer Zeit kommen dann noch die Aufnahmen hinzu: Schostakowitsch beispielsweise nahm seine Cellosonate drei Mal auf mit drei unterschiedlichen Mitstreitern; und keine davon hält sich an seine eigene Tempobezeichnung. Auch dies sagt viel aus. Wissen gehört dazu, somit die stetige eigene Weiterentwicklung. Folglich unterwirft sich die eigene Sichtweise auf Stücke, die uns das gesamte Leben begleiten, einem kontinuierlichen Wandel. Leben ist Wandel. Und diesen mitzuvollziehen, das finde ich enorm wichtig. Damit komme ich auf Ihre Frage zurück, wie der Geist in den Menschen kommt: Er kommt auf die Weise, dass wir uns unaufhörlich weiter beschäftigen mit der Materie. Hinzutritt die Überzeugung, mit der wir unseren Fokus tarieren und diesen kompromisslos, also kompromisslos mit sich selbst, durchsetzen. Wir wissen nicht, ob wir mit dem die Wahrheit treffen, was wir mit unserer Überzeugung vertreten, müssen zunächst diese mit dem jahrelang antrainierten technischen Können verwirklichen und mit Hilfe dessen in uns festigen, bevor wir sie vermitteln können. Eine starke Vorstellung im Interpreten überträgt sich. Wenn eine Person den Raum betritt, so merkt man oftmals schon die Veränderung – oder es tut sich gar nichts. Dies meinte ich zuvor damit, dass sich vor dem Beginn, schon beim Auftreten, die Atmosphäre verdichtet. Daran glaube ich zutiefst; und das mache ich nicht an der Beobachtung anderer Menschen fest, sondern an den Überzeugungen, wie ich selbst weitergehe im Leben und wie es mich weiterträgt, wie es mich weiter befruchtet und mir Kraft zum Leben gibt; und sagt, was Leben ist. Ich versuche hineinzuhören auch in den Sinn meines Seins. Der hört nicht in der Musik auf, er geht über in Fragen der Gesellschaft, der Politik und des Verhaltens. Ich will einen möglichst bewussten Umgang mit Natur, Umwelt und Mitmenschen erreichen. Ich denke sogar, dass uns die Pandemie gelehrt hat, was wir alles falsch machen. Natürlich beschert uns Corona und die dadurch entstehende Situation eine schlimme Zeit; aber es nur so zu bezeichnen, wäre zu eindimensional gedacht. Man muss auch sehen, was die Zeit von uns will, was sie uns sagt; und auch, was dadurch Positives entstehen kann. Mir hat diese schwierige Phase beispielsweise klargemacht, dass ich nicht immer nur ein Getriebener sein kann, der nur Dinge tut, die mir von außen vorgegeben werden. Ich konnte endlich Dinge tun, für die ich nie Zeit hatte: So entstand beispielsweise die Aufnahme des d-Moll-Konzerts BWV 1052 von Bach. Ich erinnere mich an einen Ausspruch von Sofia Gubaidulina, mit der ich das Privileg hatte, oftmals zusammen wirken zu dürfen. Wir waren auf einem Festival und der Veranstalter beklagte das schlechte Wetter. Da fragte sie: „Wieso? Wir brauchen doch den Regen.“ Wenn man sagt, Sonnenschein sei ‚gutes Wetter‘, dann soll man einmal in die Wüste gehen, dort ist ‚gutes Wetter‘, wenn es regnet. Alles ist relativ, Einstein hat wieder einmal Recht. Zu Bachs d-Moll-Konzert: Vor 30 Jahren hatte ich einmal in einer alten Eulenburg-Ausgabe, die mittlerweile durch eine Neuere ersetzt wurde, gelesen (und es gibt damit übereinstimmende Erkenntnisse aus der Musikwissenschaft), dass dieses d-Moll-Konzert eine Übertragung eines eigenen Konzerts für ein anderes Instrument sein muss, nämlich ein Streichinstrument. Die meisten gehen davon aus, dass es ursprünglich für Violine geschrieben war, da es viele E-Bariolagen gibt. Anders als die Violine hat das Cello keine E-Saite, weshalb jenes ausgeschlossen wird; aber das Cello Piccolo besitzt sehr wohl solch eine Saite. Bach hat dieses in Kantaten oft eingesetzt. Und besagte Eulenburg-Edition vermerkte dies, was sich in mir festsetzte. Diese kleine Bemerkung hat sich mir eingebrannt: Man müsse das Konzert einmal bearbeiten für das Cello Piccolo. Doch bis vor Corona dachte ich, nie die Zeit dafür aufbringen zu können. Und als die Zeit kam, erinnerte ich mich sofort und bin unmittelbar zur Tat geschritten. So ging ich die Klavierstimme am Cello durch und probierte, ob es überhaupt möglich wäre. Dass es kein einfacher Weg werden würde, dessen war ich mir gewahr, doch gerade die steinigen Pfade erweisen sich oftmals als die Besonderen und so machte ich mich daran, das Konzert umzuarbeiten. Hinzu kam ein anderes pandemiebedingtes Erlebnis, nämlich, dass ich am Karfreitag die Johannespassion aus der Thomaskirche in Leipzig in einer Kammermusikfassung hörte, die mich auf eine ganz neue Idee brachte. Ich rief Andrei Pushkarev an, mit dem ich über Gidon Kremer mehrfach zusammengetroffen war und mit dem ich unter anderem Gubaidulinas Sonnengesang aufgeführt habe. Eigentlich ist er nie erreichbar, da er nahezu immer tourt – doch wegen Corona befand auch er sich zu Hause und sagte sofort: „Julius, Du hast mich gerettet!“ An Aufführungen mit Orchester konnte man ja nicht denken, wir suchten nach einer Realisierung in dieser Zeit. Kurze Zeit später rief er mich an und zeigte mir bereits ein computergeneriertes Klangbeispiel, wie es denn wirken könnte mit Vibraphon und Marimba. Und er kenne zufälligerweise sogar jemanden, der das Marimba übernehmen könne [Pavel Beliaev]. Andrei richtete die Partitur für die beiden Instrumente ein, ich transkribierte die Cembalostimme für das Cello Piccolo. Dazu fanden wir eine Kirche mit hervorragender Akustik, so dass die oft missbräuchliche Bezeichnung Natural Sound diesmal zur Wirklichkeit avancierte: Hier haben die Tonmeister in der Tat nichts nachbearbeitet, nichts! Es klang genau so, wie es auf der CD zu hören ist. Es handelt sich um eine moderne Kirche in Dillingen, die zu einer christlichen Einrichtung für geistig behinderte Menschen gehört. Dort war auch meine Schwester zuhause, weshalb ich mit den Glaubensschwestern dort in freundschaftlicher Verbindung stehe. Die Stille und Idylle dort inspirierten uns, denn wir waren ganz für uns. Und die Schwestern haben sich rührend gekümmert.
Außerdem nahmen wir ein weiteres Konzert in d-Moll auf, ursprünglich von Alessandro Marcello geschrieben. Hier blieben wir ganz in der Tradition. Marcello schrieb es für Oboe, Bach arbeitete es für ein Tasteninstrument um, und wir griffen es wieder auf, um es für das Cello Piccolo zu setzen. Hinzu nahmen wir noch die für uns wichtigsten, möglicherweise weil persönlichsten, und unseres Erachtens schönsten Choräle, die wir ebenfalls arrangierten. Und wo wir gerade von Bearbeitungen sprechen: Bach verwendete das thematische Material des d-Moll-Konzerts BWV 1052 weiter, übernahm es in Kantaten. Beispielsweise im ersten und teils zweiten Satz von Wir müssen durch viel Trübsal BWV 146 und in Ich habe meine Zuversicht BWV 188. Das Symbol gefiel mir, einerseits des Wandels dieses Materials in der Zeit von Bach, andererseits als Botschaft für unsere Zeit.
Sie sprechen verschiedene Zeitebenen an und auch deren Metamorphose. Zuvor zitierten Sie Harnoncourt, der einen ganz besonderen Wandel der Betrachtung von historischer Zeit in der musikalischen Aufführung miterlebt oder besser mitgestaltet hat. Er wirkte ja bereits vierundzwanzigjährig unter Hindemith mit bei der ersten Aufführung von Monteverdis L‘Orfeo auf originalen Instrumenten, wurde später zu einer Ikone der heute sogenannten historischen Aufführungspraxis. Wie steht es nun um das Thema Bearbeitungen jeglicher Art, wenn man die Zeiten getrennt betrachtet, wie es in der historischen Aufführungspraxis meist der Fall ist, oder als Einheit, wie Sie es laut Ihrer Aussage tun?
Wir sprechen nun über historische Aufführungspraxis, besser gesagt über ihre Wirkung und die Erkenntnisse ihrer Wirkung zu verschiedenen Zeiten. Sie erwähnen zurecht, dass Bearbeitungen und deren Vortrag zu bestimmten Zeiten ein Unding waren. Die historische Aufführungspraxis hat uns auf viele richtige Wege geführt, aber ebenso auf manche falsche. Solche Aufnahmen wie die meinige mit eigenen Bearbeitungen, das wäre in der aus öffentlicher Sicht Blütezeit des Historizismus noch vor etwa 20 oder 30 Jahren vollständig durchgefallen. Heute hat sich das Bild wieder etwas gewandelt. Durch diese extreme Sichtweise, die Propheten des historisierenden Spiels verbreitet haben, galt es, Bach nurmehr mit Barockbogen und Darmsaiten zu spielen. Ich bin begeistert, wenn Musiker das machen; aber Musik nur noch auf diese Weise spielen? Dann müsste man ja Musiker wie Glenn Gould vollständig ablehnen! Dabei vermitteln gerade solche Musiker unglaubliche Sichtweisen auf Bach und auf diese Zeit, auf die vielleicht sonst niemand gestoßen wäre. Dann dürften wir auch Bachs Musik nicht auf andere Instrumente übertragen (also eine Praxis, woraus ich übrigens im Rahmen unserer Bach-Frequencies-Aufnahmen sehr viel gelernt habe). Aus meiner Sicht war Harnoncourt ein sehr weitsichtiger Mensch, der einen großartigen Umgang mit der historischen Aufführungspraxis gepflegt hat, der im Übrigen durchaus Orchester mit modernem Instrumentarium dirigiert hat und nicht einen einseitigen Blick auf beispielsweise Instrumentarium geworfen hat. Seine Aufführungen haben auch das, was in einer späteren Generation des musikalischen Historizismus oftmals keine Rolle gespielt hat: nämlich Schönheit. Ich bin zwar im Grunde genommen der Meinung Schönbergs, es gehe nicht um Schönheit, sondern um Wahrheit – doch ungeachtet dessen gehören die beiden oftmals zusammen. So halte ich es für falsch, den Wohlklang normativ abzulehnen und nur einen möglichst ruppigen, gewalttätigen Klang zu kultivieren, um das Gegenstück auszublenden.
Zurück auf das Instrumentarium nenne ich Ihnen ein Beispiel neuerer Zeit, das mir Rostropowitsch einst anvertraute, der ja die beiden Cellokonzerte Schostakowitschs uraufführte. Einer der Mittelsätze beginnt mit diesem herrlichen Horn-Solo, das später vom Solisten aufgegriffen wird. Und in Russland gab es zu der Zeit nur wirklich schlechte Hörner, dementsprechend klang es. Als er dann einige Zeit später nach Boston kam, hatte das Orchester dort glänzendes modernes Blech mit hinreißendem Klang, das dem Stück ganz neue Facetten offenbarte. So sagte er mir: „Und wenn Sie in 100 Jahren eine historische Aufführung von diesem Cellokonzert Schostakowitschs produzieren wollen, so werden Sie natürlich das schlechte Horn nehmen.“ Ich will damit nur sagen: Man muss das alles evaluieren. Ich bin ein Verfechter der Aufführungspraxis, ein Verfechter der Erkenntnisse, aber bitte nicht einseitig! Wir brauchen eine übergeordnete Sicht auf die Dinge.
Bei Bach stellt sich die Frage ja besonders, gerade da er in einer Zeit des Umbruchs im Instrumentenbau lebte. Dies betrifft in erster Linie die Tasteninstrumente: Er besaß nachweisbar eine ganze Reihe an Hammerklavieren. Und wenn ich mir beispielsweise das Wohltemperierte Clavier so besehe, so kann ich mir nicht vorstellen, dass es auf einem einzigen Instrument adäquat umgesetzt werden kann: Manche der Stücke schreien nach einem Clavicembalo, andere können meines Erachtens nur auf einem Hammerklavier umgesetzt werden, wieder andere verlangen ihrer Substanz nach eine Orgel.
Genau, Bach hat weitgehend unabhängig vom Instrumentarium gedacht und gearbeitet. Das ist reine Musik. Man muss nicht zwingend die Kunst der Fuge anführen, in der es keine Zuordnung von Instrumenten gab. Es geht um eine andere Frage, nämlich um die Realisierung der Magie, die hier in Noten gesetzt ist. Und wenn es ein Steinway Flügel ist und wir erleben es auf eine Art und Weise, dass wir sagen, einem Wunder begegnet zu sein, dann ist das eben so! Auf einem gut hergerichteten Cembalo kann natürlich das Selbe geschehen. Man sollte nie normativ ohne Kenntnis des Inhalts die Sicht auf einen Weg verengen.
Es gibt Musik, die ist einem gewissen Instrument idiomatisch zugedacht, sie kann entsprechend schnell verunstaltet werden durch Übertragungen – Schubert beispielsweise ganz extrem. Doch Bach ist meines Erachtens das Gegenteil, seine Musik lässt sich problemlos von jedem beliebigen Instrument darstellen, ohne dadurch an Wert zu verlieren.
Dem würde ich zustimmen. Das würde ich sogar zurückführen auf Bach selber. Was seine Transkriptionen anderer Solokonzerte betrifft, so mag das Klavier nicht idiomatisch erscheinen für diese Musik – man würde bei den Originalen nicht an eine Umsetzung für ein Harmonieinstrument denken. Und trotzdem hat er es gemacht.
Die von Ihnen für die Aufnahme verwendete Bearbeitung des Marcello-Konzerts entstammt einer Sammlung von sechzehn Konzerten, die Bach für ein Tasteninstrument ohne Begleitung transkribierte. Wie haben Sie nun das Orchester wieder hineingebracht in Ihrer Weiter-Bearbeitung?
Ich habe das Orchester von Marcello genommen und die Ausarbeitung von Bach, inklusive aller Ornamente. Besonders aus dem mittleren Satz, der im Original fast etwas einfach klingt, macht Bach durch kleinste Variationen ein absolutes Wunderwerk. Ohne harmonisch etwas zu verändern, nur durch Umspielungen und melodiöse Feinheiten hebt er ein schönes Stück italienischer Barockmusik auf eine ganz neue Ebene. Hier sehen wir auch, was die Rolle des Interpreten zu dieser Zeit war. Sie mussten kreativ mit dem Text umgehen und ihn nicht einfach wörtlich herunterspielen – Bach hat ein Musterbeispiel vorgelegt. Ich habe allerdings das, was Bach geschrieben hat, nicht weiterverarbeitet, sondern habe das übernommen, was er vorgeschlagen hat.
Und aus welchem Grund?
Ganz einfach. Man kann – oder zumindest ich könnte – es nicht besser, als es Bach gemacht hat. So gilt es als Gebot der Bescheidenheit. Es ist ein traumhaftes Resultat, das Bach vorgelegt hat, und ich verneige mich davor.
Und würden Sie eine originale Marcello-Partitur ohne eine Bearbeitung wie die durch Bach auch wörtlich spielen; oder wie würden Sie hier vorgehen?
Hier würde ich schon ornamentieren. Aber mein Lehrmeister für diesen Prozess bliebe Bach. Ich würde mir ansehen, was er mit vergleichbarer Musik gemacht hat und welche Arten der Verzierung er wo verwendet; damit gälte es zu versuchen, es auf ein anderes Stück zu übertragen.
Und Bach bleibt der beste Lehrmeister, auf den sich nahezu alle späteren Komponisten zurückbesonnen haben, von Mozart über Mendelssohn bis hin zu zeitgenössischen Tonsetzern – auch aus anderen Bereichen wie dem Jazz oder kubanischer Musik.
Ich hatte tatsächlich bereits Kontakte aufgenommen nach Warschau, wo es eine Jazz-Professur gibt, und somit überlegt, das Konzert im Jazzbereich anzusiedeln. Später kam ich aus verschiedenen Gründen wieder davon ab. Aber möglich wäre es, warum nicht?
Auf Ihrer CD gibt es zwei Stücke späterer Komponisten, die sich auf Bach bezogen haben: Piazzolla und Schostakowitsch.
Piazzolla schrieb sein Stück in Kenntnis des Gounod’schen Aufgriffs von Bachs C-Dur-Präludium aus dem Wohltemperierten Clavier I mit der berührenden Melodiestimme Ave Maria. Und ich war hingerissen davon, dass Piazzolla sich nicht nur an solch ein bekanntes und millionenfach gespieltes Stück wagte, sondern dann noch eine ganz eigene Auffassung davon zu Papier brachte. Die Begleitung übernahm er nicht wörtlich von Bach, lehnte sich eher daran an. Er hebt die Musik auf eine ganz eigene Ebene, was mich sehr bewegte.
Schostakowitsch schrieb in Anlehnung an das Wohltemperierte Clavier ebenfalls Präludien und Fugen; bei ihm spürt man allgemein eine Nähe – vor allem eine geistige Nähe – zu Bach, die er in seiner ureigenen Sprache artikulierte. Für uns rundete die Aufnahme von Schostakowitsch die Einspielung gewissermaßen ab.
Und Sie haben zu ihm auch eine zumindest indirekte persönliche Verbindung, einmal durch den Unterricht bei Rostropowitsch, andererseits zu Gubaidulina.
Sie wissen ja, dass Gubaidulina nicht immer die Bestnoten in Komposition hatte, dass ihre Weise des Musikmachens als Irrweg angesehen wurde. Nur Schostakowitsch hielt an ihr fest und gab ihr einen Rat, dem auch ich für mein Leben weiterspüren möchte, der übrigens ebenso viele aus meinem Umkreis wie vor allem Gidon Kremer und Luigi Nono maßgeblich beeinflusst hat. Dieser Rat deckt sich inhaltlich mit einer alten Gedichtzeile von Antonio Machado, der für uns eine Art Motto bedeutete, übertragen bedeutet sie: „Wanderer, es gibt keinen Weg. DU musst gehen.“
[Interview geführt von Oliver Fraenzke am 18. Juni 2021]
Mit ihrem Debut-Album Intersection definiert sich das 2009 gegründete Ensemble Clazzic. Die vier Musiker mit Wurzeln in der Klassik und Fühlern in sämtlichen anderen Musikströmungen stellen sich ihren Stil zusammen zu einer Kreation jenseits dessen, was man mit Genrebezeichnungen fassen könnte. Es spielen Martina Silvester an der Quer- und der Piccoloflöte, Susanna Klovsky am Klavier, Alex Bayer am Bass und Thomas Sporrer an den Drums. Zentrum ihrer Aufnahme bildet die fünfsätzige Clazzic Suite, die ihnen der israelische Komponist Uri Brener auf den Leib geschrieben hat. Um diese herum hören wir die Milonga Camarga von Exequiel Mantega und die Milonga de mis amores von Pedro Laurenz und José María Contursi, jeweils in freien Abwandlungen des Ensembles.
Zwölf Jahre hat es gedauert, bis das Ensemble Clazzic sich sicher war, eine stilistische Ausrichtung gefunden zu haben, die sie auf CD brennen können. Doch nun ist das Ensemble angekommen – und liefert ein von vorne bis hinten durchdachtes, quicklebendiges und persönliches Album ab, sichert sich auf Anhieb einen festen Platz in der Musikwelt irgendwo zwischen Klassik, Jazz und allem nicht Benennbaren. Dass diese Titel nur ein Durchgang sind, ein festgehaltener Augenblick, der schon wieder in neue Richtungen weist, erklärt sich dabei von selbst.
Tiefgehender auf die Frage nach einer Stilistik einzugehen, wäre an dieser Stelle unnötig: Nicht alles braucht einen Namen. Es reicht zu wissen, dass alle vier der hier zu hörenden Musiker eine klassische Ausbildung absolvierten, ihre Interessen allerdings von Anfang an auch in ganz anderen Bereichen hatten und sich nie verschiedenen Einflüssen gegenüber verschlossen haben. Versehen mit uneingeschränktem Drang, alles auszuprobieren und noch mehr zu wagen, war der Plan zu einem genreübergreifenden Projekt schon halb geschmiedet. Dabei blieb klar, dass die notierte Musik auch Grundlage bleiben sollte, wozu die Gründungsmitglieder Susanna Klovsky und Martina Silvester den israelischen Komponisten Uri Brener beauftragten, eine Suite zu schreiben, welche mit den Grenzen spielt und sie idealerweise nivelliert. Die so entstandene Clazzic Suite bildet einen Ausgangspunkt der stilistischen Ausrichtung, andererseits wurde auch sie im Laufe des Einstudierens und Experimentierens immer weiter verändert, so dass die Noten eine Basis, nicht aber das Ganze bilden.
Die fünf Sätze der Clazzic Suite entspringen fünf klassischen Werken aus verschiedenen Epochen. Prädestiniert für ein Unterfangen, es in Richtung anderer Musen zu öffnen, steht Debussys Syrinx am Beginn, Syrinxation: Die Harmonik ist bereits so reich an Erweiterungen, dass der Schritt in Richtung Jazz alleinig durch rhythmische Aufheizung getan ist, teils gar nur durch Voicing. Auch Bach, dessen Triosonate BWV 1039 den zweiten Satz – Walking Bachwards – definiert, begrüßt freudig neue Stilistiken, denn diese Musik erfüllt ihre Intention gleich auf welchem Instrument und bei entsprechend handwerklichem Geschick auch gleich welcher Verarbeitung. Funky Bird, diese Satzbezeichnung deutet zu Strawinskys Feuervogel, dessen ruppige Ader dem Rock’n’Roll Pate steht. Davor noch, in der Mitte der Suite, holt uns Saltarello ins Mittelalter, und bleibt doch in der Jetztzeit. Das gewagteste Thema stellt das von Mozarts A-Dur-Sonate KV 331 dar, welches in der luziden Leichtigkeit auch extrem fragil erscheint und durch die kleinste Verzerrung zu zerbröckeln droht. Brener löst dies, indem er das Thema unverändert an den Beginn stellt – wo es nach den vorausgegangenen vier Sätzen (durchaus bewusst) wie ein Fremdkörper wirkt. Und als Mozart beginnt, das Thema zu variieren, so setzen nach und nach die anderen Musiker ein und bewegen sich Stück für Stück vom Original fort, wobei einige der Variationen wiederkehrendes thematisches Material einwerfen.
Was entsteht, ist ein vielseitiges, vielschichtiges und vielgestaltes Album, das zu Hören wahrhaft Spaß macht. Es kann locker im Hintergrund laufen und für gute Laune sorgen; lädt aber noch mehr zum Entdecken ein, es mit vollem Fokus auf die Musik zu hören. Immer wieder entdeckt man kleine Seitenhiebe, Themen sämtlicher Epochen und Genres, die doch in eine große, funktionierende Form eingebettet sind. Puristen gleich welcher Gattung würden sich wohl beleidigt fühlen, denn es ist keine Klassik mehr und doch deutlich kein Jazz: Würde man die Musik auf die Goldwaage legen, so wäre sie eher im Konzertsaal als im Club beheimatet.
Es gibt freilich mittlerweile eine ganze Reihe an Formationen, welche sich fernab der Genres bewegen und Klassik mit Jazz oder lateinamerikanischen Rhythmen und Harmonien mixen. Die meisten eint, dass sie sich selbst nicht zu ernst nehmen wollen, sondern locker und keck mit dem Material jonglieren. Dies unterscheidet das Ensemble Clazzic von ihnen: Denn die Musikerinnen und Musiker nehmen sich sehr wohl ernst und wissen um ihre Wurzeln. Dass darüber hinaus im Geäst auch mal eine humoristische Blume blüht, gehört dazu, doch der Stamm bleibt in einer jahrhundertelangen Tradition, die geschmückt wird mit allem, was die Musikgeschichte noch zu bieten hat.
Im Zweiten Teil der Gesamteinspielung aller Liedkompositionen des amerikanischen Komponisten Gordon Sherwood stehen die Four Romantic Songs op. 32, Seven Songs Of Mother Nature op. 46 und Songs From My Childhood op. 43, jeweils nach eigenen Texten, auf dem Programm. Die Künstlerinnen der Aufnahme sind die Sopranistin Felicitas Breest und Masha Dimitrieva am Klavier.
Das Klavierlied stellt besonders für Komponisten des 20. Jahrhunderts eine Gattung von zentraler Bedeutung dar. In einer Zeit, da die Suche nach einem Individualstil sich schwieriger gestaltet denn je, wo sich Tonsetzer zuerst durch den Dschungel an unerschöpflichen Möglichkeiten zu einer für einen selbst stimmigen Ausdruckssphäre bahnen müssen, da liegt es auf der Hand, sich zunächst an definierten Worten zu orientieren, anstelle sich von Anbeginn an auf absolute, textlose Musik zu setzen. Eine Liste derer, deren Frühwerk vornehmlich aus Liedern besteht, ließe sich lange erweitern, man denke allein an Namen wie Alban Berg, Richard Strauss, Walter Braunfels oder Eduard Erdmann. Die meisten dieser Komponisten blieben der Stimme als Ausdrucksmedium ihr Leben lang treu, zumeist später allerdings in Form großformatiger Bühnenwerke – doch manche fokussierten sich nach der Lehrzeit durch das Lied hauptsächlich auf rein instrumentale Musik, so beispielsweise Erdmann, aber auch Gordon Sherwood.
Gordon Sherwoods Liedschaffen lässt sich mit Ausnahme eines Nachzüglers (op. 96 von 1994) vollständig auf die Jahre zwischen 1967 und 1978 datieren. Zu dieser Zeit war der 1929 geborene Komponist freilich nicht mehr auf der Suche nach einem Einstieg in die Komposition: Im Gegenteil, er war durchaus gefragt vor allem durch die Uraufführung von Introduction and Allegro 1957 durch Dimitri Mitropoulos, hatte durch Studien bei den drei stilprägenden Meistern Aaron Copland, Philipp Jarnach und Goffredo Petrassi handwerklichen Feinschliff erfahren. Und doch steht das Lied an bedeutsamer Position Sherwoods Biographie. Denn nach seinem Abschluss 1967 in Rom, wo der erste der Liederzyklen entstand, wandte sich Sherwood vom großen Musikbetrieb ab, nutzte keine der ihm offenstehenden Türen, sondern zog sich zurück, eigene Erfahrungen zu machen und die Welt zu erleben. Er ging mit seiner Frau Ruth nach Beirut, wo die beiden sich durch Auftritte in Bars und Hotels durchschlugen – und auf diese Weise beiläufig mit dem später nicht mehr aus Sherwoods Stil fortzudenkenden Boogie- und Blues-Element vertraut wurden –, später nach Kenia. 1980, also kurz nach seinen Liederjahren, trennte sich Sherwood von seiner Frau und ging nach Südostasien, den Buddhismus näher kennenzulernen. So begleitete ihn das Lied von seiner Stellung als anerkannter Komponist bis hin zur Entscheidung zu seinem späteren Leben, das geprägt war durch unermüdliches Reisen, Selbstsponsoring durch Betteln, dem Komponieren und Entdecken als Hauptinhalte seines Lebens.
Insgesamt zwanzig von Sherwoods hundertdreiundvierzig Opusnummern bezeichnen Liederzyklen, wobei sich die Gesamtzahl an Liedern auf etwas über 80 summiert. Die Texte schrieb er dabei bis auf wenige Ausnahmen – namentlich die beiden frühesten Sammlungen opp. 23 und 29 sowie Zitate aus op. 62 – selbst; hierbei maß er den Gedichten eigenständigen Stellenwert bei, skizzierte sie also nicht als bloßes Mittel zum Kompositionszweck. Die Themen reichen weit, decken viele Aspekte des Lebens ab, konzentrieren sich oftmals auf Natur- und Liebesthematiken, können aber bisweilen auch kecken bis derben Humor aufweisen. Seine auf dem ersten Teil der Gesamteinspielung aufgenommenen Six Songs for Women’s Fashion of the 1960’s beispielsweise geben recht drastische, teils auf den sexuellen Aspekt reduzierte Urteile über gewisse Kleidungsstücke ab.
Die Lieder des vorliegenden zweiten Teils segeln vornehmlich unter romantischer Flagge, wobei auch der Blues gelegentlich durchblitzt. Die Four Romantic Songs op. 32 bilden als durchkomponierter Zyklus ein Panorama vom Frühlingserwachen bis hin zu einem Liebesabend am See, gemahnen stilistisch teils gar noch an Schubert, wobei Sherwood einige harmonische Wendungen doch der Bluesidiomatik entlehnte. Hier zeigt sich, wie sehr Sherwood sich in der Wahl seiner stilistischen Mittel auf das Sujet bezog, dann die einzelnen Elemente zu einer Einheit verschmolz, die in sich stimmig erscheint, ohne eine eindeutige Stillinie zu verfolgen. Die Seven Songs of Mother Nature op. 46 geben textlich tiefe Eindrücke von Sherwoods Bewunderung den Naturphänomenen gegenüber, wobei ihn eine Biene nicht minder beeindrucken kann als eine Nacht unter dem Sternenhimmel. Die Musik wirkt bekenntnishaft, zieht sich erneut Ausdrucksmittel unterschiedlichster Kulturen und Epochen heran, die jeweils zum Moment passen, ohne den Bezug zur Gesamtform zu verlieren. Am Ende sein Statement: You Cannot Beat Nature. Autobiographisch erscheinen die acht wieder zyklisch anmutenden Lieder, die er Songs From My Childhood op. 43 betitelte. Unter dem harmlos anmutenden Titel verbergen sich teils aufrüttelnde Momente, aber auch gewisse Sehnsüchte, bei denen wieder Derbheit mitschwingt. So erinnert er sich beispielsweise, dass er seine Sandkastenliebe ohne Scham bewundern konnte. Das Haunted House erwächst mit einer Länge von knappen sieben Minuten zur Ballade, ist tiefschürfend ausgestaltet mit einem symphonischen Spannungsaufbau und einer atemberaubenden Klimax.
Diese eigenständige, persönliche und in jedem Lied doch andersgeartete Musik stellt an die Ausführenden höchste Ansprüche. Denn nicht nur verlangt Sherwood gewisse Kenntnisse in grundverschiedenen Stilen vom Volks- und Kunstlied zur Jazzidiomatik, sondern er will auch seine persönliche Note darin verstanden und hörbar gemacht wissen. Das Duo Felicitas Breest und Masha Dimitrieva kann mittlerweile auf eine beachtliche Anzahl an reinen Sherwood-Auftritten blicken, ebenso auf die erfolgreiche erste Platte ihrer Gesamteinspielung. So verwundert wenig, dass dieser zweite Teil nun noch eindringlicher wirkt als der erste. Vor allem bei Felicitas Breest bemerkt man eine geänderte Einstellung zum Oeuvre Sherwoods, was sich in der Form der Textausdeutung, auch im balladesken Tonfall bemerkbar macht, mehr sogar noch in der Findung eines genreübergreifenden Klanges, der eine Einheit in der Vielfalt findet. Gerade für die menschliche Stimme, die üblicherweise für jedes Genre und jeden Stil, teils gar für bestimmte Komponisten eigene Techniken kennt, ist dieser Schritt bemerkenswert, zeugt von langer Auseinandersetzung mit der Materie. Breest setzt auf expressive Melodiegestaltung, parallel unbekümmerte Leichtigkeit, wobei ihr die musikalische Empfindung wichtiger ist als Textbekleidung. Masha Dimitrieva geht vollständig auf ihre Partnerin ein, stellt das Klavier in den Dienst der Stimme, ohne dabei an Eigenständigkeit zu verlieren. Sie, die übrigens musikalische Erbin Sherwoods ist und das Label Sonus Eterna zu seinem Andenken gegründet hat, kennt die Werke Sherwoods wie niemand sonst, spielt entsprechend souverän mit profundem Verständnis des Notentextes und Wissen, wie man diesen im Sinne Sherwoods umsetzen kann. In jeder Note hört man die Freude am Musizieren dieser beiden Künstlerinnen heraus, den Wunsch, alles aus den Partituren herauszuholen und den Hörer durch die Musik allein und nicht durch Gebärden zu begeistern. Es ist wahres aufrichtiges Musizieren.
Ausgehend vom Concerto d-Moll BWV 1052 von Johann Sebastian Bach spannten der Cellist Julius Berger und die vielseitig aktiven Schlagwerkspieler Andrei Pushkarev und Pavel Beliaev ein Programm, das sich intuitiv dem menschlichen Herzschlag zwischen 60 und 90 Schlägen pro Minute annähert. Sie (re?)konstruierten eine verlorengegangene Urfassung von Bachs Concerto für ein Streichinstrument, hier das Violoncello piccolo, und führten auch Alessandro Marcellos d-Moll-Oboenkonzert, welches von Bach für Klavier solo umgearbeitet wurde, weiter in eine Fassung für Cello piccolo. Die Orchesterstimmen arbeiteten die Musiker um für Marimba und Vibraphon. Um diese Eckpfeiler herum hören wir Schostakowitschs Prelude C-Dur aus op. 87, Bachs Choräle Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ BWV 639, Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit BWV 106 und Jesus bleibet meine Freude BWV 147, die Aria BWV 590 und Piazzollas Umarbeitung von Bach-Goundos Ave Maria.
Was begann als zufällig gelesene Randinformation, mündete in einer zutiefst persönlichen Aufnahme, die als eine Art der Corona-Bewältigung angesehen werden darf. Der Cellist Julius Berger hörte, dass Bachs d-Moll-Konzert BWV 1052 wohl ursprünglich für ein Streichinstrument geschrieben sei, in dieser Version allerdings als verschollen gelte – einige Techniken, besonders die E-Barriolagen, sprächen dafür, dass es sich beim Soloinstrument um eine Violine handle, oder um ein Violoncello piccolo, welches Bach gerade in Kantaten gerne besetzte. Die Idee war geboren, diese verloren gegangene Fassung in der heutigen Zeit zu rekonstruieren, und zwar für das Violoncello piccolo. Doch da dieses heute kaum bis überhaupt nicht als Soloinstrument zu hören ist, stellten sich bereits instrumentale Schwierigkeiten: Denn wo erhält man eine E-Saite, die alle Anforderungen nicht nur für eine solistische Bachaufführung, sondern auch für Darbietungen neuerer Musik erfüllt? Berger ließ sie als Sonderanfertigung von Pirastro kreieren. Auch war angesichts des Lockdowns 2020 an eine Aufnahme mit Orchester nicht zu denken; so fragte Berger Andrei Pushkarev an, wie man denn die Orchesterstimmen sinnvoll kammermusikalisch umsetzen könnte. Hierfür involvierten sie Pavel Beliaev und transkribierten die Stimmen für Vibraphon und Marimba, konnten durch diese klangtechnisch weichen, dabei vielstimmig einsetzbaren Instrumente das gesamte Orchester abbilden und voluminös ausfüllen.
Um das Konzert entwickelte sich ein Programm aus verschiedenen Chorälen Bachs, hinzu kamen Werke anderer Komponisten, die eng mit der Leitfigur Bach in Verbindung stehen. Schostakowitsch bezog seine für Klavier geschriebenen Präludien und Fugen op. 87 ganz klar auf das Wohltemperierte Klavier und integrierte mehrfach deutliche Parallelen. Piazzolla griff das C-Dur-Präludium aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers auf, das bereits von Gounod mit der sich darüber erhebenden Melodielinie Ave Maria versehen wurde. Diese Melodie nahm Piazzolla als Grundlage, spann allerdings eine eigene Fantasie daraus, die meines Erachtens stimmiger auf die Vorlage passt als die von Gounod, und so zu einer besonderen Entdeckung avanciert. Einer weiteren mehrfachen Bearbeitung unterliegt das Marcello-Konzert, welches dieser für Oboe konzipierte, was Bach dann mit reicher und wohlüberlegter Ornamentik als Klavierstück umarbeitete: Nun von Berger und Pushkarev in die Klangwelt des Violoncello piccolo eingeführt, übernahmen sie die melodiösen Auszierungen Bachs, gingen in den Orchesterstimmen von Marcellos Original aus.
Der gemächliche Grundpuls von etwa 60-90 Schlägen die Minute rückte dabei rein zufällig ins Zentrum, wohl einer inneren Intuition entspringend, in all den Wirren der aktuellen Zeit zu sich selbst zurückzufinden. Das zur-Ruhe-Kommen, was wir mehr denn je nötig haben, wird so zu einem Kernelement der Aufnahme und überträgt sich auf den Hörer. Die Musiker suchten ihren Halt in der Musik selbst und in einer möglichst persönlichen, innigen, dabei nicht schwärmerisch-romantischen, sondern geistig durchdringenden, sprich menschlichen Darbietung. In der so entstehenden Echtheit berührt die Musik und legt sich so als wohltuender Balsam über uns. Aus der Wahl von Marimba und Vibraphon resultiert eine beinahe meditative Flächigkeit, die dennoch Konturen schafft und gerade die Steigerungen elastisch ausgestalten kann. Julius Berger wählt für die Aufnahme ein niederländisches Instrument von Jan Pieter Rombouts mit Darmsaiten, was den anderen, moderneren Instrumenten zwar scheinbar entgegensteht, sich aber eben durch diesen Kontrast auf eine ganz eigene Weise mischt und einen ganz persönlichen Klang aufkeimen lässt. Der Aufnahmeort in der Christkönigkirche Dillingen wirkt sich positiv auf die Abmischung der Instrumente aus und schafft sanften, nicht übermäßigen Hall: Es musste in der Nachbearbeitung nichts mehr am Klang geändert werden, es handelt sich tatsächlich um das, was mit dem englischen Terminus Natural Sound bezeichnet wird. Nennenswert ist noch, dass Julius Berger mit allen Beteiligten, Saitenhersteller, den Schwestern der Regens-Wagner-Einrichtung, zu welcher die Kirche gehört, den Aufnahmeleitern und den Mitmusikern in jahrelangem freundschaftlichem Kontakt steht, wie man dem Booklet entnehmen kann: Solch ein kollegiales Verhältnis zwischen allen Beteiligten bringt eine Harmonie hervor, die das Persönliche nur unterstreicht.
Im Begleittext bringt Julius Berger seinen Enthusiasmus zu diesem Projekt auf den Punkt: „Corona war plötzlich kein Schatten mehr über unseren künstlerischen Zielen, sogar im Gegenteil, endlich hatten wir Zeit für ein Projekt, das schon lange in mir schlummerte.“
Zum Neustart der Klassikreihe im Bürgerhaus Eching spielen der Violinist Denis Goldfeld und die Pianistin Sofja Gülbadamova am 3. Juli 2021 ein hoffnungsvolles Programm fast ausschließlich in Dur. Sie eröffneten den Abend mit Schuberts Violinsonate D-Dur D 384, worauf Beethovens 8. Violinsonate in G-Dur op. 30/3 folgte. Nach der Pause fügten die Musiker ein modernes Werk, welches nicht auf dem Programm stand: Ein Andante Tragico der Komponistin Lera Auerbach, das für die Künstler ein Sinnbild der durchlittenen Coronapandemie darstellt. Als Hauptwerk des Abends spielten Goldfeld und Gülbadamova die Erste Violinsonate op. 78 von Johannes Brahms, rundeten mit dessen Scherzo aus der F.A.E.-Sonate ab.
Welch ein seltsamer Augenblick für uns Zuhörer, auf einmal wieder im Konzertsaal zu sitzen – und wie viel seltsamer noch für die auftretenden Musiker, die nun teils über ein Jahr nicht mehr vor Publikum standen. Das Erlebnis war somit in jeder Hinsicht ein Besonderes. Und dies wurde bei Künstlern wie Zuhörern spürbar: Als die Musik anhob, so waren wir wie in einer Parallelwelt, gebannt von den Klängen. Es fühlte sich zugleich vertraut an und dann fast neuartig. Denis Goldfeld und Sofja Gülbadamova rangen im positivsten Sinne um die aufsteigenden Emotionen, die gerade bei Komponisten wie Schubert und Brahms doppelbödiger kaum sein könnten. Doch gewannen sie den Kampf insofern, als dass sie sich nicht überrumpeln ließen von der geballten Macht der ertönenden Großformen, sondern es schafften, diese zu kanalisieren und dem Publikum zu vermitteln, ja zu verkünden. Denis Goldfeld schwelgte sichtbar auf den Tönen, kontrollierte sie empfindsam im Entstehen und stellte jede Zelle seines Körpers in den Dienst der Musik, was seinem Spiel größtmögliche Sinnlichkeit und Purität verlieh: Echter, ungekünstelter Ausdruck in jeder Schwingung. Sofja Gülmadamova verkörperte eine andere Herangehensweise: Sie näherte sich vom Bild auf die Gesamtform den einzelnen Passagen, um nie den Zusammenhang zu verlieren. Aller äußerlichen Virtuosität schwor sie ab, erwägte gar jede ihre Bewegungen, die nur der Tongebung gelten sollten. In der Symbiose der beiden Künstler verschwammen die unterschiedlichen Grundzüge zu einer durch und durch funktionierenden Einheit. Die Musiker gaben ihr Innerstes preis, was das Erlebnis dieses Konzerts umso intensiver und intimer gestaltete, den Zuhörer vollends in das Geschehen integrierte. Der gemeinsame Atem, der sich in 20-jähriger Kammermusikpartnerschaft etablierte, der nach dieser Pause nun wieder außergewöhnlich erschien, sprang auch auf das Publikum über.
Wohl dauerte es aus Sicht des Publikums teils noch, sich auf diese Situation neu einzustellen, aber spätestens im Mittelsatz der Beethoven-Sonate war auch der Letzte vom Alltag befreit in den Wogen der Musik gefangen. Diejenigen, die sich schon früher aus der normalen Welt zu lösen vermochten, erlebten vom ersten Ton an Großes: Die jugendliche D-Dur-Sonate Schuberts, mit 19 Jahren geschrieben, enthielt schon den Kern des späteren Melodik-Großmeisters, behielt dennoch unter den Fingern Gülbadamovas und Goldfelds die jugendliche Frische und Heiterkeit – wenngleich die scheinbare Fröhlichkeit bereits hier teils gebrochen erscheint. Der Kopfsatz von Beethovens G-Dur-Sonate brodelte und begehrte auf, konnte aber in seiner übermannenden Energie von den Musikern gebändigt werden, was uns davor bewahrte, von den Tönen überrannt zu werden. Im erwähnten Mittelsatz blieb die Zeit stehen, so dass man sprechen möchte: „Verweile doch, du bist so schön.“
Die Intimität noch gesteigert setzten Goldfeld und Gülbadamova in der zweiten Hälfte mit einem zeitgenössischen Werk von Lera Auerbach an, traten in Zwiegespräch mit den Tönen, die teils grelle Dissonanzen aufflammen ließen, dann aber auch wieder beschwichtigende Dur-Harmonien verwendeten, um den Kontrast aus Niedergeschlagenheit und Hoffnung zu extremisieren. Alles, was die Musiker über die Corona-Pandemie gerne sagen wollten: Es war in diesen Tönen. Die „Regenliedsonate“ op. 78 von Brahms folgte, die zwar in Dur geschrieben steht, wohinter sich aber ein tragisches Schicksal verbirgt, nämlich der Tod von Brahms‘ Patenkind Felix Schumann. In ihrer Ansprache nannte Sofja Gülbadamova sie ein „Lächeln durch die Tränen hindurch.“ Diese Musik zu beschreiben, entzieht sich nun doch letztendlich dem verbal Ausdrückbaren; es hätte ein Foto gebraucht vom Ausdruck auf den Gesichtern der Musiker nach der letzten Note – zutiefst betroffen, aufgerüttelt, erschüttert und doch friedlich –, um den entschwundenen Moment zu rekapitulieren.