Alle Beiträge von Hans von Koch

Ein Kompendium Neuer Musik

Darmstadt Aural Documents: Box 3, Ensembles (7 CD)
© 2016 NEOS Music GmbH,  1952-2010 Hessischer Rundfunk, Internationales Musikinstitut Darmstadt

NEOS 11230, EAN 4 260063 112300

Komponisten: Mark Barden (*1980), Richard Barrett (*1959), Günther Becker (1924-2007), Pierluigi Billone (*1960), Herbert Brün (1918-2000), John Cage (1912-1992), Julián Carillo (1875-1965), Jean-Claude Eloy (*1938), Robert Erickson (1917-1997), Julio Estrada (*1943), Franco Evangelisti (1926-1980), Johannes Fritsch (1941-2010), Marta Gentilucci (*1973), Erhard Grosskopf (*1934), Wieland Hoban (*1978), Robin Hoffmann (*1970), Maki Ishii (1936-2003), Charles Ives (1874-1954), Hanns Jelinek (1901-1969), Ben Johnston (*1926), Hans-Klaus Jungheinrich (*1938), Arghyris Kounadis (1924-2011), Thomas Lauck (*1943), Hans Ulrich Lehmann (1937-2013), Genoël von Lilienstern (*1979), Liza Lim (*1966), Walter Marchetti (1931-2015), Eduardo Moguillansky (*1977), Enno Poppe (*1969), Henri Pousseur (1929-2009), Stefan Prins (*1979), Horatiu Radulescu (1943-2008), Michael Reudenbach (*1956), Rolf Riehm (*1937), Frederic Rzewski (*1938), Tadeusz Wielecki (*1954), Iannis Xenakis (1992-2001)
Darbietende Künstler: Végh Quartett, LaSalle Quartett, Parrenin Quartett, Kronos Quartett, Arditti Quartett (Roger Heaton, Bassklarinette; Fernando Grillo, Kontrabass), Kairos Quartett, Internationales Kranichsteiner Kammerensemble (Bruno Maderna, Leitung; Pierre Boulez, Leitung; Akemi Karaki, Sopran), The Gregg Smith Singers (Gregg Smith, Leitung), Ensemble Incontri musicali (Bruno Maderna, Leitung), Contemporary Chamber Players, Schola Cantorum Stuttgart (Nicole Rzewski, Sprecherin; Frederic Rzewski, Klavier; Bernhard Kontarsky, Leitung), Ensemble Köln (Robert HP Platz, Leitung), Freiburger Schlagzeugensemble (Bernhard Wulff, Leitung), Orchester zum 13. Ton Nürnberg (Martine Joste, Klavier; Ulf Klausnitzer, Leitung), Teilnehmer der Darmstädter Sommerkurse 1998 (Julio Estrada und Isao Nakamura, Leitung), Teilnehmer der Darmstädter Sommerkurse 2006 (Wieland Hoban, Percussion; Lucas Vis, Leitung), Teilnehmer der Darmstädter Sommerkurse 2008 ( Christian Dierstein, Leitung), Ensemble Courage (Tadeusz Wielecki, Kontrabass; Titus Engel, Leitung), Ensemble Recherche (Christoph Grund, Klavier; Christian Dierstein, große Trommel), Fathom String Trio, Ensemble ascolta, Nadar Ensemble (Daan Janssens, Leitung), Klangforum Wien (Emilio Pomárico, Leitung)

Ich erinnere mich noch gut, als ich 1968 die schwere 6-LP-Box der Deutschen Grammophon Gesellschaft mit der schlichten Diagonal-Aufschrift avantgarde, vorne schwarz auf weiß, hinten weiß auf schwarz,  in Händen hielt. Der eigenartige (und unerklärliche) Löwenzahngeruch des Neuen und der Anblick der leuchtend monochromen LP-Hüllen verband sich mit der Erwartung von Abenteuern, von den 12 versammelten Komponisten kannte ich gerade mal Kagel, Ligeti und Stockhausen dem Namen nach. In den 3 nachfolgenden Jahren kamen dann Vol. 2,3 und 4 heraus. Ja, das waren goldene Zeiten, in denen ein Rainer Werner Fassbinder noch 14-teilige Filme fürs öffentlich rechtliche Fernsehen produzieren durfte … Wenn DGG heute seine Archive öffnet für die x-te Zusammenstellung historischer Aufnahmen mit Boxen zu 30, 50 oder 100 CDs, so setzt sie nur noch auf große Namen wie Karajan, Beethoven oder Mozart, scheut aber bei ihren Schätzen an neuerer Musik jedes Risiko. Einiges findet man noch verstreut in der Serie 20th Century Classics, und das war’s dann. Auf eine Remaster-Ausgabe dieser 4 avantgarde-Boxen, inzwischen Kult und im Internet für dreistellige Euro-Preise gehandelt, wartet man vergebens.

Da kommt Trost vom tapferen kleinen Münchner Label NEOS. In der Reihe „Darmstadt Aural Documents“ gibt es bereits Box 1, „Composers Conducting Their Own Works“, mit 6 CDs, Box 2 ist eine John Cage gewidmete Einzel-CD, und Box 4 mit 6 CDs ist ganz der neueren Klaviermusik vorbehalten. Die hier vorliegende Box 3 besteht aus 7 CDs und befasst sich ausschließlich mit Ensemble-Musik, in der zeitgenössischen Musik vielleicht ohnehin die interessanteste Sparte.

Wenn Ihnen der Name Darmstadt in musikalischem Zusammenhang nichts sagt, dann sind Sie auf jeden Fall ein Neuling im Fach „Zeitgenössische Musik“. Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt, 1946 von Wolfgang Steinecke, dem damaligen Kulturdezernenten der Stadt mithilfe der amerikanischen Militärregierung ins Leben gerufen, entwickelte sich schnell zu einem der wichtigsten Foren für junge Komponisten, Musiktheoretiker und Interpreten. Nach den Anfängen mit den berühmten „Seriellen“ wie Boulez, Stockhausen und Nono kamen dann Kagel, Lachenmann, Rihm und viele andere große Namen, die Darmstadt berühmt gemacht haben (oder die durch Darmstadt berühmt wurden wie z. B. Giacinto Scelsi). Und immer schon wurde fleißig polemisiert, sogar von Alex Ross in seinem Buch „The Rest is Noice“, in dem er sonst überaus unterhaltsam und erfolgreich auf die Musik des 20. Jahrhunderts neugierig macht. Alle waren sie dort, auch Cage und Feldman (sehr empfehlenswert seine „Darmstadt Lectures“). Und eines hat Darmstadt mit Rom und der Katholischen Kirche gemeinsam: Nirgends wird so viel gelästert bei gleichzeitig höchster Konzentration von Autorität, oft totgesagt und doch quicklebendig.

Und nun liegt also sowohl für Kenner, als auch für Einsteiger hier ein Kompendium an spannender Musik vor, ein wahres Schatzkästlein, noch dazu sehr hübsch und geschmackvoll wie alle Boxen der NEOS-Reihe als ansprechendes Digipack.

„Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen; und jeder geht zufrieden aus dem Haus“. Da soll sich Goethes Schauspieldirektor (Faust I) mal nicht so sicher sein! Man staunt zwar, wie viel Schönes die zeitgenössische Musik bereithält (z.B. Johannes Fritsch oder Horatiu Radulescu), aber natürlich gibt es auch ausgesprochen Sperriges und Hässliches, und wer nicht zugeben will, dass manches dieser Stücke „experimenteller Musik“ nur nervt, der möchte sich vielleicht geschmacklich nur vom gemeinen Volk („des ist koa Mussig“) absetzen. Aber eines bestätigt sich überhaupt nicht (und hat auch nie gestimmt): dass diese Musik akademisch konstruiert und trocken daherkommt. Man sieht auch, dass die als „seriell“ bezeichneten Künstler sich meist selbst nicht an ihre Komponier-Regeln gehalten haben. Und: Es wird nie langweilig. Herrlich zum Beispiel Ben Johnstons „Knocking Piece“ aus der Darmstädter Stadthalle mit den Pfiffen und Rufen („Buhh! Aufhören …“) am Ende!

Es werden in 8 Stunden 37 Werke geboten, die meisten von etwa 20 Minuten Dauer, die älteste Aufführung von 1952, die jüngste von 2010, und viele dieser Mitschnitte des Hessischen Rundfunks sind jetzt schon von historischen Rang (z.B. der oben erwähnte Ben Johnston, oder auch Evangelisti, Xenakis, Cage, Jungheinrich …). Es gibt ja oft relativ wertlose Zusammenstellungen von Minihäppchen, welche die Neugier der Anfänger wecken sollen, sie dabei aber nur nervös machen. Davon kann hier keine Rede sein: Es werden nur ganze Werke präsentiert, und es haben fast alle das Prädikat „World première“, manchmal auch „European première“ oder zumindest „German première“. Nur zwei der hier vertretenen Komponisten (Ives und Carillo) sind nicht im 20. Jahrhundert geboren, und auch der Nachwuchs (z. B. Mark Barden, Jahrgang 1980) ist gut repräsentiert.

Als Schwerpunkt finden wir die klassische Formation Streichquartett. So beginnt CD 1 mit Hanns Jelineks Streichquartett Nr. 2, dargestellt 1962 vom legendären Végh Quartet, eine wahre Trouvaille. Auch das LaSalle Quartet fehlt nicht. Dann kommt das Kronos Quartet, ein immer abwechslungsreicher, für Überraschungen guter, fast schon „populärer“ Türöffner für zeitgenössische Musik seit den 80er Jahren, hier mit der Weltpremiere der Thirty Pieces for String Quartet von John Cage. Das Werk wurde damals eigens für das Kronos Quartet komponiert, und die Aufnahme ist eine absolute Rarität, gab es doch bisher nur eine Einspielung vom Arditti Quartet, die dazu noch vergriffen ist. Übrigens gibt es ein sehr interessantes Videoclip, http://exhibitions.nypl.org/johncage/node/263, auf dem David Harrington, der Primarius von Kronos, der Geigerin Emily Ondracek-Peterson die von ihm empfohlenen Spielweisen für diese Stücke erläutert. CD 2 wird ganz vom  Arditti Quartet (mit dem vorzüglichen Cellisten Rohan de Saram) bestritten. CD 3 ist exklusiv dem Internationalen Kranichsteiner Kammerensemble gewidmet, dies allein ist schon die Anschaffung dieser Box wert. Auch viel Schlagzeug ist geboten, so z.B. Liza Lims „City of Falling Angels“ für 12 Perkussionisten.

Zahlreiche weitere höchst originelle Produktionen warten darauf, entdeckt zu werden. Das, was damals vor fast 50 Jahren für mich die schöne DGG-Cassette war, das könnte heute gut diese NEOS-Box für manchen werden: ein idealer Einstieg in die Moderne Musik.

[Hans von Koch, Februar 2017]

Mehr Martynow, mehr Blüthner … !

Ludwig van Beethoven/Franz Liszt: Sinfonie Nr. 9 Klaviertranskription
Yury Martynow (historischer Blüther-Flügel ca. 1867)
Beatriz Oleaga, Alt
CD 70‘52 Min., 9/2015
©& ALPHA Classics/Outhere Music 2015
ALPHA  227
EAN  3  760014  192272

Kürzlich habe ich auf einem Flohmarkt die (in mehrfacher Hinsicht) etwas angestaubte, in Thomas Manns Geleitwort zur deutschen Übersetzung enthusiastisch als Künstler-Roman begrüßte Biographie  „Joseph Haydn, His Art, Times, and Glory“ des (damals dann schon amerikanischen) Journalisten Heinrich Eduard Jacob aus dem Jahr 1950 für 20 Cent erstanden. Manchmal ist die Art, wie damals über Musik geschrieben wurde, heute allenfalls noch als Skurrilität betrachtet zu ertragen. Doch werden wir nicht überheblich! Was halten Sie von der folgenden Passage aus diesem Buch?

„War man mit einem Klavier allein und hatte keine Erinnerung mehr an die Möglichkeiten anderer Instrumente: welche Klangwunder standen da auf! Eine homophone Figur auf dem Klavier wirkte unerreicht in ihrer Einmaligkeit und Betontheit, ihrer überredenden Gewalt. Und die Harmonik: wo gab es noch solche harmonischen Wirkungen bei einem anderen Instrument? Einer Terz auf dem Klavier, einer Quarte kam keine sonst gleich. Nach einer Viertelstunde Klavierspiel hat sich die Alleinherrschaft des Klaviers so völlig etabliert, dass sein Klang absolut geworden ist und jeder andere daneben abfällt. Die Flöte wirkt hart, nasal und kalt, die Geige quäkt und scheint sentimental. Aber wer würde überhaupt noch Stimmen hören wollen? Das Klavier schafft ja die vollkommene Illusion des Orchesters. Dieses Instrument, das zu keinem andern eine Verwandtschaftsbeziehung hat, ist unbegreiflicherweise fähig, alle anderen zu ersetzen. Jawohl, man macht ‚Klavierauszüge‘, und die meisten sind gelungen. Zeichnungen nach Gemälden sind schlecht. Ein Klavierauszug ist nichts anderes als eine Zeichnung nach einem Orchestergemälde – und trotzdem ist er meistens gut, er drängt zusammen, er macht klar. Er fängt die Gedanken der Meister ein, die sonst wie Wolken, nicht immer fassbar, durch den Orchesterhimmel schwimmen, und bannt sie fest, macht sie unvergesslich.“

Ein Klavierauszug meistens gut? Vollkommene Illusion des Orchesters? Zu Liszts Zeiten waren ja Klavierbearbeitungen das, was jetzt der Plattenschrank ist – die Grundlage für Konzert im Wohnzimmer. Wozu dann heute solch ein altmodisches Surrogat? Ein originelles Geschenk für Leute, „die schon Alles haben“? Ein Ersatz für eine Aufführung von Beethovens Neunter ist Yury Martynovs CD wahrlich nicht – kann sie nicht und will sie nicht sein. Sie ist etwas ganz Anderes. Dazu unbedingt lesenswert ist, was Arrangeur Franz Liszt selbst dazu sagt, zu finden als weitläufiges Zitat im sehr schönen und informativen Booklet der vorliegenden Produktion. Und was erst Martynov daraus macht! Da möchte man denen glauben, die mit unwiderlegbaren Gründen sagen, dass Beethovens ureigenes Instrument das Klavier war, so genuin klaviermäßig klingt das Alles unter Martynovs Händen: ein Molto Vivace in kraftvollem Galopp mit einem rhythmischen Drive, der der Satzbezeichnung alle Ehre macht, ein hinreißend melancholisches Adagio molto cantabile, das sich anfühlt, als wäre es nie einem anderen Instrument zugedacht gewesen …

Aber was machen Liszt und Martynov aus dem berühmten, für eine Klavierbearbeitung mehr als problematischen Finale dieser Chor-Sinfonie, die damals nach Liszts eigenen Worten die meisten Musiker als „ein gar erschreckliches Schrecknis“ betrachteten? Dieser Klaviersatz, in dieser Einspielung, ist etwas völlig Neues geworden, etwas völlig Anderes als Beethovens Original, und, um es gleich – und ganz persönlich – zu gestehen: Ich höre den Satz in dieser Form sogar lieber als im Original. Jemandem, der mit einer – sit venia verbo – manchmal etwas schwülstigen Ästhetik des angehenden 19. Jahrhunderts (und ich gebe es zu: auch mit Faust Teil 2 habe ich meine Probleme) wenig anzufangen weiß, ist in der Tat dieses Instrumentalwerk „ersatzweise“ leichter zugänglich. Das hört sich dann eher an wie eine „Improvisation zur Europa-Hymne“.  Mal zögerlich suchend und verträumt, dann wieder schroff entschlossen werden wir hier – ganz „klavieristisch“ – von Martyrov durch eine wild zerklüftete Landschaft voll unerwarteter Schönheiten geführt. An manchen Stellen könnte man fast meinen, sich in einer Sturm-und-Drang-Fantasie Carl Philipp Emmanuel Bachs verirrt zu haben.

Somit hat nun auch Yury Martynov – nach Scherbakow, Biret, Katsaris und Leslie Howard – seinen Zyklus der Liszt-Bearbeitungen von Beethovens neun Sinfonien abgeschlossen. Ich besitze bereits die Aufnahmen von Scherbakow und Howard, möchte ihre Interpretationen aber hier nicht demonstrativ mit der Vorliegenden vergleichen. Ich liebe und schätze sie alle Drei. Den goldenen Apfel bekommt jedoch Martynov, vor allem auch wegen des wunderbar weichen und doch so farbig-obertonreichen Klangs des historischen Blüthner-Flügels, gespielt  in der für ihre Akustik weltberühmten Doopsgezinde Kerk von Haarlem (NL). Für mich sind (die leider so seltenen) Aufführungen auf Blüthner-Flügeln immer etwas ganz Besonderes, und ich kann uns allen nur wünschen: Mehr Martynow, mehr Blüthner … !

[Hans von Koch, März 2016]

– reupload aufgrund technischer Fehler-

Wem Gott will rechte Gunst erweisen

Friedrich Theodor Fröhlich: The Complete String Quartets
Rasumowsky Quartett
Dora Bratchkova, Violine
Ewgenia Grandjean, Violine
Gerhard Müller, Viola
Alina Kudelevic, Violoncello
cpo 555017-2
EAN  761203501724

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Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt,
Dem will er seine Wunder weisen
In Berg und Wald und Strom und Feld.

Wer kennt nicht dieses strahlend optimistische Marsch-Wanderlied aus dem Anfang von Joseph Freiherr von Eichendorffs erzromantischer Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts? Aber kaum jemand kennt den Aargauer Komponisten Friedrich Theodor Fröhlich (1803-1836). Von ihm stammt (kaum älter als der Text) die Melodie dazu. Erst recht unbekannt sind seine vier Streichquartette, die nun erstmals komplett auf vorliegender Doppel-CD vom Rasumowski Quartett eingespielt wurden.

Weil es großartige Musik ist, obendrein großartig eingespielt, wird man traurig über den allgemeinen Stumpfsinn gegenüber Fröhlichs Werk, damals wie heute. Weil diese Ignoranz exemplarisch steht für die Rezeption von „Nicht-Titanen“, möchte ich mich dazu etwas breiter auslassen: In Wikipedia lesen wir: „Fröhlichs Musik ist durch erfrischende und natürliche Melodizität und Sinn für das Einfache und gleichzeitig Effektvolle gekennzeichnet. Seine Musik ist reich an gefühlhaftem Ausdruck und an unerwarteten Wendungen im Bereich des Harmonischen. Doch auch das starr Formelhafte und Schematische sowie die vielfachen Satzfehler in seinen Werken sind nicht zu übersehen. An diesen Mängeln wird erkennbar, dass Fröhlich wohl nicht nur an der provinziellen Enge seiner Umwelt, sondern auch an der wachsenden Einsicht in seine eigene künstlerische und kompositorisch-technische Unzulänglichkeit verzweifelte“. Ich musste erstaunt feststellen, dass viele gerade aus diesem sehr fragwürdigen Beitrag wörtlich abgeschrieben haben. Solche Worte gäben Fröhlich auch heute noch Grund genug, sich gleich noch einmal in die Aare zu stürzen. Ich konnte nicht herausbekommen, wie dieser Wikipedianer zu seiner „Meinung“ gelangt war. Wie dem Mitteilungsblatt des Naturschutzvereins Kloten (Schweiz) zu entnehmen ist, starb er (seinen Namen behalte ich für mich) 2010 (zwei Jahre nach seinem Beitrag über Fröhlich) im Alter von fast 83 Jahren, hoch geehrt für „sein Engagement für den Verein und für die Musik“. Über Musik zu schreiben war, neben seiner Vorstandstätigkeit im Verein, offenbar sein Hobby.

Wesentlich besser kommt Fröhlich bei Edgar Refardt, dem hochverdienten Hans Huber-Biographen, im alten MGG (Bd. 4, 1955) weg, der ihm eine „geradezu hochromantische Harmonik […] , eine Zartheit, Innigkeit und Intensität des Empfindens […], Stärke seiner Erfindung, Differenzierung der Gefühlsstimmung […]“ und „[…] eine außergewöhnliche Begabung für Erfindung charakteristischer Instrumentalfiguren […]“ attestierte, aber derlei eigenständige Beobachtung ist leider die Ausnahme.

Wenn Sie noch mehr Fundiertes zu Friedrich Theodor Fröhlich erfahren wollen, so empfehle ich Ihnen die Lektüre des sehr guten Booklet-Texts zur vorliegenden Einspielung, verfasst von Anneliese Alder. Dort kann man lesen: „Das mangelnde Interesse an einer Gesamtedition mag in den wenigen Untersuchungen begründet liegen, die den Streichquartetten handwerkliche Mängel wie Quintparallelen attestieren und Plagiate nachweisen.“  Zum Thema  Quintparallelen fällt mir ein: Am 25. Mai1826 schrieb der einflussreiche Zeitgenosse Carl Friedrich Zelter (generöses Lob für Fröhlich: „Schweizer, das hast du brav gemacht“) an seinen Freund Goethe über seinen Schüler Felix Mendelssohn Bartholdy (es geht um das fünfte Brandenburgische Konzert): „In der Partitur eines prachtvollen Konzerts von Sebastian Bach gewahrte mein Felix, als er zehn Jahre alt war [1819], mit seinen Luchsaugen sechs reine Quinten nacheinander, die ich vielleicht niemals gefunden hätte …“  Über Zelter bemerkte Fröhlich einmal bitter: „Ihm allein habe ich es zu verdanken, dass meine größeren Kompositionen noch nicht bekannt sind.“ Zum vorgeblichen Plagiats-Problem (W. Labhart: „Fröhlicher Themenklau“), das ja auf Gustav Mahler immer wieder angewendet werden könnte, fällt mir ein anderes prominentes Beispiel ein: Der Choral des vierten Satzes von Brahms‘ erster Symphonie erinnert oberflächlich, und wirklich nur oberflächlich, an Beethovens Finale aus seiner „Neunten“. Auf diese „Merkwürdigkeit“ angesprochen soll Brahms geantwortet haben: „[…] und noch merkwürdiger ist, dass das jeder Esel gleich hört!“ In Fröhlichs Streichquartetten findet man in der Tat mehrere Zitate, und wir freuen uns, wenn wir (als zuhörende Esel) etwas wiedererkennen. Da beginnt das g-Moll-Quartett  mit einem „verhalten melancholischen Thema“ (Alder) und auf einmal moduliert es nach Dur und mündet in „ … Blühe Deutsches Vaterland“ (genauer: Joseph Haydn, op. 76, Nr. 3, also das Kaiserquartett – den Text, den heute unsere Fußball-Nationalmannschaft singt, gab es damals noch nicht). Ich habe in diesem g-Moll-Quartett noch etwas Wunderschönes entdeckt: Carl Maria von Webers Freischütz war damals erst ein paar Jahre alt, aber Fröhlich hat die Oper sicher gekannt. In Agathes Arie „Leise, leise …“ ist die Stelle „Lied, erschalle! Feiernd walle …“ genau der Anfang und die Keimzelle von Fröhlichs Largo cantabile (hier allerdings dann mit einer ganz anderen Fortsetzung).

Es ist nicht einfach, Fröhlichs Kompositionsstil zu beschreiben; manchmal klingt er eher wie Schubert (z.B. im 1. Satz des f-moll-Quartetts), manchmal etwas nach Schumann, oft auch wie Weber (z. B. im 4. Satz des f-moll-Quartetts). Jemand, der frühromantische Musik liebt, aber nicht auf Namen fixiert ist, wird große Freude an diesen Streichquartetten haben, und obendrein: Er kann sie Freunden vorspielen und sie raten lassen – das wird sicher spannend! Kaum zu glauben, dass solch gute Musik bisher kaum beachtet und derart verschmäht wurde.

Noch ein paar Worte zum Rasumowsky Quartett: Ich muss (zu meiner Schande) gestehen: Zunächst dachte ich, hier habe das für seine „Nischen-Produktionen“ bekannte Label cpo  auch gleich noch einem unbekannten Ensemble eine Chance geben wollen. Weit gefehlt!: Das Quartett, zu dessen Kernrepertoire die Wiener Klassik gehört, und das auch schon zeitgenössische Werke (z. B. von dem mir unbekannten Leo Dick) uraufgeführt hat, ist schon für seine Gesamtaufnahme der 15 Streichquartette Schostakowitschs weithin mit Lob überhäuft worden. Was mir an der vorliegenden Einspielung so gut gefällt, ist das Unprätentiöse der Darstellung: Vielleicht auch, weil es nicht die dreihundertste Aufnahme der Streichquartette eines Beethoven oder Schubert ist, hatten die vier Musiker es gar nicht nötig, ihre Programmwahl durch eine sensationell neue Art der Interpretation zu rechtfertigen. Worte wie „exzentrisch“ „aufwühlend“ oder „atemberaubend“ sind hier fehl am Platz. Exzellent aufeinander eingespielt, bekennen sie sich zwar zur sogenannten historisch informierten Aufführungspraxis, haben aber kein Interesse daran, alles unbedingt „gegen den Strich“ zu bürsten. Vielmehr dienen sie „selbstvergessen“ der Darstellung dieser Musik mit vitaler Musikalität und Spielfreude. Und ihre Schostakowitsch-Quartette werde ich mir jetzt auch noch anhören!

[Hans von Koch, Mai 2016]

Swinging Victoria

Tomás Luis de Victoria: alio modo
Musica Ficta
Raúl Mallavibarrena, Leitung und Schlagwerk
Sara Águeda, Harfe
Lore Agustí, Sopran
Gabriel Días, Contratenor
Beatriz Oleaga, Alt
Javier M. Carmena, Tenor
Íñigo Casali, Tenor
Simón Millán, Bass
CD 45 Min.,8/2015
©& Enchiriadis 2015
EN 2044
EAN  8  437012  545441

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Für uns Klosterschüler war es immer eine höchst eindrucksvolle, ja beinahe surreale Wahrnehmung, wenn wir am Bergwandertag unseren Präfekten, anstatt im gewohnten Mönchshabbit, auf einmal in Jeans und Pullover vor uns herlaufen sahen. Wie sehr doch die Kleidung die gesamte Ausstrahlung eines Menschen verändern kann! Ähnlich erging es mir mit der CD des Ensembles Musica ficta, wo der Leiter Raúl Mallavibarrena sich vorgenommen hat, „Victoria from a different perspective“ (deshalb der Titel „alio modo“) darzustellen.

Der überragende spanische Komponist und Jesuitenmönch Tomás Luis de Victoria (1548-1611) hielt sich die meiste Zeit seines aktiven Lebens in Rom als Nachfolger Palestrinas auf. Zurückgekehrt nach Spanien leitete er die Kapelle des kaiserlichen Klosters De las Descalzas de Santa Clara (der barfüßigen Nonnen) und war nebenbei der persönliche Kaplan der verwitweten Kaiserin Maria. Bis jetzt konnte ich mir Victorias Musik, der ausschließlich sakrale Werke komponiert hat, nur in der hallig-feierlichen Akustik eines Kirchenschiffes und „im Weihrauchnimbus“ vorstellen. Hier nun hören wir Victoria „da camera“, sozusagen unplugged, was natürlich nicht stimmt, weil jeder Sänger (ganz im Trend in einfacher Besetzung) sogar ein eigenes Mikrofon hat. Im Booklet-Text, Autor ist der Leiter des Ensembles selbst, erfahren wir, welch großen Eindruck Andrew Parrots Aufnahmen mit dem Taverner Consort auf den Neunzehnjährigen damals gemacht hatten: „The way of interpreting religious polyphony, closer in style to the madrigal, was new to me. It thrilled me. And then I thought:  […] Could vocal lines be rescued from choral anonymity, be given back their individuality, be stripped, albeit partially, oft that all-unifying blanket of cathedral reverberation? […] “ Das, was sich Raúl Mallavibarrena für die Produktion dieser Victoria-CD vorgenommen hat („I call them ‚motets with swing‘“), hat er auch verwirklicht. Der Gesang seiner Ensemble-Mitglieder klingt in der Tat eher profan, also durchaus voller Wärme und Emotionalität. Und dabei ist nicht beabsichtigt (und auch nicht nötig), es an Sauberkeit der Intonation mit den Reinheitsfetischisten aufzunehmen, derer es heute genug gibt (vielleicht mehr als zu Victorias Zeiten…). Aber es bleibt zumindest Geschmackssache, ob man Victoria in dieser Weise aufführen soll. Wem dies gefällt, dem gefallen Madrigale beispielsweise von Luca Marenzio vielleicht noch besser.

Das Beiheft ist (bis auf Mallavibarrenas subjektive Anmerkungen) leider sehr dürftig ausgefallen. Jemand, der heute noch (trotz der zahlreich im Netz angebotenen Streaming-Dienste) auf das haptische Vergnügen einer CD nicht verzichten will, der möchte vielleicht auch beim Hören in einem gemütlichen Sessel ein schönes Begleitheftchen dazu lesen (Spitzenreiter sind hier z. B. die cpo-Booklets), obwohl er auch im Netz genug Informationen finden könnte. So habe auch ich mir helfen können: Das spanische Ensemble Musica Ficta wurde 1992 von Raúl Mallavibarrena gegründet und ist nicht zu verwechseln mit einem gleichnamigen, 1988 gegründeten kolumbianischen Trio, das sich ebenfalls mit Alter Musik aus Spanien befasst. Über die Harfe, die Sara Águeda spielt, habe ich erfahren: Es ist eine Arpa de dos órdenes, eine Harfe des spanischen Barock, die mit gekreuzten Saiten bespannt ist. Übrigens sind für mich ihre drei eingestreuten Soli wahre Highlights dieser Produktion. Wer mehr von Sara Águeda hören will, dem empfehle ich die vorzügliche Einspielung Un viaje a Nápoles beim gleichen Label. Auch über Tomás Luis de Victoria erfährt man im Booklet so gut wie nichts, aber Mallavibarrena hat wohl eher an einen Hörer gedacht, der den Komponisten schon gut kennt, ihn aber jetzt einmal anders – „alio modo“ eben – hören möchte. Oder er hatte eine sehr junge Zielgruppe im Auge. Das wäre dann auch eine mögliche Erklärung für die Wahl des Bonustracks Gaudete Christus est natus. Dieses bekannte mittelalterliche (oder ist es wirklich siglo XVI, wie Mallavibarrena angibt?) Weihnachts-Carol, wiederum mit viel Swing dargeboten und mit einem fading out am Ende, sollte die CD vielleicht noch zusätzlich ein wenig aufpeppen. Wer auch etwas sehen will, der kann sich Benedicta sit Sancta Trinitas (mit Kommentar von Mallavibarrena) und das Weihnachts-Carol zudem auf YouTube ansehen. Es ist jedenfalls nicht zu leugnen, dass Musica Ficta hier eine sehr kurzweilige und schwungvolle Interpretation, einen Swinging Victoria kreiert haben. Als Einstieg zum Kennenlernen dieses (vielleicht neben Palestrina, Lasso und Byrd) letzten großen Renaissance-Komponisten ist sie eher nicht geeignet. Das ist aber wohl auch nicht beabsichtigt.

[Hans von Koch, Mai 2016]

Fantasien

Georg Philipp Telemann: 12 Fantaisies pour la Basse de Violle
Welt-Ersteinspielung
Thomas Fritzsch, Viola da gamba
CD 84‘46 Min.,10/2015
©& Coviello Classics 2015, COV 91601
EAN  4  039956  916017

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Als sich 1993 die Nachricht verbreitete, dass nach nunmehr 350 Jahren endlich ein Beweis der Fermat’schen Vermutung gelungen sein sollte, da rieben sich selbst eingefleischte Mathematiker ungläubig die Augen. Ähnlich ging es mir vor kurzem mit der Nachricht, dass jetzt, nach 280 Jahren, ein Druck von Telemanns verloren geglaubten 12 Fantasien für Bassgambe aufgetaucht sei. Die Metapher vom verschollenen Bernstein-Zimmer der solistischen Gambenmusik (zu finden im Booklet zu vorliegender Einspielung) trifft die Situation vor Thomas Fritzschs Sensationsfund (und Ersteinspielung) sehr gut. Ich habe die CD als Rezensionsstück bekommen, aber um ehrlich zu sein: Ich als Telemann-Aficionado wäre bereit gewesen, jeden Preis dafür zu bezahlen, und auch dann, wenn es eine drittklassige Einspielung gewesen wäre, und nicht wie hier die wahrhaft erstklassige des Gamben-Experten Thomas Fritzsch.

Die bisher einzige verfügbare Telemann’sche Fantasie für Sologambe, die Fantasia à Viola di Gamba senza Cembalo aus seinem Getreuen Music-Meister hat also endlich ihre 12 Schwestern (im Märchen wären es 12 Brüder) wiedergefunden. Davor mussten wir uns mit Ersatz zufrieden geben: Wir haben von Telemann nämlich noch zwei Dutzend (klingt nach „Dutzendware“, ist es aber beileibe nicht) ähnliche Werke für ein Soloinstrument ohne Generalbass: Im Lauf der Zeit wurden die 12 Fantasien für Solo-Traversflöte (TWV 40:2-13) dann auch auf der Blockflöte, der Violine, der Oboe (es gibt sogar eine Übertragung für das Fagott) eingespielt, und von den 12 Fantasien für Solo-Violine (TWV 40:14-25) ist eine sehr überzeugende Interpretation für Viola (da braccio!) von Ori Kam und für Violoncello von Viviane Spanoghe erhältlich, ja, ich habe in meiner Sammlung sogar eine Bearbeitung für Gitarre (Carlo Marchione). Aber gerade beim Vergleich der 12 „Cello-Fantasien“ mit den hier endlich vorliegenden Fantasien für Bassgambe kann man auch gut sehen: So groß ist der stilistische Unterschied nicht. Hier wie dort finden wir ebenso viel „Corellisierendes“ wie „Vivaldisierendes“, dann aber auch hin und wieder eine Bourrée oder eine Gigue oder sonstiges Französisches, versteckt hinter durchweg italienischen Tempobezeichnungen. Ganz wie bei den anderen Fantasien heißt dann zum Beispiel ein Menuett hier einfach nur „Vivace“. Wieder finden wir eine (auch ähnliche) Siciliana, wieder steht ein Drittel der Fantasien in Moll-Tonarten. Und übereinstimmend mit den Violin-Fantasien, bei denen auf die ersten sechs eher kontrapunktisch gearbeiteten Stücke sechs „Galanterien“ folgen, so finden wir, vielleicht  wegen ihrer Veröffentlichung in Zweiergrüppchen, diesmal die „Dolces“ und „Scherzandos“ bei den geraden, die Sätze von imitatorischer Bauart meist bei den ungeraden Nummern. Wer sich von dieser Neuentdeckung aber Werke im altfranzösischen Gamben-Idiom der vorhergehenden Generation erwartet hat, z.B. à la Sainte Colombe (père oder fils) oder De Machy, der wird enttäuscht sein. Dass Telemann so etwas auch gekonnt hätte, ist nachzuhören beispielsweise in der Ouverture für Gambe, Streicher und Generalbass (TWV 55:D6), wenn beim Double der Sarabande auf einmal die Sologambe einen wunderbar nostalgischen Kontrast setzt im reinsten „Marin-Marais-Stil“. Auch ein „Stylus phantasticus“ im Sinne Athanasius Kirchers oder Johann Matthesons ist hier nicht zu finden. Telemanns Fantasien erinnern nur noch dem Wortstamm des Titels nach daran, sind aber im Übrigen im Stil völlig à la mode: Anno 1735, zeitlich genau zwischen dem Druck der Musique de Table und der Nouveaux Quatuors galten als typisch französisch ein gewisser Charme und Esprit der rhythmischen und melodischen Einfälle als solcher, auch wenn sie mitunter „im welschen Rock“ daherkamen. Ausschlaggebend war dabei der gute Geschmack, und die Sinne der Musiker ebenso wie die der Zuhörer dafür zu kalibrieren war keiner besser im Stande als Telemann, nicht zu Unrecht der beliebteste und erfolgreichste Komponist seiner Zeit. Diese 12 Fantasien warten also nicht mit großen Überraschungen auf, sondern sind eben aus demselben Holz geschnitzt wie ihre 24 Geschwister TWV 40:2-25, und „altfranzösisch“ ist dabei eigentlich nichts außer der Wahl des Instruments, was sich Telemann dank seiner Popularität durchaus leisten konnte. Also haben wir jetzt einfach ein weiteres Dutzend nach gleichem Strickmuster? Ja, so gesehen schon, doch ist diese Musik einfach von solch inspiriert makelloser Qualität, dass man eben nicht genug davon bekommen kann.

Und welch ein Glück, dass gerade Thomas Fritzsch sie entdeckt und dann auch gleich eingespielt hat. Kein anderer wäre besser dafür geeignet gewesen. Er präsentiert diese Kleinodien mit exzellentem stilistischen Geschmack, Hingabe, Wärme und Spielwitz. Auch die „Fugen“, die es ja „einstimmig“ eigentlich gar nicht geben dürfte (ähnlich wie bei Bach funktionieren solche Gebilde über weite Strecken durch Intervallsprünge nach einer Art „Reißverschluss-Prinzip“), klingen bei Fritzschs Telemann angenehm unkompliziert, ganz im Sinne von Matthesons Vollkommenem Capellmeister: “Man gibt dem Frantzösischen Geschmack im Punct der Leichtigkeit darum den Vorzug, daß er einen aufgeräumten lebhafften Geist erfordert, der ein Freund des wolanständigen Schertzes, und der Feind alles dessen ist, was nach Mühe und Arbeit riechet.“

Besonderes Lob verdient auch das schöne Booklet: Da finden wir solch herrlich irrelevante wie unterhaltsame Informationen über die (in ihrer Akustik übrigens vorzügliche) Klosterkirche Zscheiplitz hinsichtlich Geologie (Formung der Landschaft durch die letzte Eiszeit), Historie (Gründung als Sühneleistung für einen Mord) und Kunst (romanischer Keller, gotisches Portal, usw.), aber auch einen sehr schönen und ausführlichen Beitrag von Thomas Fritzsch zur dargebotenen Musik – lediglich getoppt vom Autor selbst durch das Geschenk, das er uns im Beiheft seiner Weltersteinspielung (beim gleichen Label) der 2nd Pembroke Collection von Carl Friedrich Abel gemacht hat, wo er uns mit unübertroffenem Sachverstand und größter Ausführlichkeit (40 Fußnoten!) über den Komponisten und Menschen Abel erzählt. Dort erfahren wir auch mehr über die beiden phantastischen Instrumente aus dem 18. Jahrhundert, die in der vorliegenden Einspielung auch wieder verwendet wurden. Gern hätte ich auch noch erfahren (vielleicht mittels weniger kleiner Sternchen), bei welchen Stücken die Lady Amber, und wann das Instrument von Johann Casper Göbler zu Wort gekommen ist. Aber dieses kleine Manko tut der Qualität dieser exquisiten Produktion keinen Abbruch.

[Hans von Koch, Mai 2016]

Wie das Betrachten eines Sternenhimmels

Wie das Betrachten eines Sternenhimmels

Morton Feldman: Patterns in a Chromatic Field
Christian Giger, Cello
Steffen Schleiermacher, Klavier
CD 76’21 Min.,1/2014
©& MDG, 2016
MDG 613 1931-2
EAN  7  60623  19312  0

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Bum Viiuuviiuviu Bum Viouvioviiu … BumzakBumzak Viviviovivi  Bumzak – BumzakBumzak—Vivihioviiuviu …

Ich stelle mir einen an Neuer Musik interessierten Laien vor, der schon einmal den Namen Morton Feldman gehört hat, und der nun etwas von seiner Musik auch „hören“ („besitzen“) will. Ich stelle mir vor, er hat die erste Barriere (dieses hässliche Cover! Wollte MDG hier Gebühren für die VG Bild-Kunst sparen?) überwunden, und jetzt dieser Anfang! Ich drücke ihm die Daumen, dass er durchhält, denn schon nach eineinhalb Minuten verändert sich das Bild, allmählich (abgesehen von ein paar gelegentlichen kleinen „Störungen“ wie oben– dazu komme ich noch) kehren Ruhe und das typisch Feldmansche Schweben in Schwerelosigkeit ein. Wenn er die CD nicht vorher schon mit spitzen Fingern beiseitegelegt hat, dann kann er jetzt nacherleben, was Feldmans prominenterer Freund John Cage über diesen gesagt hat (zu finden in der deutschen Ausgabe von Silence, Bibliothek Suhrkamp 1995):

„Um die Dinge auf den neuesten Stand zu bringen, lassen Sie mich sagen, dass ich mich, wie immer, in Veränderung befinde, während mir Feldmans Musik sich eher fortzusetzen als zu verändern scheint. Es gab für mich nie, und gibt ihn auch jetzt nicht, einen Zweifel an ihrer Schönheit. Sie ist manchmal sogar zu schön. Das Aroma dieser Schönheit, das mir früher heroisch schien, berührt mich jetzt als erotisch (ein gleichwertiges Aroma, keineswegs von geringerem Rang). Dieser Eindruck rührt, glaube ich, von Feldmans Tendenz zur Zartheit her, einer Zartheit, die nur kurz, und manchmal überhaupt nicht, von Heftigkeit unterbrochen wird.  […] Er besteht auf einer Aktion innerhalb der Skala von Liebe, und dies erzeugt (um nur die extremen Wirkungen zu erwähnen) Sinnlichkeit des Klanges oder eine Atmosphäre der Hingabe.“

Steffen Schleiermacher, vielleicht (neben Sabine Liebner oder Aki Takahashi) der kompetenteste bekannte und lebende Interpret für Klavierwerke der New York School, hat bei seinem jetzigen Hauslabel MDG bereits die mit vielen Preisen dotierte monumentale Complete Piano Music John Cages auf 18 CDs (dort sogar mit ansprechenden Covern) herausgebracht, danach (ab jetzt durchweg mit sehr hässlichen Covern) Morton Feldmans Late Piano Works (auf 3 CDs), und nun auch die zwei späten Schwesternwerke Feldmans (bei denen jeweils ein Streichinstrument solistisch eingesetzt wird): for John Cage (entstanden 1982) für Violine und Klavier (Andreas Seidel) und jetzt eben die Patterns in a Chromatic Field (entstanden 1981) für Cello und Klavier mit Christian Giger. Dass dabei beide Werke auch noch sekundengenau die gleiche Zeit (76’21 Minuten) beansprucht haben sollen, ist aber ein Druckfehler auf der Rückseite der „Patterns“-CD: Giger und Schleiermacher brauchen (innen im Booklet steht’s richtig) dafür 79’17 Minuten. Damit halten sie den Rekord, dicht gefolgt (mit 80’42 Minuten) von Aleck Karis (Klavier) und Charles Curtis (Cello). Alle anderen mussten das Stück auf 2 CDs aufteilen: Youtaka Oya (Klavier) und Arne Deforce (Cello) nehmen sich dafür 88’04 Minuten Zeit, Giancarlo und Marco  Simonacci (Cello) 89’18 und Marianne Schroeder (Klavier) mit Rohan de Saram (Cello) gar 105’18 Minuten. Der Faktor Zeit wird von Kritikern traditionell überbewertet, ist aber hier, denke ich, doch von einiger Relevanz: Viele Werke Feldmans, und im Besonderen die „Patterns“, sind über weite Strecken von einer hochkomplexen, extrem vertrackten rhythmischen Struktur, welche bei allzu hastiger Interpretation kaum mehr gut dargestellt, geschweige denn verstanden werden kann. Umso erstaunlicher ist es, mit welcher Präzision und Luzidität Schleiermacher und Giger uns dieses wunderbare Werk nahebringen. Dazu sollte man wissen, dass Patterns in a Chromatic Field im Spätwerk Feldmans eine Sonderstellung einnimmt. Ich möchte kurz ausholen:

Morton Feldman erzählte nach der Uraufführung seines letzten Orchesterwerkes Coptic Light : „Ich habe gerade ein Stück für die Philharmoniker in New York geschrieben, und ich bekam eine sehr interessante Kritik: Der Rezensent sagte, ich sei der langweiligste Komponist in der Geschichte der Musik. […] Das ist die Hauptkritik an meiner Musik: sie sei nicht interessant. In Wirklichkeit ist damit gemeint, dass sie kein Moment von ‚Drama‘ enthält.“ Auch heute noch ist Vielen Feldmans Musik zu statisch, zu ereignislos. Vielleicht sollten sie sich dann einmal die „Patterns“  (übrigens manchmal, auch von Feldman selbst, als „Untitled Composition for Cello and Piano“ bezeichnet) anhören: Denn zu recht  schreibt Walter Zimmermann (Morton Feldman  Essays, Kerpen 1985) darüber: „Dieses Stück stellt sich ebenso erstaunlich quer zu den anderen längeren Stücken, wie dem Streichquartett, wie es auch das Stück für John Cage in seinem Gestaltenreichtum tat. Es ist das vitalste Stück, das Feldman je geschrieben hat. Es bröckelt und flirrt in schwierigsten rhythmischen Passagen des Cellos und erfordert in seinen 90 Minuten schier Unmögliches von den Interpreten.“  Übrigens war es sicher auch kein Zufall, dass das Michael Douglas Kollektiv für seine äußerst energetische Tanz-Performance Golden Trash (Gewinner des Kölner Tanz- und Theaterpreises 2013) genau dieses Stück Feldmans ausgewählt hat. Ich persönlich liebe ja gerade den „langweiligen“, den „hypnotischen“ Feldman, den „Trance Composer“ am meisten. Aber auch der kommt bei Schleiermacher und Giger nicht zu kurz: Herrlich die langen Pianissimo-Haltetöne des Cellos, wie Bewegung langsam in Stasis mündet und alles auf einmal zu leuchten beginnt. An dieser Stelle muss ich aber auch zugeben, dass ich die (langsamste) Interpretation von Marianne Schroeder und Rohan de Saram ganz besonders liebe. Diese CD des Kult-Labels hat ART ist leider vergriffen und deshalb inzwischen entsprechend teuer, wenn man sich nicht mit einem MP3-Download zufriedengeben will.  Feldman, King of slow motion, King of silence, soll den Interpreten eines seiner Stücke einmal wütend zugerufen haben: „It’s too fuckin‘ loud, and it’s too fuckin‘ fast.“ Das kann man sicher Schroeder und de Saram am wenigsten vorwerfen. Hier trifft vielleicht am stärksten das zu, was Wilfrid Mellers in seinem Buch “Music in a New Found Land”  über Feldman schreibt: „Music seems to have vanished almost to the point of extinction; yet the little that is left is, like all Feldman’s work, of exquisite musicality …” Und trotzdem gelingen auch der etwas härteren, stringenteren und strengeren Darstellung von Schleiermacher und Giger eben auch diese schwebend träumerischen Augenblicke (Ewigkeiten) ganz wunderbar. Und noch ein weiterer Aspekt von Feldmans Musik kommt in der vorliegenden Einspielung besonders gut zur Wirkung:

In den „Patterns“ benutzt Feldman sehr ausgiebig das von ihm so bezeichnete „spelling“, eine auskomponierte Mikrotonalität, bezeichnet durch Doppelkreuze und Doppel-B’s, die man aus der enharmonischen Verwechslung kennt, wo ihrer Vermeidung wegen umnotiert wird; „die er aber nicht funktional einsetzt, sondern als leichte Schwankung am Rande des gemeinten Tons verstanden wissen will“ (Walter Zimmermann in „Essays“). Lassen wir dazu Feldman selbst zu Wort kommen, der ein leidenschaftlicher Sammler alter türkischer Nomadenteppiche war (zu finden wieder in Walter Zimmermanns „Essays“): „ […] Ich benutze das, weil ich denke, es ist eine sehr praktische Art, das Hauptaugenmerk auf der Tonhöhe zu belassen. […] Aber diese Vorstellung habe ich nicht aus der Musik, überhaupt nicht. Ich habe sie von Teppichen. […] Eine der interessantesten Sachen bei einem schönen alten Teppich, der mit Naturfarben gefärbt ist, ist, dass er „abrash“ hat. […] Insofern ist die Farbe dieselbe und ist doch nicht gleich. Der Teppich hat eine Art mikrotonale Färbung. Wenn Sie ihn dann anschauen, dann hat er diesen herrlichen Schimmer, der von den sanften Abstufungen kommt.“  Und hier gebührt dem Cellisten Christian Giger ein ganz großes Lob, denn ihm gelingt der Zauber dieser feinen Subtilitäten ganz besonders gut.

Abseits aller Theorie möchte ich aber nicht vergessen, Ihnen das Hören dieser schönen CD ans Herz zu legen. Und, ein großer Vorteil, vielleicht der einzige, aber auch gravierende, eines „Heimkonzerts“: Sie können das Stück immer wieder hören, und Sie werden es mit jedem Mal besser verstehen und lieben lernen. Christian Wolff, Feldmans inzwischen einundachtzigjähriger Weggefährte aus den New-York-School-Zeiten, hat es im Booklet-Text zu Feldmans Streichquartett Nummer 2 sehr treffend zum Ausdruck gebracht: “Es geht natürlich darum, zuzuhören. Endgültige Informationen können hier nicht vermittelt werden. Diese Bemerkungen bieten einige Informationen, doch genau genommen sind sie für die Hörerfahrung dieser Musik nicht von Belang. Das Hören dieser Musik ist wie das Betrachten eines Sternhimmels bei Nacht, alles andere bleibt Material für eine Unterrichtsstunde in Astronomie.“

[Hans von Koch, April 2016]

„Ein Kosmos feinsinniger Musik“

Georg Philipp Telemann: The Grand Concertos for mixed instruments Vol. 3
La Stagione Frankfurt, Conductor: Michael Schneider
CD 63‘09 Min., 5/2013 und 1/2014
©& cpo 2016, cpo 777 891-2
EAN  7  61203  78912  2

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Mag das (allerdings missverstandene) Diktum Strawinskys über das eine Konzert Vivaldis, das er sechshundertmal geschrieben haben soll, reichlich arrogant wirken (ich denke, es gibt sicher eine Anzahl doch im höheren zweistelligen Bereich von untereinander verschiedenen Repräsentanten Vivaldis etwa 500 erhaltener Konzerte), so kennen wir von Telemann, dessen Gesamtproduktion diejenige Bachs und Händels zusammen genommen noch übertrifft, über 100 Konzerte (leider nur ein Bruchteil dessen, was einmal existierte), und davon gleicht nun wirklich keines dem anderen.

Und so war es für mich ein Freudentag, endlich das Volume 3 der Sammlung The Grand Concertos for mixed instruments, die Michael Schneider mit seinem Orchester La Stagione Frankfurt, einem handverlesenen Ensemble von Experten für Alte Musik, in Händen zu halten. Vom gleichen Team gibt es bei cpo bereits Telemanns sämtliche verfügbaren Bläserkonzerte auf 8 Silberscheiben. Bei den 5 Konzerten der vorliegenden CD ist zwar diesmal keine Ersteinspielung dabei, aber das schmälert den Repertoirewert des Gesamtprojekts – abgesehen von der schwer zu toppenden Qualität –  keineswegs. So kenne ich zum Beispiel keine vergleichbar gute Einspielung des wunderbaren Quadrupel-Konzerts TWV 54:D1 für zwei Traversflöten, Solo-Violine und Solo-Violoncello. Das Gleiche gilt für das Tripelkonzert TWV 53:e2 für 2 Oboen und Solo-Violine. Michael Schneider, einer der ganz großen Experten für Alte Musik, sowohl in Forschung als auch in Lehre, und auch als Ausführender – 2000 hat ihm die Stadt Magdeburg den renommierten Telemann-Preis verliehen – präsentiert uns hier, wie schon bei seinen vorangehenden Produktionen, wieder „Telemann vom Feinsten“, wobei er bei einem Konzert auch selbst die Traversflöte spielt. Und er konnte für diese Produktion wieder die besten Solisten auf ihrem Gebiet verpflichten. Ich nenne dazu als Beispiel den Oboisten Hans-Peter Westermann (ebenso hätte ich den Oboisten Martin Stadler, den Traversflötisten Karl Kaiser, die Violinistin Ingeborg Scheerer und viele andere auswählen können): Man kennt Westermann schon vom Concentus Musicus, der Neuen Düsseldorfer Hofmusik, der Musica Antiqua Köln, dem Ensemble Anima Eterna oder den Sonatori della Gioiose Marca, und er ist darüber hinaus auch noch Inhaber einer Manufaktur für historische Oboen. Dass eine mit so viel Prominenz besetzte Produktion auch gelingt, ist durchaus nicht selbstverständlich (wofür es auch prominente Beispiele gibt), ist hier jedoch absolut der Fall. Nirgends habe ich Telemann schöner, „richtiger“ und kurzweiliger musiziert gehört.

Ein extra Lob gebührt an dieser Stelle dem Booklet-Text: Wie schon für die Reihe mit Telemanns Bläserkonzerten, so ist auch für die (auf 4 CDs konzipierte) Serie von Telemanns Gruppenkonzerten cpo der Coup gelungen, dafür als Autor Wolfgang Hirschmann zu gewinnen. Er ist Professor für Historische Musikwissenschaft an der Uni Halle-Wittenberg und Editionsleiter der Telemann-Ausgabe im Bärenreiter Verlag. Ich habe selten einen differenzierteren und informativeren CD-Begleittext gelesen. Nimmt man die Heftchen dieser 11 CDs (die zwölfte kommt hoffentlich auch mit einem Text Hirschmanns) zusammen, so hat man ein Büchlein über Telemanns Instrumentalmusik, zu dem in der heute am Markt verfügbaren Literatur schwerlich Alternativen zu finden sind.

Ein Lob auch für die editorische Glanzleistung des Labels cpo in Sachen Telemann: Mit der in Aussicht gestellten vierten CD dieser Reihe (ca. 20 Konzerte), den 8 CDs mit den Bläserkonzerten (46 Stück), den 5 CDs von Elizabeth Wallfisch mit 22 Violinkonzerten (zuzüglich 5 Konzert-Ouvertüren mit Solo-Violine) ist man auf einem guten Weg zu einer Gesamtedition der Konzerte Telemanns. Und sie verdienen es alle, eingespielt  zu werden, ist es doch kein Zufall, dass Telemann der beliebteste und erfolgreichste Komponist seiner Zeit war, und nebenbei gesagt kann es das damalige Publikum an musikalischer Bildung und an gutem Geschmack durchaus aufnehmen mit unserem heutigen. An dieser Stelle kommt nun mein ganz großer Wunsch: Erhalten (wiederum nur ein Bruchteil des ursprünglichen Œuvres) sind auch noch 126 Orchestersuiten Telemanns. Ich kenne davon ungefähr die Hälfte und kann jetzt schon sagen: Auf diesem Gebiet gibt es – mehr noch als bei den Konzerten -, was musikalische Qualität, Abwechslungsreichtum, Geschmack und Esprit anbelangt, nichts Vergleichbares aus der Feder anderer Komponisten. Die 30-40 CDs, die man für eine Gesamteinspielung etwa brauchen würde, würden mich kaum langweilen, vorausgesetzt, die Produktion ist in den richtigen Händen. Und momentan traue ich solch ein Projekt am ehesten Micheal Schneider zu. Ähnlich wie Christopher Hogwood mit seinen Haydn-Symphonien sind bisher auch die Versuche einer Gesamt-Edition der Ouvertüren Telemanns gescheitert: Beim Collegium Instrumentale Brugense war nach 8 CDs (33 Suiten) vorläufig Schluss, bei Pratum Integrum nach 7 CDs (23 Suiten). Letzteres ist besonders bitter, weil diese 7 CDs mit das Beste sind, was an Telemann’scher Orchestermusik momentan zur Verfügung steht. Einzig  Micheal Schneider, mit Wolfgang Hirschmann als Booklet-Autor, könnten mich über diese Enttäuschung  hinwegtrösten! So kann ich nur bekräftigen, was Letztgenannter (als er sich bei der achten Folge der Bläserkonzerte eine Fortsetzung mit gemischten Solobesetzungen wünschte) geschrieben hat: „(…) entfalten Telemanns Konzerte einen Kosmos feinsinnigster Musik, in den einzutauchen auch heutige Hörer auf das Reichste beschenkt und zugleich erfahrbar macht, warum Telemann seinen Zeitgenossen schlicht als (…) überragende Musikerpersönlichkeit galt.“

[Hans von Koch, April 2016]

Eine Referenz – Zum dritten Male

Claudio Monteverdi: Vespero della Beata Vergine
Sir John Eliot Gardiner, Leitung
The Monteverdi Choir
The English Baroque Soloists
Les Pages du Centre de Musique Baroque de Versailles (Ltg. Olivier Schneebeli)
DVD und Blue-ray 105 Min., 2014
© ALPHA Classics/Outhere Music 2015
ALPHA 705
EAN  3  760014  197055

Koch1

Wenn ein „Hochkaräter“ auf dem Gebiet der Alten Musik wie Sir John Eliot Gardiner ein solch bedeutendes Werk des Seicento wie Monteverdis Marienvesper zum dritten Mal einspielt, dann ist das so, wie wenn Nikolaus Harnoncourt zum dritten Mal Bachs Matthäus-Passion vorlegt oder Herbert von Karajan Beethovens Sinfonien-Zyklus zum vierten Mal (es gibt natürlich noch viele andere Beispiele). Dafür muss (sollte) es gewichtige Gründe geben, und die Erwartungen dürfen hoch sein zu Recht. Dazu darf man außerdem noch wissen, dass nach eigenem Zeugnis Monteverdi Gardiners „favorite composer“ ist, und dass mit Gardiners Aufführung der Marienvesper vor 50 Jahren am King’s College in Cambridge sozusagen „alles begann“. Damals, noch als Student der Arabistik und Mediävistik, begann Gardiner seine Karriere als Musikhistoriker und Praktiker für Alte Musik wie wir ihn heute kennen. Und aus dieser  seiner ersten Produktion heraus gründete er auch seinen deshalb so genannten Monteverdi Choir. Genaueres dazu, auch zum Komponisten, seiner Marienvesper und den einschlägigen aufführungspraktischen Fragen kann man dem überaus informativen und auch unterhaltsam zu lesenden Booklet-Text zu dieser neuesten Einspielung entnehmen, offenbar einer Niederschrift von Gardiners Einführungsvortrag 2014 anlässlich der Jubiläumsaufführung der Marienvesper, am gleichen Ort und auf den Tag genau nach fünfzig Jahren. Wer noch mehr aus erster Hand erfahren will, der sehe sich auf YouTube das 20-minütige Video „J.E. Gardiner talks about Monteverdi: Marien Vesper 1610“ an, hochgeladen 2013, aber offenbar zu seiner zweiten Einspielung von 1989 gehörend, dem Live-Mitschnitt eines Konzerts im Markus-Dom, seit 2003 auch als DVD optisch zugänglich (seine erste Einspielung, noch aus der Vinyl-Ära, stammt von 1974).

Vorliegende Aufnahme nun muss kurz nach besagter Jubiläumsaufführung entstanden sein, aber nicht in Cambridge, auch nicht in San Marco, sondern in der wunderbaren hochbarocken Schlosskapelle von Versailles, vielen bekannt als Aufführungsort großer Werke aus Renaissance und Barock durch Spezialisten wie Ton Koopman, Paul McCreesh, Hervé Niquet, William Christie oder Paul Van Nevel, um nur einige zu nennen. Alpha hat ins Digipack gleich zwei Scheiben gelegt: eine DVD und das Gleiche auch nochmal als Blue-ray Disc. Bezüglich der rein musikalischen Güte bleibt die Aufnahme von 1989 immer noch frisch und konkurrenzfähig, nicht aber hinsichtlich der akustischen und optischen Qualität. Hier hat Gardiner höchst überzeugend seine Auffassung darüber demonstriert, wie man Auge und Ohr mit barockem Auftrumpfen von Pracht und Prunk überwältigen kann. Offenbar wurde die Live-Aufführung der Vesper zur „Original-Tageszeit“ gemacht, sodass man gut zusehen kann, wie die letzten Sonnenstrahlen des Spätnachmittags allmählich abgelöst werden vom Chiaroscuro des blau werdenden Lichts von Draußen und dem Gold der beleuchteten Altäre. Langsam navigieren dazu die Kameras über Marmor, korinthische Säulen und die herrlichen Fresken in den Deckengewölben, nach Voltaire alles „ein erstaunlicher Firlefanz“. Der Topos vom „strahlenden D-Dur des Anfangsakkords“ ist hier kein leerer Gemeinplatz, und wenn die Echo-Solisten im „Audi Coelum“ von der gegenüberliegenden Empore zu hören sind, dann glauben wir, dass Monteverdi, der damals mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kompositions- und Instrumentierungsmitteln „Eindruck schinden wollte“ (so Gardiner), sicher auch von Techniken wie Surround Sound ( DTS-HD  5.1) gerne Gebrauch gemacht hätte. Ein Vorteil der Blue-ray Disc ist hier, dass man „in Echtzeit“ zwischen 5.1 und 2.0 hin- und herschalten und so den Klang experimentierend vergleichen kann: Einmal hört man die Chöre nahe und unmittelbar, das andere Mal den Echo-Chor in entfernter diffuser Akustik, was dafür aber sehr „sphärisch“ aber eben auch „echt“ klingt, so, als säße man als Zuhörer im Kirchenschiff. Darum verstehe ich den Amazon-Rezensenten nicht wegen seines Punktabzugs ob vermeintlicher „akustischer Schwächen“ („man wähnt sich im Raum irgendwo zwischen Stehpult und den Celli …“). Lediglich den im Begleitheft besonders hervorgehobenen „Binaural Sound“ (eine mit modernen Simulationsprozessoren weitergeführte Technik der früheren Kunstkopf-Stereophonie) konnte ich mit meinen primitiven I-Phone-Headphones nicht so richtig würdigen.

Es werden aber nicht nur schöner Bombast und Firlefanz geboten: Gerade in seinen zwischen die liturgisch originären Teile der Vesper eingestreuten monodisch und solistisch besetzten Concerti zu Texten aus dem Hohen Lied, von Gardiner als „Monteverdis Joker“ bezeichnet, verstehen er und die Musiker, auch das Herz zu rühren mit subtilerer Schönheit. Leider weder im Booklet noch beim Abspann konnte ich herausfinden, wer von den Solisten nun welche Solopassagen gesungen hat – das war bei der Aufnahme von 1989 besser dokumentiert, ist aber nicht entscheidend für die Bewertung …

Besonders hervorheben möchte ich noch die drei hervorragenden Zinkenisten. Etwas Besseres in dieser Kunst habe ich bisher noch nicht gehört. Sie tragen ganz wesentlich zu diesem festlichen Sound bei.

Ich denke, man kann mit Fug und Recht sagen, dass Sir Eliot Gardiner  hier eine neue Referenz-Einspielung gelungen ist, zum Kauf auch denjenigen zu empfehlen, die bereits seine San-Marco-Aufnahme besitzen.

[Hans von Koch, März 2016]