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Alte Bekannte – Piano Concertos of the 20s

Label: Hänssler Classic / Vertrieb: Hänssler – Art.-Nr.: HC16065 / EAN: 881488160659

Michael Rische (Klavier); WDR Sinfonieorchester Köln, Bamberger Symphoniker, Radio-Sinfonieorchester Berlin; Dirigenten: Gunter Schuller (Schulhoff), Steven Sloane (Honegger, Copland), Israel Yinon (Ravel), Christoph Poppen (Antheil), Wayne Marshall (Antheil, Gershwin)

Diese Einspielungen des ausgezeichneten Pianisten Michael Rische sind bereits in den 2000er-Jahren zum ersten Mal erschienen, damals beim recht kurzlebigen Low Budget-Label Arte Nova der BMG. Nun sind wahrscheinlich die Rechte an den Aufnahmen wieder frei geworden, und Rische hat die Einspielungen nun bei seinem heutigen Label Hänssler Classic unterbringen können.

Die Einspielungen sind heute so vorzüglich wie ehedem und bieten überwiegend seltenes Repertoire in sehr geschmackvollen Darbietungen. Während bei Arte Nova zwei Einzel-CDs im Angebot waren, ergeben beide Alben in der Hänssler-Ausgabe sinnvollerweise nun eine auch preislich attraktive Doppel-CD. Das Motto der Erstausgabe „Piano Concertos of the 20s“ ist gleichgeblieben und bereitet heute ebenso viel Hörvergnügen wie vor etwa 15 Jahren.

Es sind aber auch tolle Stücke, die es in diese Auswahl geschafft haben! Da wäre mit Erwin Schulhoffs „Konzert für Klavier und kleines Orchester“ aus dem Jahr 1923 zum Beispiel eine Art deutsche Alternative zu Dmitri Schostakowitsch. Der geniale Komponist Erwin Schulhoff, der 1942 auf tragische Weise in einem tschechischen Lager für politische Gefangene umkam, war zunächst einer der wenigen Vertreter eines musikalischen Dadaismus, wandelte später seinen Stil aber zu einer sehr gelungenen Mischung aus Expressionismus und Anklängen an die Spätromantik des Fin de Siècle. Sein Klavierkonzert zeigt Schulhoff als einen ungeahnt melodiebetonten Komponisten, der hier ein Stück schrieb, das reichlich Brillier-Potenzial für den Solisten bereithält und des Öfteren an Ravels Klavierkonzerte erinnert, zumal dieser mit Schulhoff auch seinen „jazzigen“ Einschlag gemeinsam hatte.

Auch Aaron Coplands Klavierkonzert von 1926 hat den Jazz inhaliert und gilt als eines der bedeutenden, wenn auch nicht gerade typischen Werke dieses bekannten US-Komponisten. Coplands typischer „Cowboy- Sound“ trifft in diesem Konzert auf die vielleicht im engeren Sinne modernste Musik, die dieser Komponist bis zu jenem Zeitpunkt vom Stapel gelassen hatte. Das Konzert ist als solches vordergründig nicht das, was man als „großer Wurf“ bezeichnen würde: Den Klavier-Solopart kann man kaum als sonderlich dankbar bezeichnen. Er ist schwierig in der Ausführung, kann hingegen kaum mit Passagen glänzen, die dem Publikum im Gedächtnis bleiben würden und wird überdies sogar häufig von dem vermeintlich viel interessanteren Geschehen im Orchester überflügelt. Bei näherer Betrachtung zeigt sich hier aber eine bemerkenswert visionäre Komponente: Man könnte fast der Ansicht sein, dass Copland in dem beinahe unauffälligen Klavierpart vielleicht doch manches von dem vorweggenommen hat, was wir später von Komponisten wie Morton Feldman und Philip Glass zu hören bekamen. Und ein wenig Satie-Anarcho-Feeling kommt in diesem Konzert auch auf. An sich ein herrlich schräges Stück!

Arthur Honeggers lediglich etwa elf Minuten kurzes „Concertino“ von 1924 ist ebenfalls ein ganz ungewöhnliches Stück. Mit dem für die damalige Phase Honeggers typischen Neoklassizismus entfaltet sich ein für die Group des Six ganz typisches Stück voller an Sarkasmus grenzender Heiterkeit. Es gehört sicherlich nicht zu den Meilensteinen des Honegger’schen Schaffens, das gewichtigere Meisterwerke kennt. Aber es ist doch ein auffälliges, reizendes Stück, in das der schweizerische Maestro sogar eine klassische Dreiteilung „schnell – langsam – schnell“ einzubauen vermochte. Originell!

Mit dem berühmten Klavierkonzert in G von Maurice Ravel wird das Doppelalbum seinem Titel ausnahmsweise untreu, denn das Stück stammt bereits aus dem Jahr 1930. Es existieren zahllose Referenzeinspielungen dieses Werks und im Spiegel derselben schlägt sich die vorliegende Einspielung sehr gut, wobei insbesondere im langsamen zweiten Satz deutlich wird, was für ein geschmackvoller, stilsicherer Pianist Michael Rische ist, der hier überzeugend dafür eintritt, dass wir es eben nicht mit einem Schmachtfetzen zu tun haben, wie es viele (gerade besonders namhafte) Pianisten gelegentlich missverstehen. Damit endet CD1 des Doppelpacks.

CD 2 widmet sich etwa je zur Hälfte George Antheil und George Gershwin. Die beiden Georges könnten abgesehen vom Vornamen unterschiedlicher kaum sein: Während Antheil Spaß an der Provokation und an der radikalen Moderne hatte, das Publikum immer wieder vor den Kopf stieß und (nach meiner Empfindung ganz unerklärlich) als „amerikanischer Schostakowitsch“ in viele Musiklexika einzog, ist Gershwin zwar vielleicht mehr als alle anderen Komponisten dieser Sammlung ein von Jazz geleiteter Komponist gewesen, doch lag ihm die Provokation fern. Er war vielmehr auf größtmögliche Breitenwirksamkeit seiner Musik bedacht und hat viele Stücke geschrieben, die wir heute sehr zu Recht als „Standards“ empfinden. Dazu zählt natürlich auch das „Concerto in F“ von 1925.

Bevor es dazu aber kommt, tauchen wir mit dem Ersten Klavierkonzert und der zu Antheils Lebzeiten sehr umstrittenen „Jazz Symphony“ in den bis heute außergewöhnlich anmutenden Klangkosmos George Antheils ein. Die Bamberger Symphoniker hatten hierbei allerdings nicht ihren besten Tag und standen zum damaligen Zeitpunkt ihren Kollegen vom WDR Sinfonieorchester Köln, das CD1 dieses Sets eingespielt hatte, doch in Präzision aber auch in schierer Klangästhetik um einiges nach.

Mit der schrägen „Jazz Symphony“ übernimmt dann das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin unter Wayne Marshall und kann gleich mit mehr Dynamik und Verve punkten, wenngleich in einer unvorteilhaft halligen Aufnahme, die Antheils frecher Musik einiges an Schärfe und Chaos-Potenzial nimmt.

Bei dem Gershwin-Konzertboliden passt diese Klanglichkeit aber wiederum sehr gut und erinnert an manche RCA Living Stereo-Aufnahmen aus der Frühzeit der Stereo-Technik. Auch da mochte man zu diesem Repertoire so eine große „larger than life“-Bühne.

Fazit: Die eingespielten Stücke sind ohne Ausnahme interessant, der Solist der Aufnahme ist ausgezeichnet, die beteiligten Orchester, Dirigenten und Tonmeister zeigen eine gewisse Schwankungsbreite innerhalb grundsätzlich überzeugender Grenzen. CD1 macht allerdings wesentlich mehr Spaß als CD2.

Gut, dass diese lange vergriffenen Aufnahmen wieder erhältlich sind, wenn auch mit einem denkbar missratenen Cover-Artwork.

[Grete Catus, August 2017]

Rubbra spielt Rubbra

Label: Lyrita; Vertrieb: Naxos; EAN: 5020926113429 / Art.-Nr.: REAM1134

Edmund Rubbra ist einer jener britischen Komponisten, die so gar nicht in das Klischee vom pastoralen Spätromantiker passen wollen, das man den britischen Musikgrößen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Britten ausgenommen) stets gern und stets unreflektiert ans Revers heftet.

Rubbra ist ein Komponist, der weder im Fahrwasser Elgars Großbritanniens Glanz und Gloria verbreiten wollte, noch im Umkreis der Volksliedsammler unterwegs war, noch im Umfeld der Neuerer um Britten oder Tippett zu suchen ist. Rubbra ist im Wesentlichen Rubbra. Und das hat es ihm schon zu Lebzeiten nicht unbedingt leicht gemacht. Seine zuweilen schrullige, mit Versatzstücken aus fernöstlicher Musik ebenso wie mit einem chromatischen Blick zurück über die Schulter der Musikgeschichte angereicherte Musik lebt von einem der außergewöhnlichsten Personalstile in der Musik des 20. Jahrhunderts.

Ein ganz eigener Querkopf schreitet auch in der „Sinfonie Concertante“ Op. 38 selbstbewusst und etwas rumpelig durch das Orchester. Es ist der Komponist selbst, der hier als Solist am Klavier seine eigene Komposition mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra unter Leitung Hugo Rignolds vorträgt. Es ist, man ahnt es, ein Stück mit vielen Gesichtern: Antik wirkende Satzbezeichnungen wie „Fantasia“ und „Saltarella“ beinhalten Musik, die wirkt, als hätte sich der kompositorischer Geist Rubbras in einem einzigen Rausch über das Notenpapier ergossen: Sich stetig abwechselnde Ideen, Versatzstücke fast, kaum etwas wird motivisch fortgeführt, entwickelt, vieles wirkt wie akustisch in den Raum gestellt, sehr plakativ. Wüsste man nicht, dass diese Musik von einem Engländer geschrieben wurde, hätte man sie auch problemlos als Musik eines indischen Kolonialkomponisten akzeptiert.

Die „Sinfonia Concertante“ ist eine alte Gattung, war sehr beliebt bei den Komponisten der Mannheimer Schule und Frankreichs des 18. Jahrhunderts, Mozart griff die Gattung auf, bis sie im 20. Jahrhundert – kurios genug – ausgerechnet in Großbritannien viele Anhänger fand, darunter neben William Walton, der vielleicht das bekannteste moderne Beispiel für die Gattung lieferte, eben auch Edmund Rubbra. Er verstand die Gattung weniger als Konzert (wie es viele seiner Kollegen ziemlich unverhohlen taten), sondern stärker im Sinfonie-Sinne, bei der das solistische Klavier gleichzeitig auch Ensemblefunktionen innehat. Sehr originell, sehr eigen, sehr ungewöhnlich… Rubbra eben.

Es folgen die „Prelude and Fugue on a theme of Cyril Scott“ Op. 69 sowie eine Eigenkomposition Cyril Scotts, die Edward Rubbra als Pianist solo vorträgt. Cyril Scott war Rubbras großes Idol und sein Privatlehrer, nachdem der 17-jährige Rubbra ein Konzert mit Musik Scotts organisiert hatte und dadurch dem Meister positiv aufgefallen war. Bemerkenswert ist, wie viel Seele, welche Innigkeit Rubbra als Interpret in seinen Scott-Vortrag legt. Er wirkt hier als Pianist wie ausgewechselt. Keine Spur mehr vom rumpelig-hemdsärmeligen Stil, den Rubbra bei der Interpretation seiner eigenen Kompositionen pflegt. Hier ist plötzlich ein Pianist, der um Kantabilität, feinste dynamische Abstufungen, Empfindungstiefe bemüht ist. Das Cyril Scott-Stück „Consolation“ ist freilich auch ein sehr dankbares Objekt, um diese Vortrags-Charakteristika ausgiebig zu demonstrieren.

Nachdem wir bis hierhin Rubbra selbst als Interpreten hören konnten, begegnet uns im Violinkonzert Solist Endré Wolf mit dem BBC Symphony Orchestra, dirigiert von Rudolf Schwarz. Die Einspielung von 1960 ist die älteste und klanglich problematischste in diesem Set aus BBC-Mitschnitten, die nur dank der privaten Rundfunkaufnahmen des Lyrita-Gründers Richard Itter überlebt haben. Die beiden anderen, die klanglich durchaus zu gefallen wissen, datieren auf 1967. Es fällt schwer, das Stück zu beurteilen angesichts eines Aufnahmeklangs, bei dem Teile des Orchesters wie verschluckt zu sein scheinen, während die Solostimme im Mono-Mix alles andere überdeckt. Doch eines ist klar: Die Interpretation ist hier alles andere als ideal. Endré Wolf besitzt vor allem in den anspruchsvollen Doppelgriffen und Modulationen keine sichere Intonation. Es ist schwierig, sich das mit Genuss anzuhören. Solostimme und Orchester wirken nicht nur klanglich sondern auch interpretatorisch wie zwei getrennte Einheiten. Das macht einfach keinen Spaß.

Für Rubbra-Fans dürfte sowieso die andere Hälfte des Albums interessanter sein, wo der Komponist als Interpret eigener Werke und Werke seines Mentors Cyril Scott in Erscheinung tritt. Und dieser Teil des Albums darf auch in der Tat musikhistorische Bedeutung für sich verbuchen und ist für damalige BBC-Verhältnisse mit sehr gutem Klangbild produziert. Soweit also eine Empfehlung für Fans britischer Musik abseits ausgetretener Pfade.

[Grete Catus, August 2017]

Gehaltvoll und was fürs Ohr

Arnold Rosner: Chamber Music
Label: Toccata Classics; Vertrieb: Naxos; Kat.-Nr.: TOCC0408 / EAN: 506113444080

Der 2013 verstorbene amerikanische Komponist Arnold Rosner war mir bislang zwar nicht bekannt, aber diese CD vom britischen Label toccata classics hat dazu beigetragen, dass ich große Lust darauf bekommen habe, diesen Zustand auch über dieses Album hinaus zu ändern. Haben wir es ja doch mit einem Komponisten zu tun, der offenbar ein großes Œuvre hinterlassen hat (allein auf diesem Album reicht die Spannweite der Opus-Nummern von Op. 18 (1963) bis Op. 121 (2006). Wo diese Musik herkommt, gibt es also wahrscheinlich noch mehr zu holen.

Auf Werkebene betrachtet haben wir es (wenn man dieses Album als alleinigen Maßstab nimmt) mit einem scheinbar sehr formbewussten, konservativen Komponisten zu tun. Drei Sonaten (Je eine für Violine/Klavier, Fagott/Klavier und Cello/Klavier) sind festzustellen, außerdem eine beinahe schon neo-barock anmutende Tanz-Suite mit vier Stücken nach teils alten Satzbezeichnungen (z.B. „Sarabande“) für Solo-Cello.

Spontan gefällt mir die das Album eröffnende Violinsonate am besten, bei der sich Rosner noch als ganz klar der typischen US-Moderne verpflichteter Komponist zeigt, dessen Tonfall etwas an Roy Harris oder William Schuman erinnert. In den drei späteren Werken ist Rosner idiomatisch wesentlich eigenständiger. Vergleiche fallen durchaus schwer. Die Kompositionen sind durchweg tonal, stehen an der Schwelle von einer teils schwelgerisch-spätromantischen Melodik hin zu einem expressiveren Umgang mit der Tonalität unter Einbezug von gelegentlichen Dissonanzen und zum Teil unerwarteten harmonischen Wendungen. Rosner ist insbesondere in den späten Werken auch ein sehr individueller Umgang mit dem Kontrapunkt anzumerken.

Mir gefällt das alles außerordentlich gut. Das ist Musik, die gleich ab dem ersten Moment gefällt, auch sofort von der Faktur her interessant klingt und sicherlich auch nach Jahren noch Aspekte offenbart, mit denen man sich als Hörer (und womöglich auch als Interpret) lohnend beschäftigen kann.

Stichwort Interpreten: Hier haben wir leider eine verhältnismäßig unausgegorene Truppe beisammen. Der bekannteste Name auf der Liste der Künstler dürfte Carson Cooman sein, der selbst als Komponist von zum Teil recht interessanter Orgelmusik reüssiert. Er erweist sich hier als tadelloser Pianist, dem offenbar viel an der dargebotenen Musik liegt. Er begleitet den ausgezeichneten Fagottisten David Richmond in der sehr geschmackvollen Fagott-Sonate. Die Violinsonate und die beinahe schon etwas exzessiv kontrapunktische Cello-Sonate bestreitet am Klavier hingegen Pianistin Margaret Kampmeier. Sie treibt ihre Duopartner manchmal ganz schon vor sich her, was nicht immer überzeugt. Violinist Curtis Macomber gefällt mir unter den Solisten leider am wenigsten, wobei es mir schwerfällt dies zu begründen. Sein Spiel ist solide und technisch kaum zu kritisieren, aber es ist nicht souverän, und auch Phrasierung ist nicht die Stärke Macombers. Vielleicht ist es aber auch nur mein subjektiver Geschmack, der sich gegen Macombers Ton sträubt. Cellistin Maxine Neuman arbeitet sich auf diesem Album tapfer und absolut überzeugend durch wirklich schwierige Stücke. Dass dies für den Hörer keine Pflichtübung sondern ein Genuss wird, liegt an ihrem empfundenen, musikalischen Vortrag. Spitze!

Die Aufnahmequalität des an zwei verschiedenen Standorten mitgeschnittenen Albums ist solide, wenn auch nicht wirklich „state of the art“. Es bleibt also zu hoffen, dass dieses Album vor allem einen Anstoß für weitere Interpreten und Labels sein wird, dieses wirklich interessante Repertoire öfter aufzuführen. Das ist doch erstaunlich gehaltvolle Musik, die auch ins Ohr geht. Hat man nicht so häufig!

[Grete Catus, August 2017]

Herausragender Brahms

Label: Ondine; Vertrieb: Naxos; EAN: 07611951291128 / Art.-Nr.: ODE 1291-2

Dass es auch bei vermeintlich bekanntem Repertoire immer wieder Überraschungen geben kann, zeigt eine neue CD des finnischen Labels Ondine: Jaime Martín, einst Soloflötist der weltbekannten Academy of St Martin-in-the-Fields und als Solist mit Orchestern wie dem Royal Philharmonic, London Philharmonic oder Chamber Orchestra of Europe unterwegs, leitet hier als Chefdirigent das schwedische Gävle Symphony Orchestra in einer Neu-Einspielung von Brahms‘ populären Serenaden Opp. 11 und 16.

Der Spanier überzeugt dabei mit einer Frische und Musizierlust, dass es einen beim Hören förmlich vom Sessel reißt. Die wunderbar kantable Phrasierung und der schiere Mut dazu sowie die Lust daran, Brahms die Schwere zu nehmen und einfach leicht sein zu lassen, stellt diese Einspielung erstaunlich hoch über so ziemlich alles, was ich in diesem Repertoire bislang gehört habe.

Von seinem einstigen Chef Neville Marriner scheint Martín die federnde Leichtigkeit und Rhythmik sowie den Willen zu höchster Virtuosität bei der Orchesterperformance auf den Weg bekommen zu haben, während er selbst als Zutaten zu seiner Interpretation noch eine (manchmal vielleicht leicht übertriebene) Neugier auf dynamische Feindifferenzierung an den Tag legt und vor allem einen absolut mitreißenden „spanischen Schmiss“ in seine Brahms-Auslegung mit einbringt, der interessanterweise besonders gut funktioniert beim angeblich ja so „deutschen“ Brahms.

Brahms‘ Serenaden werden auf diese Weise zu klingenden Frühlingsboten, zu musikalischen Landschafts- und Seelengemälden, ihre berührende, aber nie kitschige Emotionalität offenbart sich in Martíns Vortrag mit dem Gävle Symphony Orchestra ganz unmittelbar, wie selbstverständlich und  im besten Beethoven’schen Sinne „von Herzen – möge es wieder – zu Herzen gehen“.

Für mich ist dieser Brahms viel überzeugender als der mit dickem Pinsel pastos aufgetragene Klang eines Brahms unter Thielemann oder der allzu nüchterne, seiner Herzlichkeit weitgehend beraubte Sound eines Hengelbrock’schen Brahms. Martín übertrifft selbst die gefeierten Interpretationen alter Recken wie etwa die des Concertgebouw Orkest unter Bernard Haitink, und für meine Begriffe ist diese Einspielung tatsächlich eine moderne Brahms-Referenz. In der Tat: Von solch einem Dirigenten mit einem solch vorzüglichen Orchester würde man gern auch noch einmal die Brahms-Sinfonien hören!

[Grete Catus, Juli 2017]

Respighi aus dem Kleinstadt-Dom

Ottorino Respighi – Opera omnia per organo
Andrea Macinanti – Orgel, Archi dell’Academia Symphonicy di Udine – PierAngelo Pelucchi
Label: Tactus – Vertrieb: Naxos – Art.-Nr.: TC871803 / EAN: 8007194106121

Ottorino Respighi ist einer jener Komponisten, die Weltruhm aufgrund von nur wenigen Werken erlangt haben: Die prall farbigen, bildreichen Sinfonischen Dichtungen „Fontane di Roma“, „Pini di Roma“, „Feste Romane“, „Gli Ucelli“ sowie drei Suiten unter dem Titel „Antiche danze ed arie“ haben so ziemlich alles andere im durchaus umfangreichen Œuvre Respighis überstrahlt. Dabei war Ottorino Respighi ein versierter Komponist, der sich in fast allen bedeutenden Gattungen hervorgetan hat. Er schrieb etwa zehn heute kaum bekannte Opern, mehrere Ballettmusiken, eine Sinfonie, Kammermusik für diverse Besetzungen und Lieder.

Doch selbst überzeugte Respighi-Kenner dürften bei diesem Album des italienischen Labels Tactus überrascht sein, das ihnen ihren Lieblingskomponisten als Schöpfer von Orgelmusik vorstellt. Als wäre dies nicht schon ungewöhnlich genug, enthält das Album auch noch eine Komposition Respighis für Kirchenorgel und Streichorchester, die „Suite in Sol maggiore per istrumenti ad arco e organo“, die wohl zu Respighis neoklassischer Phase gerechnet werden kann.

Laut Ausweisung auf dem Cover handelt es sich bei allen Stücken um Welt-Ersteinspielungen, allerdings gibt das Label in den Aufnahmedaten 17 Tracks an, das Album hat aber nur 13 Tracks. Etwas nebulös…

Wie dem auch sei, die Musik, die hier vorgestellt wird, ist wirklich gut und setzt einen weiteren eindrucksvollen Pinselstrich in das Bild von Ottorino Respighi als einem Komponisten, dem trotz gemächlicher Wiederentdeckung in der jüngeren Vergangenheit noch immer nicht die volle Aufmerksamkeit zu Teil wird, die ihm gebühren würde: Sicher, Respighi war weniger „modern“ als Casella oder Malipiero, die mit ihm und Pizzetti zur sogenannten Generation der „Ottanta“ gezählt werden (so benannt nach den Geburtsjahren der genannten Komponisten, die alle um etwa 1880 herum geboren wurden). Doch er war ein handwerklich ausgezeichneter Komponist, der seine technischen Fähigkeiten immer auch mit einer hellwachen melodischen Inspiration verbinden konnte. Kurzum: Dieser Mann schrieb einfach gute Musik und sollte viel mehr gespielt und gehört werden.

Auf vorliegendem Album sind mehrere Einzelstücke, i.d.R. Orgelpräludien, drei mehrsätzigen Werken an die Seite gestellt. Der Booklettext aus der Hand des ausführenden Organisten Andrea Macinanti gibt zwar Aufschluss über Ort und Zeit der Komposition, leider aber kaum über die Umstände, die zur Komposition Anlass gegeben haben. Und so erfahren wir hier leider kaum etwas darüber, für welche Anlässe Respighi diese Musik geschrieben hat. Viele Stücke auf diesem Album scheinen durchaus als (freilich hochgradig anspruchsvolle und sehr virtuose) „Gebrauchsmusik“ im liturgischen Rahmen infrage zu kommen (wobei Respighi sich offensichtlich am Vorbild Max Regers abgearbeitet hat), während andere Stücke (nicht zuletzt die erwähnte, ziemlich unkonventionelle Suite für Kirchenorgel und Streichorchester) aufgrund ihrer merkwürdigen Faktur andere konkrete Anstöße für die Komposition vermuten lassen, über die man wirklich gern mehr gewusst hätte.

Macinanti erweist sich als ein wunderbar musikalischer Organist, der dieser Musik in jeder Hinsicht gerecht wird. Er verfügt nicht nur über die nötige Virtuosität, die diese Musik abverlangt, sondern auch über eine erfreulich musikdienliche Phrasierungsgabe, die die Zusammenhänge in den Kompositionen deutlich und zu wirklich herrlicher Musik werden lässt. Leider setzt sich dieser gute Eindruck nun so gar nicht fort bei dem für die Suite eingesetzten Orchester. Die Archi dell‘Academia Symphonica di Udine sind mit ihrem Part hörbar überfordert. Es macht sogar Mühe, sich das anzuhören, denn man hört leider die Mühe, mit der sich die Musiker durch die auch für das Orchester virtuose Partitur quälen mussten. Bei schnellen Stellen kollabiert das Ensemble stellenweise beinahe und vermag sich nur knapp wieder zu fangen.

Dies ist vor allem auch deswegen kein Vergnügen für den Hörer, weil die Aufnahmetechnik dieser Einspielung wirklich richtig gut ist und man alles trennscharf, quasi bis „in die Fingerspitzen“ heraushören kann (inklusive der fransigen Streicher). Die Orgel (übrigens ein wunderbar klangschönes Instrument aus dem Dom S. Maria Assunta der piemontesischen Kleinstadt Saluzzo) ist ohne störende Nebengeräusche wie Gebläse, usw. und mit beeindruckender Präsenz über das volle Frequenzspektrum, zumal mit dem genau richtigen Anteil an Raumhall eingefangen worden. Spitze! Genau so sollten Orgelmusik-Aufnahmen klingen!

Fazit: zu rd. 80% ist dieses Album eine ausgesprochene Empfehlung, leider macht die Suite für Streichorchester plus Kirchenorgel durch das amateurhafte Streichorchester, das mit seiner Aufgabe definitiv überfordert ist, die restlichen 20% zu einer weniger erfreulichen Veranstaltung. Trotzdem lohnt sich dieses Album für Respighi-Fans ebenso wie für Orgelmusikliebhaber. Hier gibt es herrliches Repertoire zu entdecken, das man nicht oft serviert bekommt.

[Grete Catus, Juli 2017]

Legenden in Lumpen

Carl Orff – Trionfi
Label: Brilliant Classics – Vertrieb: edel:kultur
Art.-Nr. 95116 / EAN: 5028421951164

Brilliant Classics, das Low Budget-Zweitwiederverwertungslabel von edel:kultur, legt legendäre Einspielungen in sinnvoller Kombination vor, die selbst ihr Komponist zu seinen Lebzeiten hoch schätzte. Das Label blamiert sich allerdings gewaltig mit absolut indiskutablen Coverangaben.

Diesen neuen CD-Release des Labels Brilliant Classics könnte man an sich vorbehaltlos empfehlen: Die Orff-Einspielungen des großen Herbert Kegel aus seiner ruhmreichen Leipziger Zeit sind geradezu legendär (Komponist Orff selbst ließ sich diese Mitschnitte einst als Referenzeinspielungen seiner Stücke eigens aus der DDR auf LP in die Bundesrepublik schicken). Und endlich kommt auch mal eine Firma auf die wirklich sinnvolle Idee, die drei Stücke „Carmina Burana“, „Catulli Carmini“ und „Trionfo di Afrodite“ als Zyklus „Trionfi“ zu veröffentlichen, den Orff immerhin selbst als Zyklus definiert hatte. Die Soundqualität der DDR-Einspielungen aus den Jahren 1971 bis 1975 ist darüber hinaus zeitlos exzellent und lässt viele heutige Einspielungen im Vergleich klanglich blass aussehen. Nicht zuletzt hat das Label sich zu einem leidlich geschmackvollen Cover-Artwork hinreißen lassen, und der günstige Preis dieser Wiederveröffentlichungen ist wirklich sehr reizvoll.

Aber was nur hat die Labelverantwortlichen bei den Coverangaben geritten? Das beginnt bereits bei den fehlenden Ü-Strichen beim Namen des großartigen lyrischen Tenors Eberhard Büchner (nicht Buchner!), der zu den besten Tenorstimmen aller Zeiten in unserem Land gerechnet werden muss. Doch dabei bleibt es leider nicht. Schon mal von der „Versohnungskirche“ gehört? Oder vom „Hous Auensee“? Oder von Produzent „Eberhord Geiger“? Die Labelverantwortlichen haben sich hier wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Das Ganze führt zu dem Eindruck von Legenden, die in Lumpen verkauft werden. Schade! Und vor allem sehr peinlich für Brilliant Classics. Ansonsten eine rundum empfehlenswerte Angelegenheit, die nicht viele Worte braucht, um zu gefallen.

[Grete Catus, Juli 2017]

Meistvergessener? Ungekannter!

Ernst Toch: Solo Piano Pieces – Anna Magdalena Kokits
Capriccio; Kat.-Nr. C5293 / EAN: 845221052939

Anna Magdalena Kokits hat für das österreichische Label Capriccio die zum Teil hoch virtuose Klaviermusik des gebürtigen Österreichers Ernst Toch eingespielt, der aber bis zum zweiten Weltkrieg überwiegend in Deutschland wirkte und als Komponist in dieser Zeit als Musterbeispiel für den musikalischen Expressionismus in der Zeit der Weimarer Republik gelten kann.

Ernst Toch ist ein Name, der polarisiert. Nicht selten wird seine Musik als spröde, exzentrisch oder sogar als unnahbar wahrgenommen. Die Frage stellt sich allerdings noch dem Genuss (ich möchte dieses Wort bewusst gebrauchen) der vorliegenden Einspielung von Tochs Klaviermusik, welches womöglich verzerrte Bild wir von diesem Komponisten bislang wahrgenommen haben. Denn in der Klaviermusik zeigt sich Toch als ein viel zugänglicherer musikalischer Geist als beispielsweise in seinen späten Sinfonien.

Das mag damit zusammenhängen, dass das gesamte Œuvre, das wir auf diesem schönen Album finden, noch in die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg fällt (1923-1931), in eine Zeit also, in der in Deutschland der Expressionismus die bestimmende, richtungsgebende kreative Strömung war, und in der sich während der Zeit der Weimarer Republik ein enorm vielschichtiges, experimentierfreudiges Musikleben entwickelt hatte, das die Nationalsozialisten freilich mit ihrem Machtantritt so gründlich ausmerzten, dass man diese gar nicht so ferne Zeit bis heute nur mühsam und stückhaft rekonstruieren kann. Doch Namen von damals sehr erfolgreichen Komponisten wie Heinz Tiessen, Walter Braunfels, Ernst Krenek, Erwin Schulhoff, Viktor Ullmann oder eben Ernst Toch werden in letzter Zeit glücklicherweise wieder häufiger genannt, was letzten Endes auch dazu führt, dass ihre Musik wieder häufiger zu hören ist.

CDs wie die vorliegende bilden dabei eine unschätzbare Bereicherung unserer kulturellen Diversität. Denn auch, wenn sie (zumindest laut Ausweisung auf dem Cover) wohl keine Welt-Ersteinspielungen enthält, so ist das eingespielte Repertoire doch so gut wie unbekannt geblieben.

Dabei finden sich hier wirkliche Preziosen und Überraschungen. So bekommt man unmittelbar den Eindruck, dass der Expressionist und Avantgardist Ernst Toch in seinen Burlesken op. 31 oder in seinen Capriccetti op. 36 ganz unzweifelhaft auch an romantische Traditionen anknüpft (und wie wir auf diesem Album feststellen sogar mit Gattungen wie Etüden und Sonaten kokettierte, wenngleich die „enthaltene“ Musik dem Gattungsbegriff nicht mehr folgt), wobei einem durchaus Namen wie Schumann oder auch Chopin in den Sinn kommen. Die Musik dazu ist freilich Expressionismus in Reinkultur: rebellisch, exaltiert, durchaus auch mit einem Augenzwinkern bis hin zum offenen Sarkasmus. Doch erstaunlich heiter und an sich freundlich klingt diese Klaviermusikwelt, ganz anders als die meist griesgrämig-verbitterten späten Orchesterwerke des Österreichers, die dieser in den USA schrieb, wo er zunächst ab 1935 als Komponist von in Nazideutschland als „entartet“ empfundener Musik im Exil lebte und sich dann dauerhaft bis zu seinem Tod 1964 dort niederließ.

Obwohl er in den USA mit einem Lehrauftrag, diversen Kompositionsaufträgen für u.a. Filmmusik und immerhin einer Grammy Award-Auszeichnung gar nicht so schlecht über die Runden kam (vergleicht man seine Laufbahn mit etlichen anderen Exilkomponisten, denen es meistens weitaus schlechter erging), entwickelte Toch, der offenbar immer mit einer inneren „Düsternis“ kämpfte, eine tiefe Verbitterung und bezeichnete sich selbst sogar als den „meistvergessenen Komponisten des 20. Jahrhunderts“, dies wohlgemerkt nur drei Jahre nachdem er den renommierten Grammy Award gewinnen konnte.

Toch ist in der Tat ein ambivalenter Charakter, und Ambivalenz ist auch ein naheliegendes Wort, um seine Musik zu umschreiben. Was steckt da nicht alles an Widersprüchlichem drin: Neoklassik trifft auf freie Atonalität, Exaltiertheit trifft auf Kontemplation und Selbstbezogenheit, Avantgarde trifft auf Traditionsgebundenheit, Virtuosität trifft auf Banalität als Stilmittel, Heiterkeit schlägt um in Sarkasmus. Interessante Musik ist das, im besten Sinne!

Anna Magdalena Kokits ist eine technisch perfekte Interpretin (geradezu atemberaubend in den irre virtuosen Etüden), und auch der äußerst gelungene, vollkommen natürliche Aufnahmeklang ist zu loben. Ihre Interpretation folgt insgesamt dem verbreiteten Leitbild, Tochs Musik nicht mit zu viel Emotionen aufzuladen, ihn als einen eher kühlen, vielleicht sogar analytischen Musikkonstrukteur zu präsentieren. Das klingt überzeugend, aber ob das richtig ist? Der Expressionismus war auch eine Zeit der Ausschweifungen, der Tabubrüche und der emotionalen Extreme. Als Kunstgattung wird er heute insgesamt nicht selten als Vorahnung zum Zweiten Weltkrieg verstanden, als eine Art „Tanz auf dem Vulkan“, und man hätte sich gewünscht, dass diese extremen Positionen, die in Tochs Klaviermusik zweifellos in großer Zahl zu finden sind, von Frau Kokits mit etwas weniger Zurückhaltung interpretiert würden. Es dürfte auf dieser CD ruhig noch etwas mehr „Enthemmtheit“ herrschen, doch das ist Mosern auf hohem Niveau. Dieses Album geht so wie es ist vollkommen in Ordnung und präsentiert neben einem Komponisten, dessen Klaviermusik mehr Gehör finden sollte auch eine interessante Interpretin, von der man hoffen darf, dass sie ihren eigenen Weg gehen wird und dabei den Mut haben wird, noch mehr Persönlichkeit und Tiefe zu entwickeln, als sie es auf diesem beachtenswerten Album bereits zeigt.

[Grete Catus im Mai 2017]

Freitagabendfröhlichkeitensammlung

„Les Vendredis“
Collection of pieces for string quartet from Belaieff‘s Friday Concerts
Szymanowsky Quartet
Label: SWRmusic / Vertrieb: NAXOS
Art.-Nr.: SWR19034CD/ EAN: 74731390348

Das Szymanowsky Quartet interpretiert für das Label SWRmusic des Südwestrundfunks eine Auswahl aus Werken die für die „Freitagskonzerte“ („Les Vendredis“) des russischen Verlegers und Mäzens Mitrofan Petrowitsch Beljajew.

Eine ebenso sinnvolle wie kurzweilige CD ist kürzlich beim Label des Südwestrundfunks erschienen, die deswegen auf jeden Fall Erwähnung finden sollte. Wer sich jemals näher mit der Geschichte des Komponistenzirkels „Das mächtige Häuflein“, im englischen Sprachraum eher als „die Fünf“ bekannt, beschäftigt hat, stößt unweigerlich auch auf den Namen des Verlegers, Mäzens und man darf wohl sagen Konzertveranstalters Mitrofan Petrowitsch Beljajew. Er richtete an jedem Freitag (franz.: Vendredi) ab etwa 1891 musikalische Abende (die man später etwas lapidar „Les Vendredis“ zu nennen begann) aus, bei denen die aufstrebenden russischen Komponisten jener Zeit zusammenkamen, sich ausgiebig austauschten und offenbar auch ebenso ausgiebig tafelten.

Es war eine Zeit, in der sich „das mächtige Häuflein“ (bestehend aus Balakirew, Rimsky-Korsakow, Mussorgsky, Cui und Borodin) bereits erschöpft hatte und auseinander zu fallen begann. Neue Namen tauchten auf der Komponistenlandkarte auf: Glasunow und Ljadow etwa, aber auch heute praktisch vergessene Komponisten wie etwa Nikolay Artcibuschew, Nikolay Sokolow, Alexander Kopylow, Joseph Wihtol, Felix Blumenfeld oder Maximilian d’Osten-Sacken.

Das experimentierfreudige Szymanowsky Quartet bietet auf seinem neuen Album nun einen Querschnitt durch diese „Vendredis“, also jene Freitagskonzerte Beljajews, bei denen die beteiligten Komponisten in unregelmäßiger Abfolge kleine Streichquartettminiaturen beisteuerten. Das Album basiert ganz offenbar zumindest teilweise auf einer Notenausgabe des Schott-Verlags, die auffällige Ähnlichkeiten zum Programm dieses Albums aufweist.

Die Musik, die hier erklingt, ist im besten Sinne unterhaltsam. Das ist kein im engeren Sinne anspruchsvolles Repertoire, und man wird hier auch keine verschollenen Meisterwerke entdecken. Viele Stücke sind heiteren, entspannten, kurz: dem Anlass angemessenen Charakters. Kuriose Kleinigkeiten wie eine Gemeinschaftspolka von Sokolow, Glasunow und Ljadow treffen dabei auf für heutige Ohren ungewöhnlich anmutende neoklassische Experimente (Wihtols „Menuett“, Sokolows „Kanon“, Ljadows „Sarabande“ und „Fuga“) und vielfarbige Annäherungen an die Salonmusik des ausgehenden 19. Jahrhunderts bis hin zu regelrechten Ohrwürmern (etwa Kopylows „Polka“ oder Borodins D-Dur-Scherzo).

Müsste man das Repertoire in drei Worten zusammenfassen, könnte man sagen: Volkstümlichkeit trifft auf Neoklassizismus. Auffällig ist in der Tat der Hand aller beteiligten Komponisten zu damals schon längst überkommenden Modellen und barocken Tanzsätzen. So war das wohl, wenn sich Komponisten damals trafen: Man redete über die Großen der Vergangenheit und ahmte sie, in steter Suche nach der Fortschreibung der praktisch erst wenige Jahrzehnte zuvor begründeten russischen Kunstmusiktradition auch gern mal nach. Stilübungen, könnte man das nennen.

Dass diese Musik dabei zu mehr wird, als bloß zum Klingen gebrachte Musiktheorie, sondern wirklich zu einem großen Spaß, das ist das Verdienst dieser gelungenen Auswahl, die das Szymanowski Quartet auf einem sehr solidem Level darbietet. Dabei ist vor allem der schöne Zusammenklang des Ensembles zu betonen mit vielen warm-holzigen Mitten im Klangbild und einer warm-samtigen Tiefe. Die beiden Geigen lassen manchmal etwas Brillanz vermissen, doch das trägt eher noch zu einem Klangbild bei, das ich als „authentisch russisch“ durchgehen lassen würde. Tolle Platte! Sollte man haben!

[Grete Catus, Mai 2017]

Aus der Schatzkiste der britischen Oper

Label: DUX; Vertrieb: note1; Art.-Nr.: DUX1307-1308; EAN: 5902547013077

Zwei verborgene Schätze der englischen Oper gibt es derzeit bei einem Label zu heben, von dem man es nicht unbedingt erwartet hätte, dass ausgerechnet bei diesem Label britische Opern erscheinen würden. Dabei handelt es sich um das polnische Label DUX. Hintergrund dieser ungewöhnlichen Veröffentlichung ist das 20. Ludwig van Beethoven-Osterfestival in der polnischen Hauptstadt Warschau. Intendantin dieses Festivals ist die Ehefrau des Komponisten Krzystof Penderecki. Und bei der 20. Ausgabe dieses Festivals scheint britische Musik einen Schwerpunkt eingenommen zu haben.

So kommen wir unverhofft in den Genuss zweier selten bzw. noch nie aufgenommener Opern von Gustav Holst und Ralph Vaughan Williams. Gustav Holsts Oper „At the Boar’s Head“  ist dabei die Weltersteinspielung. Bislang gab es von diesem Stück nur einzelne Szenen auf teils uralten Schallplattenveröffentlichungen, noch nie aber die komplette Oper am Stück.  Vaughan Williams Stück „Riders to the Sea“ hingegen wurde schon des Öfteren eingespielt, bislang aber ausschließlich mit Aufnahmen von britischer Provenienz mit meistens sehr namhaften britischen Sängern, Orchestern und Dirigenten. Es gibt also zumindest im Bereich der Vaughan Williams-Oper Vergleichsmöglichkeiten.

Gustav Holst „At the Boar’s Head“ ist eine typische Falstaff-Oper nach dem gleichnamigen Shakespeare-Vorbild. Auch Ralph Vaughan Williams, der ein enger Freund Gustav Holsts war schrieb eine Falstaff-Oper und nannte sie „Sir John in Love“. Vergleicht man beide Werke miteinander, so schneidet Holsts Ausgabe des Falstaff-Stoffes musikalisch konventioneller aber vielleicht unterhaltsamer ab. Die Komik des Stoffes betonend, mit süffigen Trinkgelage-Szenen und heiteren, bewegten Dialogarien ausgestattet und mit einem durch und durch volkstümlichen Flair ausgestattet, ist dies ein sehr schön zu hörender Einakter, der vielen Opernfans Freude bereiten kann. Unter kompositorischen Gesichtspunkten kennt man sicherlich Subtanzielleres von Gustav Holst, und ohne eine andere Oper dieses Komponisten zu kennen, der immerhin fünf Gattungsbeiträge verfasst hat, wage ich zu behaupten, dass Holst nicht unbedingt seine Berufung als Opernkomponist gesehen hat. Man kennt ihn heute ja auch für ganz anderes Repertoire, unter anderem für zum Teil sehr überzeugende Orchestermusik.

Bei Vaughan Williams liegt die Sache etwas anders. Ralph Vaughan Williams war ein Opernkomponist, der sich aus eigener Leidenschaft zu Oper der Gattung immer wieder angenähert hat und letztlich beeindruckende acht Beiträge zum Genre verfasste. Das von diesen acht Stücken heute kaum noch eines wirklich bekannt ist, liegt nicht unbedingt an mangelnder kompositorischer Qualität, sondern auch an einen fehlgeleitetem Blick auf Vaughan Williams als vermeintlich reinem Sinfoniker. Vaughan Williams war aber vor allem anderen ein erfahrener Vokalmusikkomponist, der neben Kantaten und seiner Chorsymphonie „A Sea Symphony“ auch Klavier- und Orchesterlieder, Chormusik, geistliche Musik wie Messen und zum Teil merkwürdig anmutende vokal besetzte Mischgenres bedient hat, wie etwa die für 16 Solisten und Chor angelegtes „Serenade to Music“. „Riders to the Sea“ ist ein verblüffend kurzer Einakter, der kaum 40 Minuten ausfüllt. Die Geschichte (nach einem Bühnenstück von John Millinton Synge) spielt im ländlichen Irland und ist eine typische Geschichte nach dem Motto „das Meer fordert seine Opfer“. In dieser Hinsicht könnte man die Oper durchaus als einen Vorläufer von Brittens „Peter Grimes“ auffassen. Vielleicht ist das aber auch zu hoch gegriffen. Die Komposition ist über weite Strecken überzeugend. Wirklich ergreifend ist die Schlussszene mit dem Trauergesang der Maurya (in dieser Einspielung wundervoll verkörpert von Katherine Reveille), die zu den besonders berührenden Szenen der jüngeren britischen Oper zählen dürfte.

Was auch immer man von diesen beiden britischen Kurzopern kompositorisch halten mag, die Qualität der Einspielungen ist begeisternd! Wirklich alle Sänger sind nicht nur sehr gut in ihren Rollen, sondern immer wieder in Bereichen, die ich als referenzwürdig einstufen würde. Die Warsaw Chamber Opera Sinfonietta samt Chor unter Leitung von Łukasz Borowicz liefert gleichfalls glänzende Leistungen ab, ist aber im Audio-Mix zu weit nach hinten gemischt worden. Obwohl es sich um Liveaufnahmen handelt, sind keine Nebengeräusche zu hören, was auch daran liegen mag, dass diese Aufnahmen konzertant erfolgt sind. Ich kenne einige Einspielungen des Vaughan Williams-Stücks „Riders to the Sea“, unter anderem bei Chandos und in älteren Auflagen bei der EMI. Doch diese neue Liveproduktion von DUX ist auf technischem und gesanglichem Gebiet absolut auf Augenhöhe und im emotionalen Zugriff früheren Einspielungen sogar überlegen.

Warum diese beiden Opern hingegen als unnötig teures Doppelpack erscheinen und nicht einzeln veröffentlicht werden, bleibt mir trotz ihrer jeweils kurzen Spielzeit etwas unklar… Immerhin ist die Ausstattung toll, mit reich bebildertem Booklet und komplettem Libretto. Hut ab, DUX!

[Grete Catus, März 2017]

„Schöne“ neue Welt

Joseph Haydn: Klaviersonaten Nr. 47, Hob 16,32; Nr. 38, Hob. 16,23; Nr. 31, Hob. 16,46; Nr. 33, Hob. 16,20; Nr. 58, Hob. 16,48 – John O’Conor (unter Verwendung des Steinway Spirio-Selbstspielsystems)

Label: Steinway & Sons; Art.-Nr. 30058 (Vertrieb: note1)

Dieses Album des Steinway-Labels zeigt uns die „schöne“ neue Welt der Klassikbranche: Ein Pianist hat an dem Ort, an dem er das Album gern einspielen möchte, einen Steinway Model B-Flügel zur Verfügung. Erklingen soll das Ganze aber (weil sich das heutzutage schließlich so gehört) auf einem Steinway Model D. Früher ging das nicht ohne Reise in ein Top-Aufnahmestudio ab. Heute spielt man das Repertoire unter Verwendung der Steinway Spirio-Technologie auf dem heimischen (?) Model B ein, schickt die dabei entstandene Spirio-Datei an das Label seines Vertrauens und lässt es dort im Studio des Labels auf einem Model D wiedergeben.

Informationen über das „hochauflösende Selbstspielsystem“ Spirio finden sich auf der Website von Steinway (Link dazu hier). Das Problem dabei: Ein Model B reagiert anders auf Anschlag usw. als ein Model D. Eine auf einem Model B eingespielte Datei wird auf einem Model D anders klingen. Vielleicht ist dies der Grund, warum diese Haydn-Sonaten des ansonsten für ausgezeichnete Könnerschaft bekannten irischen Pianisten John O’Conor merkwürdig unterkühlt und aseptisch klingen.

Ich bin mir sicher, dass das Spirio-Verfahren längst von vielen Plattenfirmen genutzt wird, ohne dass diese es auf dem Cover ausweisen, wie das Steinway-Label es hier ehrlicherweise macht. Besser wird es dadurch trotzdem nicht. Selbstspielsysteme sind heute (Spirio) wie damals (Welte Pianorolle) eben auch nur ein Ersatz für den echten Pianisten am Instrument vor Ort. Dass so heutzutage Einspielungen großer Künstler entstehen und dass diese sich darauf einlassen, ist schlicht und ergreifend enttäuschend.

[Grete Catus, Februar 2017]

Ebenso solide wie unspektakulär

Leoš Janáček: Orchestersuiten aus Jenůfa, Kátia Kabanová und Osud („Schicksal“)
Prague Radio Symphony Orchestra – Tomáš Netopil

Label: Supraphon (Vertrieb: note1); Art.-Nr.: SU4194-2 / EAN: 099925419424

Eine neue CD des wunderbaren Labels Supraphon aus Prag stellt drei Orchestersuiten aus Opern Leoš Janáčeks vor. „Moment mal!“, denkt sich da der geneigte Janáček-Fan: Janáček hat ja aus seinen drei Opern Jenůfa, Kátia Kabanová und Osud („Schicksal“) gar keine Suiten ausgekoppelt. Kein Problem, denn das haben andere erledigt: Osud hat František Jílek zusammengestellt, Kátia Kabanová Jaroslav Smolka und als jüngstes Beispiel für diese Art der Janáček-Opernmusik-Zweitverwertung hat sich der Dirigent Manfred Honeck der Oper Jenůfa angenommen, deren Orchestersuite er zusammen mit Arrangeur Tomáš Ille verwirklicht hat.

Man mag zu dieser Herangehensweise stehen, wie man will. Fakt ist: Sie macht auf kompakte und recht unterhaltsame Art Musik Janáčeks zugänglich, die sich sonst als Intermezzo oder kurzes Verbindungsglied in den Weiten großer Opernpartituren verbirgt und im großen Werkzusammenhang eines Bühnenstücks manchmal ein Schattendasein fristet.

Die noch stark spätromantisch angehauchte Jenůfa bietet – sicherlich auch dank ihres dörflichen Sujets, in dem es vor Anklängen an die tschechische Folklore nur so wimmelt – reichlich musikalisches Material, das sich gut für eine Suite eignet. Die von Honeck und Ille unterbrechungsfrei angelegte musikalische Sause vollzieht allerdings manch ungelenke Wendung, die wohl daher rührt, dass man sich bemühte, möglichst wenig Musik hinzu zu komponieren, um die einzelnen Teile miteinander verbinden zu können. Ille hat die Suite zwar nicht chronologisch angelegt, sondern in Art einer musikalischen Collage, trotzdem gelang es nicht vollauf überzeugend, ein musikalisches Konstrukt, ein großes Ganzes, zu bilden, das man als eigenständiges Werk schätzen kann.

Die Oper Kátia Kabanová wurde erst spät durch Charles Mackerras in ihrer originalen Form samt den verschollen geglaubten Orchester-Intermezzi auf die Bühne gebracht. Suiten-Arrangeur Jaroslav Smolka hat diese Intermezzi offenbar noch nicht gekannt und konzentrierte sich auch auf solche Teile der Oper, bei denen in der Suite die Trompete den Gesang substituiert. Das Ergebnis wirkt sehr atmosphärisch und durchaus überzeugend. Nach heutigem musikwissenschaftlichen Standard verzichtet die Suite aber auf reizvolles Material. Und so müsste man im Prinzip eine Suite zu dieser Oper heute ganz neu zusammenstellen.

Osud („Schicksal“) wurde zu Janáčeks Lebzeiten als zu komplex für die Bühnenaufführung empfunden (einmal ganz abgesehen davon, dass auch das Libretto seinerzeit verstörte, das sich unter anderem mit den Themen Prostitution und Selbstmord beschäftigt). Die Oper kam erst 30 Jahre nach dem Tod des Komponisten durch den Dirigenten František Jílek zur Aufführung. Jener bearbeitete das Werk wohl ziemlich freimütig und schichtete ganze Etappen des Handlungsverlaufs um. Dies bot ihm quasi „nebenbei“ eine ideale Grundlage für die Zusammenstellung der hier zu hörenden Suite, die – das hört man ziemlich schnell – der überzeugendste Beitrag auf der vorliegenden CD ist, wenn man einmal von dem ziemlich überraschenden, völlig abrupt einsetzenden Schluss absieht, bei dem man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass da etwas „fehlt“.

Die Leistung des Prager Radio-Sinfonieorchesters ist auf diesem Album im Prinzip solide und ohne Tadel, lässt es aber – womöglich auch aufgrund der etwas holzschnittartigen Einstudierung durch Tomáš Netopil – zuweilen an emotionalem Zugriff vermissen. Die deftigen Sachen wünschte man sich deftiger, die zarten Sachen zarter, die heiteren Sachen heiterer, das Gewitter aus Osud bedrohlicher, usw. Der etwas weitschweifige Booklet-Text erzählt viel über die Opern, aber frappierend wenig über die Entstehung der hier zu hörenden Suiten, die ja doch im Zentrum dieses Albums stehen. Wenn es ein Schulaufsatz wäre, würde mal wohl sagen: „Am Thema vorbei“. Die Klangqualität der Aufnahme von den Tonmeistern des tschechischen Rundfunks ist ebenso solide (aber zugleich auch ebenso unspektakulär) wie die gesamte Produktion. Fazit: Ein Album, das wohl vor allem die ganz eingefleischten Janáček-Jünger brauchen, die alles andere schon haben.

[Grete Catus, Dezember 2016]

Gelungene Zusammenstellung gewichtiger Werke

Colin Matthews: Violinkonzert, Cellokonzert Nr. 2, Cortège
BBC Symphony Orchestra, Royal Concertgebouw Orchestra, Riccardo Chailly, Oliver Knussen, Rumon Gamba, Anssi Kartunen (Violoncello), Leila Josefowicz (Violine)

Label: NMC Recordings (Vertrieb: note1), 2016; Art.-Nr.: NMC D227 / EAN: 5023363022729

Colin Matthews ist in Großbritannien schon seit den 1980er-Jahren eine zentrale Gestalt des Musiklebens. In Deutschland ist er vor allem durch seine „Fortsetzung“ von Gustav Holsts „Die Planeten“ bekannt, die er musikalisch um „Pluto“ bereicherte – …dessen astronomische Degradierung zum Zwergplaneten seit den 2000er-Jahren allerdings auch dazu führte, dass Matthews‘ Musik-Pluto heute wieder seltener im Zusammenhang mit Holsts berühmter Planeten-Suite zu finden ist, als noch in den 1990ern, als fast jede damalige Neueinspielung auch Matthews‘ „Pluto“ als Bonustrack anbot.

In Großbritannien ist Matthews nicht nur als Komponist sehr bekannt (er studierte u.a. bei Nicholas Maw und Benjamin Britten), sondern auch als Produzent von Tonaufnahmen. Neben seiner Tätigkeit für namhafte Labels wie Deutsche Grammophon, Warner, BMG, Metronome, Elektra und einige andere hat er auch sein eigenes Label NMC Recordings gegründet, das vor allem britische Komponisten der jüngsten Moderne vorstellt. Dabei folgt das Label einem interessanten Geschäftsmodell, denn neben dem üblichen freien Verkauf über den stationären und den Online-Handel kann man die CDs von NMC auch preisreduziert abonnieren. Dass es sich beim Booklet stets um Digitaldruck handelt und bei der CD meist um eine in Manufacturing on Demand-Technik hergestellte Kleinstauflage verwundert nicht weiter, denn immerhin geht es hier um Musik, die oft erst wenige Jahre auf dem Buckel hat und um Komponisten, die selbst im Heimatland noch nicht viele Hörer kennen.

Nun hat sich Colin Matthews bei seinem eigenen Label einmal selbst etwas gegönnt: Sein Violinkonzert (entstanden 2007-2009), seine häufig aufgeführte Komposition „Cortège“ (1989) und sein zweites Cellokonzert (1994-1996) sind Thema des neuen Albums, das mit hervorragenden Interpreten aufwarten kann.

Das Violinkonzert etwa wird von der Widmungsträgerin Leila Josefowicz mit dem BBC Symphony Orchestra unter Leitung Oliver Knussens gespielt. „Cortège“ erklingt gar durch das Royal Concertgebouw Orkest unter Riccardo Chailly. Und das Mstislaw Rostropowitsch gewidmete Cellokonzert gibt Anssi Karttunen zusammen mit dem BBC Symphony Orchestra unter Rumon Gamba. Die allesamt in vorzüglicher Klangqualität aufgezeichneten Einspielungen wurden teils live, teils als Studioproduktionen eingefangen. Wie üblich bei solchen Konstellationen hört man Unterschiede zwischen den einzelnen Aufnahmesessions, was aber nicht weiter ins Gewicht fällt. Insgesamt ist der klangliche Eindruck den jeweiligen Umständen entsprechend erfreulich gut.

Colin Matthews pflegt einen freitonalen Stil mit manchen grundtonbezogenen Elementen und Einflüssen aus der Dodekaphonie. Seine Art der Komposition kann man einerseits durchaus konservativ nennen, sprüht andererseits aber auch vor unkonventionellen Ideen. Auch ungeübte Hörer der Neuen Musik finden sich mit dem Gedanken wieder: „Damit kann ich etwas anfangen“, und damit hat Colin Matthews sich und seiner Musik über die Jahre ein breites Publikum erobern können. Matthews‘ Musik erinnert nicht selten an die seines verstorbenen Kollegen Peter Maxwell-Davies, ist aber (nach meinem Empfinden) meistens besser komponiert, vor allem auch in Anbetracht der Orchestrierung. Auch Thomas Adès könnte man als Vergleich heranziehen, doch Matthews hat im Vergleich zu Adès keine Minimal Music-Einflüsse, sondern erinnert eher an den Expressionismus der 1920er-Jahre, vor allem an Paul Hindemith oder in seinen Flächen auch an das Werk György Ligetis.

Kurz gesagt: Das ist Musik, die man sich gut und mit Vergnügen anhören kann. Matthews ist keiner der ganz Großen unserer Zeit, aber er ist eine wertvolle Stimme der Neuen Musik auf der britischen Insel mit eigenem Ansatz und einer Gabe, auch solche Publikumsschichten für sich einzunehmen, die sonst nicht viel mit der aktuellsten Musikmoderne am Hut haben. Immerhin: Das ist mehr, als man von den meisten deutschen Komponisten unserer Zeit behaupten kann.

Das Violinkonzert ist ein leidenschaftliches Werk, in dem Solistin Leila Josefowicz fast durchgängig im Einsatz ist. Sie liefert eine Glanzleistung ab und beeindruckt durch ihre Energie und ihren schönen Ton, den sie niemals den großen technischen Herausforderungen, die das Konzert an sie stellt, opfern muss. Das BBC Symphony Orchestra ist ein guter Partner, wirkt aber hier und da leicht „unterprobt“, was sich insbesondere in fransigen Streichern äußert.

Der Klangbolide „Cortège“ ist hier durch Riccardo Chaillys Dirigat zu hören, der damals Chefdirigent des Concertgebouw Orkest Amsterdam war. Entgegen einiger Informationen, die man im Internet findet, handelt es sich bei dieser Aufnahme aus dem Jahr 1998 nicht um die Uraufführung, die bereits zehn Jahre früher durch Bernard Haitink erledigt worden war. Mit seinen wuchtigen Klangclustern und Blechbläser-Crescendi erinnert „Cortège“ an Matthews‘ „Pluto“ und zeigt einen Komponisten, der sich 1988 in einer Art Post-Serialismus-Phase befand. Das Stück ist in jeder Hinsicht beeindruckend und wirkt durch seine gewaltigen Klangmassen fast körperlich spürbar, vor allem dann, wenn man es mit einem der Orchesterperformance entsprechenden Lautstärkepegel hört. Das muss ein Erlebnis gewesen sein, damals im akustisch bekannt grandiosen Concertgebouw mit diesem Top-Orchester (hörbar ein Qualitätssprung zum Sinfonieorchester der BBC!).

Das Cellokonzert beginnt direkt mit dem Auftritt des Solisten und entfaltet gleich einen ganz hinreißenden Charme, der mich wirklich begeistert. Die für Matthews typischen Flächen irisieren in faszinierenden, geradezu Villa-Lobos‘schen Klangfarben und steigern sich immer wieder zu dramatischen, packenden Höhepunkten. Die ebenfalls für Matthews typischen tiefen Blechbläser pusten bemerkenswerte Attacken in den Konzertsaal. Solist Anssi Kartunen geht in dieser Musik voll auf, obwohl dieses schwierige Konzert dem Solisten keine dankbare Bühne zum vordergründigen Brillieren bietet. Immer wieder wird die Solostimme in den Gesamtklang integriert, aus/in dem sie wellenartig auf- und wieder absteigt. Knifflige Doppelgriffe klingen fahl und schmucklos, sind aber höchstwahrscheinlich enorm komplexe Aufgaben für den ausführenden Interpreten. Dieses Stück ist das am meisten beeindruckende auf dieser insgesamt sehr hörenswerten CD, und ich halte es auch für eines der besonders schönen Beispiele dafür, wie ein modernes Cellokonzert heute klingen und aufgebaut sein kann, ohne abgeschmackte Muster zu bedienen und dabei trotzdem vertraut zu wirken.

[Grete Catus, Dezember 2016]

 

„Meer“ mit Tiefgang

Claude Debussy: Klaviermusik zu vier Händen Vol. 2
(„La Mer“, „Images“, „Prélude à L’Après-Midi d’un faune“)
Jean-Pierre Armengaud, Olivier Chauzu
Naxos, Art.-Nr.: 8.573463; EAN: 747313346370

Jean-Pierre Armengaud und Olivier Chauzu stellen mit dieser CD Versionen der wohl bekanntesten Orchesterwerke Claude Debussys für Klavier vierhändig vor – und wissen mit einem eigenen Ansatz zu überzeugen.

Es ist häufig sehr interessant, wenn man Werke, die normalerweise in üppigen Orchesterbesetzungen bekannt sind, einmal in kleinen Besetzungen hören kann oder – in der oft wirkungsvollsten Form der Reduktion – als Klavierauszug. Was hört man da nicht alles neu, anders oder zum ersten Mal. Dicht orchestrierte Werke präsentieren sich von einer ganz neuen Seite und werden plötzlich „durchhörbar“, erscheinen dem Hörer plötzlich transparent.

Nicht selten hört man dann auch die vermeintlich bekannte Orchesterfassung nach einer solchen Hörerfahrung wie mit neuen Ohren und wundert sich, warum einem manche Details früher nie aufgefallen waren, die man erst durch das Hören der Klaviertranskription wahrgenommen hat.

So ging es mir kürzlich mit dieser CD, die drei der bekanntesten Orchesterwerke Claude Debussys in gleichermaßen transparenten wie klangsinnlichen Interpretationen durch die beiden Pianisten Jean-Pierre Armengaud und Olivier Chauzu vorstellt.

Armengaud gilt als Herausgeber von kritischen Editionen der Klaviermusik Erik Saties und Henri Dutilleux‘ als einer der herausragenden Experten für französische Musik des 20. Jahrhunderts. Als Interpret ist er bislang nur beim NAXOS-Label aufgefallen. Chauzu hingegen ist ein viel gefragter Duo-Partner, spielt zum Beispiel immer wieder Duo-Konzerte mit Nicholas Angelich und François Leleux.

Bleibt die Frage: Von wem stammen denn diese vierhändigen Klavierversionen großer Debussy-Meisterwerke wie „La Mer“, „Images“ und „Prélude à l’Après-midi d’un faune“? Sie stammen vom Komponisten selbst („La Mer“) sowie von André Caplet, einem etwas jüngeren Zeitgenossen Claude Debussys. Caplet ist ein Komponist gewesen, der in seinem eigenen Recht eigentlich eine Wiederentdeckung verdient hätte, der aber vor allem – und darum geht es hier – sein Handwerk auf das Beste verstand.

Jean-Pierre Armengaud und Olivier Chauzu wissen mit ihrem Spiel der vierhändigen Versionen von Debussys bekanntesten Werken unumwunden zu begeistern. Das Besondere an ihrer Darbietung ist, dass sie sich offenbar nicht an typischen Interpretationsansätzen orientieren, die man von Einspielungen der Orchesterwerke her kennt. Die beiden ziehen hier eindeutig einen eigenen Ansatz durch, und diesen kann man nur uneingeschränkt bewundern: In beeindruckender Klarheit und Synchronizität einerseits verschaffen sie dem Hörer eine völlige Werktransparenz, um andererseits mit einer – ich wiederhole diesen Neologismus gern – Klangsinnlichkeit zu beeindrucken, die wirklich begeisternd ist.

Das Glitzern der Sonnenstrahlen auf dem Meer, die deskriptiv-beschreibenden Inhalte dieser Musik (auch in den Images und dem Prélude finden sich zahlreiche solcher Momente), halte ich in diesen Versionen häufig für weitaus plastischer als in vielen der zahlreichen Orchestereinspielungen dieser Stücke.

Dass dies so ist, liegt an einer sehr persönlich gefärbten Darstellung Armengauds und Chauzus, die denjenigen der besten Dirigenten in nichts nachsteht. Diese Klavier-Darbietungen vermitteln ein tiefes musikalisches Einfühlungsvermögen sowie eine reichhaltige emotionale Palette und zeigen somit Eigenschaften, wie man sie bei Klavier-Duos leider zunehmend selten findet. Während mehrere andere Klavierduett-Besetzungen vor allem an technisch-mechanischen Meisterleistungen interessiert zu sein scheinen, sind Armengaud und Chauzu ein echtes Team, atmen und denken gleich und sind – ein nicht zu vernachlässigender Punkt – offenbar bestens auf einander eingespielt, haben alle Stücke auch bezüglich ihres musikalischen Gehalts top einstudiert.

Diese Produktion ist alles andere als ein Schnellschuss oder ein „nice to have“. Sie ist Kunst, wie sie schöner, tiefer, inniger empfunden kaum zu finden sein wird. Und sie stellt in sich einen Wert dar, der über den vordergründigen Aspekt der bloßen Klavierbearbeitung weit hinausreicht.

[Grete Catus, November 2016]

Kopf in den Wolken? Die Klaviermusik des Sergei Bortkievicz

Russian Piano Music Series – Volume 12: Sergei Bortkievicz – Klavier: Alfonso Soldano
Klaviersonate Nr. 2, Esquisses de Crimée, Lyrica Nova, Nocturne, Étude Op. 15, Drei Präludien
Label: divine art; Art.-Nr.: dda25142 / EAN: 0809730514227

In der Serie „Russian Piano Music“ veröffentlicht das Label „divine art“ nun ein Album mit Musik des Komponisten Sergei Bortkievicz. Dass Bortkievicz Ukrainer war und zudem ein äußerst untypischer Vertreter der Musikszene während der Sowjetzeit, verwirrt im Zusammenhang mit dem Erscheinen in der genannten Reihe. Interpretatorisch hat das Album dank des beherzten Einsatzes des Pianisten Alfonso Soldano für diese nicht unproblematische Musik jedoch sehr viel zu bieten.

Der Grat zwischen „Oh, das gefällt mir aber gut“ und „Ui, das gefällt mir aber gar nicht“ ist oft schmaler als man denkt. So geschehen bei mir hinsichtlich der Musik des hierzulande nur wenig bekannten Komponisten Sergei Bortkiewicz, der von 1877 bis 1952 lebte. Obwohl er den größten Teil seines schöpferischen Lebens im 20. Jahrhundert verbrachte, schrieb er Musik, die man vordergründig am Ehesten mit Komponisten wie Frédéric Chopin, John Field oder Mili Balakirev vergleichen könnte.

Bortkievicz studierte bei Anatoli Liadov, der (bei allem Respekt für Liadovs Musik, die ich sehr schätze) ein ebenfalls eher rückwärts gewandter Komponist war. Trotzdem mag man Bortkievicz, der überiegend Klaviermusik komponierte, kaum als Fortführung von Liadovs Stil einstufen, eher ging der Schüler noch einen Schritt weiter zurück als der Lehrer, und so gehen Bortkievicz zum Beispiel auch so ziemlich alle „Impressionismen“ ab, die immerhin Liadov (der 20 Jahre früher geboren wurde) auf seine späten Tage noch reichlich auslebte.
Bortkieviczs Musik ist deshalb durchaus heikles Terrain: Spielt man ihn wie Chopin wäre es einfach falsch, denn Bortkievicz ist bei aller Rückwärtsgewandtheit doch ein Komponist, der einen anderen Rückblick auf die Musikgeschichte hatte. Er ist, was die Mittel des Komponierens für das Klavier angeht, zweifellos auf der Höhe seiner Zeit und bedient sich immer wieder Effekten, die etwa auch bei Rachmaninov oder Prokofiev zu hören sind. Spielt man ihn aber wie Rachmaninov, so würde man die bemerkenswerte Historizität von Bortkieviczs Musik unter den Tisch kehren, denn auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen: Rachmaninov war ein moderner Komponist, in seinen Ansätzen viel moderner, als man auf den ersten „Blick“ hört.

Nun ist eine CD erschienen, die einen quasi idealen Mittelweg findet und eine Interpretation vorlegt, bei der Bortkieviczs Musik auf optimale Art und Weise zum Zuge kommt. Zu verdanken ist dies dem Pianisten Alfonso Soldano, der diese Musik mit so viel Hingabe und Herzblut spielt, dass man gar nicht anders kann, als bezaubert zu sein. Soldano ist zudem ein Pianist, der spieltechnisch völlig souverän agiert und überhaupt gar keine Probleme bei der Ausführung dieser über weite Strecken hoch virtuosen Musik hat. Die geradezu herzerwärmende Emotionalität, die Soldano in seine Interpretation legt, ist einfach entwaffnend. Zudem stellt Soldano Bortkievicz genau als den dar, der er ist: Als einen Komponisten des 20. Jahrhunderts, der aber womöglich gern 80 Jahre früher geboren worden wäre. Ein bemerkenswert schöner Klavierklang in einer makellosen Aufnahmetechnik tut sein Übriges dazu, dass diese CD als eine Referenz in Sachen Bortkievicz durchgehen kann. Ich würde sagen, sie schlägt so ziemlich alles andere, was ich von diesem Komponisten bislang von anderen Pianistinnen und Pianisten auf anderen Labels gehört habe (denn live hört man Bortkieviczs Musik ja praktisch überhaupt nicht).

Ein Satz zum Schluss: Leicht irritierend ist es, dass diese CD in der Reihe „Russian Piano Music“ des Labels „divine art“ erscheint. Ist Bortkievicz nicht in der Ukraine geboren? Hört man sich seine Musik an, so ist der Einfluss Liadovs zwar spürbar, aber ansonsten sind kaum Rückgriffe auf die große russische Schule zu hören. Teilweise nimmt der Komponist sogar klipp und klar Bezug auf die deutsche Tradition: Bach, Beethoven, Schumann, Brahms. Vor allem aber scheint er Chopin- und Field-Bewunderer gewesen zu sein. Deshalb ist es zumindest irreführend, ihn in dieser Serie zu bringen, zumal er nicht einmal besonders typisch für die sowjetische Klaviermusik ist. Sein Stil wirkt hingegen eher wie ein Eskapismus aus dem sowjetisch-russischen Musikzwang. Bortkieviczs Musik ist schwelgerisch, verträumt, ganz und gar überirdisch und überhaupt nicht lebensnah.

[Grete Catus, September 2016]

Hinreißender Mozart, wie er schöner nicht gespielt werden kann

Wolfgang Amadeus Mozart – Streichquintette Vol. 2
Streichquintette D-Dur, KV 593; Es-Dur, KV614; Fragment a-Moll, KV515c, alternatives Finale zu KV593
Chilingirian Quartet mit Yuko Inoue (zweite Bratsche)
Label: crd; Art.-Nr.: crd3523 / EAN: 708093352326

Das listenreiche Chilingirian Quartet hat beim britischen Traditionslabel crd eine Reihe mit Mozarts Streichquintetten begonnen und legt nun den zweiten Teil aus dieser Edition vor. Die Einspielung überzeugt mit berührender Emotionalität und einer faszinierenden musikalischen Leistung sowie mit einem makellosen Aufnahmeklang.

Mozarts Streichquintette hat wahrscheinlich jeder, der sich ernsthaft mit klassischer Musik befasst, schon früh auch auf Tonträger erworben, wahrscheinlich in einer der vielen gelungenen Einspielungen aus der Vergangenheit. Es kursieren ja gerade für dieses Repertoire einige „Referenzen“, wobei allerdings auch manche häufiger genannt werden, die objektiv musikalisch betrachtet wohl eher wegen des „großen Namens“ eines berühmten Ensembles auf der Referenzliste gelandet zu sein scheinen, und weniger wegen dessen musikalischer Leistung.
Hier soll es aber um eine Neuerscheinung gehen, die musikalisch sehr überzeugt, bei der jedoch der Name des ausführenden Streichquartetts (samt Gast an der zweiten Bratsche) vielleicht nicht jedem gleich geläufig ist. Daher zunächst einige Worte zu den Musikern: Das Chilingirian Quartet wurde bereits 1971 von Levon Chilingirian und Cellist Philip de Groote gegründet. Es zählt somit zu den „Veteranen-Ensembles“ im bunten Reigen der Streichquartette, und daher wundert es nicht, dass sich seit Gründungstagen die Besetzung einige Male änderte. Unveränderlicher Bestandteil des einzigartigen Sounds dieses Quartetts ist jedoch Gründer Levon Chilingirian an der Ersten Violine. Mit Susie Mészáros, die Erste Bratschistin unter Sándor Végh bei dessen Ensemble Camerata Salzburg war, Ronald Birks, der bis 2005 zweiter Violinist des berühmten Quartetts „The Lindsays“ war, und Steve Orton, der bis heute als Erster Cellist der Academy of St Martin-in-the-Fields wirkt, hat Levon Chilingirian eine wirklich aufsehenerregende Truppe um sich versammelt, die mir anhand dieses neuen Mozart-Albums eines der wunderbarsten Streichquintett-Erlebnisse des bisherigen Jahres beschert hat. Dass man hier nicht mit vermeintlich „historisch informierter“ Aufführungspraxis gegängelt wird, liegt bei diesen Musikern eh auf der Hand.

Ich bin wirklich begeistert: Hier wird Mozart mit Leib und Seele, mit Überzeugung und Zuneigung musiziert. Es gibt Momente im Vortrag des Chilingirian Quartets, die so berührend sind wegen ihrer Innigkeit, ihrer Verletzlichkeit, ihrer anscheinenden emotionalen Nähe zum Geist von Mozarts Musik, dass es schwer fällt, dies adäquat in Worten auszudrücken. Technisch ist diese Gruppe sowieso mit allen Wassern gewaschen, und so will ich hier nicht schon wieder von irgendeiner „Referenz“ faseln, auch wenn man sich bei diesem Album wohl nicht dafür schämen müsste, sondern möchte vielmehr eine warme Empfehlung aussprechen, diese außergewöhnlich gute Gruppe anhand dieses Albums kennenzulernen.

Bei crd erscheint der Mozart der Chilingirians auf einem traditionsreichen Label. Es ist das Label, das mit der Vivaldi-Einspielung des English Concert unter Trevor Pinnock (die später als Lizenzaufnahme beim Alte Musik-Ableger der Deutschen Grammophon (Archiv) veröffentlicht wurde) schon früh einen All-Time-Hit der klassischen Musik landen konnte, das aber trotzdem bis heute zumindest in Deutschland kaum bekannt ist. Das mag womöglich auch an der seit vier Jahrzehnten beständig gruseligen bis Übelkeit erregenden Covergestaltung dieser Firma liegen, von der man sich jedoch nicht über die hier enthaltene, außergewöhnliche musikalische Qualität hinwegtäuschen lassen sollte.

Das Chilingirian Quartet hat vormals schon für EMI, Sony/BMG, Chandos, Harmonia Mundi, Nimbus, Virgin Classics, Hyperion und viele andere namhafte Firmen aufgenommen. Ihr Mozart erscheint nun eben bei crd. Klanglich ist das Album ebenso auf der Höhe wie die gebotene musikalische Leistung. Dieses fantastische Album sollte man unbedingt gehört haben, meiner Meinung nach sollte man es sich auch kaufen, denn es ist dies ein seltenes Beispiel für eine Mozart-Einspielung, die das Zeug dazu hat, einen ein Leben lang zu begleiten und immer wieder aufs Neue zu erfreuen. Es ist auf alle Fälle die schönste Mozart-Kammermusikaufnahme, die ich im bisherigen Jahr gehört habe.

[Grete Catus, August 2016]