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Klingende Musikgeschichte – Stationen des Historischen Bildungskonzerts vom 17. Jahrhundert bis heute

Um in das Thema einzuführen, möchte ich mit einer kleinen autobiographischen Begebenheit beginnen. Als ich vor vielen Jahren meinen damaligen Musiklehrer in der gymnasialen Oberstufe mit Blick auf eine nahende Prüfung fragte, ob er mir Literatur empfehlen könne, die einen fundierteren Überblick über die Musikgeschichte vermittelt, erhielt ich folgende Antwort: „Schau dir doch einfach diese Konzertserie von Bernstein an.“ Freilich hatte ich damals bereits von Leonard Bernstein gehört, aber die von meinem Lehrer angedeutete Konzertreihe war mir bis dato unbekannt. Mit diesen recht spärlichen Informationen machte ich mich an das (letztlich recht aufwendige) Unternehmen, mir irgendwoher das besagte Material zu beschaffen. Was mir mein Lehrer damals empfahl, waren die sogenannten Young People’s Concerts, die Bernstein in den späten 50er bis frühen 70er Jahren mit dem New York Philharmonic Orchestra überaus erfolgreich präsentierte.

Diese Konzerte, in denen Bernstein mit all seiner medialen Vermittlungskompetenz und vor allem seinem Charisma klassische Musik einem damaligen Millionenpublikum durch das Fernsehen näherbrachte, sollte letztlich auch mein Interesse nicht nur für die Musikgeschichte allgemein, sondern speziell auch für die Art ihrer Aufbereitung und Vermittlung beeinflussen. Ich kann meinen biographischen Einstieg vielleicht dahingehend bilanzieren, dass Bernstein mit seinen Young People’s Concerts sicherlich dazu beigetragen hat, dass ich mich später für das Studium der Musikwissenschaft entschied.

Wenn man einmal grundsätzlich über den hier angerissenen Zusammenhang von Musikgeschichte, musikgeschichtlicher Bildung und deren Vermittlung ins Nachdenken gerät, so gelangt man fernab der traditionellen Formate musikhistorischer und -historiographischer Aufbereitung auch zu dem Phänomen des Historischen Konzerts. Genauer gesagt, zum Historischen Bildungskonzert im Sinne einer klingenden Vermittlung von Musikgeschichte. Im Zuge einer Recherche nach dem Ursprung und zentralen Entwicklungsstationen dieses Konzerttypus wird recht schnell offensichtlich, dass das Format durch die Geschichte hindurch häufig mit konkreten Bildungsintentionen verknüpft wurde. Diese Vermittlungsabsichten dokumentieren sich vor allem in der Art und Weise der Selektion von bestimmtem Repertoire sowie in den die Konzerte zumeist flankierenden Werkkommentaren der Programmverantwortlichen, in denen die Begründung der intendierten Auswahl mitgeliefert wird.

Im Folgenden möchte ich mich auf ausgewählte Fallbeispiele des Historischen Konzerts im Zuge eines kleinen „Gänsemarschs der Epochen“ (Ernst Bloch) konzentrieren und dabei die den Konzerten zugrundeliegenden Bildungsintentionen erläutern. Die Frage nach den Absichten, wie und warum bestimmte Kompositionen ausgewählt und kommentiert werden, damit sie in der Funktion einer übergeordneten musikgeschichtlichen Bildungsidee aufgehen, stellt das verbindungsstiftende Motiv meiner Ausführungen dar.

I. Das Historische Konzert als tönende Theologie im 17. Jahrhundert

Den Anfang meines Überblicks bildet eines der wohl frühesten Historischen Konzerte aus dem damals protestantisch geprägten Nürnberg um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Bei diesem Exempel handelt es sich weniger um die Absicht einer Wiederbelebung älterer Musik um ihrer selbst willen, als vielmehr um die wohldurchdachte Darbietung von Kompositionen, die so etwas wie eine chronologisch sortierte, klingende Geschichte der christlichen Musik bot.

Was wissen wir über das betreffende Konzert, das am 31. Mai 1643 in Nürnberg stattfand? Dokumentiert ist, dass der damalige Professor für Theologie der Nürnberger Universität, namens Johann Michael Dilherr, ein großer Liebhaber und Kenner der Musik war, und dass eben dieser Dilherr ein Gesuch an den Rat der Stadt richtete, um eine sogenannte „Entwerffung des Anfangs, Fortgangs, […] Brauchs und Mißbrauchs der Edlen Music“ ausrichten zu dürfen, was dann auch positiv beschieden wurde. Über den Inhalt und Ablauf des Konzerts im großen Stadtsaal geben die Chroniken des Nürnberger Archivs recht genaue Auskunft. Man kann zunächst festhalten, dass dieses in jederlei Hinsicht groß angelegte Konzert einiges Aufsehen in der Stadt erregte, was umso mehr erstaunen mag, als wir uns in einer Zeit omnipräsenter Konflikte, verursacht durch die Wirren des Dreißigjährigen Krieges, befinden. Doch die Stadtchronik gibt wieder, dass nicht nur das nahezu gesamte, verfügbare Personal an städtischen Musikanten, Stadtpfeifern, Sängern, Kantoren und Organisten aufgeboten wurde, sondern dem Konzert schließlich auch eine „unglaubige Menge Volks, ja wohl etliche Taußend Menschen“, beigewohnt haben muss.

Das Konzertprogramm, welches Dilherr ausgewählt und in einer lateinischen Vorrede ausführlich erläutert hat, vollzieht zunächst eine Entwicklung der biblischen Musikgeschichte nach. Die unverkennbare theologisch motivierte Kontextualisierung des Programms stand dabei im Dienste der Veranschaulichung, welche Bedeutung und welcher Nutzen der musica sacra seit der Erschaffung der Welt zukam. Entsprechend reicht der erste Teil des Programms von einem anfänglichen Gesang dreier Diskantisten im Sinne einer Versinnbildlichung der Engels- oder Himmelsmusik mit Texten aus dem Genesisbericht, über Harfen- und Flötenspiel in Erinnerung an Jubal, dem biblischen Erfinder der Instrumente, über alttestamentarische Psalmgesänge der Erzmusiker David und Salomo bis hin zu neutestamentarischen Lobliedern anlässlich Jesu Verkündigung – um hier nur einige der dargebotenen Stücke aufzulisten. Nach Abschluss dieses biblischen Programmteils kam es dann zu einem zeitlichen Wechsel innerhalb des Konzertablaufs. Denn durch Dilherrs Wahl eines gregorianischen Chorals bewegte sich das Programm fortan erstmals auf dem Boden musikgeschichtlicher Tatsachen. Es folgten sodann Beispiele für mehrstimmige Figuralmusik (u. a.) von Johannes Ockeghem, womit wir uns bereits mitten im 15. Jahrhundert befinden, sowie eine Motette Orlando di Lassos, also eines Vertreters des 16. Jahrhunderts. Mit doppelchörigen Werken von Giovanni Gabrieli und Hans Leo Hassler – Akteuren, die wir heute historiographisch in die Frühphase der Barockmusik einordnen – sollte dann der vorläufige musikgeschichtliche Höhepunkt, sowohl was die kompositionstechnische Entwicklung als auch den Nutzen gottesdienstlicher Musik betrifft, präsentiert werden. Durch diese vergleichende Gegenüberstellung von Komponisten und Stilen aus verschiedenen Epochen beabsichtigte Dilherr auf den kompositorischen Fortschrittsprozess der Kirchenmusik aufmerksam zu machen. Dieses Vorhaben enthielt dabei eine zentrale theologische Bildungsintention: Dadurch, dass Dilherr am Ende des Konzerts auch einen protestantischen Choral sowie eine Darbietung des Verses „Coelestis musica salve“ darbieten ließ, bekam der musikgeschichtliche Fortschrittsgedanke des Konzerts einen konfessionellen, und zwar einen protestantisch-lutherischen Akzent. Nachdem die Musik der biblischen Vergangenheit und der nicht zu überbietenden Gegenwart verklungen war, erfolgte eine Art prophetische Ankündigung der nahenden Himmelsmusik, eben jener „coelestis musica“, als einem Sinnbild für die im protestantischen Glauben fest verankerte Vorstellung von der endzeitlichen Apokalypse. Biblische Vergangenheit, weltliche Gegenwart und zukünftige Prophetie wurden damit in dem Nürnberger Konzert auf Basis eines theologisch geleiteten Geschichtsverständnisses zusammengeführt und durch das göttliche Medium der musica sacra klingend zum Ausdruck gebracht.

II. Das Historische Konzert Gottfried van Swietens – oder: Zur Konstruktion eines musikgeschichtlichen Erbes

Ich komme damit zum zweiten Fallbeispiel eines Historischen Bildungskonzerts und mache dabei einen großen Sprung vom 17. in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Hierbei geht es mir um die Anfänge des Historischen Privatkonzerts, die neben ersten Ausprägungen in London und Berlin vor allem in Wien zu finden sind – und hier personell aufs Engste verbunden mit dem Diplomaten, Bildungspolitiker und bedeutenden Musikmäzen Baron Gottfried van Swieten.

Van Swieten, der ab 1777 Präfekt der kaiserlichen Hofbibliothek war und zeitlebens als großer Kenner der Tonkunst, mitunter auch als „Patriarch der Musik“ gerühmt wurde, versammelte seit den 1780er Jahren in seiner Wiener Dienstwohnung namhafte Musiker in sonntäglichen Matineen, bei denen vorrangig Werke alter Meister, insbesondere Musik Johann Sebastian Bachs und Georg Friedrich Händels, gespielt und studiert wurden. An diesen Veranstaltungen der sogenannten Gesellschaft der Associierten Cavaliere nahm unter anderem auch Wolfgang Amadeus Mozart ab 1782 regelmäßig teil, den van Swieten ebenso protegierte wie später Ludwig van Beethoven. Im Rahmen der Matineen sollte Mozart erstmals in intensiven wie kompositorisch nachhaltigen Kontakt mit der Musik Bachs kommen. Auch Joseph Haydn stand in engem, langjährigem Verhältnis zu van Swieten, der (u. a.) für die Bearbeitung der Libretti zu den Oratorien Die Schöpfung und Die Jahreszeiten verantwortlich zeichnete. Nicht zuletzt widmete Beethoven dem Baron seine Erste Symphonie aus Dankbarkeit für die ihm zukommende Förderung – aber wohl auch aus strategischem Kalkül, wohlwissend um Stellung wie Einfluss van Swietens im damaligen Musikzentrum Wien.

Es ist sicherlich nicht übertrieben zu behaupten, dass van Swieten aufgrund seiner musikalischen Kompetenzen und mäzenatischen Netzwerke maßgeblich zur Konstruktion dessen beigetragen hat, was wir heute historiographisch (eingedenk aller terminologischen Schwierigkeiten) mit dem Begriff „Wiener Klassik“ bzw. als „klassische Trias“ bezeichnen. Entscheidend mit Blick auf die von van Swieten veranstalteten, an eine aristokratische wie intellektuelle Elite gerichteten Hauskonzerte ist die funktionale historische Verortung speziell der Werke Bachs und Händels in das damals zeitgenössische Verständnis von Musikgeschichte. In diesem Punkt konkretisiert sich die besondere Vermittlungsintention van Swietens. Entscheidend ist, dass er die Komponisten Bach und Händel als historische Instanzen installierte, an die er vor allem Haydn und Mozart kompositorisch anschließbar machen wollte – und zwar im Sinne einer wenn auch nicht fortschrittsgeleiteten, so doch geschichtlich folgerichtigen Stilentwicklung. Das in der Musikhistoriographie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vielfach zu lesende Narrativ von einem heroengeschichtlichen Entwicklungsgang der Musik, welcher von Bach und Händel ausgehend unmittelbar zu den Wiener Klassikern führt, findet mit den Historischen Konzerten van Swietens eine der frühesten Vorbildungen. Kurz gesagt werden Bach und Händel – wohlbemerkt bereits in den 1780er Jahren – im Zuge der Swieten-Konzerte zu Vorläufern einer neuen Musikepoche inthronisiert, eben zu jener der sogenannten „klassischen Trias“. Hier vollzieht sich nicht weniger als die Konstruktion eines historiographischen Erbes, das in der Musikgeschichte für lange Zeit diskursmächtig wirken sollte.

III. Das Historische Konzert als musikgeschichtliches Korrektiv – François-Joseph Fétis

Mit den rezeptionsgeschichtlichen Folgen der „Wiener Klassik“ sind wir im „langen“ 19. Jahrhundert angelangt, und ich möchte als Beispiel eines Historischen Konzerts aus dieser Zeit auf ein bedeutendes Projekt des belgischen Komponisten und Musikschriftstellers François-Joseph Fétis eingehen. Ab dem Jahre 1832 organisierte Fétis in Paris zwei vielbeachtete Veranstaltungen: zum einen die Vorlesungsreihe Cours de philosophie musicale et d’histoire de la musique und zum anderen die damals weithin beachteten Concerts historiques. Das Neuartige und Aufsehenerregende dieser öffentlichen Konzerte war die Art und Weise der philosophisch-historischen Betrachtung, die sich in der methodischen Anordnung der Programme nach bestimmten Gattungen, Schulen, Nationen und Epochen niederschlug. Bemerkenswert ist, wie Fétis während der Planung und Durchführung der Konzerte mehr und mehr zu der Überzeugung gelangte, die bis dato vorherrschende musikalische Fortschrittsdoktrin anzuzweifeln.

Aus musikgeschichtlichem Interesse hatte er nicht nur die historiographischen Schriften eines Charles Burney und Johann Nikolaus Forkel gelesen, sondern auch ältere Kontrapunkt- und Harmonielehrbücher studiert. Im Zuge dessen war Fétis zu der Überzeugung gelangt, dass viele der vergessenen Kompositionen für ihn musikalisch gehaltvoller waren als die meisten Werke aus neuerer Zeit. Er beschäftigte sich daraufhin mit den Werken bedeutender Komponisten der Vergangenheit, bis zurück zur Musik der Trouvères und Troubadours, und erkannte, dass die ihnen zugrundeliegenden musikalischen Regeln variabel, weil je nach Ort und Zeit verschieden waren.

In seiner – unvollendet gebliebenen – Histoire générale de la musique, die Fétis 1869 begonnen hatte, erklärte er schließlich die europäisch-abendländische Musikgeschichte zu einer von vielen Entwicklungssträngen und entzog ihr damit den Status eines Paradigmas, an dem alle anderen Musikarten und -stile zu messen seien. Es war diese ästhetische Nivellierung historischer Unterschiede mit dem Ergebnis einer bis dato neuartigen Aufwertung älterer Musik bzw. einer Abwertung des stilistischen Fortschrittsnarrativs eurozentristischer Provenienz, die Fétis in seinen Historischen Konzerten als zentrale Bildungsintention klanglich zu vermitteln trachtete.

IV. Das Historische Konzert der Gegenwart und die Evidenz der klingenden Lebenswelt

Zum Abschluss möchte ich nochmals einen großen zeitlichen wie räumlichen Sprung machen – dieses Mal vom Paris des 19. zur amerikanischen Ostküste des 20. Jahrhunderts. Damit komme ich wieder zurück zum Ausgangspunkt meiner Vorbemerkung. In meinem letzten Beispiel für ein Historisches Konzert widme ich mich den Anfängen einer angewandten Vermittlung von Musikgeschichte mittels des damals noch jungen Mediums Fernsehen. Den Beginn dieser Entwicklung bildet – wie bereits angedeutet – Leonard Bernstein, den ich hier allerdings nur kurz anführen möchte. Vielmehr geht es mir im Folgenden um die Frage, welche gegenwärtigen Konzepte des Historischen Konzerts es eigentlich gibt und wie musikhistorische Bildung in Zeiten aktueller Vermittlungsdebatten aussehen kann.

Ein überaus erfolgreiches Format bildet in diesem Zusammenhang die Fortführung der von Bernstein initiierten Young People’s Concerts. In New York war in den 2000er-Jahren der Dirigent Delta David Gier mitverantwortlich für die Konzeption dieser Konzerte. Es ist für mein Thema aufschlussreich nachzuvollziehen, wie Gier und seine Mitstreiter des New York Philharmonic Orchestra das Format derart modernisiert haben, dass es beständig eine große Zielgruppe von Kindern wie Erwachsenen ansprach und noch immer anspricht. Zu fragen wäre, wie das Erfolgskonzept dieser Aktualisierung musikhistorischer Bildung umrissen werden kann.

In einer Ankündigung der Konzertreihe für das Jahr 2009 hat Gier einen Teil der Programme wie folgt erläutert: „In jedem der vier Konzerte […] haben wir dieses Jahr vier verschiedene Aspekte, die wir durch die Musik vermitteln möchten. Das erste Konzert widmet sich zum Beispiel dem Thema ,Musik zum Tanz‘. Das Element […] ist Rhythmus, und wir werden gemeinsam einen Weg durch dieses Programm beschreiten, das von Bach bis hin zu Steve Reich reicht – und vielleicht noch darüber hinaus. Es soll darum gehen, wie der Rhythmus Teil unseres täglichen Lebens ist, von unserem Herzschlag bis hin zur Art und Weise, wie wir gehen. […] Es geht darum, welche Rolle der Rhythmus in all diesen verschiedenen Musikstilen und -epochen spielt. Wir beenden dieses Konzert mit dem Bolero von Ravel – der eine Art ultimatives Rhythmusstück ist.“

Der Vermittlungsansatz, den Gier hier am Beispiel eines der Konzerte skizziert, kann als repräsentativ für die Gestaltung der gesamten Serie gelten. Zentral ist dabei der Versuch, auf Basis eines übergeordneten musikalischen Themas, wie hier dem Zusammenspiel von Musik und Tanz bzw. Rhythmus und Bewegung, anschauliche Beispiele aus der Musikgeschichte auszuwählen und diese zur Grundlage eines klingenden Bildungstransfers zu machen – eines Transfers, der darauf abzielt, ein Bewusstsein für die Musik im Sinne ihrer ästhetischen Äquivalenz bzw. Übertragbarkeit auf ganz alltägliche Phänomene wie dem großstädtischen Klangrhythmus zu schaffen. Die Kinder und Jugendlichen werden durch die Konzerte dafür sensibilisiert, ihre eigene Lebenswelt als eine klingende wahrzunehmen und diese Erfahrungen wiederum im Rahmen neuer Konzerterlebnisse einzubeziehen. Dieser phänomenologisch basierte Ansatz, der auf eine sinnstiftende Beziehung zwischen der eigenen Biographie und der tönenden Umwelt abzielt, scheint mir gegenwärtig einer der Hauptstränge der Vermittlungskonzepte Historischer Konzerte zu sein und den Erfolg der Formate bei einem nicht allein jüngeren Publikum mitzuerklären.

Damit bin ich am Ende meiner Ausführungen angelangt. Wichtig ist mir, abschließend nochmals auf das verbindungsstiftende Motiv meiner verschiedenen Fallbeispiele hinzuweisen: und zwar auf das übergreifende Anliegen, mittels der Selektion eines bestimmten Musikrepertoires auf übergeordnete geschichtliche, historiographische und/oder ästhetische Sachverhalte aufmerksam zu machen. Sei es die Vermittlung einer spezifisch konfessionellen Musikhistorie wie 1643 in Nürnberg oder die Konstruktion eines musikgeschichtlichen Erbes der „Wiener Klassik“ durch van Swieten, die Aufwertung alter Musik im Sinne eines historiographischen Korrektivs wie bei Fétis oder die Starkmachung eines Sinnbezugs zwischen den Werken der sogenannten „klassischen“ Musik und der eigenen Lebenswelt in heutigen Formaten des Historischen Konzerts – in all diesen Beispielen geht es letztlich um die Mitteilung einer Bildungsidee qua Geschichtsrekurs, genauer gesagt: um eine tönende Vermittlung von Musikgeschichte, die in ihrem Verklingen Vergangenheit erfahrbar macht und damit in mehrerlei Hinsicht mit Sinn erfüllt.

[Kai Marius Schabram, April 2025]

Analytische Beiträge zu Felix Mendelssohn Bartholdys „Ouvertüre für Harmoniemusik“ und „Trompeten-Ouvertüre“

Die folgenden Beschreibungen der beiden frühen Ouvertüren Mendelssohns verdanken sich Arbeiten zu einem Buchprojekt über den Komponisten, dessen Veröffentlichung am Ende nicht zustande kam. Die erneute Durchsicht der Analysen (Jahre nach der Fertigstellung) ließ beim Autor den Wunsch entstehen, die Beiträge gleichsam nachträglich zu publizieren. Norbert Florian Schuck, dem Redakteur von The New Listener, sei daher dafür gedankt, den vorliegenden Text aufgenommen zu haben.

Dr. Kai Marius Schabram, Münster

Ouvertüre für Harmoniemusik (Militair Ouverture) C-Dur op. 24 („Nocturno“), MWV P 1

Die Entstehungshintergründe der Ouvertüre reichen zurück bis in den Sommer 1824, in dem Mendelssohn zusammen mit seinem Vater für etwa einen Monat in dem Kurort Bad Doberan in der Nähe von Rostock weilte. Offenbar wirkte die hier aufgeführte Harmoniemusik der Mecklenburgischen Hofkapelle inspirierend auf den jungen Felix, der sich noch vor Ort an den Entwurf eines „Nocturno“ machte. Die Uraufführung des Stücks erfolgte wohl noch in Bad Doberan durch das Kurorchester. Die ursprüngliche Partitur des „Nocturno“ ist verschollen. Mendelssohn sollte die Ouvertüre zwei Jahre später erneut in Angriff nehmen und überarbeiten – das Autograph datiert vom 27. Juni 1826. Die letzte Fassung des Werks stammt aus dem Jahre 1838. Mendelssohn erweiterte den Orchesterapparat dabei wesentlich und ergänzte ihn um mehrere Holz- (Kontrafagott, zwei Bassetthörner, Klarinettenpaar, Piccoloflöte) und Blechbläser (drei Posaunen, Trompete, Hornpaar) sowie um ein Schlagwerk (kl. + gr. Trommel, Becken, Triangel). Nicht zuletzt diese klanglichen Änderungen veranlassten den Komponisten zu einer Neubetitelung – aus dem „Nocturno“ wurde eine „Ouvertüre“ mit der Opuszahl 24. Damit verließ das Werk „die musikalische Sphäre von der Kammermusik zur öffentlichen Militärmusik“ (Diergarten 2016, 148). In der brieflichen Korrespondenz Mendelssohns firmierte das Stück zumeist als „Militair Ouverture“. Der Erstdruck des Werks erfolgte 1839 bei Simrock in Bonn; eine Partitur erschien erst 1852, worin Felix Diergarten „einen Hinweis auf die Beliebtheit des Werkes“ (2016, 148) nach dem Ableben Mendelssohns erkennt.

Die Ouvertüre op. 24 (1838) ist formal in zwei Großabschnitte gegliedert: in eine langsame Introduktion (Andante con moto, T. 1–67) und einen belebten Sonatenhauptsatz (T. 68–226). Aus einer düsteren Anfangsszenerie der Hörner und Fagotte entspinnt sich ab T. 7 m. A. eine elftaktige Melodielinie der Klarinette (A), deren aufwärtsstrebender Vordersatz sich durch eine Reihung charakteristischer Terzpendel auszeichnet, wohingegen der Nachsatz mit chromatischen Intervallschritten und einer erweiterten Kadenzgeste aufwartet:

Es schließt sich eine kurze Überleitung an, deren Sekundmotivik für den Mittelteil der Einleitung relevant sein wird (T. 15ff.). Daraufhin wiederholt Mendelssohn den melodischen Einfall der Klarinette, überantwortet ihn aber – unter Einbezug der Flöten und Oboen – mehreren Orchesterstimmen. Im B-Teil der Introduktion (T. 26–40) wird zunächst über das Horn eine neue melodische Prägung exponiert, die einerseits auf die kurze Überleitung aus T. 15ff. rekurriert, andererseits die Pendelmotivik des Vordersatzes aus A übernimmt (T. 30ff.). Nachdem die Melodie nochmals eine stimmliche Auffüllung erfährt (T. 36ff.), kehrt der Verlauf wieder zur Ausgangsthematik der Einleitung zurück (A’, ab T. 41 m. A.).

Die verhältnismäßig lange Überleitung zum zweiten Hauptteil der Ouvertüre (T. 48–67) erinnert mit ihren fallenden Sekundlinien zunächst an die Bewegungen des B-Teils. Diese werden jedoch konfrontiert mit auffälligen Signalklängen der Trompeten (Oktavfall + punktierter Rhythmus), die bereits die Stimmungssphäre des Allegro-Teils antizipierte. Damit generiert Mendelssohn latente Beziehungen zwischen den großformalen Abschnitten bei gleichzeitiger Komplementarität ihrer klanglichen wie temporalen Charakteristik:

Das Allegro vivace setzt mit dem Tutti-Einsatz im forte und seiner rhythmischen Synchronizität einen belebt-kraftvollen Kontrast zur insgesamt getragen-verhaltenen Stimmungswelt der Introduktion. Im Gegensatz zum Einleitungsgeschehen wartet das markante Hauptthema des Allegro nicht nur mit charakterlicher Vitalität, sondern auch mit periodischer Gleichförmigkeit auf (4 + 4 T.):

Erst die Überleitung (T. 76–84) bietet einen direkten Rekurs auf die langsame Einleitung, indem sie die punktierten Oktavfälle der Trompete als Überraschungseffekte im ff bringt. Diese Reminiszenzen zeichnen auch den Seitensatzbeginn aus (ab T. 85). Die verspielte Sprungmotivik des zweiten Themas, die mehrmals wiederholt wird, führt schließlich in eine Fortspinnungspassage, die wiederum direkte Beziehungen zur Überleitung der Takte 79f. herstellt. Die Motivik des Hauptthemas wird rahmenbildend dann nochmals in der Schlussgruppe gebracht, bevor die Exposition wiederholt wird – eine Ausnahme innerhalb der Ouvertüren Mendelssohns.

Der Durchführungskomplex der Ouvertüre weist eine insgesamt vierteilige Anlage auf. Der erste Abschnitt (T. 113–124) schließt an die traditionelle Formdramaturgie klassisch-romantischer Sonatenhauptsätze an, da er das Expositionsgeschehen (vgl. Seitenthema ab T. 85) in der Mollvariante der Tonika, c-Moll, aufgreift. Im Unterschied zur Exposition präsentiert Mendelssohn den Themenkopf des Seitensatzes hier in imitatorischen Einsätzen, die jedoch keine wirkliche Entfaltungsmöglichkeit erhalten, sondern zwei Mal durch das punktierte Signalmotiv im Oktavfall aus der Introduktion unterbrochen werden. Erst unter Rückgriff auf den treibenden Rhythmus des Hauptthemas im überleitungsartigen zweiten Durchführungsabschnitt (T. 125–128) wandeln sich die Signalmotive zu Begleitgesten und verlieren dadurch ihre zuvor intermittierende Funktion. Diese Neukonstellation bildet die Voraussetzung dafür, dass der Kopf des Seitenthemas, der ab T. 129 erneut einsetzt und damit den dritten Abschnitt der Durchführung eröffnet (bis T. 137), nun die Möglichkeit erhält, seine melodischen Qualitäten zu entfalten. Die punktierten Signalmotive sind zwar auch hier wieder präsent, provozieren hingegen (wie im ersten Abschnitt) keine Abbrüche und Neueinsätze, sondern fügen sich in den imitatorischen Prozess ein:

Mit Erreichen des vierten und letzten Durchführungsteils (T. 138–149) wird ersichtlich, dass Mendelssohn abwechselnd auf Seiten- und Hauptsatzmaterial Bezug nimmt, denn abschließend greift der Satzverlauf – im entfernten Des-Dur – sowohl auf den militärischen Rhythmus als auch die Wellenmotivik des Hauptthemas zurück. Der Schluss der Durchführung spiegelt dramatische Züge wider: Im Zuge der Abspaltung des Militärrhythmus und seiner Kombination mit der Signalmotivik der Hörner (auf dem Dominantgrundton g) entsteht bei gleichzeitiger Forcierung der Dynamik ( ff) ein Steigerungskomplex, der sein Ziel mit dem Eintritt der Reprise ab T. 150 findet.

Die Reprise (bis T. 192) weist nur geringfügige Modifikationen im Vergleich zur Exposition auf. Eine fulminante Coda (T. 193–226) sorgt für eine finalwirksame Steigerung des Geschehens, ohne dabei (wie etwa in der Trompeten-Ouvertüre) nochmals Durchführungsfunktionen zu übernehmen. Vielmehr liegt die Aufgabe der Coda in der Bestätigung vertrauter Ereignisse – vor allem des militärischen Hauptthemenrhythmus.

Dass der für seine Selbstkritik bekannte Mendelssohn die Ouvertüre op. 24 zeitlebens nicht verwarf, sondern mehrmals der Überarbeitung für würdig empfand, zeugt von der kompositorischen Qualität sowie Popularität dieses frühen Gattungsbeitrags, dessen ausspielender Vergleich mit den späteren Konzertouvertüren wenig gerechtfertigt erscheint. Auch wenn der damalige Wiener ,Kritikerpapst‘ Eduard Hanslick bereits an diesem Rezeptionsstrang in Form eines differenziellen Abgleichs partizipierte, fasste er doch die Stellung der Ouvertüre in Mendelssohns Schaffen treffend zusammen: „Hervorragende Bedeutung, etwa neben den vier Concert-Ouverturen, kann man dieser Composition freilich nicht beilegen, aber sollte ein hier noch unbekanntes Orchesterwerk von Mendelssohn nicht schon aus diesem Titel allein den Versuch einer Aufführung verdienen? Hat auch Mendelssohn die C-dur-Ouverture nicht mit dem vollen Aufgebot seiner Phantasie, dem ganzen Reichthum seines Kunstvermögens geschaffen, so waltet doch unverkennbar seine Meisterhand in dem klaren, stattlichen Bau und dem feinen Schliff des Ganzen. Mendelssohn gab nichts aus der Hand, was nicht in seiner Art fertig und vollkommen dastand. Die Ouverture mit ihrem süßen, ruhigen Wohllaut im Andante und der fröhlichen Lebendigkeit im Allegro muß jeden Hörer frisch und liebenswürdig anmuthen. Diese bescheidene und doch wirksame Modulation, diese Klarheit und gesunde Fröhlichkeit erinnert manchmal an Mozart, der bekanntlich auch nicht immer ,bedeutend‘ schrieb.“ (Hanslick 1870, 419f.)

Ouvertüre C-Dur („Trompeten-Ouvertüre“) op. 101, MWV P 2

Im Gegensatz zu den vor 1826 entstandenen Ouvertüren Mendelssohns (1820: Die Soldatenliebschaft, 1821: Die beiden Pädagogen, 1823: Die beiden Neffen), die allesamt als Einleitungsstücke zu Bühnenwerken konzipiert waren, entstand die „Trompeten-Ouvertüre“ als eigenständiges Werk und ohne jeglichen Programmbezug. Die früheste Datierung der Komposition stammt vom 4. März 1826; sie wurde erstmals im halböffentlichen Rahmen der Berliner Gartensaalkonzerte aufgeführt, die in der Leipziger Straße 3 – dem Wohnhaus der Mendelssohns – sonntäglich stattfanden. Hier erhielt die Ouvertüre auch ihren Titel, wie Eduard Devrient in seinen Erinnerungen berichtet: „Wir nannten diese die Trompeten-Ouverture wegen der das Stück dominierenden Trompetenrufe. Er [Mendelssohn] führte sie noch einmal im großen Gartensaale des Hauses auf, wo nun die Sonntagsmusiken heimisch wurden […] und obschon sein Vater so große Vorliebe für das Stück hegte, daß er mir sagte: er möchte es in seiner Sterbestunde vernehmen – fand Felix es nicht zur Veröffentlichung reif“ (Devrient 1869, 26f.). Mendelssohns Skrupel spiegeln sich auch in der Reaktion des Lehrers Carl Friedrich Zelter wider, der offenbar mehreren Aufführungen des Werks beigewohnt hatte. In einem Brief vom 18. September 1826 äußert Zelter – bei aller Wertschätzung für das gleichsam szenische Arrangement der musikalischen Gedankenfülle – differenzierte Kritik an der formalen Dimension des Stücks: „Es würde zu lang seyn wenn es zu etwas Anderem gehörte; Sehe ichs als ein Opus für sich alleine an; so nehme ich mir die Zeit es anzuhören und bin befriedigt.“ (Zit. nach Mendelssohn 1997, 74).

Die erste öffentliche Aufführung der Ouvertüre fand am 18. April 1828 anlässlich der Eröffnung der Albrecht-Dürer-Gedächtnisfeier im Saal der Berliner Singakademie statt. Die Allgemeine Musikalische Zeitschrift widmete dem Ereignis eine Besprechung, in der erneut der Vorwurf einer zu großen Länge erhoben wurde. Zudem äußerte der Rezensent den Wunsch, der „geniale Jüngling“ Mendelssohn möge sich zukünftig stärker von historischen Vorbildern und dem „Einfluss strenger Schularbeiten“ emanzipieren, um nicht „im Zauberkreise fremder Ton-Gewalten“ festgehalten zu werden (AMZ 22, 364). Ein Blick auf das Autograph der Aufführungspartitur zeigt, dass Mendelssohn offensichtlich auf die Kritiken reagierte, indem er die Ouvertüre durch das Streichen ganzer Formteile erheblich kürzte.

Erst rund fünf Jahre später sollte Mendelssohn die Ouvertüre als Musikdirektor in Düsseldorf erneut aufführen – dieses Mal aus Anlass des 15. Niederrheinischen Musikfestes am 26. Mai 1833, wo das Werk (wiederum in überarbeiteter Fassung) als Einleitung zu Händels Oratorium Israel in Egypt fungierte. Nur gut sechs Wochen später feierte das Stück am 10. Juni 1833 unter der Leitung Henry R. Bishops Premiere in London. Auch für diesen Anlass sollte Mendelssohn nochmals Änderungen an der Partitur vornehmen. Die Erstveröffentlichung erfolgte im Jahre 1867 unter Angabe der posthumen Opuszahl 101.

Der Formverlauf der Ouvertüre folgt dem Modell des Sonatensatzes, weist jedoch insofern eine Besonderheit auf, als Mendelssohn sowohl dem Haupt- als auch dem Seitensatzkomplex der Exposition (T. 1–136) jeweils zwei Themen zuweist. Dieser Reichtum an thematischen Prägungen hat maßgebliche Konsequenzen für die formale Dramaturgie des Werks. Die Ouvertüre beginnt mit einer Einleitung (T. 1–28), die mit ihren fanfarenhaften Einsätzen der Bläser und den vorhangartigen Streicherfiguren Grandiosität und Pracht verströmt. Die Bläsersignale, die jeweils drei Mal hintereinander erscheinen, bilden eine konstante Klangfläche, über der sich die Streicher zunehmend individualisieren und – in Synchronisation mit den Holzbläsern (ab T. 22) – melodische Konturen annehmen:

Dieser Prozess findet sein Ende mit einer abrupten Kadenz, die in das quirlig-sprunghafte Hauptsatzthema (a) der Exposition überleitet (T. 28–43). Ab T. 44 exponiert Mendelssohn ein zweites Themengebilde (b), welches sich durch eine imitatorisch-polyphone Ausgestaltung zwischen Bläsern und Streichern auszeichnet:

Das Kopfmotiv des Themas b, das eine Akzentsetzung auf unbetonter dritter Zählzeit aufweist, erhält im folgenden Verlauf eine Art Signalfunktion, die vor allem für die Durchführung von Relevanz sein wird. In T. 60 erfolgt dann – in der formalen Funktion einer Überleitung zum Seitensatz – der erste materielle Rekurs auf die Fanfarenmotivik der Einleitung, wodurch eine binnenzyklische Rahmung des bisherigen Satzverlaufs entsteht.

Es schließt sich ein (erster) Seitensatzgedanke (T. 71–87) in G-Dur (c) an, der aufgrund seiner unruhigen Charakteristik weniger als ergänzender Kontrast als vielmehr Fortsetzung der hektisch vorbeiziehenden Hauptsatzereignisse wirkt. Erst das zweite Seitenthema (d) ab T. 88 bringt erstmalig eine gesangliche Linie im Unisono der 1. und 2. Violinen, die den Formprozess nicht nur um eine melodische Couleur bereichert, sondern den kurzweiligen Szenenwechsel vorübergehend bremst:

Die Schlussgruppe (T. 110–136) wird wiederum mit Themenmaterial aus a (T. 110ff.) und b (T. 129ff.) bestritten. Aufgrund der Vielfalt und Dichte des thematischen Materials fungiert jeder Formteil der Exposition gleichsam als Bedeutungsträger späterer Entwicklungen. Leerstellen ohne motivisch-thematisch relevantes Materials kennt der Satzverlauf nicht. Eine Expositionswiederholung ist konsequenterweise nicht vorgesehen – vielmehr wird der Beginn der Durchführung umstandslos über eine Sequenz des Themenkopfs b erreicht (T. 137). Exposition und Durchführung sind zunächst substanzgemeinschaftlich miteinander verbunden, denn die amorphen Holzbläserklänge der Takte 137ff. und 141ff. etc., welche die Rastlosigkeit der gleichsam szenischen Wechsel phasenweise suspendieren, entpuppen sich als augmentierter Kopf des zweiten Hauptsatzgedankens b:

Die hierzu kontrastierenden Einsprengsel der Streicher (T. 139ff. + 143ff.) bilden wiederum Reminiszenzen des Seitensatzes c:

Das Expositionsmaterial aus Haupt- und Seitensatz wird somit im ersten der insgesamt vier Durchführungsabschnitte (bis T. 174) neu disponiert. Nach dieser Durchführungseröffnung modifiziert Mendelssohn den charakteristischen Seitensatzgedanken c in eine wellenartige Begleitmotivik der Streicher (ab T. 147). Über dieser Klangfläche lassen die Holzbläser in regelmäßigen Abständen den augmentierten Kopf von b erklingen. Die 28 Takte umfassende Passage verströmt reine Klanglichkeit und bildet mit ihrer motivisch-thematischen Statik einen ergänzenden Kontrast zur Hektik des Expositionsgeschehens. Einen Modus begründeter Schließung scheinen die Klangbewegungen nicht vorzusehen. Auch die zuvor stabile Harmonik wird nun zugunsten wechselnder Tonstufen (B, F, D, E, A) verlassen.

Erst mit dem zweiten Abschnitt des Mittelteils (T. 175–221) gewinnt der Satz wieder mehr thematisches Terrain, indem Mendelssohn hier den imitatorischen Hauptsatzgedanken b einführt, der nun mit seiner augmentierten Form gemeinsam auftritt. Dabei wird der wellengleiche Begleitapparat anfänglich beibehalten, verlagert sich jedoch ab T. 185 in die Oboen und Klarinetten. Ab T. 198 nimmt die Dichte der imitatorischen Einsätze von b in den Streichern deutlich zu. Die polyphone Arbeit des Satzes wird zudem mit ersten verkürzten Fanfaren-Anklängen angereichert (T. 210ff.), bevor in T. 221 m. A. die einleitenden Signalrufe der Blechbläser ertönen und an frühere Ereignisse erinnern. Mendelssohn verzichtet in diesem dritten Durchführungsteil (bis T. 247) indes nicht auf die imitatorischen Qualitäten des b-Gedankens, die insgesamt für Impulsivität und Bewegung des Satzverlaufs sorgen, sondern kombiniert ihn mit den Fanfaren der Introduktion. Diese Neudisposition von Einleitungs- und Hauptsatzmaterial erscheint in mehrfacher Sequenz, bis die Streicher ab T. 236 von dem Wiederholungsmodell abrücken und sich zu einer bedrohlichen, chromatisch aufwärtsstrebenden Geste wandeln. Ziel dieser Entwicklung, mit der zugleich der vierte und letzte Durchführungsabschnitt erreicht ist (T. 248–285), bildet die Rückkehr zum Beginn des Mittelteils bzw. zum ersten Teil der Durchführung (Klangfläche + augmentierter b-Gedanke). Die Durchführung erfährt damit ebenfalls eine zyklische Rahmung. Die Rückkehr zur Reprise weist schlusswirksam eine letzte Neukombination vertrauten Materials auf: Nicht nur rekurriert Mendelssohn auf die wellenartige Szenerie des Durchführungsbeginns (T. 147ff.), sondern verknüpft den Abschnitt mit den Fanfarenrufen der Introduktion, die nun mit jedem Neuansatz an dynamischer Stärke gewinnen (marcato, pp  f). Die Bläser rufen gleichsam motivisch zur Ordnung und zeigen nun auch auf harmonischer Ebene den irreversiblen Rückgang zur Ausgangstonart C-Dur an.

Die Reprise (T. 286–314) verkürzt die thematische Ereignisdichte abermals, indem sie bereits ab T. 294 das Hauptthema a mit Einsprengseln des Themenkopfs b konfrontiert. Der weitere Verlauf entspricht weitgehend dem Expositionsgeschehen. Erst nach dem Erklingen der Seitensatz-Kantilene (d) und einem kürzeren Überleitungsabschnitt setzt die Ouvertüre ab T. 350 zu einer Art zweiten Durchführung an. Mendelssohn lässt an dieser Stelle erneut den letzten Durchführungsabschnitt erklingen, der mit einer Kombination von Introduktion (Fanfare) und Expositionsmaterial (augmentierter b-Kopf + Klangfläche von T. 147ff.) aufwartet:

Der Rekurs auf die klangmalerische Stimmungswelt des Mittelteils, die einen charakterlichen Kontrast zur hektischen Ereignisdichte des Expositionsgeschehens bildete, findet seine Ablösung durch den erneuten Eintritt des sanglichen Seitensatzthemas (d) in G-Dur. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, wie flexibel die einzelnen thematischen Prägungen in ihrer formalen Disposition eingesetzt werden. Der Eindruck einer kaleidoskopischen Reihung drängt sich auf, die weniger einer an der Sonatensatzform orientierten Dramaturgie als vielmehr der spontanen Logik eines komplementären Stimmungskontrasts folgt, der für Einheit in der Mannigfaltigkeit sorgt. Entsprechend hatte es Zelter in seiner brieflichen Mitteilung an Mendelssohn erfasst, in der er einen programmatischen Ablauf des Werks entwarf und dabei u. a. auch auf die Vielfalt der thematischen Ereignisse zu sprechen kam: „Um ihn [den Hauptgedanken a] her versammelt sich auf dem Rufe der Trompete die Menge, eilend, stürzend. Es ordnet sich, fügt sich; eine Masse, ein Ganzes ist da, in lebendigster Bewegung.“ (Zit. nach Mendelssohn 1997, 74)

In der Coda (T. 396–433) führt Mendelssohn den Hörer in Form eines letzten Steigerungseffekts zyklisch zurück zur Introduktion. Erneut ertönen in Verbindung mit den ff-Bläsersignalen die vorhangartigen Streicherkaskaden, die zunehmend verkürzt, dynamisch intensiviert und in die hohen Lagen (Spitzenton: a3, T. 411) geführt werden:

Die zuvor öffnenden Gesten der Streicher werden nun zu schließenden Wendungen modifiziert. Zwar entstand die Ouvertüre zunächst ohne jeglichen Programmbezug; dass das Werk aber auch als Einleitungsmusik intendiert war und später als solche fungieren sollte, wie etwa anlässlich der Düsseldorfer Aufführung von Händels Israel in Egypt (26. April 1833), veranschaulichen die Schlusstakte des Stückes, die Mendelssohn mit der devisenartigen Fanfarenmotivik der Blechbläser gestaltet. Zusammen mit dem Finalakkord der Violinen in Quart-Sext-Lage enden die Trompeten, Hörner und Posaunen auf der Terz e, wodurch der Schlussklang einen deutlichen Verweischarakter auf Kommendes erhält. Im Programmverständnis von Zelter trat hier finalwirksam nochmal der „Held“ auf – einem „bewegliche[n] Pfeiler“ gleichend, der die gesamte „Aktion […] triumphierend“ beschließt. (Zit. nach Mendelssohn 1997, 74)

Wiederum war es Hanslick, der bei aller Kritik an der motivisch-thematischen Fülle der Ouvertüre (bzw. dem „emsigen, ihr Wissen und Können erprobenden Arbeit“) doch eine frühe Meisterschaft Mendelssohns im Umgang mit der tradierten Form und orchestralen Gestaltung konstatiert: „Die ,Trompeten-Ouverture‘ […] ist ein interessanter Beitrag zur Entwicklungsgeschichte Mendelssohn’s und eine freundlich überraschende Gabe für Jeden, der mit bescheidenen Erwartungen herantritt. Neben der Klarheit und Logik des musikalischen Gedankens, welche Mendelssohn überall auszeichnen, weist die Ouverture eine Beherrschung der Form und der Orchestermittel auf, wie sie so früh nur wenige Meister errungen haben. Sie rauscht in einem ununterbrochenen Allegrozug schmuck und festlich dahin. Was sie zu sagen hat, ist freilich nicht von besonderer Neuheit oder Bedeutung, sie sagt es auch mit ziemlich vielen Worten.“ (Hanslick 1870, 421)

Literatur

– Allgemeine Musikalische Zeitung, Jg. 22 (1828).

– Devrient, Eduard: Meine Erinnerungen an Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Briefe an mich, Leipzig 1869.

– Das verborgene Band. Felix Mendelssohn Bartholdy und seine Schwester Fanny Hensel. Ausstellung der Musikabteilung der Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz zum 150. Todestag der beiden Geschwister. 15. Mai bis 12. Juli 1997, Wiesbaden 1997.

– Hanslick, Eduard: Aus dem Concertsaal. Kritiken und Schilderungen aus den letzten 20 Jahren des Wiener Musiklebens, Wien 1870.

[Kai Marius Schabram, Februar 2024]